Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800: Theorie - Epistemologie -...

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Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800 Herausgegeben von Thomas Klinkert Monika Neuhofer Walter de Gruyter

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Literatur, Wissenschaft und Wissen

seit der Epochenschwelle um 1800

Herausgegeben von Thomas Klinkert Monika Neuhofer

Walter de Gruyter

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Literatur, Wissenschaft und Wissenseit der Epochenschwelle um 1800

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spectrum Literaturwissenschaft /spectrum Literature

Komparatistische Studien /Comparative Studies

Herausgegeben von / Edited byAngelika Corbineau-Hoffmann · Werner Frick

Wissenschaftlicher Beirat / Editorial BoardSam-Huan Ahn · Peter-Andre Alt · Aleida Assmann · Francis ClaudonMarcus Deufert · Wolfgang Matzat · Fritz Paul · Terence James Reed

Herta Schmid · Simone Winko · Bernhard ZimmermannTheodore Ziolkowski

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

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Literatur, Wissenschaft und Wissenseit der Epochenschwelle um 1800

Theorie � Epistemologie �komparatistische Fallstudien

Herausgegeben vonThomas KlinkertMonika Neuhofer

Walter de Gruyter · Berlin · New York

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�� Gedruckt auf säurefreiem Papier,das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020051-5ISSN 1860-210X

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Inhalt

Thomas Klinkert/Monika Neuhofer Vorwort ................................................................................................................ 1

I. Epistemologische Grundlagen ........................................................ 17

Christian Kohlroß Ist Literatur ein Medium? Heinrich von KleistsÜber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Redenund der Monolog des Novalis............................................................................. 19

Jochen Hörisch Des Lesens Überfluss oder: Warum ist SelbstbewusstseinDAS Thema um 1800? ..................................................................................... 35

Gérard Dessons Le désavoir du poème: un mode spécifique de connaissance .................... 53

Thomas Klinkert Literatur, Wissenschaft und Wissen – ein Beziehungsdreieck (mit einer Analyse von Jorge Luis Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius) ....... 65

II. Die Generierung von Wissen durch literarische Texte. Zwei Fallbeispiele aus dem 19. Jahrhundert .................................. 87

Weertje Willms Wissen um Wahn und Schizophrenie bei Nikolaj Gogol’ und Georg Büchner. Vergleichende Textanalyse von Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) und Lenz............................................................................................................... 89

Niels Werber Effekte. Das Wissen der Literatur am Beispiel von Gustav Freytags Soll und Haben ..................................................................... 111

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VI

III. Zwischen Positivismus, Hypothesenstreitund Utopie. Das Paradigma Zola ...................................................... 125

Eckhard Höfner Zola – und kein Ende? Überlegungen zur Relation von Wissenschaft und Literatur. Der Roman expérimentalund der Hypothesen-Streit im 19. Jahrhundert .......................................... 127

Robert S. April Zola’s Utopian Novels. The Use of Scientific Knowledge in Literary New World Models ..................................................................... 167

Aurélie Barjonet Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft ............ 191

IV. Evolutionstheorie und Wissen vom Ding. Das frühe 20. Jahrhundert in den USA und Deutschland ...... 217

Heike Schäfer Choosing to Evolve: Evolutionary Theory, Pragmatism, and Modernist American Poetry ........................................... 219

Uwe C. Steiner Widerstand im Gegenstand. Das literarische Wissen vom Ding am Beispiel Franz Kafkas.................. 237

V. Zwischen Franquismus, Avantgarde und Postmoderne. Literatur und Wissenschaft in Spanien vor und nach der Transición ............................................................................................ 253

Werner Helmich Der wissenschaftliche Diskurs in Martín-Santos’ Tiempo de silencio ......... 255

Anke Wesser Fakten und Fiktion in Eduardo Mendozas Roman La ciudad de los prodigios .................................................................................... 273

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VII

VI. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts inFrankreich, Italien, England und den USA 291

Betül Dilmac Die Vermischung von literarischem und naturwissen- schaftlichem Diskurs bei Michel Houellebecq ............................................ 293

Barbara Kuhn Was weiß die Literatur? Die Frage der Zeit in Antonio Tabucchis Si sta facendo sempre più tardi .......................................... 313

Stefan Glomb Selbstbewusstsein jenseits der Zwei Kulturen: David Lodges Roman Thinks… ................................................................... 335

Sabine Sielke Science into Narrative, or: Novelties of a Cultural Nature ....................... 355

Anhang ........................................................................................................... 379

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes ...............................................381

Personenregister ................................................................................................385

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Vorwort

Spätestens seit der Epochenschwelle um 1800 lässt sich die Literatur als autonomes und operativ geschlossenes System (im Sinne von Niklas Luhmann) verstehen. Literatur bzw. Kunst steht damit gleichberechtigt und unabhängig neben Systemen wie Politik, Recht, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft. Trotz der im Literatursystem selbst reflektierten Auto-nomie aber kommt es insbesondere (wenngleich nicht ausschließlich) im Bereich des Romans seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder zu bedeutsamen Auseinandersetzungen mit Wissenschaft: Literarische Texte wetteifern mit dem Diskurstyp Wissenschaft und versuchen sich diesem anzupassen bzw. adaptieren aus ihm entlehnte Verfahren (Goethe, Balzac, Flaubert, Dostoevskij, Zola, Verga, Musil, Svevo, Thomas Mann, Borges, Martín-Santos, Calvino, Pynchon, Houellebecq usw.). Dieses bekannte und insbesondere für das 19. Jahrhundert vieldiskutierte Phänomen1 wird im vorliegenden Band aus der Perspektive verschiedener Disziplinen be-trachtet: Germanistik (Christian Kohlroß, Jochen Hörisch, Niels Werber, Uwe C. Steiner), Romanistik (Gérard Dessons, Thomas Klinkert, Eckhard Höfner, Aurélie Barjonet, Werner Helmich, Anke Wesser, Betül Dilmac, Barbara Kuhn), Anglistik/Amerikanistik (Heike Schäfer, Stefan Glomb, Sabine Sielke), Slavistik/Komparatistik (Weertje Willms), Medizin (Robert ______________________

1 Zum 19. Jahrhundert vgl. etwa Winfried Wehle, »Littérature des images. Balzacs Poetik der wissenschaftlichen Innovation«, in: Honoré de Balzac, hrsg. v. Hans Ulrich Gum-brecht/Karlheinz Stierle/Rainer Warning, München 1980, S. 57-81; Elke Kaiser, Wissen und Erzählen bei Zola, Tübingen 1990; Frank Wanning, Gedankenexperimente. Wissenschaft und Ro-man im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1999; Poetologien des Wissens um 1800, hrsg. v. Joseph Vogl, München 1999; Eckhard Höfner, »Wissenschaftsrezeption und Erzähler-Strategien im realistischen Roman des französischen und italienischen 19. Jahrhunderts«, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt, Tü-bingen 2002, S. 190-219; Marc Föcking, Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissen-schaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen 2002; Erzählen und Wissen. Para-digmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, hrsg. v. Gabriele Brandstetter, Freiburg 2003. Auch zum 18. und zum 20. Jahrhundert gibt es Untersuchun-gen, vgl. etwa Konflikt der Diskurse. Zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im modernen I-talien, hrsg. v. Helene Harth et al., Tübingen 1991; Paolo Quintili, La pensée critique de Dide-rot. Matérialisme, science et poésie à l’âge de l’Encyclopédie. 1742-1782, Paris 2001; »Scientia poetica«. Literatur und Naturwissenschaft, hrsg. v. Norbert Elsner/Werner Frick, Göttingen 2004; Fran-çois Vannucci, Marcel Proust à la recherche des sciences, Paris 2005; Edward Bizub, Proust et le moi divisé. La »Recherche«: creuset de la psychologie expérimentale (1874-1914), Genève 2006; Contempo-rary Poetry and Contemporary Science, hrsg. v. Robert Crawford, Oxford 2006.

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Vorwort2

S. April). Die Beiträge versuchen, in Bezug auf folgende Problemfelder Position zu beziehen bzw. auf folgende Fragestellungen Antworten zu geben:

1. Systemtheoretisch: Wie ist es zu verstehen, dass Literatur seit 1800 auf das fremde System der Wissenschaft rekurriert, nachdem sie doch gerade erst die Heteronomie (in Bezug auf Staat, Kirche etc.) überwunden hat? Welche Kompatibilitätsprobleme ergeben sich, wenn ein System, das auf Leitdifferenzen wie ›schön/hässlich‹ oder ›interessant/langweilig‹ beruht, auf ein System stößt, dessen Leitdifferenz ›wahr/falsch‹ lautet? Welchen Status von Autonomie kann man für ein soziales System reklamieren, wenn dieses sich durch nicht bloß punktuelle Anleihen mit einem anderen System vernetzt?

2. Darstellungsästhetisch: Welche Folgen haben die poetologischen Be-zugnahmen auf den Diskurstyp Wissenschaft für literarische Darstellungs-formen und Schreibweisen? Die Darstellungsformen reichen etwa in der Gegenwartsliteratur von der zitierenden Verwendung wissenschaftlicher Diskurselemente in ihrer Fremdheit (z.B. bei Luis Martín-Santos oder Michel Houellebecq) bis hin zu einer integrierenden, ›literarischen‹ Art der Darstellung, wobei sich der literarische Stil häufig unterschwellig in Wech-selwirkung mit der dargestellten wissenschaftlichen Problematik ändert (Italo Calvino, Daniele Del Giudice).

3. Epistemologisch: Das andauernde Interesse der Literatur an Wissen-schaft scheint zu indizieren, dass es auch der Literatur (oder vorsichtiger: einem ihrer Teilbereiche) um Wissensgewinnung geht. Demnach ist in diesem Zusammenhang die Frage nach dem literaturspezifischen Wissen zu stellen: Vermittelt Literatur ein ihr eigenes Wissen? Hat sie eine episte-mische Funktion? Wenn ja, worin besteht dieses Wissen und wodurch unterscheidet es sich von nicht-literarischem Wissen?

Da die Beiträge auf diese allgemeinen Fragen jeweils anhand eines in der Regel einzelphilologisch beschränkten Gegenstandes antworten, soll in diesem Vorwort der Versuch unternommen werden, nicht nur die hier versammelten Aufsätze kurz zu präsentieren, sondern auch, soweit mög-lich und sinnvoll, Querverbindungen zwischen ihnen sichtbar zu machen und dadurch den interdisziplinären Anspruch des Bandes zu untermauern.

I. Die Untersuchungen von Christian Kohlroß, Jochen Hörisch, Gérard Dessonsund Thomas Klinkert widmen sich der Frage nach den epistemologischen Grundlagen des Zusammenhangs von Literatur, Wissenschaft und Wis-sen.

Kohlroß stellt die Frage, ob Literatur, insbesondere Dichtung, eine be-sondere Art des Wissens enthalte oder vermittle. Er bezieht sich auf die

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Vorwort 3

von Platon im Theätet gegebene Definition des Wissens als einer Überzeu-gung, die sowohl gerechtfertigt als auch wahr sein müsse. Im Gegensatz nun zu der platonischen Auffassung, welche präsupponiert, dass die Ge-genstände des Wissens außerhalb und unabhängig von der Sprache existie-ren – Kohlroß spricht hier pointiert von der »Tyrannei des Objektiven« –, zeigt sich bei Autoren wie Kleist und Novalis, dass es ein Wissen geben kann, welches sich nur im sprachlichen Vollzug einstellt. Ein solches Wis-sen beruht auf Überzeugung und Rechtfertigung, verzichtet aber auf das Moment der (sprachtranszendenten) Wahrheit im platonischen Sinn. Wahrheit manifestiert sich bei dieser Form des Wissens allein in der (sprachlich-literarischen) Darstellung. Diese sprachzentrierte Auffassung von Subjekt und Wissen, welche seit 1800 in der von Kohlroß als »Litera-rische Epistemologie« bezeichneten, u.a. durch Kleist und Novalis reprä-sentierten Tradition formuliert wird, konvergiert mit Auffassungen von Philosophen wie Robert B. Brandom, der ebenfalls das Moment der Wahrheit aus seiner Wissensdefinition eliminiert. Insofern Literatur qua Darstellung (d.h. durch die Vermittlung von Perspektiven, Haltungen, Einstellungen) Festlegungen eingeht und diese auch begründet, vermittelt sie ihren Rezipienten eine bestimmte Form von Wissen. Das Erschließen der Gründe, die dafür sprechen, dass es gerechtfertigt ist, eine bestimmte Perspektive auf die Welt einzunehmen, erfolgt nicht explizit diskursiv, sondern implizit durch die Darstellung selbst. Literatur ist somit für Kohl-roß nicht ein Speicher, in dem außerliterarisches Wissen deponiert würde, welches von Lesern entnommen werden könnte, sondern Literatur ist ein Medium des Wissens. Was wir durch Literatur erfahren, können wir – so wie wir auf unsere Augen und Ohren angewiesen sind, um zu sehen und zu hören, und diese durch nichts ersetzen können – nur durch sie erfahren. Das Wissen, das die Literatur uns eröffnet, ist ein Metawissen, insofern sie uns die Ermöglichungsbedingungen unseres sprachlichen Welterschlie-ßens begreifen lässt.

Hörisch wählt einen mediengeschichtlichen Ausgangspunkt, nämlich die Überproduktion an poetischen Schriften, Kunstwerken und wissen-schaftlichen bzw. theoretischen Neuansätzen in der Zeit um 1800. Die bei Schriftstellern wie Goethe, Schiller, Novalis und Jean Paul zu beobach-tende paradoxe Reaktion auf diese Situation besteht in der Klage darüber, dass die poetische Überproduktion das lesende Erfassen derselben un-möglich mache, bei gleichzeitiger Vermehrung des Geschriebenen durch aktive eigene Beteiligung an der Überproduktion. Emblematische Ver-dichtung findet dieser Prozess in Kellers Novelle Die mißbrauchten Liebes-briefe, welche die Logik der Inflationierung des Geschriebenen ironisch bricht und sie in den Verzicht auf das Schreiben zugunsten des Zeugens von Nachkommen münden lässt. Neben dem Verstummen, welches Kel-

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Vorwort4

ler ironisch darstellt und welches in der Moderne dann zum paradoxen, sich selbst widerlegenden Topos wird (etwa bei Hildesheimer, der über sein eigenes Verstummen ›unendlich‹ viel redet), gibt es, so Hörisch, drei ›seriöse‹ Reaktionen auf die um 1800 krisenartig erlebte Überproduktion: die Hermeneutik als »selbstbewusste Maschinerie der Reduktion von Komplexität«, die Metastufenbildung bzw. das Reflexivwerden von Wis-sen, dessen Paradebeispiel die Theorien des Selbstbewusstseins (Kant, Fichte, Schelling, F. Schlegel) sind, und schließlich die Paradoxierung von Wissen, Metawissen und Selbstbewusstsein. Als Kronzeuge für diese dritte Strategie wird Hegel zitiert, der sich kritisch mit den Selbstbewusstseins-theorien auseinandersetzt und zeigt, dass Selbstbewusstsein nur als Kate-gorienfehler begründet werden kann. So leitet er nämlich die Existenz des »wissenden Ichs« aus der transsubjektiven Dialektik des Satzes, verstanden als Relation zwischen Subjekt und Prädikat, ab, wobei er sich die Homo-phonie von grammatischem Subjekt und Subjekt des Bewusstseins zunut-ze macht. In Hegels Argumentation ist eine widersprüchliche Doppelstra-tegie am Werk: Einerseits soll das »begreifende Denken« aus dem Gegen-stand des Begreifens herrühren, also aus einer jenseits des Sprachlichen liegenden Wirklichkeit; andererseits soll das Subjekt des Bewusstseins seinen Grund in der Sprache haben. Wie bei den von Kohlroß untersuch-ten Autoren Kleist und Novalis findet man also auch bei Hegel den Ge-danken, dass das Wissen ein Effekt der Sprache sein kann.

Dessons rekurriert wie Kohlroß auf Platon; er bezieht sich auf den Aus-schluss der Dichter aus dem idealen Staat im III. Buch der Politeia. Dieser Ausschluss der Dichter sei die Urszene der für die abendländische Epis-temologie charakteristischen Infragestellung des Verhältnisses von Litera-tur und Wissen. Diese Infragestellung erfolgt nicht nur in der antiken Philosophie, sondern auch in der modernen Linguistik: Dichter lügen (Platon) oder sie missachten die Maxime der Aufrichtigkeit (Austin). Um die spezifische Erkenntnisleistung der Dichtung aufzuzeigen, verlässt Dessons die ausgetretenen Pfade der philosophischen Reflexion und nä-hert sich dem Problem mithilfe der Kategorie der negativen Erkenntnis. In Anlehnung an Mallarmés »poème critique« spricht er der Dichtung allgemein die Eigenschaft der Negativität zu, und zwar in dem Sinne, dass sie sich kritisch gegenüber dem offiziellen Wissen verhält. Diese kritische Valenz erwächst der Dichtung nicht durch etwas ihr Äußeres (etwa ein »Engagement« im Sartreschen Sinne), sondern durch ihre Form, durch die Tatsache, dass es sich um ein sprachliches Werk handelt. Das epistemolo-gische Modell für dieses kritische Wissen der Dichtung übernimmt Des-sons von den Mystikern; es nennt sich désavoir (agnosia, ignorantia, unkno-wing). Désavoir bedeutet nicht die Absenz von Wissen, sondern eine Kritik des Wissens. Während im Bereich des logos die Erkenntnis sich darin aus-

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Vorwort 5

drückt, dass man die Dinge und Sachverhalte mit Namen versieht und dem Glauben huldigt, die Benennung erfasse die Substanz der Dinge, beschränkt man sich im Bereich des désavoir auf die Prädikation bzw. die metaphorische Gleichsetzung und befindet sich somit im Bereich der Literatur. Das Unnennbare (für die Mystiker ist es Gott) ist paradoxerwei-se die Voraussetzung des Sagens und damit die Voraussetzung einer un-endlichen (metaphorischen) Rede. Das Gedicht, so Dessons, partizipiert an dieser unendlichen Rede als Ausdruck eines désavoir, und die ihm inhä-rente Erkenntnis ist von ihrer sprachlichen Gestalt, ihrer énonciation, nicht abtrennbar. Man kann ein Gedicht nicht paraphrasieren, man kann es dagegen unendlich oft neu äußern; das Gedicht ist »réénonçable«. Eine historische Manifestationsform des désavoir ist Jules Laforgues Konzept der déculture, welches Dessons abschließend untersucht.

Klinkert versucht sich dem epistemologischen Status der Literatur durch den Rekurs auf systemtheoretische Kategorien anzunähern. Er geht aus von der Luhmannschen These, wonach Kunst/Literatur – wie auch andere gesellschaftliche Funktionsbereiche (Politik, Recht, Wirtschaft etc.) – um 1800 sich zu einem autonomen System ausdifferenziert. Die einzel-nen Funktionsbereiche haben sich auf je eine Funktion spezialisiert und können daher, so Luhmann, nicht wechselseitig füreinander einspringen. Vor diesem Hintergrund wird auf die dazu im Widerspruch stehende Tat-sache hingewiesen, dass in den Romanpoetiken von Balzac, Flaubert und Zola für eine wechselseitige Angleichung von Literatur und Naturwissen-schaft plädiert wird. Wenn Luhmanns Theorie stimmt, kann es eine solche Angleichung eigentlich nicht geben. Um diesen Widerspruch zu interpre-tieren, wird die Metaebene beobachtet, von der aus in der Gegenwart Naturwissenschaft und Literatur beschrieben und bewertet werden – an-hand der Nobelpreis-Laudationes des Jahres 2004. Dabei ergibt sich, dass zwar sowohl einer physikalischen Theorie als auch einem literarischen Werk bescheinigt werden kann, sie förderten die Erkenntnis, dass im Falle der Literatur jedoch nicht die Erkenntnisleistung dominant gesetzt wird, sondern die sprachliche Form. Das Wissen der Literatur liegt also in ihrer sprachlichen Form begründet und ist von dieser nicht ablösbar – so ja auch das Ergebnis der Beiträge von Kohlroß, Dessons und Hörisch. Wenn nun Literatur und Wissenschaft im Sinne Luhmanns funktional ausdifferenzierte Bereiche sind, es aber in der Höhenkammliteratur seit etwa 200 Jahren immer wieder zu Öffnungen und Grenzüberschreitungen von Literatur in Richtung Wissenschaft gekommen ist, so formuliert Klin-kert hiervon ausgehend die These, dass solche Grenzüberschreitungen in Extrembeispielen (z.B. Flaubert, Bouvard et Pécuchet, Musil, Der Mann ohne Eigenschaften) die Identität der Literatur gefährden können, worauf diese wiederum reagieren kann, indem sie das konflikthafte Verhältnis zwischen

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Literatur und Wissenschaft durch Paradoxierung sichtbar macht. Diese These wird anhand von Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius illustriert.

II. Anhand von Fallbeispielen aus dem 19. Jahrhundert wird in den Bei-trägen von Weertje Willms und Niels Werber dargelegt, auf welch unter-schiedliche Weise und mit welch unterschiedlichen Konsequenzen literari-sche Texte Wissen generieren können.

Willms betrachtet aus komparatistischer Perspektive das in literari-schen Texten von Gogol’ und Büchner sich manifestierende Wissen um Wahn und Schizophrenie. Ein Blick auf die Geschichte der Psychiatrie im frühen 19. Jahrhundert zeigt, dass es zwar bei Autoren wie Pinel und Has-lam vereinzelte Beobachtungen zur Symptomatologie der Schizophrenie, aber noch keine geschlossene Krankheitsbeschreibung gab. Umso erstaun-licher mutet es an, wenn in den 1830er Jahren in Gogol’s Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen und vor allem in Büchners Lenz selbst aus heutiger Sicht noch gültige Darstellungen von Schizophrenie mit nahezu allen typischen Symptomen vorgelegt werden. Daraus leitet Willms die These ab, dass die Literatur hier unabhängig von der Psychiatrie psychiatrisches Wissen ge-neriert hat, und zwar in dreierlei Hinsicht: bezüglich der (weitgehend voll-ständigen) Darstellung der (bis dahin nur vereinzelt beobachteten) Krank-heitssymptome, bezüglich der Vorgehensweise (Beschreibung der Symptome – Frage nach den Ursachen – Prognose der Krankheitsent-wicklung) und schließlich bezüglich der Einstellung zum Kranken, den man nicht mehr moralisch verurteilt, sondern als klinischen Fall betrach-tet. Ein Blick auf die Inhaltsebene der beiden Texte ergibt, dass in den Aufzeichnungen die Symptome einer wahnhaften, psychotischen Störung dargestellt werden, die am Ende in eine manifeste Psychose mündet. In Lenz handelt es sich nach heutigen Kriterien um die erste lehrbuchmäßige Darstellung einer Schizophrenie, die sich in psychotischen Anfällen oder Schüben vollzieht. Die unterschiedliche Erzählperspektive in beiden Tex-ten bewirkt, dass man mit Büchners Lenz mitfühlt, während sich gegen-über Gogol’s Ich-Erzähler Popryš in eher eine Abwehrhaltung einstellt. In beiden Fällen gelingt es der Literatur, die Welt eines psychisch Kranken von innen darzustellen und dadurch ein spezifisches Wissen zu generieren, welches von anderen Diskurssystemen so nicht hervorgebracht werden könnte.

