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Samstig/Somitag, 4./5. August 1979"' Nr. 178 LITERATUR UND KUNST 31cm <;3iird)cr 3cilimß Edvard Munch: Vampir. Um 1894. Die unbefriedigte Aufklärung Die V a mp ird is ku s s i on der I 7 30er Jahre Von Alain Godel Der Vampirismus, der dank der Filmindu- strie ebe n eine neuerliche Renaissance erlebt, wird gemeinhin als eine Schöpfung der dichteri- schen Phantasie angesehen. Der Stoff hat in Goethes «Braut von Korinth», in Byrons Vam- pirfragment, welches Polidori zu der Novelle «The Vampyre. A Tale» (1819) ausarbeitete, über Brain Stoker bis hin zu den zahllosen filmi- schen Umsetzungen mancherlei Ausgestaltun- gen erfahren. Es gab jedoch eine Zeit, in der das Vampir- thema weit entfernt, als Feierabendgrusel zu dienen die Gemüter in vielerlei Hinsicht be- schäftigte und nicht selten erhitzte, wo Gelehrte ersten Ranges zur Feder griffen, um sich über diese seltsamen Wesen auszulassen, und in der sowoh| die ehrwürdige Sorbonne wie auch die Preussische Akademie der Wissenschaften sich genötigt sahen, offizielle Gutachten über diese Sache abzugeben. Denn im Frühling des Jahres 1732 schreck- ten sonderbare Nachrichten aus den Südslawi- schen Gebieten, die erst kürzlich durch den Pas- sarowitzer Frieden dem österreichischen Reich einverleibt worden waren, das gelangweilte Wien auf: Wien, den 5. Märtu «Dem Vernehmen nach haben Ihro Kayseri. Majestät den Casum mit denen so genannten Vampyren, so in Sennischer Sprache Blut-Sauger heisset, wegen darbey befindlichen Umständen, dass nemlich ein schon längst verstorbener und begrabener Mensch des Nachts zu seinen lebenden Freunden gekommen, und denenselben das Blut dergestalt aussaugen können, dass diese davon sterben, und nach ihren Tode auch wiederum der- gleichen Blut-Sauger abgeben müssen, auch bey Ausgrabung so thaner Cörper, wenn selbigen nach der gewöhnlichen Execution, durch den Scharf- richter ein Pfahl durch das Hertz geschlagen wor- den, gantz frisches Blut daraus geflossen, und ih- nen theils an statt der abgeschabten alten Nägel wiederum neue, wie auch frisches Haar gewachsen seyn soll, was Ihro Majestät von sothaner Curio- sität und Wichtigkeit zu seyn erachtet, dass Aller- höchst bei verschiedenen Universitäten um deren Sentiment und Gutachten hat einholen lassen.» Der zuständige Hofkriegsrat schickte auf diese Nachricht hin eine aus Offizieren und Feldärzten bestehende Untersuchungskommis- sion aus, die den Sachverhalt genauer prüfen sollte. Dabei stellte sich heraus, dass ein gewis- ser Arnold Paole, gleichsam als «Erzvampir», wie später Voltaire spöttisch anmerken sollte, in einem kleinen serbischen Dorfe über ein Dut- zend Personen zu Tode gebracht hatte, die bei ihrer Exhumierung alle Anzeichen einer einge- tretenen Vampirierung aufwiesen. Da die öster- reichische Kriegsverwaltung in dem immer noch militärisch besetzten Gebiete Unruhen be- fürchtete, willigte sie in eine nachträglich und feierlich durchgeführte Exekution des Arnold Paole ein Dass die anfänglich nur handschriftlich zir- kulierenden Relationen über diese seltsamen Vorfälle einen willkommenen Stoff für die ga- lanten Salonkreise Wiens abgaben, versteht sich von selbst: «Durch diese Nachrichten wurde jedermann in die gröste Verwunderung gesetzet. In allen Zusammenkünften hoher und niederer Stands-Personen wurde davon geredet. Auch die Dames fiengen an darüber zu raisonniren. Niemand wüste, was er daraus machen noch vor was er es ausgeben solte.» Und auch die rührigen Buchverleger wussten ihre Chance zu nutzen: «Immitelst gab dieser Anlass, dass, wenn man an der letztverwichenen Leipziger Oster-Messe in einen Buchladen gieng, man überall etwas von denen Blut-Saugern zu Ge- sichte bekam.» ANTWORT DER GELEHRTEN Ebensowenig hielt sich die gelehrte Welt zu- rück: Innerhalb nur eines einzigen Jahres, näm- lich 1732, erschienen an die zwanzig Spezialab- handlungen, darunter ein halbes Dutzend latei- nisch geschriebene Universitätsdissertationen, die mitunter über hundert Seiten stark das Thema behandelten. Alle diese zahlreichen Ar- beiten stützten sich auf denselben, im hand- schriftlichen Original nur einige wenige Blätter ausmachenden Bericht der Feldärzte. Aber aus welchem Grund, so muss man sich fragen, vermochte der Vampirismus sich als ein akademisch durchaus ernstzunehmender Dis- kussionsgegenstand zu etablieren? Sicher stellte die angebliche Unverweslichkeit der Vampire ein insbesondere für katholische Theologen un- angenehmes Problem dar, und in der Tat steuerte denn diese Seite auch einige Vampir- schriften bei. Aber de r Hauptgrund für die Ent- stehung dieser unverhältnismässig ausgedehn- ten literarischen Fehde ist darin zu suchen, dass der Vampirismus, gleichsam nur als Staffage dienend, ein ideales Schlachtfeld abgab, auf dem die mächtig sich rührende Aufklärung ih- rem Gegner, dem leidigen Aberglauben, der «abscheulichen Bestie der Superstition» (Thomasius), den Garaus zu machen hoffte. Dabei wurde unter «Aberglauben» nicht nur derjenige des Volkes, sonder n auch der wissen- schaftlich sich gebende Aberglaube verstanden, der versuchte, den Vampirismus als eine Wir- kung von Geistern und sympathetischen Kräf- ten zu erklären. Diese magisch-hermetische In- terpretation der Natur, deren einflussreiche Ueberlieferung sich letztlich auf Marsilius Fici- nus, Paracelsus und Agrippa von Nettesheim zurückschrieb, versuchte am Beispiel des Vam- pirismus ein letztesmal, sich gegen den aufkläre- rischen Rationalismus, hier der Wolffschen Spielart, durchzusetzen. Aber gegen die mit Ma- thematik und Geometrie operierenden Erfah- rungswissenschaften hatte die magisch inspi- rierte Weltdeutung keine Chance und wurde spätestens seit den 1740er Jahren als ernstzu- nehmender Diskussionspartner von der akade- mischen Schaubühne verbannt, um als zwielich- tige Volksheilbücher oder gar im Stile eines «Sechsten und Siebten Buch Salomonis» bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Schattenda- sein zu fristen. Für die Aufklärung jedoch stellte der Vampi- rismus nicht nur ein recht willkommenes Indiz der immer noch drohenden Gefahr des Aber- glaubens dar, sonder n zugleich auch ein Para- debeispiel für die unerschöpflichen Möglichkei- ten menschlicher Verirrungen. Da die Aufklä rung sich wesentlich durch dasjenige, was sie zu erhellen gewillt war, definierte und ihre argu- mentative Kraft zu einem Gutteil aus der An- prangerung de r Gegenposition schöpfte, stellte für sie die Existenz eines klar fassbaren Gegners eine vitale Notwendigkeit dar. Der Vampiris- mus entpuppte sich in dieser Hinsicht als ein idealer Ersatz oder zumindest als eine Ergän- zung zu den historisch bereits ein wenig ver- blassten Hexenverfolgungen; an seinem Bei spiel vermochte die Aufklärung ihren Gegner , den «Aberglauben unserer guten dummen Alt vordern» (Wieland), dingfest zu machen und, indem sie ihn symbolhaft verdichtete, ihre ei- gene Position sinnfällig zu verdeutlichen. Doch die sich so selbstsicher und monoli- thisch gebende Aufklärung erweist sich bei nä- herem Zusehen als geradezu durchsetzt mit schillernden Zwischentönen. Gerade in ihrer Behandlung des Aberglaubens lüssi sich erken- nen, dass die Aufklärung in eine Dialektik ge- als deren Zielpunkt nur zu folgerichtig die Romantik erscheint. PHANTASTISCHE KONSTRUKTIONEN Denn just in ihrem Versuch, plausible natur- wissenschaftliche oder psychologische Erklü- . für die zur Diskussion stehenden Phäno- mene zu suchen, verstieg sich die Aufklärung nur zu oft in phantastische Konstruktionen, die mitunter dem unbeschwertesten Aberglauben in nichts zurückstanden. Der Versuch, die aber- gläubischen Apokrypha für die Vernunft zu re- klamieren und die naturwissenschaftliche Er- fahrung an die Stelle der leeren Spekulation und der trügerischen Imagination zu setzen, er- wies sich als doppelbödig: ausgerechnet in die- sem Herzstück der Aufklärung, dem sie einen Grossteil ihres Pathos verdankte, vollzog sich hinter ihrem Rücken der Umschlag in den Aberglauben. «Es sind zwey unterschiedene Mittel, die Meynung von diesen vermeinten Vampyren zu zernichten. Das erste ist die Erklärung aller Wunder des Vampyrismus durch physikalische Ursachen. Das andre, wenn wir die Wahrheit dieser Geschichten gänzlich leugnen und dieses letzte ist ohne allen Zweifel das sicherste und klügste», schreibt Boyer d'Argens. Aber auch er bescheidet sich nicht mit der von ihm vorge- schlagenen zweiten Lösung, denn: war nicht die Existenz dieser unheimlichen Toten durch offi- zielle und von Regierungsärzten unterzeichnete Dokumente verbürgt? Oder um die Worte Rousseaus zu gebrauchen: «S'il y a dans le monde une histoire attestee, c'est celle des Wampirs. Rien n'y manque, proces verbaux cer- tificats de Notables, de Chirurgiens, de Cures, de Magistrats. La preuve juridique cst de plus complettes. Avec