Mit der außerliterarischen Rezeption von in literarischen Texten er-zeugtem Wissen setzt sich Werber auseinander. Er verfolgt dabei die The-se, dass – entgegen der systemtheoretischen Auffassung, wonach Wissen innerhalb des Literatursystems nur insofern wichtig ist, als es zu einem ästhetisch interessanten Formenarrangement beiträgt – außerliterarische Effekte in gewissen (wenn auch unwahrscheinlichen) Fällen gewichtiger

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ausfallen können als die innerliterarische Anschlussfähigkeit, die ein Text findet. Am Beispiel von Gustav Freytags Soll und Haben zeigt Werber, wie dieser Text ›Wissen‹ hervorbringt, das dann in unterschiedlicher Weise von der Gesellschaft ›wiederverwendet‹ wurde. Freytags Roman wird als eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung betrachtet, die mit bestimmten Konzepten (»polnische Wirtschaft«, »slawische Wüste«) und Oppositionen (»befestigtes Land« = Deutschland vs. »grenzenloses Meer« = Polen, »deutsche Zivilisation« vs. »polnisch-jüdisches Nomadentum«) operiert und diesen durch ihre narrative Einbettung eine Evidenz verleiht, welche dann in außerliterarischen Anschlusskommunikationen, insbesondere im geopolitischen Diskurs des 20. Jahrhunderts im Umfeld des Nationalso-zialismus, plausibilisierend gewirkt haben. Während jedoch die Freytag-sche Metaphorik der Raumordnung von den Nationalsozialisten dankbar aufgegriffen und als Begründung ihrer Eroberungspläne verwendet wurde, blieb die von Freytag ebenfalls benutzte Metaphorik des Netzwerkes, welche die Suggestion der Landnahme und Kolonisierung durch die mit ihr verbundene Konnotation der Deterritorialisierung konterkariert, lange Zeit unbeachtet. Erst in der globalisierten, durch das Internet geprägten Gegenwart ergeben sich diesbezügliche Anschlussmöglichkeiten.

III. Die Beiträge von Eckhard Höfner, Robert S. April und Aurélie Barjonet widmen sich zentralen Aspekten von Émile Zolas Werk, welches im Zu-sammenhang mit dem Rahmenthema dieses Bandes paradigmatische Be-deutung besitzt.

Höfner geht von dem in den Wissenschaften ab 1800 sich vollziehen-den Ausdifferenzierungsprozess und dem damit verbundenen Verlust von verbindlichem Wissen aus, der auch den Status der Literatur nicht unbe-rührt gelassen habe. Auf Verbindlichkeitsverlust habe die Literatur durch ihre Rückkoppelung an Wissenschaft reagiert. Im Zentrum stand hier die Leitwissenschaft Biologie, welche eine Reihe von Schnittmengen mit den Problemen des Romans im 19. Jahrhundert aufweist. Höfner demonstriert dies anhand der Bereiche Vererbung, Zytologie, Bakteriologie, insbeson-dere aber der Interrelation von Deduktion und Induktion. Das epochema-chende und von vielen Wissenschaftlern heftig kritisierte Werk von Charles Darwin führt mit seiner induktiv-hypothetischen Vorgehensweise in die Wissenschaft Momente wie Probabilistik, Verzicht auf Metaphysik, Theorieübertragung in interdisziplinären Feldern und Evolutionismus ein. Auch bei Claude Bernard, auf den Zola sich in seiner programmatischen Schrift Le roman expérimental bezieht, findet das von Darwin eingeführte induktiv-hypothetische Vorgehen seinen deutlichen Niederschlag. Zola, so Höfner, situiert sich also mit seiner Programmschrift innerhalb des sog. Hypothesenstreits und versucht die von Darwin und Bernard verwende-

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ten Methoden auf die Literatur zu übertragen. Damit reagiert er auf spezi-fische innerliterarische Probleme. Es geht ihm nämlich darum, sich einer-seits den kunstidealistischen und moralisierenden Anforderungen an die Literatur zu entziehen, andererseits dem Vorwurf zu entgehen, die Litera-tur sei platte Darstellung von Wirklichkeit. Die Hypothese nämlich erfor-dert eine kreative Leistung von Seiten des Autors und gestattet so die Verbindung von wissenschaftlicher Objektivität und schöpferischer Sub-jektivität. Die Literatur findet Zola zufolge ihre neue Rolle, indem sie Hypothesen über bislang unerforschte Bereiche generiert und diese dann der Falsifikation durch die Wissenschaften unterwirft.

April interessiert sich für die utopische Dimension in Zolas Romanen. Er zeigt, dass der Positivismus als das dominante wissenschaftliche Be-zugsmodell des 19. Jahrhunderts eine utopische Komponente besitzt, insofern Auguste Comte davon ausgeht, dass die Entwicklung des Wis-sens vom theologischen über das metaphysische hin zum positiven Stadi-um automatisch einen gesellschaftlichen Wandel zum Besseren (d.h. zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit) mit sich bringen werde. Zola, der sich nicht nur am positivistischen Wissenschaftsparadigma orientiert, sondern auch Comtes utopische Hoffnungen teilt, rezipiert darüber hinaus, vermit-telt durch Hippolyte Renaud, das sozialutopische Gedankengut von Charles Fourier, welches er in seinem späten Roman Travail fiktionalisiert. Der Protagonist dieses Romans, Luc Froment, erlebt eine Konversion zum Fourierismus und beteiligt sich an der Einrichtung einer Arbeiter-kommune nach dem Vorbild der von Fourier erdachten, aber niemals realisierten »phalanstères«. Neben dem sozialutopischen integriert der Roman auch den psychiatrischen Diskurs seiner Zeit, wenn auch in un-vollständiger Form. Wenn der von jahrzehntelanger Lähmung befallene Jérôme Qurignon wieder geheilt wird, so gehorcht dies mehr einer drama-turgischen Notwendigkeit denn einer psychiatrischen Wahrscheinlichkeit. Zwar verweist die Präsenz eines Paralytikers, der trotz seiner Bewegungs-unfähigkeit noch denk- und wahrnehmungsfähig ist, auf ein seit 1875 bekanntes Krankheitsbild. Allerdings gibt es zu jener Zeit keine Belege von Paralytikern, die nach einem Gehirnschlag wieder geheilt worden wären – noch dazu Jahrzehnte nach Beginn der Lähmung. Insofern wer-den hier, so April, Elemente medizinischen Wissens aufgegriffen und nach innerliterarischen Gesetzmäßigkeiten verarbeitet. Zola habe es, so April, zwar einerseits vermocht, durch seine Rezeption medizinischer und ande-rer wissenschaftlicher Diskurse ein die Psychoanalyse antizipierendes Wis-sen über menschliches Verhalten zu erzeugen, aber andererseits durch seine Ausblendung des wissenschaftlichen Wissens um die menschliche Aggressionsbereitschaft Utopien geschaffen, die unbrauchbar seien. Dies sei letztlich darauf zurückzuführen, dass ein Roman und die in ihm ent-

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Vorwort 9

worfene Utopie eine eigene fiktive Welt konstituierten, die sich außerhalb der realen Welt befinde.

Barjonet geht der Frage nach, wie die deutsche Literaturwissenschaft die Beziehungen Zolas zur Wissenschaft reflektiert hat. Im ersten Teil ihrer Untersuchung zeigt sie, dass das Thema der Wissenschaftlichkeit von Anfang an, also seit den 1860er Jahren, im Zentrum von Zolas Poetologie stand, dass aber eine allmähliche Entwicklung seines Denkens vom Ideal des »savant« hin zu dem des Propheten, vom Positivismus zum Utopis-mus, stattgefunden hat. Im Verlauf des Rougon-Macquart-Zyklus lässt sich dementsprechend ein Abnehmen von wissenschaftlichen Erklärungsmus-tern erkennen. Im Docteur Pascal, dem letzten Roman des Zyklus, wird dann zwar das Wissenschaftsthema wieder prominent aufgegriffen, doch obsiegt am Ende der Vitalismus über den Positivismus und es kommt gar zu einer Versöhnung von Wissenschaft und Mythos. Barjonets Einschät-zung zufolge hat Zola zwar naturwissenschaftliche Diskurselemente ver-wendet und diese auch in seine Romane integriert, es ist ihm aber entge-gen seiner eigenen Intention nicht gelungen, mit dem Naturwissen-schaftler rivalisieren zu können. Insofern steht Zolas Werk im Zeichen eines grundlegenden Widerspruchs, mit dem in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft seit gut 100 Jahren ganz unterschiedlich umgegan-gen wurde. Im späten 19. Jahrhundert wurde Zolas Romankunst als bloße Nachahmung der Wirklichkeit abgelehnt. In der marxistischen Literatur-wissenschaft der DDR konnte man ebenfalls wenig mit Zolas Wissen-schaftsansprüchen anfangen, weil das literarische Werk vor allem gesell-schaftskritisch zu sein hatte. Immerhin gab es in der DDR schon früh eine namhafte Zola-Rezeption, die sich auch mit der Bedeutung der Naturwis-senschaft bei Zola befasste (Schober, Kuczynski, Günter Schmidt), wäh-rend die Rezeption in der BRD erst in den späten Siebzigerjahren einsetz-te. Eine eminent wichtige Rolle bei der Aufwertung Zolas spielte Michel Foucault, von dessen Epistemenkonzept einige der bedeutendsten jünge-ren Untersuchungen (Gumbrecht, Warning, Küpper) angeregt wurden.

IV. An den Beispielen der modernistischen US-amerikanischen Lyrik und Franz Kafkas zeigen Heike Schäfer und Uwe C. Steiner, wie die Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits wissenschaftliches Denken auf-greift und assimiliert und wie sie andererseits Leerstellen des philosophi-schen Wissens zu füllen vermag.

Schäfer untersucht Reaktionen amerikanischer Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts auf Darwins Evolutionstheorie bzw. auf deren Aneignung durch den amerikanischen Philosophen John Dewey. Darwin, dessen zentrale Bedeutung für die Literatur ja auch von Höfner am Beispiel Zolas dargelegt wurde, stellte bekanntlich das Denken seiner Zeitgenossen in

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mehrfacher Hinsicht vor große Herausforderungen, insofern er den Glau-ben an einen göttlichen Schöpfungsplan als ebenso obsolet erscheinen ließ wie herkömmliche Auffassungen von Subjektivität, Willensfreiheit, Ge-schichte und Kultur. Die Folgen des Darwinismus lassen sich in den USA nicht nur im literarischen Naturalismus und in der so genannten »nature faker debate« beobachten, sondern vor allem auch in der Philosophie. Dewey entwickelte die von ihm vertretene Form des Pragmatismus als einer Philosophie, die das Vorläufige, das Prozessuale und Kontextgebun-dene der Welt und des Wissens fokussiert, in expliziter Auseinanderset-zung mit Darwin und den von ihm entdeckten Prinzipien: Wandel, Pro-zessualität, Interaktivität zwischen System und Umwelt, Ablehnung von Essentialismus und apriorischem Denken. Die politische Form, welche dem Pragmatismus als der Philosophie des Vorläufigen am meisten ent-spricht, ist die Demokratie. Ästhetische Erfahrung hat hier ihren Ort als eine Form der Erfahrung, mittels derer wir die üblichen Prozesse der An-passung an die Umwelt mit gesteigerter Bewusstheit erleben können (dies entspricht im Übrigen der Deautomatisierung bzw. Verfremdung der russischen Formalisten). Indem Dewey evolutionistisches, pragmatisti-sches, demokratisches und ästhetisches Denken miteinander verbindet, schafft er die Möglichkeit einer Konvergenz verschiedener Modi von Wissen und Bedeutung. Auf der Grundlage und vor dem Hintergrund dieser Synthese des Denkens liest Schäfer sodann ausgewählte Gedichte der Lyriker Robinson Jeffers, Wallace Stevens und William Carlos Willi-ams.

Steiner geht aus von dem Befund, dass – im Gegensatz zu der um 1900 verbreiteten Kulturskepsis (Simmel, Cassirer, Freud) – um 2000 der Kul-turbegriff so positiviert erscheint, dass sich Kritik an demselben nicht mehr innerhalb des Kulturdiskurses artikulieren kann, sondern sich in jene Diskurse verlagert, die sich mit der Dingwelt befassen. Seit dem Ende der klassischen Metaphysik aber gibt es kein offizielles Wissen mehr vom Ding als solchem. Dieses Wissen, so Steiner, finde man dagegen in der Literatur. Im Zentrum seiner Untersuchung steht Franz Kafka, in dessen Tagebüchern und fiktionalen Texten es eine Reihe von Szenen gibt, in denen das Subjekt sich im Streit mit dem tückischen, sich seinem Zugriff entziehenden Objekt befindet. Die Dinge emanzipieren sich bei Kafka von ihrem Objektstatus, indem es zu Verschränkungen zwischen mensch-licher und dinglicher Sphäre kommt. Wenn Sozialforscher (Linde, Joerges, Latour, Eßbach) erst in jüngster Zeit die Frage stellen, ob Dinge an der Konstitution sozialer Situationen mitwirken, so weiß die Literatur seit langem schon um den Status der Dinge als kultureller Akteure – man den-ke an Dinge, die schlafende Lieder beherbergen (Eichendorff) oder sprachlose Epiphanien hervorrufen (Proust), oder aber an Artefakte, die

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sich wider ihren Erbauer auflehnen (Slapstick). Nicht nur bei Kafka findet sich ein diesbezügliches Wissen, sondern schon in Friedrich Theodor Vischers Roman Auch Einer, auf welchen die bekannte Formel von der »Tücke des Objekts« zurückgeht, oder auch bei Simmel, Hofmannsthal und Heidegger. Wenn sich den Kulturwissenschaften seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert das Problem stellt, dass Dinge weder in ihrer Materiali-tät noch in ihrer symbolisch-performativen Funktion ganz aufgehen, und wenn man zur Lösung dieses Problems in jüngerer Zeit auf den Begriff des ›Hybrids‹ rekurriert, so kann man hierfür indes keinen besseren Kron-zeugen als Kafka finden, dessen Texte immer wieder von symbolisch-performativen und materiellen Verschränkungen zwischen Mensch und Ding berichten. Insofern erzählt uns die Literatur jene verborgene Ge-schichte, die davon handelt, »wie das Objekt das Subjekt schafft« (Bruno Latour).

V. Auf die besondere Situation der Literatur unter den Bedingungen eines autoritär-totalitären Herrschaftssystems gehen die Beiträge von Werner Helmich und Anke Wesser ein, die sich mit zwei spanischen Autoren befas-sen, deren Werke in der Endphase der Franco-Herrschaft bzw. kurz nach der transición entstanden sind.

Helmich beschäftigt sich mit dem wissenschaftlichen, insbesondere dem medizinischen Diskurs in Tiempo de silencio des spanischen Autors Luis Martín-Santos. Helmich unterzieht den von dessen Zeitgenossen Anfang der Sechzigerjahre als »Diskursrevolution« bezeichneten Roman einer detaillierten Textanalyse und zeigt, dass in ihm Wissenschaft sowohl auf der thematischen als auch auf der diskursiven Ebene präsent ist. Lässt sich der Text mimetisch als Geschichte eines scheiternden naturwissenschaftli-chen Experiments lesen, so wird auf der diskursiven Ebene die mimeti-sche Lesart vielfach ironisch gebrochen. Die diskursiven Verfahren, mit-tels welcher wissenschaftliche Diskurselemente integriert werden, reichen von der auch das Alltägliche erfassenden, forciert naturwissenschaftlichen Perspektive über komisch-disproportionale Kontrastparallelen bis hin zur Einfügung von aus der Erzählhandlung gelösten Sachbuch-Sequenzen. Helmich zeigt, wie der wissenschaftliche Diskurs einerseits zur Kritik an der franquistischen Ideologie, andererseits zur Kritik an der modernetypi-schen, technisch instrumentalisierten Wissenschaft und ihrer verengten Rationalität eingesetzt wird. Besonders wichtig ist hier die avantgardisti-sche Auflösung eindeutiger Zuordenbarkeit von Äußerungen zu Subjek-ten, welche mit der diskursiven Vielstimmigkeit einhergeht und höchste Komplexität erzeugt. Tiempo de silencio, so Helmich, positioniere sich in der Geschichte der literarischen Wissenschaftsthematisierung am Übergang zwischen der naturalistisch-pathetischen Ausprägung des 19. Jahrhunderts

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und ihrer insbesondere in Spanien weit ins 20. Jahrhundert reichenden Ausläufer und der gelehrt-spielerischen Variante des 20. Jahrhunderts (Borges, Calvino).

Wesser geht den Zusammenhängen von Fakten und Fiktion in Eduar-do Mendozas La ciudad de los prodigios nach. Dieser 1986 erschienene Ro-man, dessen Gegenstand die Geschichte Barcelonas zwischen 1888 und 1929 ist, reagiert einerseits auf die spezielle historische Situation des Postfranquismus, indem er das ideologisch geprägte Wahrheitspathos der spanischen Diktatur ironisch subvertiert, und er partizipiert andererseits an der internationalen Bewegung der Postmoderne. Die für die Schreib-weise des Romans charakteristischen Grenzüberschreitungen zwischen fiktionaler und historiographischer Darstellung sind somit doppelt und widersprüchlich motiviert: Politische Kritik und Satire mischen sich mit postmoderner Metafiktion. Im Rahmen einer ›Doppelstrategie‹ wird der Authentizitätscharakter der Darstellung historischer Ereignisse einerseits – zumindest scheinbar – besonders suggestiv untermauert, andererseits wird die objektive Darstellbarkeit von Geschichte grundlegend in Frage gestellt, indem der Konstruktcharakter jeder Art von historiographischer Darstel-lung bloßgelegt wird. Insofern geht es Mendoza nicht eigentlich oder nicht primär um die Darstellung von Geschichte, sondern um den kritischen Umgang mit jeder Art von Geschichtsdarstellung. Wesser situiert den Roman nicht nur im zeithistorischen Kontext der Achtzigerjahre, sondern auch literarhistorisch (in Bezug auf andere literarische Formen von postfranquistischer Vergangenheitsdarstellung etwa bei Vázquez Montal-bán oder Muñoz Molina) und gattungsgeschichtlich (in Bezug auf die Tradition des historischen und des realistischen Romans). Ihre These lautet, dass die Annäherung des autonomen Systems Literatur an das Sys-tem Wissenschaft im postfranquistischen Spanien unter anderen Bedin-gungen erfolgen musste als in westlichen Demokratien.

VI. Die vier abschließenden Beiträge von Betül Dilmac, Barbara Kuhn, StefanGlomb und Sabine Sielke widmen sich Werken der französischen, italieni-schen, englischen und US-amerikanischen Literatur, die um das Jahr 2000 entstanden sind und an denen deutlich wird, dass der seit etwa 1800 im-mer wieder nachweisbare Nexus von Literatur, Wissenschaft und Wissen auch an der Schwelle des 21. Jahrhunderts seine Relevanz nicht verloren hat, ja dass im Gegenteil diese Relevanz unter dem Eindruck der avancier-testen naturwissenschaftlichen Theorien zur Zeit, zur Relativität der Wahrnehmung oder zum Selbstbewusstsein noch zuzunehmen scheint.

Dilmac untersucht das Eindringen naturwissenschaftlicher Denkmo-delle in die literarische Darstellung am Beispiel von Michel Houellebecqs Les Particules élémentaires. In diesem Roman wird Wissenschaft nicht nur auf

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thematischer Ebene behandelt, sondern auch auf der Ebene der Episte-mologie und der Darstellungsverfahren. Von zentraler Bedeutung ist hier die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik, d.h. das Unbestimmt-heitsprinzip von Werner Heisenberg und das Komplementaritätsprinzip von Niels Bohr. Dem Unbestimmtheitsprinzip zufolge gibt es Paare von beobachtbaren physikalischen Größen (z.B. Ort/Impuls, Energie/Zeit), die man nicht gleichzeitig exakt bestimmen kann. Daraus entsteht die Notwendigkeit, mit einander wechselseitig ausschließenden Versuchsan-ordnungen zu operieren. Außerdem besagt das Unbestimmtheitsprinzip, dass das beobachtende Subjekt Teil der beobachteten Versuchsanordnung ist, dass also eine strikte Subjekt-Objekt-Trennung nicht mehr möglich ist. Das Komplementaritätsprinzip besagt dementsprechend, dass es ver-schiedene, einander ergänzende Möglichkeiten gibt, dasselbe Objekt zu beobachten. Diese Prinzipien finden, wie Dilmac nachweist, in Houelle-becqs Roman ihre Anwendung. Komplementär sind zum einen die Dar-stellungsweisen der Romanfiguren, die sowohl als Individuen wie auch als Teile einer überindividuellen historischen Formation betrachtet werden, sodann die Anlage der beiden Hauptfiguren Michel und Bruno, die zwei komplementäre Aspekte des modernen Lebens verkörpern, schließlich die montageartige Kombination der individuellen Geschichte der beiden Pro-tagonisten mit der überindividuellen Geschichte der Nach-68er-Gene-ration. Die Prinzipien der Unbestimmtheit und der Komplementarität finden außerdem ihre Umsetzung in der Anwendung der Theorie der consistent histories von Robert Griffiths, die im Roman explizit Erwähnung findet und der zufolge die Anzahl möglicher plausibler Erzählungen, die sich auf ein und dieselben Geschichtselemente stützen, größer als 1 sein muss. Eine Erzählung teilt also nicht mit, wie es wirklich war, sondern wie es gewesen sein könnte. Dies wiederum wendet der Roman von Houellebecq auf sich selbst an.

»Was weiß die Literatur?«, fragt Kuhn in ihrem Beitrag zu Antonio Ta-bucchis Roman Si sta facendo sempre più tardi. Vor dem Hintergrund des sich im 20. Jahrhundert radikal verändernden Wissens um die Natur der Zeit (Relativitätstheorie, Quantenphysik, Neurowissenschaften, Philosophie etc.) untersucht sie Tabucchis Roman, der nicht nur explizit durch seinen Titel auf das Thema Zeit verweist, sondern auch implizit durch die ge-wählte Gattungsbezeichnung (romanzo in forma di lettere) einen Zeitbezug (nämlich zum 18. Jahrhundert als der historischen Blütezeit des Briefro-mans) herstellt, hinsichtlich seines spezifischen Umgangs mit der Zeit. Aufgrund des Verzichts auf eine kontinuierliche, den Gesamttext tragende Geschichte erscheinen die insgesamt achtzehn Briefe, aus denen der Ro-man besteht, wie voneinander unabhängige Zeitinseln, welche die gleich-zeitige Existenz unterschiedlicher Zeitreihen (im Sinne von Borges) nahe-

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zulegen scheinen. Dabei erscheint die Zeit bisweilen als Pfeil mit eigener Bewegungsrichtung, bisweilen als statischer Block, den man zu durchque-ren hat. Ob die Zeit reversibel (Block) oder irreversibel (Pfeil) erscheint, ist beobachterabhängig, insofern ein Ich seine eigene Zeit dank der Erin-nerung als Block wahrnimmt, während ihm die Zeit des angesprochenen Du als irreversibler Pfeil erscheint. Der Roman inszeniert durch Über-schreitung der binären Logik des »tertium non datur« die Paradoxien jener Konzepte, die uns für die Erfassung der Zeit zur Verfügung stehen, inso-fern in ihm Kontinuität (chronos) und Diskontinuität (kairos) der Zeit gleichzeitig und komplementär herrschen. Kuhn kommt zu dem Schluss, dass die Literatur, weil in ihr das Gesetz des »tertium non datur« nicht gilt, die von den auf Widerspruchsfreiheit eingeschworenen Wissenschaftlern schmerzlich vermisste Sprache zur Beschreibung des widersprüchlichen Konzepts Zeit zur Verfügung stellt.

Den Versuch, die Bedeutung von Literatur vor dem Hintergrund des »Zwei-Kulturen-Konfliktes« zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (M. Arnold vs. T. H. Huxley, C. P. Snow vs. F. R. Leavis) zu erfassen, unternimmt Glomb. Am Beispiel des Romans Thinks… von David Lodge zeigt er, wie Literatur mit Wissensformen operieren und Erfahrungsange-bote machen kann, um so in Bereiche vorzudringen, die einem naturwis-senschaftlichen Zugriff verschlossen bleiben. Lodges Roman inszeniert den gegenwärtigen Streit zwischen Hirnforschern und Geisteswissen-schaftlern um die Willensfreiheit, indem er den Neurobiologen Philip Messenger, dem Bewusstsein lediglich als Epiphänomen gilt, und die Ro-manautorin Helen Reed einander begegnen lässt. Während Messenger durch eine Todeserfahrung am eigenen Leib erkennen muss, dass Be-wusstsein mehr ist als nur ein Epiphänomen, zeigt Helen Reed, dass nur die Literatur durch die ihr gegebene Möglichkeit, Bewusstseinsvorgänge im Modus der Fiktion ›objektiv‹ darzustellen, das Dilemma des logischen Empirismus überwinden kann, welches darin besteht, dass subjektive Erfahrung nicht in objektive, quantifizierbare Daten übersetzt werden kann. So wie der Gegenstand Selbstbewusstsein nur polyperspektivisch, d.h. durch die Verbindung von Innen- und Außensicht, adäquat betrachtet werden kann, ist auch der Zwei-Kulturen-Streit nur zu überwinden, indem man, wie Glomb im Rekurs auf Habermas geltend macht, die Perspektive von Beobachtern und Kommunikationsteilnehmern verbindet und damit (neuronale) Ursachen und (kommunikativ-kontextuelle) Gründe von Ver-halten zugleich sichtbar macht. Der naturwissenschaftlich-empirische Monismus muss also überwunden werden, um zu einer genuinen Er-kenntnis des menschlichen Selbstbewusstseins zu gelangen. Die Rolle der Literatur ist es, durch die Verbindung von subjektiver und objektiver Per-spektive die beobachteten und dargestellten Sachverhalte zu interpretie-

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ren. Kraft solcher Interpretation kann die ästhetische Erfahrung dann auch auf die Lebenswelt zurückwirken, indem sie kognitive Deutungen und normative Erwartungen verändert. Insofern lässt sich hier der Bogen zu den Beiträgen von Weertje Willms und Niels Werber schlagen.

Sielke untersucht die Werke der amerikanischen Bestseller-Autoren Michael Crichton, Jeffrey Eugenides und Richard Powers. Ihr Ausgangs-punkt ist die Tatsache, dass der von C. P. Snow diagnostizierte Graben zwischen den »zwei Kulturen« in der Realität zeitgenössischer literarischer Praxis keine Rolle spielt, ja dass es im Gegenteil geradezu ein Anliegen der amerikanischen Gegenwartsliteratur ist, Wissenschaft in Narration zu übersetzen. Dabei erweist sich dann, dass bestimmte naturwissenschaftli-che Modelle mit dem literarischen Diskurs kompatibel sind, andere dage-gen nicht. Unter dem Einfluss des poststrukturalistischen Diskursbegriffs erfolgt nämlich, so Sielke, eine Entdifferenzierung des Literarischen und der Wissenschaft; beide werden als diskursive Praktiken aufgefasst, was zur Folge hat, dass einerseits ein unreflektierter Wahrheitsbegriff in der Naturwissenschaft verabschiedet wird, während im Gegenzug Literatur als eine spezifische Form von Wahrheit und Wissen erscheint. Gemeinsamer Nenner aller Codierungen – seien sie nun wissenschaftlich oder literarisch – ist, wie Sielke im Rekurs auf Susan Sontag zeigt, ihre unhintergehbare Medialität. Die Frage, die sich sowohl in der Literatur- als auch in der Naturwissenschaft stellt, lautet demnach, wie Materialität in Diskurs über-führt wird. Anhand dieser Leitfrage untersucht Sielke sodann Romane von Crichton, Eugenides und Powers. In Crichtons Jurassic Park zeigt sich ein Widerspruch zwischen der zu Beginn aufgerufenen realistischen Ästhetik und den ihr zugrunde liegenden linear-deterministischen Prämissen auf der einen Seite und der Realisierung des Romans als eines seine eigene Diskursivität ausstellenden, postmodernen Textes mit hohem Intermedia-litätsgrad. In Eugenides’ Middlesex wird das von der Wissenschaft heiß diskutierte Sex/Gender-Problem narrativ dargestellt und es wird sowohl der naive naturwissenschaftliche Glaube an die Macht der Gene als auch der nicht minder naive kulturalistische Glaube an die beliebige Kon-struierbarkeit von Gender kritisiert. Powers’ The Time of Our Singing insze-niert – ähnlich wie Tabucchi in dem von Barbara Kuhn untersuchten Roman Si sta facendo sempre più tardi – zeitliche Paradoxien vor dem Hinter-grund moderner naturwissenschaftlicher Zeittheorien und lässt dabei den gemeinsamen Boden erkennbar werden, auf dem Natur- wie Humanwis-senschaften stehen: ihre Narrativität. Somit führt die Untersuchung dieser Texte zu dem Befund, dass die sog. ›Rückkehr des Romans‹ mit der wach-senden Präsenz wissenschaftlicher Denkmodelle einhergeht, welche zugleich angewendet und hinterfragt werden.

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Die hier vorgelegten Untersuchungen sind – um einige Beiträge erweitert – aus den Vorträgen hervorgegangen, welche vom 3. bis zum 5. März 2005 im Rahmen eines vom Lehrstuhl Romanistik I der Universität Mannheim veranstalteten Kolloquiums gehalten wurden. Die Herausgeber danken der Universität Mannheim und ihrer Philosophischen Fakultät für die finanzielle Unterstützung, welche dieses Kolloquium ermöglicht hat. Sie danken den Beiträgern für die Teilnahme am Kolloquium und für die fristgerechte Überarbeitung ihrer Texte. Vor allem danken sie Rita Malti-sotto, Gerardo Salonia, Jana Steinmetz, Audrey Vasseur, Gisela Weiss und Anke Wesser für die organisatorische Betreuung. Der Romancier Ernst-Wilhelm Händler hat mit großem Interesse und Engagement an dem Kol-loquium teilgenommen und es durch zahlreiche Diskussionsbeiträge be-reichert. Leider war es ihm aus Zeitgründen nicht möglich, einen Beitrag für den Band zu erstellen. Ihm gilt der ganz besondere Dank der Heraus-geber.

Verdienste bei der Manuskripterstellung haben sich Betül Dilmac, Iris Glasstetter, Dorothee Gomille und Diemo Landgraf erworben. Gedankt sei Angelika Corbineau-Hoffmann und Werner Frick für die Aufnahme des Bandes in die von ihnen betreute Reihe »spectrum Literaturwissen-schaft«. Christina Brückner, Heiko Hartmann sowie Angelika Hermann vom Verlag De Gruyter schließlich danken die Herausgeber für die her-vorragende Zusammenarbeit.

Freiburg/Salzburg, im März 2008 Thomas Klinkert/Monika Neuhofer

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I. Epistemologische Grundlagen

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CHRISTIAN KOHLROSS

Ist Literatur ein Medium?Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der

Gedanken beim Reden und der Monolog des Novalis

Kann man behaupten, die Literatur gebe uns etwas zu wissen? Sogar all diejenigen, die Literatur, den Umgang mit Literatur in ganz

besonderer Weise zu schätzen wissen – vielleicht, weil sie die Gewissheit in sich verspüren, sie lernten etwas bei der Lektüre literarischer Texte, etwas ganz Besonderes sogar (über die Welt, über sich oder worüber auch immer) – auch sie geraten, wenn sie gefragt werden, was es denn sei, das sie da in Erfahrung bringen, oder wenn sie gebeten werden, das besondere Wissen, dessen sie bei der Lektüre literarischer Texte teilhaftig werden, zu explizieren, in ganz erhebliche Sprach- und Erklärungsnot – meist mit der Konsequenz, dass nach all den dabei gegebenen Beteuerungen und Be-gründungen ein irgendwie unbefriedigendes Gefühl zurückbleibt.

Können wir, möchte ich deshalb fragen, dennoch daran festhalten, dass Literatur, dass – denn das meine ich im Folgenden immer, wenn ich ›Literatur‹ sage – Dichtung eine besondere Art des Wissens enthält oder vermittelt? Können wir mit guten Gründen davon überzeugt sein, dass die Literatur ein auch in epistemologischer Hinsicht anspruchsvolles Projekt ist – ein Projekt, das, wer weiß, vielleicht so anspruchsvoll ist, dass es mit anderen wissenschaftlichen oder erkenntnistheoretischen Projekten kon-kurrieren kann?

Auf diese Frage eine Antwort zu versuchen, und um mehr als einen solchen Versuch, der, wie in solchen Fällen üblich, nicht weniger Fragen aufwerfen als beantworten wird, handelt es sich im Folgenden nicht – auf diese Frage eine Antwort zu versuchen ist ein Unternehmen, das nur Aus-sicht auf Erfolg hat, wenn es dem traditionellen Bild, das die Literaturwis-senschaft von ihrer epistemologischen Situation, und damit zugleich von der Art des literarischen Wissens entwirft, mit Skepsis gegenübersteht.1

______________________

1 Mein Verdacht ist, dass Geuss vor allem, weil er sich noch von diesem Bild leiten lässt, eine so geringe Meinung von der epistemischen Kraft der Literatur haben kann. Vgl. Raymond Geuss, »Poetry and Knowledge«, in: Arion 2,1 (2003), S. 1-35.

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Diesem Bild zufolge ist Literatur ein Medium der Erkenntnis. Das heißt, man stellt sich vor, dass der Geist des Literaturwissenschaftlers und die Welt der spezifisch literarischen (nicht-buchstäblichen) Bedeutungen ge-trennte Sphären sind, die im Medium der Literatur miteinander vermittelt würden. Nur auf der Grundlage dieses Bildes konnte sich die Literatur-theorie überhaupt als eine Unternehmung profilieren, die zu erklären vor-gab, wie sich dieses meist unbewusste, meist unbeobachtete Vermittlungs-geschehen vollzieht. Und die mittlerweile hundertjährige Geschichte der Literaturtheorie zeigt, dass man für diese Vermittlungsleistung dann of-fenbar zahllose Repräsentationsarten oder Verfahren verantwortlich ma-chen kann – Zeichen, Strukturen, performative Akte und vieles mehr. Und der berückende Charme des Dekonstruktivismus bestand dann darin, dass er uns glauben machte, der Durchgang durch das Medium der Litera-tur gelange nie an ein Ende – weshalb die Literatur eine der seltenen Ge-legenheiten sei, bei der unser endliches Dasein sich eines Unendlichen vergewissern könne.

Nun mag es aber sein, dass nichts dergleichen passiert. Es kann sein, dass, wer die Frage stellt: Wie können wir etwas über Literatur wissen?, niemals bis zu der Antwort auf die Frage gelangt, ob Literatur etwas weiß, jedenfalls solange nicht, als man an der traditionellen Beschreibung der epistemi-schen Situation des Literaturwissenschaftlers festhält. Es kann sein, dass es da gar kein Wissen gibt, an dem der Leser literarischer Texte partizipie-ren könnte, denn vielleicht bedient sich, wer so spricht, nur einer Meta-pher, die ihm durch die allegorische Beschreibung der ursprünglichen epistemischen Situation des Literaturwissenschaftlers nahegelegt wird.

Was aber wäre dann? Was aber wäre Literatur, wenn sie kein (mehr oder weniger opakes) Medium der Erkenntnis wäre?

Nun, es könnte sein, dass die Literatur dann zwar kein Medium, dafür aber so etwas wie ein Instrument oder ein Werkzeug wäre, mit dem wir einen bestimmten Zweck verfolgen könnten, z.B. den der Erkenntnis. Und es wäre möglich, dass literarische Texte darin Theorien gleichen, dass sie sich als Instrumente auffassen lassen, die man dazu verwenden kann, um mit ihnen Wissen zu erzeugen.

Doch bestehen nicht die Zwecke von Werkzeugen oder Theorien un-abhängig von diesen Theorien oder Werkzeugen? Kann man nicht beab-sichtigen, einen Nagel an der Wand zu befestigen, um ein Bild daran zu hängen, ohne einen Hammer zur Hand zu haben? Kann man nicht zu erklären beabsichtigen, warum ein Apfel auf den Boden fällt, ohne eine Ahnung von der Gravitationstheorie zu haben?

Ist aber das, was es an der (nicht: über die) Literatur zu wissen gibt, nicht von einer solchen Art, dass sich das zu Wissende überhaupt nicht in dem Maße von der Literatur trennen lässt, wie der Zweck von einem Mit-

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tel? Könnte es nicht sein, dass diese literarische Untrennbarkeit von Mittel und Zweck, Sprache und Erkenntnis der Grund für die Sprachnot ist, in die wir geraten, wenn wir erklären sollen, worin das Wissen der Literatur besteht?

Was aber sollte das für ein Wissen sein, das so eng an die Form seiner literarischen Darstellung gebunden ist, dass es sich kaum in die propositi-onale Sprache des Literaturwissenschaftlers übersetzen lässt? Was aber sollte das für ein Wissen sein, das einen Wahrheitswert schon deshalb nicht haben kann, weil es nicht in Gestalt von Urteilen auftritt?

Um hier weiterzukommen, möchte ich einen Weg beschreiten, der in zwei Richtungen führt. Zunächst in das Gebiet einer in der Zeit um 1800 bei Autoren wie Schiller, Kleist, Schlegel und Novalis sich ausbildenden Gat-tung, die ich, da sie ob ihrer Namenlosigkeit bislang gezwungen war, ein Schattendasein zu fristen, gerne Literarische Epistemologie nennen möchte. Die dieser Gattung zugehörigen Texte etablieren, vielleicht als Reaktion auf die Aporien der Wissenstheorien des deutschen Idealismus, einen sowohl philosophisch argumentativen als auch poetischen Diskurs um die Möglichkeit eines spezifisch literarischen Wissens – soll heißen: sie speku-lieren über die Bedingungen der Möglichkeit, Literatur als ein – ja, das ist tatsächlich so: Medium der Erkenntnis zu verstehen, und zwar als eines, das in der Lage ist, mit der Erkenntnistheorie, ja überhaupt mit theoreti-scher Erkenntnis zu konkurrieren. Anhand zweier dieser ›erkenntnis-poetischen‹ Texte, der eine stammt aus der Feder Kleists, der andere aus der des Novalis, möchte ich sogleich die eine Richtung des angekündigten Weges beschreiten. Dass ich ihn jedoch nicht bis in die Gegenwart hinein fortsetze, sondern nach dem Monolog des Novalis verlassen werde, hängt damit zusammen, dass ich gerne noch die andere Richtung des Weges beschreiten möchte. Auch sie führt in die Gegenwart, auch sie nimmt ihren Ausgang bei Kleist und Novalis, aber sie befreit sich von der Vorga-be, im Medium des Literarischen denken zu müssen – und versucht, ob-wohl Literarische Epistemologen wie Kleist und Novalis behaupten wür-den, so etwas sei nicht möglich, gleichsam von außen auf Literatur als Medium des Wissens zu blicken, um so zu einem, wie ich hoffe, etwas anderen Verständnis der Literatur als Medium des Wissens zu gelangen.

Anders, das heißt hier: anders als das an die Gestalt von Aussagen oder Urteilen gebundene philosophische Medium der Erkenntnis. Was damit gemeint ist, mag deutlich werden, wenn man den Blick auf die ers-ten Sätze aus Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Ge-danken beim Reden richtet; die nämlich lauten:

Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir

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aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr solltest du es ihm selber allererst erzählen.2

Doch was sollte das für ein Wissen sein, das sich erst beim Erzählen ein-stellt, das man also nicht zuvor hat und danach erst in Worte kleidet? Was also heißt in diesem Fall, das Erzählen sei ein Medium der Erkenntnisge-winnung?

Nun, es heißt zunächst, dass es sich um keine Erkenntnis handelt, die durch Meditation, also durch die von Descartes prominent gemachte Me-thode der Innenschau des Geistes gewonnen werden kann. Nicht Ab-straktion von der Welt, nicht Abstraktion von den Begriffen, mit denen wir Welt darstellen, soll hier Wissen erzeugen, sondern die an Laut und Schrift gebundene poietische Sprache. – »Die Sprache«, heißt es bei Kleist dann, »ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse« (812). Es ist also nicht so, dass zuerst etwas im Geiste gewusst wird, für das im Nachhinein dann die richtigen Worte gefunden werden müssten, nein, das Wissen wird erst zusammen mit seinem sprach-lichen Ausdruck erzeugt.

Aber wird hierbei überhaupt so etwas wie ein Wissen erzeugt? Man kann ja im Verlaufe des Redens ins Fabulieren geraten und dabei auf die wahnwitzigsten Ideen verfallen, und man kann sich schließlich auch – Kleist selbst gibt Beispiele dafür – um Kopf und Kragen reden.

Dennoch, bereits dem Anfang des ersten Satzes »Wenn du etwas wis-sen willst [...]« ist zu entnehmen, dass es Kleist hier tatsächlich um ein epistemisches Projekt geht. Um sich über die Stoßrichtung dieses Projekts klar zu werden, ist es hilfreich, sich des klassischen und bis heute – ich betone das – maßgebenden Wissensbegriffs zu erinnern. Er geht auf Pla-tons Theätet zurück und besagt, Wissen sei eine Überzeugung, die sowohl gerechtfertigt als auch wahr sein müsse. Um Wissensansprüche geltend zu machen, genügt es daher nicht, lediglich über eine Überzeugung zu verfü-gen – auch nicht über eine kollektive Überzeugung, wie die Anhänger Foucaults annehmen; Überzeugungen, die gewusst werden, müssen auch wahre Überzeugungen sein. Aber auch, wer eine wahre Überzeugung hat, verfügt deshalb nicht auch schon über ein Wissen. Denn seine Überzeu-gung könnte ja nur zufällig wahr sein (es ist fünf Uhr, jemand hat die Überzeugung, es sei fünf Uhr, aber er hat diese Überzeugung, weil er auf seine Uhr schaut, die Tage zuvor just zu dieser Stunde stehengeblieben ______________________

2 Heinrich von Kleist, »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: Werke in einem Band, hrsg. v. Helmut Semdner, 2. Aufl., München 1978, S. 810-816, hier: S. 810. Alle weiteren Kleist-Zitate folgen dieser Ausgabe und sind im Text selbst ausgewie-sen.

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ist). Man muss, um etwas zu wissen, eine Überzeugung daher auch noch aus den richtigen Gründen haben, das heißt, sie muss nicht allein wahr, sondern auch noch eine hinreichend gerechtfertigte Überzeugung sein. Die spannende Frage lautet daher schon bei Platon: Wie rechtfertigt man Überzeugungen? Und die nicht lediglich platonische, sondern schlechthin philosophische Antwort lautet: Mit Bezug auf die Gegenstände der Über-zeugung. Diese Gegenstände können empirischer Natur sein oder, wie etwa im Falle der Gerechtigkeit oder der Freiheit, idealer Natur, weshalb sie im einen Fall über die Wahrnehmung, im anderen Fall aber durch be-grifflich-argumentative Analyseverfahren als Gegenstände des Wissens ausgewiesen werden.

Was Platon und zahlreiche Philosophen nach ihm an der Dichtung ge-ringschätzen, ist bekanntlich deren Unfähigkeit, Überzeugungen zu recht-fertigen und damit Wissen generieren zu können. Und dass sie dazu nicht in der Lage sei, hängt eben, wie Platon nicht müde wird zu betonen, damit zusammen, dass sie keinen Bezug zu Gegenständen herstellen kann, die gewusst werden können. Denn entweder liefert der Dichter nur Abbilder von Abbildern oder er verfügt wie der Rhapsode Ion nicht über das not-wendige Fachwissen:

Sokrates zu Ion: Da du nun über die Fragen der Heerführung Kenntnis besitzt, be-sitzt du diese Kenntnis insofern du eine Feldherrnnatur bist oder als guter Rhapsode?Ion: Das scheint mir keinen Unterschied zu machen. Sokrates: Wie? Das macht keinen Unterschied, sagst du? Hältst du für ein und dasselbe Fachwissen das des Rhapsoden und das des Feldherrn oder für zwei? Ion: Für ein und dasselbe, meine ich. Sokrates: Wer also ein guter Rhapsode ist, der ist damit auch ein guter Feldherr? Ion: Sehr wohl Sokrates.3

In dieser unverhohlenen sokratischen Ironie begegnet uns eine (alles wei-tere erkenntnistheoretische Denken bestimmende) Implikation des Plato-nismus: Die Gegenstände des Wissens existieren für ihn – nicht aber für Ion –, bevor sie sprachlich Gestalt gewonnen haben. Damit führt Platon die – ich weiß keine zurückhaltendere Bezeichnung dafür – ›Tyrannei des Objektiven‹ in die Geschichte des Denkens ein. Von nun an hat das Den-ken wie auch seine sprachliche Gestalt sich nach dem zu richten, was un-abhängig von ihm existiert – sonst, glaubte man, und glaubt es noch heu-te, sei es nutz- oder gar sinnlos.

Kleist gibt demgegenüber in seiner kleinen Schrift Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden zu bedenken, dass doch alles ganz an-ders sein könnte. Es könnte sein, dass es ein Wissen gibt, das sich im Me-dium der Sprache einstellt, und nur da. Ich sage, dass es sich ›im Medium ______________________

3 Platon, Ion, übers. u. hrsg. v. Hellmut Flashar, Stuttgart 1997, S. 37 ff.

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der Sprache einstellt‹, zum einen deshalb, weil ich darauf hinweisen möch-te, dass auch Kleist die Sprache für ein Medium hält (nur eben für keines, das zwischen Ich und Welt steht), zum anderen aber, weil sich in diesem Essay noch ein anderer für das Projekt einer Literarischen Epistemologie höchst bemerkenswerter Satz findet; er lautet: »[...] nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß« (813, Hervorh. ebd.). Um diese in ihrer Fixierung auf Gegenstände auch in den modernen Wis-senschaften gerne vergessene Zustandsabhängigkeit des Wissens hat frei-lich schon Platon gewusst – die Schriftkritik im Phaidros beruhte ja auf der Einsicht, dass der Besitz und die Kenntnis sprachlicher Formulierungen nicht mit einem Wissen über das, wovon in ihnen die Rede ist, einherge-hen muss.4 Doch im Unterschied zu Platon macht Kleist geltend, dass es eine eigene, vom Zustand des Subjekts abhängige Sprachpraxis gibt, die, obgleich sie die Form urteilenden Sprechens verlässt, dennoch zu einem Wissen führt, und zwar zu einem, das nicht unabhängig von seiner sprach-lichen Gestalt besteht.

Aber was könnte das für ein Wissen sein? Offenbar ist es eines, das am Begriff des Wissens das Moment der

Überzeugung und auch das der Rechtfertigung hervorkehrt, aber sich um das Moment der Wahrheit nicht bekümmert. (Und genau hierin, das sei sogleich mit Blick auf zeitgenössische Wissenstheorien von Brandom, Rorty oder Habermas gesagt, liegt seine eminente Aktualität begründet.)5

Das Moment der Überzeugung impliziert nun, dass es ein Subjekt ge-ben muss, das sich in einem bestimmten Zustand, nämlich dem des Über-zeugtseins – und nicht etwa in dem des Zweifels oder des bloßen Meinens – befindet. Und genau auf diesen Zustand legt auch das Erzählen, legt auch die fiktive Dichtung ihren Akut. Das heißt, jedenfalls bei Kleist, dass das fiktionale Medium der Dichtung das Bewusstsein in einen Zustand versetzt oder zu versetzen sucht, in dem es für bestimmte Arten des Wis-sens oder bestimmte Sachverhalte, die man wissen kann, zugänglich wird. Und sowohl Kleists Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden als auch derjenige Über das Marionettentheater charakterisieren diesen Zustand des Wissens als einen, in dem Bewusstsein und Sein oder Denken und Handeln (vor allem sprachliches Handeln) übereinstimmen.6

______________________

4 Hierfür immer noch maßgeblich ist die Studie von Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982.

5 Einen recht guten Überblick zum Stand der Diskussion gibt der Band Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion. Erkenntnistheoretische Kontroversen, hrsg. v. Matthias Vogel/Lutz Wingert, Frankfurt a.M. 2003.

6 In diesem Sinne auch schon: Gerhard Kurz, »Gott befohlen. Kleists Dialog Über das Marionet-tentheater und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins«, in: Kleist-Jahrbuch (1981), S. 264-277.

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Nun heißt, etwas zu wissen, aber mehr als nur, von dem, was man sagt, ganz und gar überzeugt zu sein. Die Einheit von Denken und Han-deln ist noch kein Fall des Wissens; es bedarf des Moments der Rechtfer-tigung. Und die spannende Frage, die Kleist aufwirft, lautet: Was heißt es, im Medium des Literarischen etwas zu rechtfertigen?