cela, qui es-ce qui croit aux Wampirs? Serons-r.ous tous damnes pour n'y avoir pas cru?» Der Aufklärung, der geschichtliches Denken und Verstehen so fern lag, erwuchs aus diesem Unvermögen die stets drohende Gefahr, sich in dem verschlungenen Irrgarten der abergläubi- schen Facta und Ficta zu verlieren. Da sie nicht oder nur höchst ungenügend über die Mittel der historischen Kritik verfügte, war sie gezwungen, den um vieles mühevolleren We g über den Ver- such einer Erklärung des Aberglaubens einzu- schlagen. Daher auch ihre «Begierde, die wah- ren Ursachen des Vampyrismus» an den Tag zu bringen, die sich auf die irrige Meinung grün- dete: «Ein Wunder erklären heisst ein Wunder vernichten» (Taschenbuch für Aufklärer). Eben diese Haltung hat zur Folge, dass vor- nehmlich die Frühaufklärung zwar die aber- gläubische Interpretation von Vorgängen und Dingen in der Welt ablehnt, deren Existenz sel- ber aber nur höchst seiten in Zweifel zieht. Ihr überzogenes Vertrauen in die Mächtigkeit der Vernunft, auch noch das Abseitigste einer Er- klärung zuführen zu können, brachte mit sich, dass die Aufklärung letztlich an die abergläubi- schen Bilder und Vorstellungen gebunden blieb. Dabei ist ihr keine Erklärung zu gesucht, zu ab- strakt oder zu abenteuerlich, wenn sie nur an die Stelle einer behaupteten Geisterwirkung zu treten vermag. Die Frage etwa, wie die Vampire ihre Gräber überhaupt verlassen können, rätselt ein Arzt in einer damaligen wissenschaftlichen Zeitschrift, könne man vielleicht mit der Be- schaffenheit der dortigen Erde beantworten: diese sei von einer derart leichten und porösen Beschaffenheit, dass man mit Leichtigkeit einen Stock in sie zu stossen vermöge. Dabei übersieht er vollständig, dass er dadurch die Möglichkeit einer Existenz von Vampiren weiter ausbaut und ihre Plausibilität verstärkt. Ein anderer versucht das berichtete Schmat- zen der Toten durch das Einfallen des Sarges zu erklären, welches einen ähnlichen Schall erzeu- ge; auch sei nicht auszuschliessen, dass lebendig Begrabene die Ursache dieses Phänomens seien. Die angeblich von den Vampiren zerkauten oder angefressenen Leichentücher schliesslich seien nichts Aussergewöhnliches und hessen «sich nicht ohne Wahrscheinlichkeit daher lei- ten, dass, indem man die Leichen getragen, und ins Grab gesenckt, durch solche Bewegung ein Stück vom Leichen-Geräthe derselben vor, oder in den Mund gerathen, und nachdem aus dem Munde des faulenden Cörpers, wie zu gesche- hen pflegt, eine Feuchtigkeit geflossen, dassel- bige dadurch benetzet worden, dass es das An- sehen gewonnen, als wäre es beleckt». Mit der- artigen Erklärungsversuchen betritt die Aufklä- rung ganz unmerklich die Welt des von ihr doch so heftig bekämpften Aberglaubens. GESELLSCHAFTLICHE BEDINGUNGE N Die Aufklärung hat im Grunde den Aber- glauben nie ganz ernst genommen und ver- mochte deshalb dessen gesellschaftlich bedingte Berechtigung nicht zu erkennen. Das propagan- distisch wirksame Vorgehen, den Aberglauben verkürzt und deshalb abstrakt als Auswuchs menschlicher Obstinatheit oder bestenfalls als politisches Unterdrückungsinstrument darzu- stellen, rächte sich in dem Umstand, dass die Aufklärung sich keinen rechten Reim darauf machen konnte, wieso es eigentlich erst so spät dazu kam, dass man «die Regeln der gesunden Vernunft höher hält, als die Autorität Päbsti- scher und alt-vettelischer Fabeln» (Thomasius). Vornehmlich in der Spätaufklärung beginnt sich eine etwas differenziertere Behandlungsart des Aberglaubens herauszukristallisieren. Zwar wird zuweilen immer noch versucht, die zur Diskusion stehenden Phänomene kausal aufzu- lösen, aber das Hauptaugenmerk richtet sich nun auf die dem Menschen innewohnenden Ur- sachen, die den Aberglauben evozieren: Fehlen von geordneter Erfahrung, unsachgemässe An- wendung der Vernunft, uncingeschrünkte Herr- schaft von Phantasie und Imagination, so heis- sen jetzt die Faktoren, in denen diese nun gleichsam erkenntniskritische Diagnose die Wurzeln des Aberglaubens dingfest zu machen versucht. Dem korrespondiert auf der mehr mo- ralischen Seite ein Mangel an eigenständiger Denkfähigkeit, die im Verein mit der Leicht- gläubigkeit gar in Denkfaulheit ausarten kann. Der Mangel an gründlicher Naturkenntnis ist zwar noch nach wie vor eine Hauptursache des Aberglaubens, aber dieser wird nun auf seine erkenntnistheoretischen und individual- psychologischen Ursachen hin analysiert. Sagenhafte Berichte werden nicht mehr län- ger mit einer dürftigen Erklärung versehen oder mit einem blossen Achselzucken zurückgewie- sen, sondern man versucht, die Umstünde ihrer Entstehung und die psychisch-seelische Verfas- sung des Erstatters zu erforschen. Zugleich lässt diese Verlagerung des Erkenntnisinteresses auf eine gleichsam metatheoretische Ebene den Aberglauben nicht mehr länger als etwas gänz- lich Unnachvollziehbares erscheinen. Ein neu sich anbahnendes Verständnis, welches in der Romantik seine Erfüllung finden sollte, macht sich zum Grundsatz, «dass die genauere Unter- suchung auch des albernsten Aberglaubens zu etwas interessantem Wahren hinführe» (Hey- denreich). Und da und dort bricht sich gar die an den Historismus gemahnende Einsicht Bahn, dass spätere Zeiten über Erfahrungen verfügen, «welche aber die von dem Aberglauben einmal angesteckten Leute damals nicht machen konn- ten». PSYCHOLOGISIERUNGEN In diesem Sinn bemüht sich nun die Aufklä- rung vermehrt, die Genesis des Aberglaubens zu erkennen und gleichsam einen harten Kern her- auszuschälen, der sich als ein allgemein menschliches Gut entpuppt. So erblickt Justus Moser in vielen scheinbar abergläubischen Re- geln «Klötzchen», die in pädagogischer Weise dazu dienen, den Kindern ein bestimmtes mora- lisches Verhalten deutlicher einzuprägen: «An- statt nun überall die Reste des Aberglaubens unserer Vorfahren auszuspüren, und ihnen sol- che zur äussersten Einfalt anzurechnen, sollte man den Geist oder den Sinn dieser ihrer Lehr- methode aufsuchen, und sehen, ob die Allegorie wohl erfunden und mit der gehörigen Mässi- gung gebraucht sei, und dann urtheilen. Bei dieser gleichsam ästhetischen Beurtei- lung des Aberglaubens ist es nicht verwunder- lich, dass dieser mit der Zeit eine nachsichtigere Behandlung erfährt. So fragt sich ein Anony- mus, ob nicht die Pfählung und Verbrennung der angeblichen Vampire die «Invention eines geschickten Medici» gewesen sei, der dadurch die verängstigten Leute von ihrer Furcht und damit von ihrer Krankheit zu befreien trachtete, und ein anderer kommt nicht umhin anzuerken- nen, dass durch dieses Prozedere die seiner Mei- nung nach zugrunde liegende epidemische Krankheit «wenigstens, da das Volk seinen Wil- len hatte, gemindert wurde». Aber eben dieses Eingehen auf die im Innern der Subjekte verborgenen Quellen des Aber- glaubens brachte der Aufklärung schmerzlich zum Bewusstsein, dass dieser sich nicht nur aus menschlicher Dummheit oder Bosheit speiste, sonder n im Gegenteil tieferen Bedürfnissen ent- sprach. Sie musste erkennen, dass sich die Men- schen nicht ihrem verengten Vernunftbegriff fügten und dass das «laute und Bacchantische Lachen» (Wieland) über den Aberglauben der vergeblich Aufzuklärenden am Ende auf sie sel- ber fiel. Denn was vermochten, so fragt Wie- land, alle «Einwendungen einer gesunden Filo- sofie» gegen «die instinktartige Neigung zum Wunderbaren», gegen das Drängen des Her- zens, die «Partey der Geister» und «die verfolg- ten Fantome» vor der Aufklärung in Schutz zu nehmen? Neben dieser «schwachen Seite der mensch- lichen Natur» nahm sich die menschheitsge- schichtlich ohnehin späte und prekäre Errun- genschaft der immer «noch ungewohnten Ver- nunft» recht schwach aus, und die hilflose Ver- sicherung, man solle in diesem «wagerechten Schwanken» zwischen dem lockenden Ruf des Herzens und den strengen Ermahnungen der Vernunft den letzteren Gehör schenken, ver- mochte nicht zu überzeugen. Das konsequente Durchdenken dieses Umstandes konnte nur be- deuten, dass sich die Aufklärung in sich selber umstülpte: «diese unangenehm schnarrende Saite», nämlich «die immer fortdauernden, in der schwachen Seite des Menschen gegründeten Ursachen» des Aberglaubens, stimmte sich nur zu folgerichtig in das sanftere Spiel der sich an- bahnenden Romantik ein. Die redlichen Bemühungen der Aufklärung mussten an den skizzierten Unzulänglichkeiten scheitern, und als sie sich dessen inne wurde, bedeutete dies zugleich ihre eigene Aufhebung. Es traf eben überhaupt nicht zu, was ein zeitge- nössischer Skribent vermutete: «Nach der Zeit [1732] hat man wenig mehr von den Vampyren gehöret. Diese Art der Gespenster ist auf einmal verschwunden. Vermuthlich sind die Einwohner in Servien durch die damals häufig heraus gege- bene Schriften von Vampyren klüger geworden, und haben ihren Irrthum eingesehen.» Neue Zürcher Zeitung vom 04.08.1979