Was immer es heißen mag, es muss heißen, Gründe für etwas geben zu können. Aber, so muss man sich fragen: Gründe wofür? Gründe für Überzeugungen etwa? Doch wozu immer man Literatur gebrauchen mag, für das Begründen von Überzeugungen oder gar Urteilen über Sachverhal-te kann man sie offenbar gerade nicht gebrauchen. – Was also, so lautet die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des literarischen Wissens nun, heißt es, im sprachlichen Medium der Literatur Gründe für Überzeu-gungen zu geben – und welcher Art wären diese Überzeugungen?

Mit Bezug auf Kleist ließe sich hier vieles, ich will jedoch, da es mir um mehr als um Kleist, nämlich um das generelle Anliegen einer Literarischen Epistemologie geht, nur zweierlei sagen: zum Ersten dies, dass die Erzäh-lungen Kleists, man denke nur an Das Erdbeben in Chili, Das Bettelweib von Locarno oder Die Marquise von O…, auf eine ganz seltsame Art durchaus Gründe für Überzeugungen geben – nämlich dadurch, dass sie alle in diesen Erzählungen vom Erzähler oder den erzählten Figuren gegebenen Gründe dafür, dass geschieht, was geschieht, in Frage stellen. Wenn etwas fraglich ist in diesen Erzählungen, dann, warum in ihnen geschieht, was geschieht. Die Uneinsehbarkeit der Gründe des Geschehens ruft allererst die Literatur auf den Plan. Doch die Literatur ist deshalb nicht einfach vieldeutig. Zwar benennt sie nicht die Gründe des Geschehens, aber sie zeigt das Geschehen doch als eines, das Gründe hat – wenn auch viel-leicht uneinsehbare, wenn auch vielleicht solche, bei denen man nicht behaupten kann, gerade sie seien die wahren Gründe. Wenn aber das Ge-schehen als ein Begründetes ausgewiesen wird, wird damit auch das Reich dessen, was überhaupt als Grund in Frage kommt, eingegrenzt. Gründe können so, auch ohne dass sie benannt würden, bestimmt werden.

Literatur gibt daher bereits bei Kleist durchaus Gründe für Überzeu-gungen, nämlich für Überzeugungen, die nicht explizit als solche formu-liert, sondern erst aus der sprachlichen Gestalt dessen, was da explizit formuliert wird, erschlossen werden müssen. – Bei Kleist aber bleibt die Frage nach der Objektivität dieser über das Erzählte zu erschließenden Gründe offen. Es könnte sein, dass sie sich wie das Erzählte lediglich der subjektiven Einbildungskraft des Erzählers verdanken, dass sie also au-ßerhalb des fiktionalen Erzählens überhaupt nicht als Gründe taugen.

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Es ist Novalis, der den Gedanken zu denken gibt, dass das Rechtfertigen, also das Geben von Gründen für Überzeugungen ein ganz und gar sub-jektives und dabei dennoch zugleich auch ein ganz und gar sprachlich objektiviertes Geschehen sein könnte. So lauten die ersten Sätze seines Monologs:

Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Ei-genthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß kei-ner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, – daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahr-heiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen.7

Damit ist klar: Wahrheitsfähig ist für Novalis schon einmal nur noch die Subjektivität der Sprache, ihre Darstellungsseite, nicht ihr Inhalt. Und das heißt wiederum: Auch Darstellungen können – wie Überzeugungen – wahr oder falsch sein. Worin aber liegt ihre Wahrheit begründet? Novalis schreibt dazu:

Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge. (523)

Die Wahrheit der Darstellung hängt hier, darauf kommt es an, nicht von den Dingen ab, die sie benennt, und ich füge hinzu: sicher auch nicht von den Sachverhalten, die sie beschreibt, sondern lediglich davon, dass sich in ihr jenes »seltsame Verhältnißspiel der Dinge [spiegelt]«. Es ist eine (an Wittgensteins Tractatus erinnernde) Isomorphietheorie des Wissens, die Novalis hier entwirft, freilich ohne genau zu sagen, was er mit jenem auf der Darstellungsseite der Sprache sich abbildenden »seltsame[n] Verhält-nißspiel der Dinge« meint. Und er kann es seiner eigenen inhalts- und intentionalitätskritischen Theorie gemäß auch gar nicht sagen, er kann es nur zeigen – oder darstellen. Das Darstellen ist eben im Reiche des Poeti-schen die Weise, in der Geltungsansprüche vertreten werden.

Doch was hier darstellend zur Geltung gebracht wird, kann nicht ein-mal mehr, und dafür ist der Monolog berühmt geworden, durch das sprach-liche Subjekt dieser Darstellung legitimiert werden:

Wenn ich damit das Wesen und Amt der Poesie auf das deutlichste angegeben zu haben glaube, so weiß ich doch, daß es kein Mensch verstehn kann, und ich ganz

______________________

7 Novalis, »Monolog«, in: Werke in einem Band, hrsg. v. Hans Joachim Mähl/Richard Samuel, 3. Aufl., München 1995, S. 522 f., hier: S. 522. Alle weiteren Novalis-Zitate folgen dieser Ausgabe und sind im Text selbst ausgewiesen.

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was albernes gesagt habe, weil ich es habe sagen wollen, und so keine Poesie zu Stande kommt. (522 f.)

Das aber heißt: Ist der fiktionalen Literatur eine Rechtfertigung des poeti-schen Wissens über ihren Bezug auf Gegenstände ohnehin schon versagt, so bleibt ihr nun auch noch die Rechtfertigung eines möglichen poeti-schen Wissens über das poetische Subjekt versagt. – Doch das stimmt nicht ganz. Nur insofern die Subjektivität des poetischen Subjekts vom Begriff des Bewusstseins her gedacht wird, soll heißen: nur insofern am poetischen Subjekt seine Freiheit herausgestellt wird, bloß subjektiv Gülti-ges und Vermeintes zu äußern, nur insofern an ihm also die Perspektiven-gebundenheit des Bewusstseins herausgestellt wird, muss ihm die Legiti-mität seiner Wissensansprüche versagt bleiben. Wird das poetische Sub-jekt hingegen als ein sprachliches aufgefasst, ist es, was es ist, nur von Gnaden der Sprache, so könnte doch alles ganz anders sein. Denn wenn das poetische Subjekt, wie Novalis dann schreibt, »[...] reden müßte […] und dieser Sprachtrieb zu sprechen das Kennzeichen der Eingebung der Sprache, der Wirksamkeit der Sprache [...] wäre« (523), dann also, wenn das poetische Subjekt ein Ort der Erscheinung eines absoluten Subjekts – der Sprache – wäre, dann könnte das poetische Subjekt durchaus Wis-sensansprüche geltend machen.

Das klingt, ich weiß es wohl, wie reine Spekulation. Es scheint in sich schlüssig zu sein, und doch drängt sich der Verdacht auf, es sei bloß aus-gedacht. Dass sich im Rekurs auf das Sprechen der Sprache Wissensan-sprüche rechtfertigen lassen, ist in nach-heideggerianischen, ganz und gar nominalistischen Zeiten längst ein Gedanke, den kaum jemand noch ge-willt ist, ernst zu nehmen.

Ich will diesem Gedanken nun aber allen Kredit geben, den ich zur Verfügung habe – und ich mache das, obwohl ich sehr wohl weiß, dass ich dazu nicht geringe Hypotheken werde aufnehmen müssen. Ich verlasse daher jetzt die zu Beginn eingeschlagene, mir von der Literarischen Epis-temologie Kleists und Novalis’ vorgegebene Richtung und versuche ihrem Anliegen nun selbst das Wort zu reden, so gut ich kann.

Was mich zuversichtlich macht, dass so etwas überhaupt gelingen könnte, ist die Tatsache, dass im gegenwärtigen philosophischen Wissensdiskurs Subjektivität, Sprache und Wissen aufs Engste miteinander verbunden werden. Wissen wird dann als ein Anspruch verstanden, den Subjekte (freilich keine absoluten Subjekte) sprachlich zur Geltung bringen.

Eine solche Sicht der Dinge legt den Akut auf die Frage: Was tun wir eigentlich, wenn wir etwas als einen Fall des Wissens und damit als eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung qualifizieren? Nun, wir tun dreierlei:

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Zum Ersten weisen wir eine Festlegung zu, die jemand eingeht und die mit anderen seiner Festlegungen in Beziehung steht (das ist das Moment des Überzeugtseins). Zum Zweiten weisen wir eine Berechtigung zu dieser Festlegung zu (das ist das Moment der Rechtfertigung oder Begründung). Zum Dritten aber ist das, was wir tun, wenn wir eine solche berechtigte Festlegung als ›wahr‹ qualifizieren, nicht das Zuweisen oder Erkennen einer geheimnisvollen Eigenschaft namens ›Wahrheit‹; nein, was wir tun, wenn wir eine Festlegung als ›wahr‹ qualifizieren, ist, dass wir diese Festle-gung selbst eingehen – ganz einfach deshalb, weil wir die Gründe, die zu ihrer Rechtfertigung vorgebracht werden, für überzeugend halten.8

Eine solche Sicht der Dinge, darauf will ich hinaus, eliminiert das Moment der Wahrheit als Bestimmungsmerkmal des Wissens. Denn es ist nicht klar, welche Eigenschaft Wahrheit den Festlegungen, die so begrün-det sind, dass wir sie selbst eingehen, noch hinzufügen soll. Damit aber steht am Begriff des Wissens nur noch das Moment der Festlegung oder Überzeugung und das der Rechtfertigung oder Begründung zur Dispositi-on.

Wie, wenn aber Literatur doch in der Lage wäre, Festlegungen einzu-gehen und diese Festlegungen auch noch so zu begründen vermöchte, dass auch wir sie eingehen – wären wir dann am Ende nicht gezwungen, der Literatur ein Wissen zuzusprechen? Dass sie dabei keine propositiona-len Aussagen macht, die wahr oder falsch sein können, dies jedenfalls spräche dann nicht mehr gegen die Möglichkeit eines literarischen Wissens (Novalis hatte ja zu bedenken gegeben, dass in der Literatur die Sachver-halte, von denen sie spricht, ohnehin keinen Wissensanspruch rechtferti-gen können).

Was aber könnten das für Festlegungen sein, die die Kunst, und na-mentlich die literarische Kunst trifft? Ich meine, es sind Festlegungen in Bezug auf Darstellungsweisen, Perspektiven oder Haltungen, in denen wir etwas als etwas nehmen; und literarische Perspektiven oder Haltungen sind dann vor allem solche, in denen wir, um etwas als etwas zu nehmen, der Sprache bedürfen.9

Erst dadurch nun, dass ein Text nicht die Inhalte so darstellt, dass sie auf irgend etwas in der Welt da draußen referieren, sondern allein da-durch, dass ein Text seine Inhalte so darstellt, dass sie auf die Art verwei-sen, in der wir Welt darstellen, wird ein Text zu einem Stück Literatur. Das heißt, zu einem Fall von Kunst wird ein Text erst, wenn es ihm um ______________________

8 Vgl. Robert B. Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festle-gung, übers. v. Eva Gilmer/Hermann Vetter, Frankfurt a.M. 2000, Kap. 3: »Verlässlichkeits-theorien – Einsichten und blinde Flecken«, S. 127-161.

9 Das ist nicht immer so. Wer etwa einen Schraubenzieher als Dosenöffner gebraucht, benötigt dazu keine Sprache.

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die Festlegung auf eine bestimmte Darstellungsweise, um ein bestimmtes Etwas-als-etwas-Nehmen geht. Und die Kunst, meine ich, ist dann ein Diskurs, in dem solche Darstellungsweisen verhandelt, in dem mit den daraus resultierenden Erscheinungsweisen des Wirklichen experimentiert wird. Sich in den Diskurs der Kunst einzuschreiben heißt daher, in der beschriebenen, Inhalte nur als Mittel verwendenden Art eine Festlegung auf eine bestimmte Darstellungs- oder Erscheinungsweise einzugehen.

Wer also einen Text schreibt und diesen als literarischen Text verstanden wissen will, der behauptet so viel wie: Es sei lohnend, die Dinge einmal auf diese Weise zu sehen. Wenn man ihn aber fragt: lohnend wofür?, so wird ihm klar, dass er nicht nur eine Festlegung auf eine bestimmte Sicht der Dinge eingegangen ist, sondern auch darauf, dass sich diese Hinsicht zureichend – was immer das im Falle der Kunst heißen mag – begründen lässt.

Je nachdem, ob er nun geneigt ist, eher defensiv oder eher offensiv zu argumentieren, wird er dann sagen, diese Begründung lasse sich entweder nur mit Bezug auf den Diskurs der Kunst – oder er wird sagen, sie lasse sich mit Bezug auf die Realität geben.

Aber wie geht das, wird er sich fragen. Wie mache ich das? Wie recht-fertige ich ästhetische Darstellungsweisen, Perspektiven, Hinsichten, in denen wir etwas als etwas nehmen?

Nun, der alte, bereits von Platon gedachte Gedanke besagt hier, dass die Dinge oder Sachverhalte die Weise bestimmen, in der sie als Dinge oder Sachverhalte genommen werden – darin lag die Tyrannei des Objek-tiven, von der ich sprach. Es ist diese Auffassung, die dafür verantwortlich ist, dass das Ästhetische und erst recht die Kunst als ein freies, als ein von den Dingen und Sachverhalten befreites Experimentieren mit Darstel-lungsweisen in epistemischer Hinsicht so sehr in Misskredit geraten konn-te. Aber wer eine solch geringe Meinung von allem Ästhetischen hat, muss natürlich angeben können, wie Dinge und Sachverhalte sonst, in außeräs-thetischen Kontexten ihre Darstellungsweise bestimmen. Und wer so fragt, dem wird ziemlich klar: da stimmt etwas nicht! Und was da nicht stimmt, ist das bereits erwähnte Bild einer in Sachverhalte und Darstel-lungsweisen oder Objekte und Perspektiven getrennten Welt.

Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin, sehen in diesem Augenblick nicht auf weißem Papier verteilte Druckerschwärze plus Wörter und Sätze – Sie sehen die Druckerschwärze auf dem Papier als Wörter und Sätze. Aber weil die Realität so darstellungs- und perspektivengesättigt ist, weil wir, was wir sehen und denken, immer nur als etwas sehen und denken können, sind Darstellungsweisen, Perspektiven, Hinsichten und derglei-chen nichts, das der Möglichkeit von Erkenntnis entgegensteht. Es ist

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vielmehr umgekehrt: Was nicht als etwas genommen werden kann (ein Kantisches Ding an sich etwa), davon kann man auch nicht überzeugt sein.

Ich will daher noch etwas offensiver formulieren und sagen: Wir müs-sen uns, da die Dinge die Weise ihrer Darstellung nicht determinieren, daran gewöhnen, dass auch in nicht-ästhetischen, nicht-literarischen Kon-texten die Gründe der Behauptbarkeit sprachliche Gründe sind – und zuletzt mögen es dann, Blumenbergs Metaphorologie legt diesen Gedanken nahe, Metaphern sein, die dafür verantwortlich sind, dass wir etwas so oder so begründen.

Aber was soll es heißen, dass die Gründe der Behauptbarkeit sprachli-cher Art sind?

Nun, der Grund dafür, dass, wer sich inmitten einer Menschenmenge befindet, zu Recht behaupten kann, er sehe Menschen um sich herum, liegt nicht in den belebten Körpern, die er wahrnimmt, sondern in der Regel, die es ihm erlaubt, das Wort ›Mensch‹ in Situationen wie diesen zu äußern. Begriffe lassen sich deshalb als Regeln auffassen, die angeben, wie Wörter zu gebrauchen sind. Begriffe sind jedoch Regeln, die nicht nur festlegen, wie wir etwas bezeichnen, sondern auch, wie etwas als etwas genommen wird.

Auf jemanden den Begriff des Menschen anzuwenden, heißt nicht nur, ihn so zu bezeichnen und ihm selbst (oder auch nur der Vorstellung oder Wahrnehmung von ihm) ein Namenstäfelchen anzuheften, auf dem ›Mensch‹ steht. Nein, es heißt, ihn (oder sie) im Lichte der Erfahrungen zu sehen, die wir in Situationen gemacht haben, in denen wir oder andere das Wort ›Mensch‹ gebraucht haben. Bei solchen Erfahrungen handelt es sich nur gelegentlich um literarästhetische, immer aber um sprachliche Erfah-rungen. Diese setzen sich wiederum zum Teil aus Erfahrungen zusam-men, die wir mit Wörtern wie ›Tier‹ oder Namen wie ›Adam‹ und ›Eva‹ oder Fragen wie ›Was ist der Mensch?‹ gemacht haben. Ohne solche sprachlichen Erfahrungen wäre niemand, der etwa einen belebten Platz betritt, in der Lage, die Körper um ihn herum als Menschen zu sehen. Zwar könnte auch ein Papagei lernen, beim Anblick eines dieser Körper das Wort ›Mensch‹ zu äußern, aber er könnte sich nicht, da ihm die sprachlichen Erfahrungen mit den entsprechenden anderen Wörtern und Sätzen fehlen, auf die Perspektive festlegen, auf die wir uns festlegen, wenn wir jemanden als einen Menschen sehen.

Dieses Festlegen auf Perspektiven, von dem ich gesagt habe, es sei unver-zichtbar für das, was wir Wirklichkeit nennen, ist nun aber nicht völlig durch begriffliche Regeln (oder das, was Robert B. Brandom als Praxis des

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Gebens und Nehmens von Gründen beschreibt)10 bestimmt. Dass sich aus der Vielzahl der Situationen, in denen wir ein Wort verwenden, so etwas wie eine feste Regel zu seinem Gebrauch herauskristallisiert, mag hie und da der Fall sein, aber angesichts der Vielzahl der Situationen er-wartbar ist allenfalls eine vage Regelmäßigkeit. Da das Sprachverhalten kein Abbilden, sondern ein Sich-Orientieren in der Wirklichkeit ist, muss-te diese Vagheit die Menschheit von Alters her verunsichern. Und nicht selten hat sie dann Trost und Zuflucht bei der Philosophie oder den so genannten exakten Wissenschaften gesucht.

Doch wie eigentlich schaffen Philosophie und Wissenschaften hier Abhilfe? So, dass sie die Bedingungen erschließen, unter denen Begriffe sich gebrauchen lassen. Dass sie dabei vor allem an gesetzesartigen, durch Regelmäßigkeiten bestimmten und daher wiederholbaren Gebräuchen orientiert sind – und sich eben dadurch von der Literatur unterscheiden –, ist das eine. Das andere aber ist, dass sie gemeinsam mit der Literatur an dem Projekt der Erschließung der Gründe für unseren Gebrauch von Begriffen arbeiten, dass sie also gemeinsam mit der Literatur die Gründe – und, wir haben das bei Kleist und Novalis gesehen, oft genug auch Ab-gründe – erschließen, die Bedingung der Möglichkeit unserer sprachlichen Weltorientierung sind.

Dieses Erschließen der Gründe geschieht in der Literatur nicht über das Argumentieren, logische Schließen oder Beobachten realer Sprecher (ein solches Beobachten ist vielmehr eine Voraussetzung dafür, dass es Literatur gibt), sondern über die Darstellung: Um eine besondere Art des Stolzes zu beschreiben, musste Jane Austen die Handlungen, Gedanken, Worte und Gefühle der Heldin von Pride and Prejudice in unzähligen Situa-tionen schildern. Es gab da keinen Begriff, den sie hätte verwenden kön-nen. Und es gibt für zahllose andere Gründe, die dafür verantwortlich sind, dass wir die Welt in dieser oder jener Hinsicht nehmen, soll heißen: es gibt für zahllose andere Bedingungen unserer sprachlichen Weltorien-tierung keine Begriffe. Aber dennoch wäre der Begriff des Stolzes heute nicht, was er ist, wenn Jane Austen nicht Pride and Prejudice geschrieben hätte;11 und ich füge hinzu: Unser Begriff des Menschen oder der ›condi-tio humana‹ wäre gewiss ein anderer, wenn nicht Gestalten wie Don Qui-jote, Hamlet oder Faust die Bedingungen des Menschseins offen gelegt hätten.

______________________

10 Vgl. Brandom, Expressive Vernunft (Anm. 8). 11 Das Beispiel geht zurück auf: Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, übers. v. Kurt Baier, Stutt-

gart 1969, S. 53.

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Ein solches Erschließen der begrifflichen wie nicht-begrifflichen Bedin-gungen der Möglichkeit unseres sprachlichen Welterschließens ist, meine ich, keine geringe epistemische Leistung, die die Literatur erbringt.

Doch soll man wirklich sagen, die Literatur erbringe sie? Ich denke nicht. Wer glaubt, die Literatur sei ein Wissensspeicher, bedient sich einer ebenso irreführenden Metaphorik wie derjenige, der sie für ein Medium hält, das uns zu einem Reich verborgener Bedeutungen oder verborgenen Wissens führt. Wir müssen nicht an ein göttliches Wissen glauben, an dem allein enthusiasmierte Dichter teilhaben, und wir müssen auch nicht glau-ben, die Dichter versteckten sodann dieses Wissen in ihren Texten, damit sich schließlich Heerscharen von Philologen auf die Suche nach ihm be-geben – und wiederum Generationen von Literaturtheoretikern begriffli-che Detektoren entwickeln können, mit denen es aufgespürt werden kann.

Nein, ich stelle mir vor, Literatur sei ein Medium des Wissens nur in dem Sinne, in dem unsere Augen Medien des Sehens oder unsere Ohren Medien des Hörens sind. Nur weil wir Augen haben, gibt es für uns etwas zu sehen, nur weil wir Ohren haben, gibt es für uns etwas zu hören; wir sehen nicht mit den Augen und hören nicht mit den Ohren, sondern se-hen und hören durch sie. Denn die Zwecke, die wir mit ihnen verfolgen, gibt es ohne sie gar nicht.12 Auch Literatur, stelle ich mir vor, können wir als ein solches Organ, als eine solche Armatur unseres sprachlichen Sinns verstehen. Sie zu epistemischen Zwecken zu gebrauchen hieße dann nicht, sich auf die Suche nach der wahren, im Text verborgenen Bedeutung zu begeben, es hieße nicht, die Frage zu stellen: Was will uns der Dichter damit sagen? – und es hieße auch nicht, sich zu fragen: Warum hat ihn die Kultur dazu veranlasst, dieses oder jenes zu sagen, vielleicht sogar man-ches, was er gar nicht hat sagen wollen? Denn wer so fragt, wird kaum je mehr als Mutmaßungen oder dunkle Ahnungen zur Antwort erhalten. Nein, ich stelle mir vor, dass Literatur zu epistemischen Zwecken zu gebrauchen darauf hinausläuft, die Gründe dafür zu erschließen, warum sie überhaupt bedeuten kann. Die Frage lautet dann: Wie muss die Welt aussehen, damit der Dichter überhaupt sagen kann, was er sagt, damit, was er sagt, überhaupt Bedeutung hat?

Wie also muss die Welt aussehen, damit Verse wie »Über allen Gipfeln / ist Ruh«13 ebenso eine Bedeutung haben wie »Du LIEGST im großen Gelausche, / umbuscht, umflockt«?14 Es sind, dies scheint gewiss, viele Welten, die sich so erschließen lassen. Oder, wenn es eine ist, dann eine ______________________

12 In diesem Sinne argumentiert auch Donald Davidson, »Seeing Through Language«, in: Thought and Language, hrsg. v. John Preston, Cambridge 1997, S. 15-45.

13 Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. I, München 1996, S. 142. 14 Paul Celan, Gesammelte Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Beda Allemann/Stefan Reichert, Bd. II,

Frankfurt a.M. 1986, S. 334, Hervorh. ebd.

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äußerst heterogene. Und es scheint ebenso gewiss, dass dabei keine be-grifflich oder logisch durchstrukturierten Welten zum Vorschein kommen. Das Erschließen solcher Welten, solcher, um genau zu sein, Zusatzan-nahmen, die uns als Gründe dienen können, um literarischen Texten Be-deutung zu verleihen, ist etwas, das nicht die literarischen Texte für uns, sondern das wir schon selbst leisten müssen.

Die Texte legen sich lediglich in Bezug auf die Darstellungsweise ihrer Inhalte, auf Perspektiven also fest, und veranlassen uns durch diese Fest-legungen, Schlüsse auf die Gründe zu ziehen, die diese Perspektiven zu gehaltvollen, aussagekräftigen Perspektiven machen. Da sie uns aber nur dazu veranlassen und nicht selbst die Gründe dafür, dass sie etwas bedeu-ten, explizit machen können – dann wären sie nämlich keine literarischen Perspektiven mehr –, bleibt es uns überlassen, ihre epistemischen Ansprü-che zur Geltung zu bringen. Erst wenn es uns, und ich sage hier gerne: uns Literaturwissenschaftlern gelingt, Gründe dafür, dass literarischen Texten Bedeutung und Gehalt zukommt, ausfindig zu machen, die zugleich Gründe dafür sind, dass etwas anderes – eine andere Erzählung, eine andere Geschichte, ein anderes Leben, eine andere Kultur – Bedeu-tung und Gehalt bekommt, erst dann, und keinen Augenblick früher,15

können wir behaupten, Literatur gebe uns etwas zu wissen.

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15 Ohne einen solchen Bezug auf anderes gäbe es keinen Unterschied zwischen literarischem Wissen und Nicht-Wissen.

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JOCHEN HÖRISCH

Des Lesens Überfluss oder: Warum ist Selbstbewusstsein DAS Thema um 1800?

Es ist Schillerjahr1 und wir treffen uns in Mannheim, um über ›Literatur, Wissenschaft und Wissen‹ zu kommunizieren. Also muss schon aus lokal-patriotischen Gründen ein Schiller-Zitat am Anfang stehen. Schiller sah sich, so die schnell berühmt gewordene Wendung, als Zeitgenosse eines »tintenklecksenden Säkulums«. Der milden Paradoxie, dass er selbst sich im extensiven Ge- und Verbrauch von Tinte und Papier recht gut aus-kannte und das Seine zu jener Überproduktion von Dichtern und Den-kern beitrug, der wir, die wir an Philosophischen Fakultäten lehren und forschen, seit zwei Jahrhunderten unsere berufliche Existenz verdanken – dieser Paradoxie war er sich durchaus bewusst. Kein Wunder, denn so gut wie alle, die um 1800 schreiben und lesen, nehmen irritiert, gereizt oder belustigt wahr, dass alle schreiben und lesen. Was nicht ausschließt, dass viele unter ihnen bis heute darüber klagen, dass alle schreiben, aber keiner liest, was alle schreiben und vor allem: was man selbst schreibt.2

Um 1800 findet der Topos, demzufolge Poesie Überfluss in jedem Sinn ist, eine reiche und zeitdiagnostisch-spezifische Ausgestaltung. Goe-the hat diesem Motiv im zweiten Teil des Faust zum bündigsten Ausdruck verholfen: »Bin die Verschwendung, bin die Poesie« (V. 5573), spricht dort in einsam kristalliner Klarheit der Knabe Lenker als Allegorie der Poesie selbst. Dieser pathetische Satz aber hat eine empirische Möglich-keitsbedingung. Goethe nämlich kann, wenn er an seinem Alterswerk schreibt, auf eine Epoche des rasanten exponentiellen Wachstums des poetischen Mediums zurücksehen. Ja, die These gilt: An Poesie hat unsere Tradition die Krisen der Überproduktion erstmals erfahren. Und das noch zu Zeiten, da ohne unerträglichen Zynismus in anderen Hinsichten von Fülle und gar von Überfülle die Rede nicht sein konnte: um 1800.

Schiller hat diese Rede – von einer Debatte kann mangels Einsprü-chen nicht gesprochen werden – mit den eingangs zitierten Worten in ______________________

1 Das Kolloquium fand im März 2005 statt. 2 Das Folgende geht auf meinen Essay »Poetische Überproduktion«, in: Merkur 471 (Mai

1988), zurück.

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großem Maßstab eröffnet. In den Räubern polemisiert Karl Moor gegen das »tintenklecksende Säkulum«, dem er, der Buch- und Theaterheld, sein krisengeschütteltes Dasein doch verdankt. »KARL VON MOOR legt das Buch weg. Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«, heißt es gleich zu Beginn der zweiten Szene des ersten Aktes. An diese Paradoxie mag Goethe gedacht haben, als er in seiner Ersten Epistel, die 1795 nirgendwo anders als in Schillers Horen erschien, gleich zu Beginn ebenso bündig wie kunstvoll feststellte:

Jetzt, da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur Ungeduldig durchblättern und, selbst die Feder ergreifend, Auf das Büchlein ein Buch mit seltner Fertigkeit pfropfen, Soll auch ich, du willst es, mein Freund, dir über das Schreiben schreibend, die Menge vermehren und meine Meinung verkünden Daß auch andere wieder darüber meinen und immer So ins Unendliche fort die schwankende Woge sich wälze.3

Das ist bemerkenswerter Klartext. Um 1800 (und also noch vor den Zei-ten einer faktisch durchgesetzten allgemeinen Schulpflicht im deutsch-sprachigen Raum) werden Lesen und Schreiben miteinander geradezu modisch kurzgeschlossen. Und zwar um den unvermeidlichen Preis einer Ent-Intensivierung der Lektüre: Wer nicht mehr nur lesen will, was andere geschrieben haben, sondern selbst schreiben und gar über das Schreiben schreiben will, hat weniger Zeit zum Lesen. Wenn dann noch »die Menge« des zu Lesenden »ins Unendliche fort« wächst, bleiben bloß noch die Techniken oberflächlich-amalgamierender Lektüre, die Goethes Zeilen mit großer Präzision beschreiben: »Liest doch nur jeder / Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er / In das Buch sich hinein, amal-gamiert sich das Fremde.«4

Dass eine dermaßen professionalisierte Lektüre ihren schnell erreich-ten Grenzwert in bloßen Projektionsleistungen des Lesenden findet, der selbst viel lieber ein Schreibender sein möchte, liegt auf der Hand. Wenn Lebens- und Lesezeit knapp sind und wenn der uralte Schreiber-Narzissmus, mit dem »Eindruck der Lettern ... der Ewigkeit trotzen« zu wollen, vom Ausnahme-Privileg zum sozialisierten Normalfall alphabeti-sierter Massen wird, muss es ums Lesen so schlecht bestellt sein, wie Goe-thes böser Xenien-Spruch es unterstellte: »Im Auslegen seid frisch und munter! / Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.«5

An diese wache Diagnostik kann Novalis anknüpfen. Er erweist sich als eben nicht von blauen Blumen träumender Romantiker, sondern als ein mit allen Künsten distanzierter Beobachtung versehener Intellektuel-______________________

3 Berliner Ausgabe, Bd. 1, Berlin 1972, S. 213. 4 Ebd., S. 214. 5 Ebd., S. 654 (Gedicht, Ausgabe letzter Hand von 1827).

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ler, wenn er in seinen Dialogen von 1799 zwei Gesprächspartner, die offen-sichtlich Goethes Erste Epistel gelesen haben, nach Lösungsmöglichkeiten für poetische Überproduktionskrisen suchen lässt:

A: Der neue Meßkatalog? B: Noch naß von der Presse. A: Welche Last Buchsta-ben! welche ungeheure Abgabe von der Zeit! B: Du scheinst zu den Omaristen zu gehören, wenn es erlaubt ist, euch nach den Consequentesten unter euch zu benennen. A: Du willst doch nicht den Lobredner dieser Bücherseuche machen?6

Der Kalif Omar II. war in der Tat bzw. in der legendenhaften Ausschmü-ckung seiner Taten der konsequenteste nicht nur unter den frühen Kämp-fern gegen die Bücherseuche. Und das in Zeiten lange vor Gutenberg. Als ihm der militärische Sieg über Alexandria gemeldet und die Frage unter-breitet wurde, was denn mit den enormen Beständen der dortigen Biblio-thek geschehen solle, antwortete er bündig: die zahllosen Schriften seien auf jeden Fall und unbedingt zu vernichten. Denn entweder stimmten sie mit dem Koran überein – dann seien sie überflüssig; oder sie stimmten mit dem Koran nicht überein – dann seien sie sogar schädlich.

Ganz so brachial wollen die Disputanten von 1799 mit der ›Bücher-seuche‹ nicht umgehen. Sie kennen humanistischere Weisen der Redukti-on des schieren Überflusses, den die geschickte Kombination von 26 Buchstaben, die schwarz auf weiß geschrieben stehen, zum Effekt hat. »Übung macht den Meister und auch im Bücherlesen. Du lernst dich bald auf deine Leute verstehen. Man hat oft nicht zwey Seiten dem Autor zu-gehört, so weiß man schon, wen man vor sich hat. Oft ist der Titel selbst physiognomisch lesbar genug.«7 In der Tat wird seit 1800 zumeist nach diesem Modell gelesen. Die gar nicht so romantischen Disputanten ent-schließen sich denn auch schnell, den Bücherkatalog zur Kenntnis zu nehmen. Dies ist immerhin möglich – die Menge der Bücher zu lesen jedoch ist eine schlichte Unmöglichkeit. Jean Pauls vergnügtes Schul-meisterlein Wutz hat – aus Geldmangel – die Variante dazu literaturfähig gemacht. Auch er kauft sich allein den Katalog, um dann aber nicht etwa ausgesuchte Bücher zu entleihen und zu lesen, sondern selbst nach ›physi-ognomischer‹ Lektüre ausschließlich der ansprechenden Titel die dazuge-hörigen Texte selbst zu schreiben.

Dieser noch gelassene humoristische Umgang mit der ›Bücherseuche‹ hat spätestens im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Ende. An seine Stelle ist blanker Grimm getreten. Ihm verhilft 1865 Gottfried Kellers großartige Erzählung Die mißbrauchten Liebesbriefe zum schneidenden Ausdruck. Sie schildert gleich zu Beginn den grotesken Ernst der poetischen Lage: So ______________________

6 Novalis, »Dialogen«, in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, München 1978, S. 426.

7 Ebd., S. 428.

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gut wie jeder Bürger von Seldwyla, der auf sich hält, schreibt; kaum mehr einer liest. Das ist das Resultat der allgemeinen Alphabetisierung und der massenweisen Produktion von Individuen, wie die humanistischen Lehr-pläne des 19. Jahrhunderts sie hervorbrachten – nein: bildeten. Viggi Stör-teler, ein erfolgreicher Kaufmann, hat an dieser poetischen Inflation leb-haften Anteil. Unter dem Kunstnamen Kurt vom Walde produziert und reproduziert er, wie etwa auch ein Roderich vom Tale, ein Hugo von der Insel und ein Gänserich von der Wiese, unablässig seine unverwechselbare Individualität.

Auf einer Geschäftsreise gerät er nun in einen Kreis von Literaten, die gleichermaßen massenhaft ihre Individualität (re-)produzieren. Der Hin-zukommende bemerkt seinesgleichen schnell:

So hörte man nur noch die Worte Honorar, Verleger, Clique, Koketterie und was noch mehr den Zorn solchen Volkes reizt und seine Phantasie beschäftigt. Schon tönte und schwirrte es, als ob zwanzig Personen sprächen, die tückischen Äuglein blinkerten und eine allgemeine glorreiche Erkennung konnte nicht ausbleiben. Da entlarvte sich dieser als Guido von Strahlheim, jener als Oskar Nordstern, ein dritter als Kunibert vom Meere. Da zögerte auch Viggi nicht länger. [...] Er war von allen gekannt [...], denn diese Herren [...] verschlangen alles, was von ihres-gleichen kam, auf der Stelle. […] und zwar nicht aus Teilnahme, sondern aus ei-ner sonderbaren Wachsamkeit.8

Und so bahnt sich, durch Konkurrenz angestachelt, der reine Irrwitz an. Den vermag unter lauter unverwechselbaren Literaturproduzenten allein noch der Kellner zu diagnostizieren. Er nämlich hatte, die Buchstabenfol-ge seines profanen Namens Georg Nase zum Pseudonym verkehrend, als George d’Esan auch lange an dem überproduktiven Treiben mitgewirkt und vermag deshalb, aus der Schule zu plaudern:

Ich hatte eben keinen Stoff als sozusagen das Schreiben selbst. Indem ich Tinte in die Feder nahm, schrieb ich über diese Tinte. Ich schrieb, kaum daß ich mich zum Schriftsteller ernannt sah, über die Würde, die Pflichten, Rechte und Be-dürfnisse des Schriftstellerstandes, über die Notwendigkeit seines Zusammenhal-tens gegenüber den anderen Ständen, ich schrieb über das Wort selbst, unwis-send, daß es ein echtes deutsches und altes Wort ist, und trug auf dessen Ab-schaffung an, indem ich andere, wie ich meinte, viel geistreichere und richtigere Benennungen ausheckte und zur Erwägung vorschlug, wie z.B. Schriftner, Tinte-rich, Schriftmann, Buchner, Federkünstler, Buchmeister usf.9

So lässt sich schnell unter »schlechten Skribenten«, die die »gehässigsten Leute von der Welt sind« und doch die »unüberwindliche Neigung haben, sich zusammenzutun und ins Massenhafte zu vermehren«, auch die Litera-tur ins Massenhafte vermehren. Lesen kann und will sie keiner mehr. Deshalb verdammt Viggi Störteler seine Frau Gritli zu einer seltsamen ______________________

8 Gottfried Keller, Sämtliche Werke in acht Bänden, Berlin 1958-1961, Bd. 6, S. 374. 9 Ebd., S. 377 f.

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Doppelrolle. Sie soll als Muse erstens durch Beantwortung seiner Liebes-briefe die Produktion anstacheln und muss dazu zweitens seine Texte lesen. Diese erzwungene Koppelung von Lesen und Schreiben kann nicht gut gehen – ist Gritli doch so etwas wie die letzte einsame Leserin im Buch des Lebens. Deshalb überlässt sie die Beantwortung der poetischen Gattenbriefe einem jungen Lehrer, dem sie in Ab- und kleinen Umschrif-ten die Briefe ihres Mannes als ihre eigenen über den Zaun reicht. Der antwortet verliebt; Gritli schreibt die Antworten ab und um, schickt sie an ihren Mann; der hätte seiner Muse so viel Esprit gar nicht zugetraut und antwortet seinerseits enthusiasmiert; seine Frau stöhnt ob der Länge des Gatten-Schreibens, schreibt ab und ein wenig um, gibt’s dem Lehrer; der liest gerührt, antwortet der geliebten Nachbarin noch gerührter etc.

Eine in jedem Sinne wahnsinnige poetische Überproduktion kommt, durch ein gut funktionierendes schweizerisches Postsystem und eine Ehe-frau, die zur Sekretärin gleich zweier Männer wird, in Gang. Mit schreckli-chem Ende für den Kaufmanns-Literaten. Denn gelesen wird die rasende literarische Korrespondenz nicht etwa von den Abonnenten einschlägiger Zeitschriften, sondern vom Scheidungsrichter, der über den Umfang der ihm vorliegenden Akte stöhnt. Natürlich aber hat die Geschichte auch ein gutes Ende: nämlich für den Lehrer, der seinem Berufsstand und seiner Bildungs-Aufgabe willig entsagt, und für Gritli, die nur zu gerne der Poe-sie-Produktion entsagt und statt dessen mit dem Nachbarn die Kinder zeugt, die der literarischen Ehe versagt blieben: liberi statt libri.

Das nimmt sich erschreckend modern aus. Die literarische Moderne hat die bereits von den Klassikern diagnostizierten poetischen Überpro-duktionskrisen gewiss nicht bewältigt, sondern – über das Schreiben über das Schreiben schreibend – noch weiter inflationiert. Selbst dann noch, wenn man wie Wolfgang Hildesheimer mit dem Schreiben einfach aufhö-ren will, kann man darüber lange schreiben und Interviews geben. Selten ist über das Verstummen so viel geredet und gedichtet worden wie in der Moderne und Postmoderne.

Auffallend dabei ist aber, dass die von größten Namen getragene Tra-dition poetischer Kritik an poetischer Überproduktion um 1900 einfach abbricht. Rilke oder auch Thomas Mann werden, Bücher schreibend, Bücher und Leser feiern. Dieser Bruch hat einen handfesten Grund: mit der Entstehung neuer Medien wie Grammophon und Film sinkt – Fried-rich A. Kittler hat das in seinem Buch Aufschreibesysteme 1800 • 1900 (Mün-chen 1985) eindringlich gezeigt – das Speichermonopol der Bücher dahin. Unter medialen Konkurrenzbedingungen aber kann sich die Dichtung die Selbstkritik ihres Überflusses kaum mehr leisten. »Brot im Überfluß und Spiele satt / Kultur: die große Wachstumsbranche« – so hat Ulrich Greiner schon am 7. August 1987 in der Zeit die Lage beschrieben.

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Und nur eine Woche später gibt Heiner Müller in einem bemerkenswerten Interview im selben Blatt mit größter Klarheit zu Protokoll, was sich grundsätzlich geändert hat: die Monopolstellung der Literatur resp. des Theaters. »Wer weiß, wie gut Sie sind?« fragt dort der Interviewer. Die Antwort ist von unüberbietbarer Klarheit: »Ich bin der beste lebende Dramatiker, gar keine Frage. Das weiß jedes Kind inzwischen.«10

Klar wie diese Antwort aber ist auch das von Heiner Müller gesehene Problem. Auf die Nachfrage, ob er sich Shakespeare ebenbürtig fühle, kommt die medientechnische Diagnose:

Nicht unbedingt. Aber das hat mit den Umständen zu tun. [...] Damals gab es kein Kino, kein Fernsehen, auch keine Trennung zwischen höherer und trivialer Kunst. Das Theater [...] hatte unter anderem auch die Funktion, die heute Porno-filme und Horror-Videos haben. [...] Um diese Monopolstellung beneide ich Shakespeare.

Kurzum: Heiner Müller mag 1987 der beste lebende Dramatiker gewesen sein. Der beste Regisseur, Bandleader, CD-Produzent, Programmierer, Showmaster, Medienintendant etc. war er noch lange nicht. So war er (nicht ohne den Grimm des Avantgardisten, der sich in der Sparte vertan hat) der Beste in einem völlig dezentrierten und anachronistischen Medi-um. In einem Medium, das mit dem Verbund- und Gattungssystem Lite-ratur, dem es zugehört, seine Monopolstellung seit hundert Jahren schon verloren hat.

Seit es diese Medienkonkurrenz gibt, wird von Poeten über die Prob-leme poetischer Überproduktion kaum mehr gesprochen. Dabei ist das Problem von absoluter Klarheit: die Verarbeitungskapazität des menschli-chen Gehirns dürfte seit den Zeiten des Neandertalers nur um ein gerin-ges zugenommen haben. Die Zeichen- und Informationsmenge aber, die diesem Gehirn zur Verarbeitung zugemutet wird, ist in einem wahren Irrsinnstempo gewachsen. Unvermeidlich sind für die, die noch lesen wollen, deshalb zwei Strategien, die höchst unterschiedlich ausgebildet und kombiniert werden können: Speicherung und Selektion. Man kann Schriften (fast unbegrenzt) speichern – zumal, seitdem es Mikrofiches, Festplatten, Disketten und USB-Sticks gibt. Ob sie irgendwann irgendwer aus den Verliesen von Bibliotheken hervorholen, von DVDs herunterko-pieren oder aus dem WWW angeln wird, kann man dahingestellt sein lassen.

Dass man, so man überhaupt noch Bücher lesen und eben nicht Filme sehen, Platten hören, Fotos anschauen, Computerprogramme abrufen etc. will, auf Selektion angewiesen ist, ist eine schiere Platitüde. Da bieten sich die unterschiedlichsten Möglichkeiten an. Man kann (der seltsame Reiz ______________________

10 Die Zeit, 14. August 1987.

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von Marcel Reich-Ranickis Tätigkeit rührt daher) lustvoll Verrisse schrei-ben und sich aus der ohnehin unvermeidlichen Nichtzurkenntnisnahme von Büchern ein gutes Gewissen machen. Man kann (derselbe Kritiker tut auch dies) mäßige Bücher unmäßig herausstellen. Man kann sich mit dem Charme der Militanz spezialisieren und z.B. bloß noch Literatur aus der Lüneburger Heide zur Kenntnis nehmen. Man kann auf Andy Warhols Diktum vertrauen, dass es für die Unsterblichkeit ausreiche, fünf Minuten berühmt zu sein, und die entsprechenden Autoren zu dem Zeitpunkt lesen, da sie berühmt sind. Man kann sich den Bestsellerlisten und Buch-empfehlungsrubriken anvertrauen. Man kann den Zerfall der literarischen Kanonbildung beklagen und versuchen, diese (zumindest für Teilgruppen) wiederherzustellen. Man kann sich dem Zufall anvertrauen. Man kann nur die lesen, die sich für die Besten halten (selbst dann ist die Menge kaum mehr zu bewältigen). Man kann Jahresüberblicke, Kataloge und Rezensi-onsorgane lesen. Man kann der Literatur abschwören und ins Kino gehen. Man kann leben statt lesen. Und natürlich kann man sich auch darüber freuen, dass Überfluss herrscht statt Mangel.

Die Epoche um 1800, also die sog. Goethezeit, hat die Erfahrung einer Überproduktion nicht nur an poetischen Schriften, sondern an Kunstwer-ken aller Art und eben auch an wissenschaftlichen bzw. theoretischen Neuansätzen mit einer bis dato unbekannten Rigorosität gemacht. Der Marxsche bzw. Engelszungen-Satz vom Umschlag der Quantität in Quali-tät hat, wie die Marxsche Theorie überhaupt, in den letzten Jahrzehnten gewaltigen Kursverlust erlitten und ist weitgehend außer Gebrauch ge-kommen. Falsch ist er deshalb nicht. Um 1800 nötigt die schiere Menge des Gemalten, Komponierten, Gedruckten, der schönen Literatur, der neuen Theorieansätze, der Almanachbände, der Gesamtausgaben, der Übersetzungen, der Wiederentdeckung antiker Autoren, der Reiseliteratur, der interkulturellen Kontakte und nicht zuletzt neu emergierender Wis-senschaftsdisziplinen dazu, anders als zuvor zu lesen, zu rezipieren, zu theoretisieren. Drei Reaktionen auf den quantitativ enormen Daten-Zuwachs um 1800 erweisen sich wissenschaftshistorisch als besonders erfolgreich: die Hermeneutik, die Selbstbewusstseinstheorie und die (so zuerst von Hegel lancierte) Paradoxierung des Wissens und der Großtheo-rien.

Eine der erfolgreichsten und haltbarsten Reaktionsformen auf die un-geheuer anwachsende Datenmenge um und seit 1800 ist die Hermeneutik.Sie versteht sich selbstredend ganz anders, läuft aber, wie Schleiermachers frühe, ebenso böse wie analytisch scharfe Rede von der »Wut des Verste-

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hens«11 anzeigt, auf eine selbstbewusste Maschinerie der Reduktion von Komplexität hinaus. Der Hermeneut weiß eben, dass er immer schon das Ganze (die Welt, die Epoche, den Autor, seinen soziokulturellen Kontext, die Tradition etc.) verstanden haben muss, um ein einzelnes Werk verste-hen zu können. Klug, wie er ist, weiß er, dass genau dies: alles angemessen zu erklären, zu begreifen, zu untersuchen, zu prüfen, nicht möglich ist. Deshalb schaltet er von Erklären auf Verstehen um. Wenn er sehr klug ist, weiß er, dass er allenfalls verstehen kann, dass er nicht alles verstehen kann und dass die Grenzen zwischen Verstehen und Missverstehen so deutlich und schlagbaumbewehrt nicht sind, wie es wünschenswert schei-nen mag. Das Buch der Welt ist komplex, die Welt der Bücher desglei-chen, das Verhältnis zwischen beiden Welten bzw. Büchern ist noch komplexer: wir haben verstanden. Ob Hermeneuten damit auch das Ver-stehen verstanden haben? Vieles spricht dafür, dass genau mit dieser Frage der blinde Fleck im Beobachtungssystem der Hermeneutik angezeigt ist, der sie so erfolgreich macht. Hermeneutik macht dem Projekt ein gutes Gewissen, nicht alles so unvoreingenommen wie möglich beobachten zu wollen.