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Samstig/Somitag, 4./5. August 1979"' Nr. 178 LITERATUR UND KUNST 31cm <;3iird)cr3cilimß

Edvard Munch: Vampir. Um 1894.

Die unbefriedigte Aufklärung

Die V a mp ird is ku s s i on der I 7 30er Jahre

Von Alain Godel

Der Vampirismus, der dank der Filmindu-strie e b en eine neuerliche Renaissance erlebt,wird gemeinhin als eine Schöpfung der dichteri-schen Phantasie angesehen. Der Stoff hat inGoethes «Braut von Korinth», in Byrons Vam-pirfragment, welches Polidori zu der Novelle«The Vampyre. A Tale» (1819) ausarbeitete,über Brain Stoker bis hin zu den zahllosen filmi-schen Umsetzungen mancherlei Ausgestaltun-gen erfahren.

Es gab jedoch eine Zeit, in der das Vampir-thema weit entfernt, als Feierabendgrusel zudienen die Gemüter in vielerlei Hinsicht be-schäftigte und nicht selten erhitzte, wo Gelehrteersten Ranges zur Feder griffen, um sich überdiese seltsamen Wesen auszulassen, und in dersowoh| die ehrwürdige Sorbonne wie auch diePreussische Akademie der Wissenschaften sichgenötigt sahen, offizielle Gutachten über dieseSache abzugeben.

Denn im Frühling des Jahres 1732 schreck-ten sonderbare Nachrichten aus den Südslawi-schen Gebieten, die erst kürzlich durch den Pas-sarowitzer Frieden dem österreichischen Reicheinverleibt worden waren, das gelangweilte

Wien auf:Wien, den 5. Märtu

«Dem Vernehmen nach haben Ihro Kayseri.Majestät den Casum mit denen so genanntenVampyren, so in Sennischer Sprache Blut-Saugerheisset, wegen darbey befindlichen Umständen,dass nemlich ein schon längst verstorbener undbegrabener Mensch des Nachts zu seinen lebendenFreunden gekommen, und denenselben das Blutdergestalt aussaugen können, dass diese davonsterben, und nach ihren Tode auch wiederum der-gleichen Blut-Sauger abgeben müssen, auch beyAusgrabung so thaner Cörper, wenn selbigen nachder gewöhnlichen Execution, durch den Scharf-richter ein Pfahl durch das Hertz geschlagen wor-den, gantz frisches Blut daraus geflossen, und ih-nen theils an statt der abgeschabten alten Nägel

wiederum neue, wie auch frisches Haar gewachsen

seyn soll, was Ihro Majestät von sothaner Curio-sität und Wichtigkeit zu seyn erachtet, dass Aller-höchst bei verschiedenen Universitäten um derenSentiment und Gutachten hat einholen lassen.»

Der zuständige Hofkriegsrat schickte aufdiese Nachricht hin eine aus Offizieren undFeldärzten bestehende Untersuchungskommis-

sion aus, die den Sachverhalt genauer prüfensollte. Dabei stellte sich heraus, dass ein gewis-

ser Arnold Paole, gleichsam als «Erzvampir»,wie später Voltaire spöttisch anmerken sollte, ineinem kleinen serbischen Dorfe über ein Dut-zend Personen zu Tode gebracht hatte, die beiihrer Exhumierung alle Anzeichen einer einge-

tretenen Vampirierung aufwiesen. Da die öster-reichische Kriegsverwaltung in dem immernoch militärisch besetzten Gebiete Unruhen be-fürchtete, willigte sie in eine nachträglich undfeierlich durchgeführte Exekution des ArnoldPaole ein

Dass die anfänglich nur handschriftlich zir-kulierenden Relationen über diese seltsamenVorfälle einen willkommenen Stoff für die ga-

lanten Salonkreise Wiens abgaben, versteht sichvon selbst: «Durch diese Nachrichten wurdejedermann in die gröste Verwunderung gesetzet.

In allen Zusammenkünften hoher und niedererStands-Personen wurde davon geredet. Auchdie Dames fiengen an darüber zu raisonniren.Niemand wüste, was er daraus machen nochvor was er es ausgeben solte.» Und auch dierührigen Buchverleger wussten ihre Chance zunutzen: «Immitelst gab dieser Anlass, dass,

wenn man an der letztverwichenen Leipziger

Oster-Messe in einen Buchladen gieng, man

überall etwas von denen Blut-Saugern zu Ge-sichte bekam.»

ANTWORT DER GELEHRTEN

Ebensowenig hielt sich die gelehrte Welt zu-rück: Innerhalb nur eines einzigen Jahres, näm-lich 1732, erschienen an die zwanzig Spezialab-handlungen, darunter ein halbes Dutzend latei-nisch geschriebene Universitätsdissertationen,die mitunter über hundert Seiten stark dasThema behandelten. Alle diese zahlreichen Ar-beiten stützten sich auf denselben, im hand-schriftlichen Original nur einige wenige Blätterausmachenden Bericht der Feldärzte.