Mit der hermeneutischen Strategie der Reduktion von Daten-Komplexität um 1800 ist eine zweite verwandt: die Metastufenbildung, das Reflexivwerden von Wissen. In so gut wie allen Disziplinen findet man um 1800 denselben Gestus der Metastufenbildung. Erzieher entdecken, wie wichtig es ist, die Erzieher zu erziehen. Aufklärer punkten mit der These, dass es darauf ankommt, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären. Ökonomen weisen darauf hin, dass man mit Geld nicht nur Waren, son-dern eben auch Geld kaufen kann. Theologen wird bewusst, dass man an den Glauben glauben muss. Romantische Sprachwissenschaftler denken darüber nach, was es heißt, über Kommunikation zu kommunizieren, Psychologen darüber, ob wir, wenn wir lieben und begehren, nicht eigent-lich das Begehren begehren und die Liebe lieben. Und Wissenschaftler, die genau dann keine mehr, dafür aber Philosophen sind, entwickeln Wissen-schaftswissenschaften und schreiben also Wissenschaftslehren. Dem liegt die bei Descartes vorbereitete, bei Kant entfaltete und bei Fichte trotz aller argumentativen Abstraktion publikumswirksam platzierte These zugrunde, dass wir, wovon immer wir Bewusstsein haben, zugleich doch auch Bewusstsein von diesem Bewusstsein haben müssen.

______________________

11 Vgl. dazu Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens – Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1988 (2., erweiterte Neuauflage 1998).

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Mit einem Wort: Bewusstsein von Bewusstsein, Metabewusstsein, Selbstbewusstsein avanciert um 1800 zum Mode-Thema schlechthin.12 Denn so lässt sich alles thematisieren, wenn sich nicht mehr alles thematisieren lässt. Alsbald aber wird deutlich, dass dieser Weg, der von Wissenssyste-men erster zu Bewusstseinssystemen zweiter Ordnung führt, ohne Para-doxie- und Aporie-Erfahrungen nicht zu durchlaufen ist. Selbst Kant hat einsichtiger Weise nirgends beschworen, dass das Subjekt seiner selbst unausgesetzt eingedenk sein müsse. Das gibt schon der berühmteste Satz der Kritik der reinen Vernunft zu erkennen. »Das: ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können«13 – und eben nicht müssen. Es ist diese charmante Laxheit, die das Kantische Subjekt vor den Widersprüchlich-keiten reinen Selbstbezugs und lähmender Überstrapazierung bewahrt. Bewahren aber kann das Subjekt sich nur, wenn es sich nicht ständig als Subjekt im Sinne von tragendem Grund bewahren will.

Zu wissen, dieser Blick sei ausschließlich der meiner Augen, ist das Eine – ihn selbst erblicken oder sich auf den Kopf sehen zu wollen, ist das struktural ausgeschlossene Andere. Die intensivierte Selbsterfahrung im Schmerz oder im Wunsch kann so verzehrend werden, dass der Erfahren-de seine Durchstreichung erfährt: in schierer Besinnungslosigkeit oder im Tod. Und auch die reflexive Selbsterkennung noch der vorherigen Selbst-verkennung kann so tödlich enden, wie es Goethes Bildungsroman am Schicksal des Harfners beschrieb:

Man erfuhr nicht ohne Mühe und nur nach und nach, daß, als er bei der unglück-lichen Dislokation des Grafen [einer neuen Zimmerverteilung in den Räumen der Turmgesellschaft, J.H.] in ein Zimmer mit dem Abbé versetzt worden, er das Manuskript und darin seine Geschichte gefunden habe; sein Entsetzen sei ohne-gleichen gewesen, und er habe sich nun überzeugt, daß er nicht länger leben dür-fe; sogleich habe er seine gewöhnliche Zuflucht zum Opium genommen […].14

Der vollends über sich Aufgeklärte mag nicht länger leben. Das Subjekt des Lesens fällt aus, wenn es mit dem Subjekt des Gelesenen ineins fällt: »Den andern Morgen fand man Augustinen tot in seinem Bette; er hatte die Aufmerksamkeit seiner Wärter durch eine scheinbare Ruhe betrogen, den Verband still aufgelöst und sich verblutet.«15 Noch dieses Ereignis ______________________

12 Einen guten Überblick zum Thema und zur Diskussion um Selbstbewusstsein bis heute gibt Oliver Jahraus, Literatur als Medium – Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußt-sein und Kommunikation, Weilerswist 2003.

13 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132. 14 Johann Wolfgang von Goethe, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: Werke. Hamburger Ausgabe,

Bd. 7, hrsg. v. Erich Trunz, München 1981 (10., neubearbeitete Auflage), S. 603. Die fol-genden Ausführungen greifen zurück auf meinen Essay »Das doppelte Subjekt – Die Kon-troverse zwischen Hegel und Schelling im Lichte des Neostrukturalismus«; in: Konkursbuch15 (1985), S. 43-60.

15 »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, S. 604 (Anm. 14).

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werden die Archive der Turmgesellschaft verzeichnen. Das verzeichnete Subjekt aber wird es nicht lesen können. Das Subjekt des Ausgesagten ist wie das des Geschriebenen logisch und chronologisch zugleich früher und später als das des Aussagens und des Niederschreibens.

So tödlich paradox wie dem Harfner kann es Subjekten ergehen, de-nen eine aufklärungsversessene Turmgesellschaft humanistisch verweigert, unterliegendes subjectum zu sein. Goethes Wink an subjektzentrische Philo-sophen hat die große Karriere und das überragende Prestige transzenden-talphilosophischer Theoriebildungen nicht verhindern können. Sie ver-kennen, dass die Abdankung des Subjekts von seinem Königsplatz eins sein könnte mit seiner Rettung. Wer abdankt, ist nicht tot. Es soll Kaiser, Könige und Kanzler gegeben haben, die erst nach ihrer freiwilligen oder auch erzwungenen Abdankung befreit, lohnend und gut gelebt haben. Vieles spricht dafür, dass die mittlerweile schon nicht mehr neueren fran-zösischen Theorien, von denen seltsamer Weise nicht auszumachen ist, ob sie neo- oder aber poststrukturalistisch heißen sollen, eher Partisanen einer Rettung des Subjekts sind als die wohlarmierten deutschen Verteidi-ger der reinen Vernunft, der Kraft des besseren Arguments und der Un-hintergehbarkeit von Individualität. Dafür spricht nicht zuletzt der Stil jener divergenten Theorien. Wissen doch Franzosen zumal: Le style, c’est l’homme même.

Die dritte der sich um 1800 abzeichnenden Reaktionsformen auf eine überquellende Datenlage ist die bewusste Paradoxierung von Wissen, Me-tawissen und Selbstbewusstsein. Für den Denk- und Analysestil, der sich angstfrei auf solche Paradoxierungen einlässt, steht der Name Hegel ein. Hegel knüpft entschieden an den Stand der Selbstbewusstseins-Theorienum 1800 (Kant, Fichte, Schelling u.a.) an, um der Diskussion zu diesem Thema sodann eine originelle Wendung zu geben. Wie später Luhmann und Derrida16 stellt er die Konjunktur der Selbstbewusstseinsthematik um 1800 in einen historischen Kontext. Hohen indikatorischen Wert hat in diesem Zusammenhang die begriffsgeschichtliche Feststellung, dass die Begriffe ›Subjektivität‹ und ›Selbstbewusstsein‹ als Ausgleich für den auf-klärungsbedingten Gewissheitsverfall theologischer Fremdreferenz konzi-piert wurden und so ihre Karriere machten. Diesen Prozess hat Niklas Luhmann eindringlich beschrieben:

Nach der hochriskanten Ablehnung aller religiösen oder metaphysisch-kosmischen Instituierung von Erkenntnis konnte man nicht sogleich den nächs-ten Schritt tun und jeden Gedanken an eine letztgewisse Außenfundierung fahren lassen. Man kam diesem Schritt so weit wie möglich entgegen und verlegte das, was die Funktion einer Außenfundierung hatte, in das Bewußtsein. Dazu mußte

______________________

16 Vgl. dazu Heinz Bude, »Erbschaft des schuldigen Denkens – Jürgen Habermas und Jacques Derrida als Denker der Nachkriegszeit«, in: Merkur 671 (März 2005).

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Bewußtsein als ein über Empirizitäten hinausgehender ›transzendentaler‹ Sach-verhalt, als ›Subjekt‹ der Welt begriffen werden. So konnte die Selbstreferenz des Bewußtseins, Subjekt genannt, als Quelle der Erkenntnis und als Quelle der Er-kenntnis der Bedingungen der Erkenntnis zugleich in Anspruch genommen wer-den. Eine im Erkenntnisprozeß nicht mehr disponible Ebene kontrollierbarer Bedingungen war denkbar gemacht, und zugleich war jedem, der an Erkenntnis teilnehmen wollte, zugemutet, sie in sich selbst als unumstößliche Gewißheit zu erfahren. – Ein genialer, höchst erfolgreicher, merkwürdiger Kompromiß zwi-schen Zugeständnis und Ablehnung von Selbstreferenz. Ein Apriori in Begrün-dungsfunktion, als ob nicht schon das ein Widerspruch in sich selbst wäre. Die Überlieferung hat diesen Gedanken bewahrt, ausgebeutet und wiederholt revitali-siert. Er ist in der Tat, wenn man das Problem ernst nimmt, das er sich stellt, nicht zu überbieten. Aber der Plausibilitätsentzug schreitet unaufhaltsam fort. Man findet heute wohl kaum noch jemanden, der authentisch so denkt. Wer transzendentales Denken vertritt – und man kann das natürlich, wenn man Bü-cher schreibt oder Kongreßreferate hält –, begründet dies historisch mit Theo-riewissen: mit Kant.17

Hochgradig unplausibel ist das Konzept begründender Subjektivität in der Tat – nicht aber das begründeter Subjektivität. Hegel ist der Erste gewe-sen, der es in Absetzung vom Transzendentalismus entwickelt hat. Seine Theorie nimmt den Vorwurf methodischer Kategorienfehler in Kauf, weil sie Gründe zu der Vermutung hat, Subjektivität sei Effekt von Struktur- und Systemdifferenzen und also ein Produkt von ›Kategorienfehlern‹, ja sie sei selbst ein Kategorienfehler. Sie ist ein Resultat der Krise transsub-jektiver Strukturen (etwa der Struktur von Sprache und Kommunikation), ein Produkt pathogenetischer Systembildungsprozesse (der Autopoiesis moderner Gesellschaftsformen), ein Überschussphänomen (weil Struktu-ren und Systeme im Interesse ihrer Kontinuierung Redundanzen ausbil-den müssen), ein Abfall in jedem Wortsinn: »Ohne ›noise‹ kein System.«18

»Soziale Systeme entstehen auf Grund der Geräusche, die psychische Sys-teme erzeugen bei ihren Versuchen zu kommunizieren.«19

Solche Kommunikationsversuche aber stoßen gerade in dem Maße, in dem sie hohen argumentativen Standards genügen wollen und Letztge-wissheiten anzielen, auf paradoxe Sachverhalte und Strukturen, die sich um 1800 (also nach der Französischen Revolution und nach Kants schla-gender Kritik am ontologischen Gottesbeweis) nicht mehr erfolgreich tabuisieren lassen. Das gilt gerade auch für die klassische Letztebene ›Gott‹: Wenn er der letzte Beobachter sein soll, so lässt sich offenbar noch dies beobachten – ausgerechnet von frommen Theologen. Wenn sie klug sind und auf Hegels karfreitagstheologischem Niveau argumentieren, ______________________

17 Niklas Luhmann, Soziale Systeme – Grundzüge einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 649.

18 Ebd., S. 166. 19 Ebd., S. 292.

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müssen sie Paradoxien wie die thematisieren, ob der allmächtige Gott auch sterben kann – wenn nicht, dann kann er etwas nicht, was Sterbliche vermögen, dann ist er also nicht allmächtig. Wenn er aber (christologisch!) ein sterblicher und gar gestorbener Gott ist, dann ist er ganz Mensch ge-worden und eben kein von Ewigkeit zu Ewigkeit existierender Gott mehr. Strukturell verwandte Paradoxien stellen sich nun genau auf der Ebene ein, die um 1800 im Wissenssystem die Funktion des angeschlagenen, weil eben nicht mehr gewissen Gottes bzw. der angeschlagenen Theologie einnimmt: auf der Ebene von Selbstbewusstsein als vermeintlich letztge-wisser Instanz.

Selbstbewusstsein, so Hegels große Einsicht, ist nur um den Preis von Widerspruchsstrukturen zu haben. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes entfaltet Hegel im Anschluss an und in Konkurrenz zu Kants Satz, Sein sei kein reales Prädikat, die parmenideische These, »daß das Sein Denken ist« (53).20 Diese vorsokratische ›Einsicht‹ ging mit der aristoteli-schen Fassung des Identitätssatzes verloren, demzufolge dasselbe demsel-ben in derselben Hinsicht nicht zugleich zukommen und nicht zukommen kann (etwas kann z.B. nicht zugleich rund und eckig sein, res cogitans kann nicht zugleich res extensa sein).21 Die Weisheit eines Denkens, das Wider-spruchsstrukturen nicht per se verwirft, pflegt nach Hegels schöner For-mulierung zumal der Gewöhnung ans Identitäts- und Gleichheitsdenken im »gewöhnlichen begriffslosen Sprechen [...] abzugehen« (53). Deshalb versucht Hegel, seine zuvor nur als These artikulierte »antizipierte Versi-cherung« (55) durch einen Verweis auf die Dialektik des Satzes plausibel zu machen, die sich noch, ja gerade in der profanen Rede bewährt.

Hegel polemisiert dabei zugleich esoterisch gegen vier um 1800 gängi-ge Subjektivitätstheorien, die sich aufgrund argumentativer und stilisti-scher Parallelen in der Hegelschen Geschichte der Philosophie genau adressie-ren lassen. So kritisieren die zur Dialektik des Satzes überleitenden Be-merkungen erstens Kants »Gewohnheit, an Vorstellungen fortzulaufen« (56), die er, in »psychologischer Ansicht und empirischer Manier einge-schlossen«22 bleibend, als faktische auffindet und »so [...] her erzählt.« Während es Kant dieser Bemerkung zufolge »sauer ankommt« (56), vom »zufälligen«, da an kontingente Faktizität empirisch gebundenen, Bewusst-sein zum »Selbst dieses Bewusstseins« zu gelangen, verfällt der zweite Adressat der Hegelschen Kritik, nämlich die frühromantische Form des Räsonierens, wie Friedrich Schlegel sie repräsentierte, der Verkehrung des Kantischen Fehlers. Indem das Selbst dieses Räsonierens sich seinen In-______________________

20 Zitate aus der Phänomenologie des Geistes (Seitenangaben im laufenden Text in Klammern) nach Hegel, Werke, hrsg. v. Eva Moldenhauer, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1970.

21 Vgl. Aristoteles, Texte zur Logik, hrsg. v. R. Beer, Reinbek 1967, S. 15 (Satz 6). 22 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Bd. 20, S. 337 (Anm. 20).

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Warum ist Selbstbewusstsein DAS Thema um 1800? 47

halten gegenüber völlig frei dünkt und deshalb als Diskurs der »Eitelkeit« (56) dechiffriert wird, verkennt es den »immanenten Rhythmus der Begrif-fe« (56), in den es »willkürlich« einfällt. So begibt es sich der Möglichkeit, jene »Bewegung zu betrachten« (56), die diesem seinem Selbst vorausliegt und es allererst trägt. Damit radikalisiert die frühromantische Reflexion das zentrale Motiv Fichtes. Ihn charakterisiert Hegel nun (drittens) als denjenigen, der die »Reflexion in das leere Ich, die Eitelkeit seines Wis-sens« (56) zum Ort und Medium von Wissenschaft proklamiert, um mit der Größe den Anfang machen zu können, der sinnvoll allenfalls Resultat-charakter zuzuschreiben wäre: mit selbstbezüglicher Subjektivität. »Da-durch, daß diese Reflexion ihre Negativität selbst nicht zum Inhalte ge-winnt, ist sie überhaupt nicht in der Sache, sondern immer darüber hinaus; sie bildet sich deswegen ein, mit der Behauptung der Leere immer weiter zu sein als eine inhaltsreiche Einsicht.« (57) Polemisch herunter gespielter Adressat der Kritik Hegels aber ist viertens auch jene Diskursform, die er als vorbegrifflich verfahrende nicht einmal unter dem Titel »Wissenschaft« figurieren lässt – die Theorieform Schellings nämlich, die aus dem »Schreine des inneren göttlichen Anschauens« (55) sich legitimieren zu können glaubt und so zur kontingenten Fähigkeit philosophischer »Sonn-tagskinder« verkommt.

Gegen diese vier Fehlformen im »Studium der Wissenschaften« (56) vom Menschen, denen das Theorie-Design, mit unmittelbar hypostasierter bzw. allgöttlich gegebener (Fichte, Schlegel, Schelling) oder empirisch »hererzählter« (Kant) Subjektivität zu beginnen, gemeinsam ist, optiert Hegel für ein »begreifendes Denken« (56 f.), das »sich des eigenen Einfal-lens in den immanenten Rhythmus der Begriffe« (56) methodisch enthält. Ausdrücklich also versteht sich der von Hegel gepflegte Reflexionsduktus als einer, der reflektierende oder intellektuell anschauende Subjektivität zugunsten des »immanenten Rhythmus der [transsubjektiven, J.H.] Begrif-fe« dezentriert.

Phänomenologisch angezeigt und nicht etwa wissenschaftlich entfaltet wird die Gültigkeit von Hegels These, dass das Sein Denken und dass Denken und Sein eines sei, im Nachweis der transsubjektiven Gültigkeit der Dialektik des Satzes. Wie später Schellings Ausführung über Identität und Copula argumentiert auch Hegels beginnende Darstellung der Dialek-tik des Satzes in eindeutiger Absetzung von Spinozas Substanz-Akzidens-Theorie: »Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es nicht ein ruhendes Subjekt, das unbe-wegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und seine Be-stimmungen in sich zurücknehmende Begriff.« (57) Eine ersichtlich kom-plizierte, aber sich doch lichtende Argumentation: Wer denkend etwas (eine ›Sache‹, einen Gegenstand, einen Sachverhalt) begreifen will, will

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begreifen, was diesen Sachverhalt eigentlich ausmacht. Das aber kann er nur, wenn er nichts auf den Gegenstand projiziert, sondern vielmehr den Begriff der Sache aus der Sache selbst heraus entfaltet, die damit deutlich macht, inwiefern sie widerständiger, schwer zu begreifender Gegenstand ist. Ausdrücklich spricht Hegel von der »merkwürdigen Natur« (57) eines »begreifenden Denkens« – muss es sich doch, da es nur dann Bestand haben kann, wenn es sich selbst als etwas begreift, das aus seinem Gegen-stand resultiert, als dessen »eigenes Selbst« und somit als dessen Wahrheit begreifen.

Im Prozess des Begreifens, der immer ein Prozess des Übergreifens aus der Sphäre des Denkens in die des Seins resp. des Seienden ist, kommt es somit zu bemerkenswerten Machtverschiebungen. Ein Begreifen, das sich dem zu begreifenden Gegenstand anschmiegt, erweist sich als mäch-tiger denn ein Denken, das sich souverän seiner Sache sicher meint. Eine Argumentationsfigur, die Hegel alsbald auf die grammatische Struktur des Satzes anwendet. Sie wird von den (zur Zeit Hegels) traditionellen aristo-telisch-scholastischen Grammatiktheorien so verstanden, dass das Subjekt als Fundament, antecedens und Grundlegung gilt, dem das Prädikat als conse-quens bzw. als das, was das Fundament mit Attributen anreichert, folgt und nachgeordnet ist. Hegels Pointe ist leicht nachzuvollziehen: Im Übergang vom Subjekt zum Prädikat, der den Satz konstituiert, gerät das vermeint-lich »ruhende« (57), Akzidenzen tragende Subjekt ins »Schwanken«, es erlebt in diesem Übergang den Untergang seines fundamentalistischen Status, weil es sein »Selbst« einzig im Prädikat hat. Denn erst in dem, was vom Subjekt prädiziert wird, erst im Prädikat oder in den Prädikaten wird die »Zerstreutheit des Inhalts« (58), der dem Subjekt zukommt, derart »gebunden«, dass das schwankende, sich autonom vermeinende Subjekt zugrunde geht, sofern es das Prädikat als seinen »Grund« anerkennen muss. Ins Schwanken geraten und vom Zugrundegehen bedroht, weil es die »Zerstreutheit (seines) Inhalts« (das Subjekt ist a, b, c...) nicht autonom zu der Einheit, die es zu sein vorgibt, zu binden weiß, geht das Subjekt in seinen Grund, das Prädikat, zurück. Indem das Prädikat benennt, was die Substantialität des Subjekts allererst ausmacht, wird es zur »Substanz selbst« (58). Umgekehrt sieht das Subjekt sein Selbst in seinen prädikati-ven Grund verlegt. Und allein um den Preis seiner Dezentrierung vermag es sich vor der Bedrohung irreversiblen Zugrundegehens zu bewahren. Denn als Prädizierendes und »Substanz selbst« übergreift und subvertiert das Prädikat das Subjekt, um es, das doch Integral des Satzes zu sein schien, zu seinem bloßen Moment zu depotenzieren.

So kann das Subjekt nicht länger als »das gegenständliche fixe Selbst« (58) gelten, zu dem es durch eine geradezu alltäglich gewordene philoso-phische Denktradition verdinglicht wurde. Und umgekehrt fungiert das

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Warum ist Selbstbewusstsein DAS Thema um 1800? 49

Prädikat nicht länger als unabhängige Prädikation von etwas ihm unver-fügbar Vorauf- und Vorangehenden (antecedens). Zur »ganzen und selb-ständigen Masse geworden« (58) oder – präziser – angesichts der gramma-tologischen Destruktion des substantialistischen Geltungsanspruchs des Subjekts seiner übergreifenden Macht inne werdend, ist das Prädikat die Totalität des Satzes geworden, dessen untergeordnetes, vom Subjekt als eigentlichem Satzträger abhängiges Moment es zu sein schien. Dennoch ist die Differenz von Subjekt und Prädikat nicht schlicht »vernichtet« (59). Vielmehr »soll« – so Hegels aufregende und elegante, konkurrierende Subjektivitätstheorien überwindende These – »auch im philosophischen Satz die Identität des Subjekts und Prädikats den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten, sondern ihre Einheit (soll) als eine Harmonie hervorgehen.« (59) Das aus der transsubjektiven Dialektik des Satzes Hervorgegangene, Resultierende und von ihm Produ-zierte aber ist kein anderes als »das wissende Ich« (58). Es tritt nunmehr an die Stelle »jenes« von der Problematik bewusster Subjektivität unab-hängig thematisierten grammatischen Subjekts, sofern es »das Verknüpfen der Prädikate und das sie haltende Subjekt« (58), also das Ganze des de-struierten Satzes ist.

Einwände gegen eine solche Argumentation liegen nahe: Es handle sich um ein schlichtes und schlechtes Wortspiel, das auf der mutwilligen Verwechslung des grammatischen und des selbstbewusstseinstheoreti-schen Subjektbegriffs beruhe, also um einen schnell aufzuklärenden Kate-gorienfehler. Hegel liest hingegen die Homophonie des grammatischen und des bewussten Subjekts offensiv als Indiz einer ursprünglichen, durch und durch unreinen Verschränkung von allgemeiner Grammatologie und individuierter Subjektivität. Um zeigen zu können, dass diese Homopho-nie eben nicht nur ein scheinhafter Gleichklang ist, der zu einer rhetori-schen Erschleichung (ver-)führt, bedarf es eines zusätzlichen Arguments. Es lautet: Die terminologische Äquivokation des logisch-grammatischen und des bewusstseinstheoretischen Subjektbegriffs ist sachlich und phä-nomenologisch gerechtfertigt; denn ihr entspricht die Selbst-»Über-setzung« einer transsubjektiven (= grammatischen, sprachlichen) Struktur in eine subjektive (bewusstseinsphänomenologische). Diese Annahme ist für Hegels Denken paradigmatisch. Es schließt nämlich geradezu regel-mäßig von den Inkonsistenzen der übergeordneten Struktur auf die Mög-lichkeitsbedingungen der nachgeordneten und nötigt so beide zu einer Neubestimmung ihres Selbstverständnisses: Weil der fundamentalistische Anspruch des grammatischen Subjekts im überindividuellen Medium Sprache zugrunde geht bzw. in seinen Grund, das Prädikat, zurückgeht, wird das bewusstseinsphilosophische Subjekt freigesetzt.