Aber aus welchem Grund, so muss man sichfragen, vermochte der Vampirismus sich als einakademisch durchaus ernstzunehmender Dis-kussionsgegenstand zu etablieren? Sicher stelltedie angebliche Unverweslichkeit der Vampireein insbesondere für katholische Theologen un-angenehmes Problem dar, und in der Tatsteuerte denn diese Seite auch einige Vampir-schriften bei. Aber d er Hauptgrund für die Ent-stehung dieser unverhältnismässig ausgedehn-

ten literarischen Fehde ist darin zu suchen, dassder Vampirismus, gleichsam nur als Staffagedienend, ein ideales Schlachtfeld abgab, aufdem die mächtig sich rührende Aufklärung ih-rem Gegner, dem leidigen Aberglauben, der«abscheulichen Bestie der Superstition»(Thomasius), den Garaus zu machen hoffte.

Dabei wurde unter «Aberglauben» nicht nurderjenige des Volkes, sondern auch der wissen-schaftlich sich gebende Aberglaube verstanden,der versuchte, den Vampirismus als eine Wir-kung von Geistern und sympathetischen Kräf-ten zu erklären. Diese magisch-hermetische In-terpretation der Natur, deren einflussreicheUeberlieferung sich letztlich auf Marsilius Fici-nus, Paracelsus und Agrippa von Nettesheimzurückschrieb, versuchte am Beispiel des Vam-pirismus ein letztesmal, sich gegen den aufkläre-rischen Rationalismus, hier der WolffschenSpielart, durchzusetzen. Aber gegen die mit Ma-thematik und Geometrie operierenden Erfah-rungswissenschaften hatte die magisch inspi-rierte Weltdeutung keine Chance und wurdespätestens seit den 1740er Jahren als ernstzu-nehmender Diskussionspartner von der akade-mischen Schaubühne verbannt, um als zwielich-tige Volksheilbücher oder gar im Stile eines«Sechsten und Siebten Buch Salomonis» bisweit ins 19. Jahrhundert hinein ein Schattenda-sein zu fristen.

Für die Aufklärung jedoch stellte der Vampi-rismus nicht nur ein recht willkommenes Indizder immer noch drohenden Gefahr des Aber-glaubens dar, sondern zugleich auch ein Para-debeispiel für die unerschöpflichen Möglichkei-ten menschlicher Verirrungen. Da die Aufklärung sich wesentlich durch dasjenige, was sie zuerhellen gewillt war, definierte und ihre argu-mentative Kraft zu einem Gutteil aus der An-prangerung d er Gegenposition schöpfte, stelltefür sie die Existenz eines klar fassbaren Gegners

eine vitale Notwendigkeit dar. Der Vampiris-mus entpuppte sich in dieser Hinsicht als einidealer Ersatz oder zumindest als eine Ergän-zung zu den historisch bereits ein wenig ver-blassten Hexenverfolgungen; an seinem Beispiel vermochte die Aufklärung ihren Gegner,den «Aberglauben unserer guten dummen Altvordern» (Wieland), dingfest zu machen und,indem sie ihn symbolhaft verdichtete, ihre ei-gene Position sinnfällig zu verdeutlichen.

Doch die sich so selbstsicher und monoli-thisch gebende Aufklärung erweist sich bei nä-herem Zusehen als geradezu durchsetzt mit

schillernden Zwischentönen. Gerade in ihrerBehandlung des Aberglaubens lüssi sich erken-nen, dass die Aufklärung in eine Dialektik ge-

als deren Zielpunkt nur zu folgerichtig dieRomantik erscheint.

PHANTASTISCHE KONSTRUKTIONEN

Denn just in ihrem Versuch, plausible natur-wissenschaftliche oder psychologische Erklü-. für die zur Diskussion stehenden Phäno-mene zu suchen, verstieg sich die Aufklärung

nur zu oft in phantastische Konstruktionen, diemitunter dem unbeschwertesten Aberglauben innichts zurückstanden. Der Versuch, die aber-gläubischen Apokrypha für die Vernunft zu re-klamieren und die naturwissenschaftliche Er-fahrung an die Stelle der leeren Spekulation

und der trügerischen Imagination zu setzen, er-wies sich als doppelbödig: ausgerechnet in die-sem Herzstück der Aufklärung, dem sie einenGrossteil ihres Pathos verdankte, vollzog sichhinter ihrem Rücken der Umschlag in denAberglauben.

«Es sind zwey unterschiedene Mittel, dieMeynung von diesen vermeinten

Vampyren zuzernichten. Das erste ist die Erklärung allerWunder des Vampyrismus durch physikalische

Ursachen. Das andre, wenn wir die Wahrheitdieser Geschichten gänzlich leugnen und diesesletzte ist ohne allen Zweifel das sicherste undklügste», schreibt Boyer d'Argens. Aber auch erbescheidet sich nicht mit der von ihm vorge-schlagenen zweiten Lösung, denn: war nicht dieExistenz dieser unheimlichen Toten durch offi-zielle und von Regierungsärzten unterzeichneteDokumente verbürgt? Oder um die WorteRousseaus zu gebrauchen: «S'il y a dans lemonde une histoire attestee, c'est celle desWampirs. Rien n'y manque, proces verbaux cer-tificats de Notables, de Chirurgiens, de Cures,

de Magistrats. La preuve juridique cst de pluscomplettes. Avec cela, qui es-ce qui croit auxWampirs? Serons-r.ous tous damnes pour n'y

avoir pas cru?»