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Den Mangel am substantialistisch gedachten Satz-Subjekt, der sich in seinem prädikativen Zugrundegehen erweist, versteht Hegel demnach als diejenige Produktivität, die Subjektivität freisetzt. Wenn der Satz, dessen Struktur intersubjektive Verbindlichkeit heischt und herstellt, sich deshalb den »eitlen« Intentionen vereinzelter Subjektivität überlegen zeigt und gleichwohl an sich selbst seine Destruktionslogik erfahren muss, so sorgt er dafür, dass »an die Stelle« seines Mangels, »an die Stelle jenes [gramma-tischen, J.H.] Subjekts das wissende Ich« tritt (58). Hegel konzipiert bzw. rekonstruiert so etwas wie einen inversen linguistic turn: individuiertes Sub-jekt-Bewusstsein emergiert aus Inkonsistenzen der Satzstrukturen bzw. des transsubjektiven Mediums Sprache. So wird das bewusste, wissende, denkende Subjekt zur Größe, die »das Verknüpfen der Prädikate und das sie haltende Subjekt« (58) leistet, so wird aus einer vermeintlichen Sub-stanz eine Funktion, so wird aus dem Subjekt des Ausgesagten das Subjekt des Aussagens.

Weil sie die Verknüpfungsinstanz der Prädikate und also das sub-jectum ist, an dem die Prädikate sich »halten« und auf dem sie gründen, kommt der Subjektivität ein paradoxer Titel zu: gewordene Totalität zu sein. Dem »Selbst seines Inhalts« (59) gegenüber aber ist ein derart verstandenes »wissendes Ich« – anders als die drei kritisierten postkantischen Varianten seines Verständnisses es wollen – nicht unabhängig. Vielmehr trägt »das zweite (= Bewusstseins-)Subjekt« als »Resultierendes« die Male seiner Entstehungsgeschichte, die zugleich die Geschichte der Destruktion und der Deplazierung seines Anderen, des »ersten (= grammatischen) Sub-jekts«, ist, an sich. »Indem aber jenes erste Subjekt in die Bestimmungen selbst eingeht und ihre Seele ist, findet das zweite Subjekt, nämlich das wissende, jenes, mit dem es schon fertig sein und worüber hinaus es in sich zurückgehen will, noch im Prädikate vor, und statt in dem Bewegen des Prädikats das Tuende – als Räsonieren, ob jenem dies oder jenes Prä-dikat überlegen wäre – sein zu können, hat es vielmehr mit dem Selbst des Inhalts noch zu tun, soll nicht für sich, sondern mit diesem zusammen sein.« (58 f.)

Wenn Subjektivität demnach ihre Genese dem Mangel ihres Anderen, dem Mangel nämlich der ihr uneinholbar vorausliegenden Symbolordnung verdankt, so bleibt sie der Negativität dieses in jeder Weise großen Ande-ren (Lacan) verpflichtet. Diese Angewiesenheit des wissenden Ich auf die Destruktionslogik seiner Genese bezeichnet Hegel als »logische Notwen-digkeit« (58). Und allein in ihrem Namen kann er für seine Rekonstruktion der Pathogenese von Subjektivität Verbindlichkeit verlangen. Ihre Form-bestimmung aber erhält diese »logische Notwendigkeit« durch »das ein-heimische [von seinem teleologischen Resultat: Subjektivität absehende, J.H.] Werden des konkreten Inhalts selbst« (55), der, wenn überhaupt,

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einzig durch das »listige« (53) Verhalten von Subjektivität zu ihrem Inhalt wird.

»List« ist Hegels kryptischer Titel fürs Erfolgsprinzip bürgerlichen Denkens: bescheiden auf hypostasierte Sachnotwendigkeiten Rücksicht zu nehmen, um sich dann umso entschiedener zum Herrn der berücksichtig-ten Sache machen zu können. List also beweist Subjektivität, wenn sie sich dem Inhalt, dem Gegenstand ihrer Intentionen gegenüber nicht willkür-lich verhält. Weil das wissende Ich sich selbst will, muss es sein Anderes in der Weise wollen, dass es auf dessen Selbstabschaffung, die eins mit seiner Erschaffung ist, vertraut. Und weil es die Möglichkeitsbedingungen seiner eigenen Genese nur affirmieren kann, lässt es sein Anderes gewähren, um »zuzusehen«, wie dieses vermeintlich Ganze sich »zum Momente des Ganzen« verkehrt. »Indem das Wissen den Inhalt in seine eigene Inner-lichkeit zurückgehen sieht, ist seine Tätigkeit vielmehr sowohl versenkt in ihn, denn sie ist das immanente Selbst des Inhalts, als zugleich in sich zurückgekehrt, denn sie ist die reine Sichselbstgleichheit im Anderssein; so ist sie die List, die, der Tätigkeit sich zu enthalten scheinend, zusieht, wie die Bestimmtheit und ihr konkretes Leben darin eben, dass es seine Selbsterhaltung und besonderes Interesse zu treiben vermeint, das Ver-kehrte, sich selbst auflösendes und zum Momente des Ganzen machendes Tun ist.« (53f.)

Da das Resultat der transsubjektiven Dialektik des Satzes, nämlich Subjektivität, seine grammatische Entstehungsgeschichte übergreift, macht das bewusste Subjekt sein Anderes, Sprache, zum »Momente des Gan-zen«, das es derweil geworden ist – präziser: lässt dieser schiere Effekt sein Anderes qua Verzicht auf »Willkür« sich zum Moment seiner selbst ma-chen. So übergreift das Hervorgebrachte das ihm Vorausgehende, das antecedens, um die Überlegenheit seines bloßen Resultatcharakters zu erfah-ren: das Tun des Einen ist das Tun des Anderen; das »grammatische Sub-jekt« wird zum bewussten Subjekt und also zum Anderen seiner selbst; und das Verhältnis beider bestimmt sich als das einer Identität von Identi-tät und Differenz.

Hegel hat damit keine neue Kritik der reinen Vernunft, er hat viel-mehr Grundzüge einer Kritik der durch und durch unreinen Vernunft entworfen. Unrein darf, nein muss sie heißen, weil sie (wie später Luh-manns verblüffend dialektische Systemtheorie) ausschließlich an Differen-zen und an Grenzgängen oder Über-Setzungen zwischen Differenzen interessiert ist: an den Differenzen zwischen Grammatologie und Be-wusstsein, zwischen Grund und Begründetem, zwischen Subjekt des Aus-gesagten und des Aussagens. Eigentümlich verflüchtigt hat sich im Gang seiner Argumentation hingegen die philosophiegeschichtlich traditionsrei-che Differenz zwischen »Sein und Denken«, die doch den Ausgangspunkt

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der Dialektik des Satzes markierte. Hegel hat, auch darin der Unreinheit von Vernunft nachdenkend, Sein ausschließlich als thematisiertes Sein thematisiert. Ein substanzlogisch begriffenes »grammatisches« Subjekt sollte semiologisch auffangen, was in der ursprünglichen Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein zumindest auch ontologisch zu analysie-ren aufgegeben war. Hegel hat offenbar eine stillschweigende Vorausset-zung gemacht, der sich die Eleganz noch oder gerade der unreinen Ver-nunft verdankt: dass es kein prädiskursives Sein gibt und Ontosemiologie deshalb die Wahrheit über scheiternde Ontologie ist. Die Erfolgsgeschich-te des paradoxie-sensiblen Denkstils etwa in der Dekonstruktion Derridas oder der Systemtheorie Luhmanns unterstreicht die Gültigkeit des Dik-tums, bei Option für Vernunft sei nach Hegel nur eines schwieriger als Hegelianer zu sein: keiner zu sein. Die letzte Gewissheit, die Wissen errei-chen kann, ist: Es gibt Widersprüche und Paradoxien, die den Anspruch an verlässliches Wissen entschieden begrenzen – aber das kann man wis-sen.

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GÉRARD DESSONS

Le désavoir du poème: un mode spécifique de connaissance

Je vais essayer de réfléchir sur le rapport entre connaissance et littérature, mais par le biais de quelque chose qui, dans ce colloque, n’a guère été traité: la question du poème. En effet, la majeure partie des œuvres qui ont été sollicitées sont des œuvres narratives. Et, pour moi, il y a déjà là l’émergence d’un problème. En tout cas, sur le plan général, il faut bien reconnaître que ce questionnement sur le savoir et la littérature, au XXe

siècle, était inévitable. Parce que c’est en priorité une façon de questionner le rapport de la littérature à la vérité, et notamment à ses deux domaines de prédilection, que sont la philosophie et la science.

Il y a une scène primitive de ce questionnement, c’est, au IVe siècle avant Jésus-Christ, l’expulsion par Platon du poète hors de la cité, au mo-tif que celui-ci trahirait le devoir de vérité. C’est en même temps l’acte de naissance de la philosophie et de son rapport exclusif à la vérité. Cette exclusion est redoublée d’ailleurs par la linguistique, notamment celle de J. L. Austin, qui exclut le poème de son corpus d’analyse des actes locu-tionnaires, parce que le poète – comme l’acteur – ne dit pas la vérité: quand il dit qu’il promet, il ne promet pas vraiment, il ne fait que réaliser une promesse, au sens où il en manifeste les conditions formelles. Il y a donc un rapport à la vérité qui se trouve condensé dans cette scène primi-tive.

Il a fallu plusieurs siècles pour arriver à formuler – sinon théoriser – un rapport de nécessité de la littérature à la vérité. Et d’abord comme pensée. Dans les années 1980 en France, le philosophe Pierre Macherey écrit À quoi pense la littérature?.1 Dans les années 1990, c’est Gilles Deleuze qui dans son ouvrage Qu’est-ce que la philosophie?2 construit la notion de »personnage conceptuel«. C’est aussi dans les années 1990 que Jacques Derrida considère que la littérature est faite de »philosophèmes«. Il est remarquable que cette réhabilitation du rapport de la littérature à la vérité, ______________________

1 Pierre Macherey, À quoi pense la littérature? Exercices de philosophie littéraire, Paris 1990. 2 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie?, Paris 1991.

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Gérard Dessons 54

historiquement on la doive à des philosophes, non à des littéraires. On peut interpréter ce fait de différentes façons. Personnellement, je l’interprète comme une marque de mauvaise conscience: depuis l’auto-légitimation platonicienne exclusive du discours philosophique dans la pensée de la vérité, la philosophie a une dette à rembourser à la littérature. Et, en même temps, cette mauvaise conscience des philosophes est une bonne aubaine pour les littéraires: il y a là une sorte de réhabilitation de la littérature par sa réintroduction dans le champ de la vérité. Alors que, jusque-là, la littérature passait pour une occupation seconde, un supplé-ment – éthique (le »supplément d’âme«) ou esthétique (le beau) –, c’est-à-dire une occupation accessoire.

Passons de la philosophie à la science, puisque la science procède de la philosophie, Aristote procédant de Platon. La question du savoir de la littérature – autant le savoir comme contenu que le savoir comme proces-sus de connaissance – pose la question du rapport de la vérité à l’universel en tant que positivité, et c’est là que commencent les problèmes. La conséquence du point de vue »positiviste« sur cette question, c’est que la littérature, même quand elle est inventeur de savoir, d’un savoir, se trouve en position d’être seulement porteuse de ce savoir, qui ne la constitue pas, spécifiquement, en littérature. Ce qui revient à poser la question du rap-port entre savoir et littérarité. S’il y a un savoir spécifique de la littérature, alors il doit définir spécifiquement la littérature. Ou alors la littérature n’est qu’une forme particulière d’un mode de savoir qui n’a pas besoin d’elle pour exister. À moins de faire résider cette spécificité dans la fictionnalité, dans la fiction. Mais, à mon sens, ce serait replacer la littérature dans la problématique de la vérité selon Platon et selon Austin. Selon Platon le problème est logicien, le poète étant banni parce qu’il ne dit pas la vérité: il lui arrive ainsi d’affirmer que la neige est noire, ce qui est une aberration logique. Du côté de la linguistique, du côté d’Austin, cette ambiguïté, cette erreur, est éthique. Encore une fois, ce que reproche Austin aux acteurs, aux poètes, c’est, quand ils disent quelque chose, de ne pas le dire vérita-blement, »sincèrement«. C’est exactement la position de Platon dans le livre III de La République: le poète est un menteur, et un menteur dange-reux, parce qu’il est capable d’émouvoir des gens, donc d’ébranler des certitudes politiques, à partir de paroles qui ne reposent pas sur la vérité, c’est-à-dire sur un rapport de transcendance au vrai. Et, plutôt que de se poser la question de ce savoir-là, Platon préfère bannir le poète.

Je voudrais me placer ici dans une autre voie, celle de la connaissance non pas comme positivité, mais comme négativité. C’est une postulation: celle d’un mode critique de la connaissance comme spécificité de la connais-sance littéraire. L’idée est bien que c’est le mode de connaissance lui-

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Le désavoir du poème: un mode spécifique de connaissance 55

même qui est critique, et non le projet de l’auteur ou bien le contenu de l’œuvre. C’est l’œuvre elle-même qui est critique, au sens où cette criticité fait d’elle non seulement l’œuvre qu’elle est, mais une œuvre, en général. Cette position, pour revenir au champ historique défini par le colloque, se situe dans la lignée du poète français Stéphane Mallarmé et du concept qu’il est – à ma connaissance – le premier et le seul à avoir construit, de »poème critique«, formule où chacun des deux termes, »poème« et »criti-que«, est le prédicat de l’autre. C’est-à-dire qu’elle propose la définition du poème en tant qu’il doit être critique pour être poème, en même temps qu’elle énonce une théorie »poétique« de la critique. La critique n’est pas seulement une volonté, une intentionnalité individuelle, par exemple ce qu’on voit dans la littérature de l’engagement, du pamphlet. La critique repose sur une qualité de l’écriture, sur le fait que le langage existe de s’inventer lui-même. Je rappelle que cette notion de »poème critique« chez Mallarmé3 ne s’applique pas à des poèmes, au sens traditionnel du terme, au sens, par exemple de ses Poésies. Quand il emploie cette expression, c’est pour désigner les textes qu’il appelle des »divagations«, c’est-à-dire ces textes en »prose«, à la fois théoriques et poétiques, avec une syntaxe surprenante, complexe, illisible selon certains, avec une typographie spatia-lisante proche de celle du Coup de dés. C’est dans la Bibliographie des Divaga-tions qu’il projette de passer du poème en prose, préoccupation poétique de son époque, à ce qui lui semble être plus important, le »poème criti-que«. Cette notion, qui naît donc au XIXe siècle, va produire un effet-retour sur ce que pouvait être le statut du poétique jusqu’à Aristote. Je précise que quand je parle de poème, je parle de cette condition-là du poème: un poème qui est poème quand il est »critique«. En parlant de poème critique, je parle aussi du roman, de la littérature en général, parce qu’il n’est pas vrai qu’il y ait, d’un côté, »du poème«, dont la forme soit inévitable, et, de l’autre, des textes narratifs d’où on pourrait, à l’aide d’une épuisette, extraire du sens en laissant au fond le reste, ou même en postu-lant qu’il n’y a pas de reste. Or, un roman est d’abord un poème.

Bien que Mallarmé n’ait pas consacré de texte spéculatif à la notion de »poème critique«, je la considère cependant comme un modèle épistémo-logique, dont la conceptualisation relève d’une autre notion, historique-ment plus ancienne: le désavoir.4 Je prends ce concept chez les mystiques. J’y insiste, il s’agit d’un modèle épistémologique, et non, évidemment, de mysticisme. Les mystiques fondent leur rapport au divin sur un principe négatif de la connaissance. En grec, c’est agnosia; en latin, ignoratio ou igno-rantia; et en anglais, dans le haut moyen âge, unknowing. La traduction en ______________________

3 Stéphane Mallarmé, Œuvres complètes, Paris 1949, p. 1576. 4 Je renvoie sur ce point à Gérard Dessons, »Le savoir du je-ne-sais-quoi«, in: L’Art et la

manière. Art, littérature, langage, Paris 2004, p. 281-332.

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Gérard Dessons 56

français est généralement non-savoir. Cette traduction est extrêmement ambiguë, parce qu’elle trahit l’esprit même du processus. C’est-à-dire qu’elle donne à penser que le savoir mystique serait la négation du savoir, ou l’absence de savoir – ce que peuvent d’ailleurs accréditer des termes comme agnosia ou ignorantia qui, lus isolément, à l’état de notions, dans les dictionnaires, signifient en effet »absence de savoir«. Mais quand ils de-viennent des concepts, quand ils sont lus dans leur système contextuel de signification, ils ne signifient plus cela, parce que, pour les mystiques, le non-savoir, c’est un savoir, un mode de connaissance à part entière.

On ne peut pas connaître Dieu, on peut seulement l’inconnaître. Ce terme n’existe pas en français, mais le mot inconnaissance existe. Il a été inventé à partir de la tentative de traduire cette négativité de la connais-sance mystique. Or, si inconnaissance existe, inconnaître devrait exister, à côté de ne pas connaître. Cet inconnaître, ce n’est pas une non-connaissance. C’est une négativité non négative. Ce n’est pas une absence de savoir, mais une critique du savoir. Pour nous aider à réfléchir, nous disposons d’un terme anglais extrêmement précieux: unknowing. Je fais référence précisé-ment au livre d’un moine anglais anonyme du XIVe siècle, The Cloud of Unknowing (Le nuage d’inconnaissance). Cette notion d’unknowing, quand on la replace dans le contexte de ce texte, n’est pas une négation, mais l’expression d’un mouvement inverse. Elle fonctionne selon le modèle morphologique du paradigme to do – to undo. Et to undo, ce n’est pas »ne pas faire«, mais »défaire«. Au XVIe siècle, le verbe to unknow existe, il a comme sens, certes, »ne pas savoir«, mais il reçoit une autre entrée: »cesser de savoir, oublier ce qu’on a appris«, c’est-à-dire que ne plus savoir ce n’est pas ne pas savoir. Ne plus savoir, ce n’est pas une aphasie du lan-gage, mais un acte critique. On est bien chez les mystiques, dans un contexte de connaissance qui se définit par l’exercice de cette activité criti-que. On peut penser à ce mode critique qu’est la déconstruction.

Les mystiques m’intéressent parce qu’ils ont reconnu l’existence d’un champ d’expérience singulier, et ils ont reconnu en même temps l’inadéquation de la rationalité logique pour en rendre compte. C’est pour-quoi ils ont affirmé l’existence d’un mode de penser négatif – d’où la rhé-torique négative propre à leurs écritures –, c’est-à-dire la recherche de paroles qui disent l’ineffable, l’association de termes logiquement dis-convenants: »intelligence inintelligible«, et surtout le développement de litanies négatives, comme chez Pseudo-Denys l’aréopagite:

Nous élevant plus haut, nous disons maintenant que cette cause n’est ni âme ni intelligence, qu’elle ne possède ni imagination ni opinion ni raison ni intelligence, qu’elle ne se peut exprimer ni concevoir, qu’elle n’a ni nombre ni ordre ni gran-deur ni petitesse ni égalité ni inégalité ni similitude ni dissimilitude, qu’elle ne de-

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meure immobile ni ne se meut, qu’elle ne se tient calme et ne possède de puis-sance, [etc.].5

Cette négativité constitue l’exploration-énumération des valeurs anthropo-logiques mêmes, et elle se fait ouverture infinie vers une forme de procès fait à la connaissance, toutes les valeurs humaines pouvant se présenter devant Dieu pour montrer leur lacune à dire l’être.

C’est cette activité négative qui intéresse les mystiques, et ils pensent que pour atteindre Dieu, la seule façon c’est d’inventer une méthodologie négative. Au XVIIe siècle, les philosophes s’emparent de ces catégories, et surtout de la grande catégorie du »je ne sais quoi«, qu’ils avaient ignorée jusque-là, aux dires du père Dominique Bouhours, lequel participera à faire de cette notion le grand concept classique de l’inconnu.6 Mais, alors que les mystiques interprétaient Dieu par le processus négatif de la connaissance, les philosophes, qui vont récupérer le travail des mystiques, vont nommer, vont interpréter le processus négatif de la connaissance par le concept de Dieu, ce qui est un renversement absolu, une théologisation, par le biais de la philosophie jésuite, du processus.

Donc, l’inconnaissance comme désavoir est elle-même une conceptua-lisation critique, essentiellement d’une conception nominale du langage, où connaître, c’est donner un nom, où connaître, depuis Platon, c’est nommer les choses. Là réside le fondement du logos, le fondement de la science, depuis l’Antiquité jusqu’au positivisme. C’est-à-dire que c’est l’idée qu’on ne peut connaître le monde que par sa substantialisation. Connaître le monde, alors, revient à en énumérer les substances, et pour cela, il suffit de les nommer. Ce mode de connaissance exclut la prédica-tion. On dit la chose, sans la prédiquer, et la chose apparaît. Elle est là, elle est connue. Si on commence à prédiquer, à dire »ceci est cela«, on n’est plus dans la substantialisation, on est déjà dans la littérature. Donc, cette critique de la nomination est très importante: Dieu n’a aucun nom. Il les a donc tous. Aucun ne lui convient en particulier, mais tous lui conviennent infiniment. C’est pourquoi Dieu est littérature; sa connaissance n’est pos-sible que négativement. Ce qui revient à dire que l’innommable (et là, évi-demment, c’est une critique qui peut être étendue à la phénoménologie) n’est pas l’indicible, et que, bien au contraire, l’innommable est la condi-tion même du dicible. C’est parce que c’est innommable que c’est infini-ment dicible. Et c’est parce que, précisément, Dieu est innommable qu’on peut en écrire infiniment. C’est parce que le langage n’est pas réductible à la nomination – que pourtant il permet – qu’existe la poésie. Étrangère à la nomination, la poésie incarne l’impossible nomination. (Comment résu-______________________

5 Pseudo-Denys l’aréopagite, Œuvres complètes, trad. Maurice de Gandillac, Paris 1943, p. 183. 6 Dominique Bouhours, Les Entretiens d’Ariste et d’Eugène, 5e entretien, »Le je ne sçay quoy«,

Paris 1671, 2e éd.

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mer un poème de Mallarmé ou de Hölderlin?) L’innommable n’est donc pas l’indicible, mais la condition du dicible. Dire, alors, devient critique de nommer. Les poètes symbolistes, en Europe à la fin du XIXe siècle, feront de cette pratique d’écriture l’objectif premier de leur poétique. Suggérer,non nommer, c’est le mot d’ordre de Mallarmé. Nommer devient alors l’antonyme poétique d’écrire. Contrairement au propos d’Adorno, en 1949, sur l’impossibilité d’écrire des poèmes après Auschwitz, on peut dire que c’est précisément parce que l’horreur n’est pas nommable, qu’on peut en écrire infiniment. Sinon, on se trouve médusé, au sens propre, devant l’horreur, l’horreur à tête de Méduse pétrifiant le dire.