Der Aufklärung, der geschichtliches Denkenund Verstehen so fern lag, erwuchs aus diesemUnvermögen die stets drohende Gefahr, sich indem verschlungenen Irrgarten der abergläubi-

schen Facta und Ficta zu verlieren. Da sie nichtoder nur höchst ungenügend über die Mittel derhistorischen Kritik verfügte, war sie gezwungen,

den um vieles mühevolleren W eg über den Ver-such einer Erklärung des Aberglaubens einzu-schlagen. Daher auch ihre «Begierde, die wah-ren Ursachen des Vampyrismus» an den Tag zubringen, die sich auf die irrige Meinung grün-

dete: «Ein Wunder erklären heisst ein Wundervernichten» (Taschenbuch für Aufklärer).

Eben diese Haltung hat zur Folge, dass vor-nehmlich die Frühaufklärung zwar die aber-gläubische Interpretation von Vorgängen undDingen in der Welt ablehnt, deren Existenz sel-ber aber nur höchst seiten in Zweifel zieht. Ihrüberzogenes Vertrauen in die Mächtigkeit derVernunft, auch noch das Abseitigste einer Er-klärung zuführen zu können, brachte mit sich,

dass die Aufklärung letztlich an die abergläubi-

schen Bilder und Vorstellungen gebunden blieb.Dabei ist ihr keine Erklärung zu gesucht, zu ab-strakt oder zu abenteuerlich, wenn sie nur andie Stelle einer behaupteten Geisterwirkung zutreten vermag. Die Frage etwa, wie die Vampire

ihre Gräber überhaupt verlassen können, rätseltein Arzt in einer damaligen wissenschaftlichenZeitschrift, könne man vielleicht mit der Be-schaffenheit der dortigen Erde beantworten:diese sei von einer derart leichten und porösenBeschaffenheit, dass man mit Leichtigkeit einenStock in sie zu stossen vermöge. Dabei übersiehter vollständig, dass er dadurch die Möglichkeit

einer Existenz von Vampiren weiter ausbautund ihre Plausibilität verstärkt.

Ein anderer versucht das berichtete Schmat-zen der Toten durch das Einfallen des Sarges zuerklären, welches einen ähnlichen Schall erzeu-ge; auch sei nicht auszuschliessen, dass lebendigBegrabene die Ursache dieses Phänomens seien.Die angeblich von den Vampiren zerkautenoder angefressenen Leichentücher schliesslichseien nichts Aussergewöhnliches und hessen«sich nicht ohne Wahrscheinlichkeit daher lei-ten, dass, indem man die Leichen getragen, undins Grab gesenckt, durch solche Bewegung einStück vom Leichen-Geräthe derselben vor, oderin den Mund gerathen, und nachdem aus demMunde des faulenden Cörpers, wie zu gesche-

hen pflegt, eine Feuchtigkeit geflossen, dassel-bige dadurch benetzet worden, dass es das An-sehen gewonnen, als wäre es beleckt». Mit der-artigen Erklärungsversuchen betritt die Aufklä-rung ganz unmerklich die Welt des von ihr dochso heftig bekämpften Aberglaubens.

GESELLSCHAFTLICHE BEDINGUNGEN

Die Aufklärung hat im Grunde den Aber-glauben nie ganz ernst genommen und ver-mochte deshalb dessen gesellschaftlich bedingteBerechtigung nicht zu erkennen. Das propagan-distisch wirksame Vorgehen, den Aberglauben

verkürzt und deshalb abstrakt als Auswuchsmenschlicher Obstinatheit oder bestenfalls alspolitisches Unterdrückungsinstrument darzu-stellen, rächte sich in dem Umstand, dass dieAufklärung sich keinen rechten Reim daraufmachen konnte, wieso es eigentlich erst so spät

dazu kam, dass man «die Regeln der gesunden

Vernunft höher hält, als die Autorität Päbsti-scher und alt-vettelischer Fabeln» (Thomasius).

Vornehmlich in der Spätaufklärung beginnt

sich eine etwas differenziertere Behandlungsart

des Aberglaubens herauszukristallisieren. Zwar

wird zuweilen immer noch versucht, die zurDiskusion stehenden Phänomene kausal aufzu-lösen, aber das Hauptaugenmerk richtet sichnun auf die dem Menschen innewohnenden Ur-sachen, die den Aberglauben evozieren: Fehlenvon geordneter Erfahrung, unsachgemässe An-wendung der Vernunft, uncingeschrünkte Herr-schaft von Phantasie und Imagination, so heis-sen jetzt die Faktoren, in denen diese nungleichsam erkenntniskritische Diagnose dieWurzeln des Aberglaubens dingfest zu machenversucht. Dem korrespondiert auf der mehr mo-ralischen Seite ein Mangel an eigenständigerDenkfähigkeit, die im Verein mit der Leicht-gläubigkeit gar in Denkfaulheit ausartenkann.

Der Mangel an gründlicher Naturkenntnisist zwar noch nach wie vor eine Hauptursachedes Aberglaubens, aber dieser wird nun aufseine erkenntnistheoretischen und individual-psychologischen Ursachen hin analysiert.

Sagenhafte Berichte werden nicht mehr län-ger mit einer dürftigen Erklärung versehen odermit einem blossen Achselzucken zurückgewie-sen, sondern man versucht, die Umstünde ihrerEntstehung und die psychisch-seelische Verfas-sung des Erstatters zu erforschen. Zugleich lässtdiese Verlagerung des Erkenntnisinteresses aufeine gleichsam metatheoretische Ebene denAberglauben nicht mehr länger als etwas gänz-

lich Unnachvollziehbares erscheinen. Ein neusich anbahnendes Verständnis, welches in derRomantik seine Erfüllung finden sollte, machtsich zum Grundsatz, «dass die genauere Unter-suchung auch des albernsten Aberglaubens zuetwas interessantem Wahren hinführe» (Hey-denreich). Und da und dort bricht sich gar diean den Historismus gemahnende Einsicht Bahn,dass spätere Zeiten über Erfahrungen verfügen,

«welche aber die von dem Aberglauben einmalangesteckten Leute damals nicht machen konn-ten».

PSYCHOLOGISIERUNGEN

In diesem Sinn bemüht sich nun die Aufklä-rung vermehrt, die Genesis des Aberglaubens zuerkennen und gleichsam einen harten Kern her-auszuschälen, der sich als ein allgemein

menschliches Gut entpuppt. So erblickt JustusMoser in vielen scheinbar abergläubischen Re-geln «Klötzchen», die in pädagogischer Weisedazu dienen, den Kindern ein bestimmtes mora-lisches Verhalten deutlicher einzuprägen: «An-statt nun überall die Reste des Aberglaubens

unserer Vorfahren auszuspüren, und ihnen sol-che zur äussersten Einfalt anzurechnen, sollteman den Geist oder den Sinn dieser ihrer Lehr-methode aufsuchen, und sehen, ob die Allegorie

wohl erfunden und mit der gehörigen Mässi-gung gebraucht sei, und dann urtheilen.

Bei dieser gleichsam ästhetischen Beurtei-lung des Aberglaubens ist es nicht verwunder-lich, dass dieser mit der Zeit eine nachsichtigereBehandlung erfährt. So fragt sich ein Anony-mus, ob nicht die Pfählung und Verbrennungder angeblichen Vampire die «Invention einesgeschickten Medici» gewesen sei, der dadurchdie verängstigten Leute von ihrer Furcht unddamit von ihrer Krankheit zu befreien trachtete,und ein anderer kommt nicht umhin anzuerken-nen, dass durch dieses Prozedere die seiner Mei-nung nach zugrunde liegende epidemische

Krankheit «wenigstens, da das Volk seinen Wil-len hatte, gemindert wurde».

Aber eben dieses Eingehen auf die im Innernder Subjekte verborgenen Quellen des Aber-glaubens brachte der Aufklärung schmerzlichzum Bewusstsein, dass dieser sich nicht nur ausmenschlicher Dummheit oder Bosheit speiste,

sondern im Gegenteil tieferen Bedürfnissen ent-sprach. Sie musste erkennen, dass sich die Men-schen nicht ihrem verengten Vernunftbegrifffügten und dass das «laute und BacchantischeLachen» (Wieland) über den Aberglauben dervergeblich Aufzuklärenden am Ende auf sie sel-ber fiel. Denn was vermochten, so fragt Wie-land, alle «Einwendungen einer gesunden Filo-sofie» gegen «die instinktartige Neigung zumWunderbaren», gegen das Drängen des Her-zens, die «Partey der Geister» und «die verfolg-

ten Fantome» vor der Aufklärung in Schutz zunehmen?

Neben dieser «schwachen Seite der mensch-lichen Natur» nahm sich die menschheitsge-

schichtlich ohnehin späte und prekäre Errun-genschaft der immer «noch ungewohnten Ver-nunft» recht schwach aus, und die hilflose Ver-sicherung, man solle in diesem «wagerechten

Schwanken» zwischen dem lockenden Ruf desHerzens und den strengen Ermahnungen derVernunft den letzteren Gehör schenken, ver-mochte nicht zu überzeugen. Das konsequenteDurchdenken dieses Umstandes konnte nur be-deuten, dass sich die Aufklärung in sich selberumstülpte: «diese unangenehm schnarrendeSaite», nämlich «die immer fortdauernden, inder schwachen Seite des Menschen gegründeten

Ursachen» des Aberglaubens, stimmte sich nurzu folgerichtig in das sanftere Spiel der sich an-bahnenden Romantik ein.

Die redlichen Bemühungen der Aufklärungmussten an den skizzierten Unzulänglichkeitenscheitern, und als sie sich dessen inne wurde,bedeutete dies zugleich ihre eigene Aufhebung.Es traf eben überhaupt nicht zu, was ein zeitge-

nössischer Skribent vermutete: «Nach der Zeit[1732] hat man wenig mehr von den Vampyrengehöret. Diese Art der Gespenster ist auf einmalverschwunden. Vermuthlich sind die Einwohnerin Servien durch die damals häufig heraus gege-

bene Schriften von Vampyren klüger geworden,

und haben ihren Irrthum eingesehen.»

Neue Zürcher Zeitung vom 04.08.1979