J’en arrive au point essentiel de mon intervention: cette idée du poème comme désavoir, c’est-à-dire mode de connaissance critique qui définisse le poème, qui le définisse comme tel. Évidemment, cette approche du poème ne peut fonctionner à partir d’une conception du langage comme logos avec son paradigme épistémologique: rationalité, autonomie du plan de l’énoncé (le contenu), exaltation du pur signifié, substitution de la signi-fication à la signifiance, etc. Ce langage aurait des contenus de savoir; il serait porteur des choses que l’œuvre dirait. Mais si on sort de la concep-tion du langage comme logos, si on considère qu’on se place du côté du langage non plus comme nommer mais comme dire, cela signifie que le savoir du poème est inséparable de son »énonciation«, telle qu’elle est. En cela, le poème est non-paraphrasable, qu’il relève de l’hermétisme amou-reux de Maurice Scève, ou de la rhétorique épique d’Agrippa d’Aubigné. C’est la même chose de dire qu’on ne le résume pas. Jamais paraphrasable, le poème, en revanche, est infiniment réénonçable.

Tout le travail de l’herméneutique va consister précisément à faire basculer le dire dans le nommer, de récupérer dans le logos cette impossibi-lité de paraphraser le texte, comme on le voit dans les tentatives d’analyse par Heidegger des poèmes de Trakl ou de George.7 Étudiant un poème de George, Gadamer, dans la lignée de Heidegger, en traque la signification cachée: le pêcheur qui attend, c’est l’Homme, parce qu’»aucun homme ne peut envisager l’avenir autrement qu’en espérant toujours.«8

Je vais vous donner un exemple de ce que cela donne au XIXe siècle. Si on considère le procès des Fleurs du Mal, on pense généralement que c’est une société qui a jugé Baudelaire; mais, dit comme cela, c’est, au moins une simplification, plus sûrement une erreur. Il s’agit, certes, d’une société, mais d’une société qui appuie ses investigations sur une méthodo-logie de la lecture. C’est en fait l’herméneutique qui a jugé Les Fleurs du ______________________

7 Martin Heidegger, Acheminement vers la parole (1959), Paris 1976, p. 39-83, 143-202. 8 Hans-Georg Gadamer, »Les poètes se taisent-ils?« (1977), in: L’Actualité du beau, trad. Elfie

Poulain, Paris 1992, p. 166-169.

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Mal. Voici Baudelaire accusé d’avoir écrit des poèmes qui bravent la mo-rale. Se trouvent face à face un accusateur, le procureur impérial Pinard, et un défenseur, l’avocat de Baudelaire Chaix d’Est-Ange. Le procureur prend les poèmes de Baudelaire et montre qu’il s’agit de poèmes mons-trueux. Par exemple, à propos de la Mendiante rousse: »dont les nœuds mal attachés dévoilent le sein tout nouvelet, et dont les bras, pour la déshabil-ler, se font prier, en chassant les doigts lutins«.9 Or, ce qu’il lit, ce n’est pas le poème de Baudelaire qui, lui, a écrit exactement: »Que des nœuds mal attachés / Dévoilent pour nos péchés / Tes deux beaux seins, radieux / Comme des yeux. // Que pour te déshabiller / Tes bras se fassent prier / Et chassent à coups mutins / Les doigts lutins.«10 Chez le procureur im-périal, la femme n’a plus qu’un seul sein, tandis que chez Baudelaire elle en a deux. Ensuite, chez Baudelaire, le sein n’est pas »nouvelet«. Le sein nou-velet, c’est XVIe siècle, c’est Ronsard. Non, chez Baudelaire le sein n’est pas »nouvelet«, il est, comme dans le poème cité, »radieux«, ou encore, comme dans les Métamorphoses, »triomphant«. La pratique du procureur, cela s’appelle de la paraphrase. Cela s’appelle de la manipulation. Cepen-dant, l’intéressé savait très bien que son mode de lecture n’avait rien à voir avec la recherche de la valeur littéraire. Il le savait et il le revendiquait pour définir sa propre position: »Le juge n’est point un critique littéraire, appelé à se prononcer sur des modes opposés d’apprécier l’art et de le rendre.«11

Cela revient à dire en gros: ce que je viens de faire est normal pour un procureur, mais pas pour un critique littéraire. Dont acte.

À présent, écoutons la plaidoirie de l’avocat de Baudelaire, Chaix d’Est-Ange. Cette plaidoirie, qui veut démontrer le contraire de celle de Pinard, emprunte pourtant exactement la même démarche:

On vous a dit et avec raison, messieurs, que le juge n’est point un critique litté-raire, qu’il n’a pas à prononcer sur les modes opposés de comprendre et de ren-dre l’art, qu’il n’a pas à décider entre les écoles de style; c’est pour cela que, dans les affaires de cette nature, ce n’est pas la forme qu’il faut interroger, mais le fond […].12

Puis l’avocat cite quelques vers du poème intitulé Au lecteur, et ajoute: Transformez cela en prose, messieurs, supprimez la rime et la césure, recherchez ce qu’il y a au fond de ce langage puissant et imagé, quelles intentions s’y cachent; et dites-moi si nous n’avons jamais entendu tomber ce même langage du haut de la chaire chrétienne […].13

______________________

9 Charles Baudelaire, Œuvres complètes, éd. Claude Pichois, Paris 1975, vol. I, p. 1208. 10 Ibid., p. 84. 11 Ibid., p. 1206. 12 Ibid., p. 1210. 13 Ibid., p. 1211.

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Cela signifie que la vérité du poème se fait sans le poème, que la connais-sance délivrée par le poème – d’un point de vue herméneutique – n’est possible que si on enlève ce qui fait la spécificité du poème. C’est l’illustration que la conception du poème ici, n’est pas celle d’une réénon-ciation. On peut paraphraser, on peut dire: enlevez les césures, les rimes, enlevez tout le travail du vers, et puis vous allez voir comme tout ça est très chrétien; ou, au contraire, comme tout ça est extrêmement licencieux.

Le poème, on peut donc le commenter, en analyser la signifiance, mais on ne peut le paraphraser, parce que pour cela, il faut partir d’un sens, en passer par le tamis du logos. La signifiance d’un poème est chaque fois une énonciation globale, c’est-à-dire un éthos de langage, une manière de se tenir dans le langage. En ce sens, toute littérature est poème. On ne peut pas la réduire à un énoncé ou à un contenu de vérité, ou alors on fait sem-blant de penser qu’il n’y a pas de reste. Or, tant qu’il y a du reste, cela si-gnifie qu’on est dans la littérature. S’il n’y a pas de reste, c’est peut-être qu’on est devant une dissertation, un article scientifique.

Comment, maintenant, opère cette activité critique? D’abord elle opère forcément sur un sujet d’énonciation qui est un »je« impliqué par n’importe quelle écriture, qu’il soit explicite ou qu’il soit implicite comme chez Beckett. Il y a toujours un »je« fondamental qui est le »je« de la sub-jectivité du discours. Ce »je«, bien sûr, n’est pas un individu empirique, c’est une instance de langage qui constitue à la fois un mode de dire, un mode de penser, et un mode de vivre, d’être au monde dans le langage. Et c’est précisément parce que le poème, comme tout discours, est réénonça-ble, que cette activité passe de sujet à sujet, de lecteur à lecteur, et que son mode critique est une activité non pas intersubjective, mais transsubjective. Ce savoir, s’il est critique, c’est dans la mesure où il ne répète pas un savoir qui serait antérieur, et où il invente ce savoir en inventant son dire. C’est dire que se trouvent immédiatement invalidées par cette application même les catégories qui lui sont appliquées pour l’évaluer, les catégories d’ana-lyse, d’évaluation, qui font de tel message verbal, comme le disait Jakob-son, une œuvre d’art.14

Nous disposons nécessairement de protocoles d’évaluation qui fonc-tionnent à partir de catégories épistémologiques. Quand le fait d’appliquer ces catégories à un texte les invalide, alors on peut dire qu’il y a poème. Par exemple, quand on applique aux métaphores baroques – la chaleur glaçante – la convenance logique prescrite par Aristote, ces catégories (les règles sémiologiques que demande Aristote dans la Rhétorique) deviennent inopérantes. La coïncidence du mètre avec la syntaxe, imposée par les poétiques françaises du classicisme, est inapplicable à l’alexandrin brisé de ______________________

14 Roman Jakobson, Essais de linguistique générale, Paris 1963, p. 210.

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Victor Hugo: ou on a un non-vers, ou bien on a un vers nouveau. Le mo-dèle aristotélicien de la proposition tourne court chez Mallarmé, ou chez Apollinaire, à la fin de Zone: »Soleil cou coupé«: quelle en est la syntaxe? Une apposition? Vous en êtes sûr? Il en va de même de la démarcation des unités chez Claudel ou chez Cummings: où est le mot, où est le groupe de mots? Comment penser la cohérence sémantique chez les sur-réalistes? Que faire de la valeur logique de la virgule chez Lautréamont: »Le soleil, apparaissait«, avec le sujet dissocié de son verbe? et cela à un moment, la fin du XIXe siècle, où les typographes, les imprimeurs travail-lent pour imposer aux auteurs la valeur logique de la ponctuation.

Tout discours capable de cette mise en crise des systèmes constitutifs de la valeur – on parle alors de poème, de littérature – est toujours provi-soire, parce que la critique se fait dans l’historicité de la lecture. Un poème n’est pas un poème par essence. On peut simplement dire: ce poème est encore un poème aujourd’hui. Ne recommençons pas l’erreur de Hegel qui pense régler (au début des Cours sur l’esthétique) le problème que lui pose l’hétérogénéité formelle des objets de langage désignés comme poè-mes (les formes en sont tellement diverses qu’on ne sait pas au juste ce qu’est un poème) en retrouvant l’essence de la poésie. Ensuite, en compa-rant les poèmes avec cette essence ainsi définie, il pense distinguer les vrais poèmes des faux. Cette démarche est celle du réalisme. Le nomina-lisme consiste à dire que ce sont les poèmes qui font la poésie, que ce sont les poèmes qui l’inventent.

Maintenant, je voudrais parler de cet écrivain français, Jules Laforgue, mort à 27 ans. Son recueil le plus célèbre s’intitule Les Complaintes. Si je vous en parle plutôt que d’autres poètes, c’est précisément parce que La-forgue a avancé la notion de »déculture« dans sa correspondance: »Au-jourd’hui [sc. dans les années 1880], tout préconise et tout se précipite à la culture exclusive de la raison, de la logique, de la conscience – / La culture bénie de l’avenir est la déculture, la mise en jachère.«15 L’activité poétique de la déculture critique la raison, la logique, et la conscience, c’est-à-dire aussi bien un processus de connaissance qu’une pensée – cartésienne – de l’individuation.

Lorsque, à la fin du XIXe siècle, un jeune auteur publie un livre sous le titre Les Complaintes, son geste représente un paradoxe éditorial. Ou bien on est un écrivain, un inventeur, ou bien on est un collectionneur, un folkloriste. Car personne n’»écrit« jamais une complainte. Et quand des auteurs ont pu signer des complaintes, elles sont immédiatement devenues les œuvres collectives qu’elles étaient déjà dans le projet de leur composi-______________________

15 Jules Laforgue, Œuvres complètes, vol. III, Lausanne 2000, p. 1159.

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tion. La complainte est un genre anonyme. Même quand le grand chan-sonnier admiré par Victor Hugo, Béranger, signe une complainte, il dit tout de suite: »complainte comme les autres complaintes«. Une complainte n’est complainte que parce qu’elle se réénonce collectivement, que parce que c’est une œuvre de la rue. Alors, le recueil de poèmes Les Complaintes,publiées sous un nom d’auteur, constitue un problème à la fois éditorial et poétique. Est-ce qu’on peut inventer des complaintes? et si on le fait, est-ce que les œuvres produites sont encore des complaintes?

Je n’entre pas dans les détails de la question, je vais plutôt à l’essentiel. Le lieu du travail critique des complaintes, c’est, en cette fin du XIXe siè-cle, la question du populaire, le rapport entre la question de la forme et la question du populaire, c’est-à-dire le rapport entre le poétique et le politi-que. À qui appartient une forme? qu’est-ce qu’une forme populaire? qu’est-ce qu’une forme savante? Au XIXe siècle, »populaire« est déprécia-tif. Dans les grands dictionnaires (Littré, Larousse, Bescherelle), on va jusqu’au sème d’animalité: tout en étant bien pensant, Littré nous dit que le popu-laire du peuple est comme un animal qui n’est pas encore cultivé, il est dans une vérité de la spontanéité. Parmi toutes les catégories sémantiques qui définissent, qui prédiquent le populaire, et c’est ce qui nous intéresse, il y a notamment la maladresse. Le populaire est grossier et maladroit, il n’est pas capable de réaliser des œuvres littéraires. Or, Laforgue, lui, va dire qu’il est un écrivain populaire parce qu’il est un écrivain adroit. Par exemple, il écrit à un de ses amis: »Mes complaintes seront rimées à la diable. Je serai très sévère.«16 Et ce n’est pas une pause paradoxale. Dans la pratique de Laforgue, on voit ce qu’il veut dire. Il est très sévère, préci-sément, pour ne pas se laisser entraîner par les schémas de versification classiques, scolaires, académiques, les modèles métriques, rimiques. Il est très sévère pour essayer de laisser venir les choses. C’est ce qui nous ra-mène à la jachère.

La jachère, c’est un terme d’agriculture décrivant un procédé qui consiste à laisser régulièrement un champ pousser avec les herbes sauva-ges, pour l’enrichir. Ensuite, on fauche et on laisse pourrir toutes les her-bes sur place. C’est le refus de trier a priori, de décider quelles sont les (vraies) valeurs. On laisse venir. La déculture, c’est la jachère. On ne va plus trier le populaire et le savant. On va pouvoir faire des rimes à la dia-ble très sévèrement. On va être méticuleux dans la liberté. Cela donne, techniquement, un travail sur le phrasé du poème. Le phrasé, c’est la ma-nière dont est faite une phrase en tant que dire, c’est la phrase quand elle est un dire, une manière de dire. Ce n’est pas un contenu. Laforgue ne fait pas des poèmes militants proclamant l’avènement politique du populaire. ______________________

16 Laforgue, Œuvres complètes, vol. I, 1986, p. 810 (note 15).

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Le phrasé des Complaintes participe d’un modèle emprunté à la chan-son populaire: le procédé du timbre musical. Aux XVIIe, XVIIIe, XIXe

siècles, les chanteurs de rue, accompagnés d’un orgue de barbarie, distri-buaient aux spectateurs le texte de la chanson qu’ils interprétaient, et qui mentionnait la mélodie empruntée à une chanson connue. La condition même pour qu’il y ait cette réénonciation collective, c’est de savoir déjà collectivement quel est l’art de la diction, quelle est la règle de dire. L’usage du procédé du timbre est particulièrement intéressant, car lorsque Lafor-gue mentionne, dès le titre de certaines complaintes: »sur l’air de«, la ques-tion se pose de la lecture: que faut-il faire de ces poèmes? les chanter? les dire? Que doit-on faire »sur l’air de«? Cela nous indique que pour lire ces poèmes, il faut suivre mentalement une mélodie, par exemple Sur le pont d’Avignon. Ce qui importe ici, c’est que le modèle de la diction n’est ni une métrique régulière ni un rythme libre, mais un autre modèle: un modèle collectif qui est la chanson. Dans ce cas, on peut avoir affaire à des vers qui sont, comme disent les dictionnaires, plus ou moins longs. Par exem-ple, dans un contexte d’octosyllabes, on peut avoir des vers de 7 ou de 9 syllabes. Pourquoi? Parce que quand on chante, le nombre de syllabes importe peu. On fait durer une syllabe, ou au contraire on en groupe plu-sieurs sous une seule valeur temporelle. Le procédé du timbre va donc être un modèle d’écriture pour Laforgue, au sens où la lecture va inclure sa diction. Et Mallarmé le repère clairement chez Laforgue, vantant chez lui »le charme certain du vers faux«.17 Larousse, dans son Dictionnaire du XIXe

siècle, consacre un long article au genre complainte, qu’il critique sans ména-gement précisément pour l’inconstance de la longueur des vers, qu’il attri-bue à la maladresse populaire.

À lire les déclarations de Laforgue, ses Complaintes apparaissent comme un paradoxe rythmique. D’une part, il dit vouloir faire »une esthétique empirique«,18 c’est-à-dire une poétique qui s’invente en lisant et en faisant; d’autre part, il affirme que la complainte est »une forme ancienne«,19 donc, héritée. Le problème, c’est que la complainte n’a pas de forme. Personne ne sait ce qu’est la forme de la complainte. On sait simplement qu’il y a des vers, mais il n’y a pas de schéma strophique, en général ce sont des vers plats qui se suivent, les rimes, une fois sur deux, sont de simples as-sonances (»Au clair de la lune, / mon ami Pierrot, / prête-moi ta plume«), proches par certains côtés de la laisse médiévale. Donc, pas de véritable forme, et, surtout, pas de limite. Les complaintes – elles sont pour cela un objet de moquerie à l’époque – ont parfois jusqu’à 90 couplets. Parce ______________________

17 Mallarmé, »Crise de vers«, in: Œuvres complètes, Paris 1945, p. 363. 18 Lettre à C. Henri, 5 ou 12 août 1885, Laforgue, Œuvres complètes, vol. II, 1995, p. 777 (no-

te 15). 19 Laforgue, Œuvres complètes, vol. III, p. 153 (note 15).

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qu’on peut ne pas s’arrêter. Alors où est la forme de la complainte? En réalité, il ne s’agit pas d’une forme positive, mais d’une éthique: l’empiricité collective. Une forme, c’est toujours une théorie de la forme, une »formalité«. Les positivistes ont un rapport très simple à la forme. En fait, une forme, c’est toujours quelque chose qui se définit: pour Aristote la forme est un eidos. La forme de la complainte, c’est une éthique, une éthique collective.

Je parlais donc de paradoxe rythmique, parce que Laforgue dit à la fois qu’il hérite d’une forme ancienne et qu’il est, dans son écriture, en cons-tante invention. Personne, dit-il, n’a inventé les rythmes comme je l’ai fait. Il y a même une complainte extraordinaire qui s’appelle La grande complainte de la ville de Paris. Elle est en »prose«. C’est un peu dans l’esprit de Zoned’Apollinaire: une poésie urbaine sans phrases canoniques, avec des ins-tantanés, des réclames, des slogans, des cris notés en se promenant dans Paris. Une forme de collage surréaliste avant la lettre. S’agit-il d’une com-plainte? Et qu’est-ce qu’une complainte? La force de ce poème, de réin-venter le populaire comme urbain, c’est cela qui en fait, chez Laforgue, une complainte.

C’est dans ce contexte que, pour terminer, je relis le propos sur la dé-culture: »Aujourd’hui, tout préconise et tout se précipite à la culture exclu-sive de la raison, de la logique, de la conscience – / La culture bénie de l’avenir est la déculture, la mise en jachère.« La déculture, ce n’est donc pas un nihilisme, ce n’est pas la négation de la culture, comme l’incon-naissance serait la négation de la connaissance. C’est une activité critique qui construit la culture sur l’analyse de la culture, et la culture, c’est un ensemble infini de formes et de valeurs, de valeurs qui définissent des formes, et de formes qui déplacent des valeurs.

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THOMAS KLINKERT

Literatur, Wissenschaft und Wissen – ein Beziehungsdreieck

(mit einer Analyse von Jorge Luis Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius)

Meinhard Winkgens zum 60. Geburtstag

1. Funktionale Differenzierung und die Autonomie der Kunst

Was impliziert die im Titel dieses Beitrags verwendete Metapher des Be-ziehungsdreiecks, wenn nicht Konflikthaftigkeit? Drei sind bekanntlich einer zuviel, und manchmal gilt das, wie wir sehen werden, auch schon für zwei. Das Merkmal der Konflikthaftigkeit soll der zentrale Punkt meiner Überlegungen zum Verhältnis von Literatur, Wissenschaft und Wissen sein. Dies soll hier zunächst durch historische und theoretische Ausfüh-rungen plausibilisiert werden.

Das Thema des vorliegenden Bandes gibt einen zeitlichen Rahmen vor, nämlich die Phase seit etwa 1800. Diese Zeit ist aus soziologischer Sicht durch jene Erscheinung charakterisiert, welche Niklas Luhmann als funktionale Differenzierung bezeichnet und ausgiebig theoretisiert hat. Bekanntlich unterscheidet Luhmann drei Gesellschaftstypen, nämlich die segmentäre, die stratifizierte und die funktional differenzierte Gesell-schaft.1 Im späten 18. Jahrhundert nun erreicht jener seit Jahrhunderten wirksame Prozess seinen Höhepunkt, der von der Umgestaltung der alteu-ropäischen, stratifizierten zur modernen, funktional differenzierten Ge-sellschaft führt. Stratifikation bedeutet Hierarchie, Unterscheidung von sozialen Schichten. Sie geht einher mit der Symbolisierung von Rangun-terschieden, welche in der Gesellschaft in allen Bereichen sichtbar ge-macht werden. Wie sehr die Stratifizierung als allgemeines Ordnungsprin-

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1 Vgl. hierzu ausführlich Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt a.M. 1998 (11997), Bd. 2, Kapitel 4: »Differenzierung«, insbes. S. 634-776.

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Thomas Klinkert 66

zip die symbolische Ordnung der Gesellschaft erfasst, sieht man zum Beispiel an der Literatur vom Mittelalter bis zur Aufklärung, wo nicht nur – nach historisch variablen Prinzipien – die einzelnen Gattungen hierar-chisch geordnet sind, sondern auch eine Korrelation von hoher Gattung (Tragödie, Epos), hohem Stil und hohem Personal bzw. hohem Sujet besteht; Analoges gilt für die mittlere und die niedere Ebene. Literatur ist also nach ähnlichen stratifikatorischen Prinzipien organisiert wie die Ge-sellschaft insgesamt: auch in ihr wird Rang symbolisiert.

Rang bedeutet vor allem Vorrang der Oberschicht. Hierzu sagt Luh-mann: »[Die Moral] wird exemplarisch vorgeführt an Königen, Prinzen oder sonstigen Personen höchster Herkunft, denn nur für sie kann die innere Unabhängigkeit von den Plackereien des Lebens sinnvoll behauptet wer-den, nur sie haben ein eigenes Schicksal.«2 Die Tatsache, dass der Literatur ganz selbstverständlich eine exemplarische Funktion zugeschrieben wird, ist ein Beleg für ihre Unterordnung unter fremde Zwecke. Literatur ist also (wie auch die anderen Künste) in der stratifizierten Gesellschaft nicht autonom, sondern heteronom. Heteronomie äußert sich in vielerlei Hin-sicht, etwa in der Repräsentation von politischer Macht, von moralischen Werten und Normen, von religiösen Prinzipien.

Demgegenüber zeichnet sich die Literatur in der funktional differen-zierten Gesellschaft nicht mehr durch Heteronomie aus, sondern durch Autonomie. Niels Werber hat den Prozess der Autonomisierung der Lite-ratur, ihre zunehmende Abkopplung von Fragen der Moral und die damit zusammenhängenden Umstellungen anhand der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts ausführlich dargestellt.3 Luhmann, auf dessen Theorie Werber sich bezieht, schreibt zur Ausdifferenzierung Folgendes: »Die Ausdifferenzierung eines gesellschaftlichen Teilsystems ist soziologisch an der Einschränkung und Spezifikation von Umweltrelevanzen zu erkennen. Bestimmte Umweltbeziehungen gewinnen an Relevanz mit der Folge, dass man sich anderen gegenüber indifferent verhalten kann.«4 Auf diese Weise entstehen gesellschaftliche Teilsysteme, die sich auf je eine für die Gesell-schaft relevante Funktion spezialisieren und nach einer spezifischen Leit-differenz kodiert sind. Die Relevanzen werden also arbeitsteilig an die unterschiedlichen Systeme vergeben.

Folgende für die moderne Gesellschaft wichtigen Funktionsbereiche unterscheidet Luhmann: Recht (Funktion: Regelung normativer Erwartun-gen), Wirtschaft (Verteilung knapper Güter), Politik (Regelung von Macht-beziehungen und somit der Möglichkeit, bindende Entscheidungen zu ______________________

2 Ebd., S. 692 f. (Hervorh. im Text.) 3 Niels Werber, Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen

1992. 4 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 256.

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treffen), Kunst (Sichtbarmachung des Unbeobachtbaren), Wissenschaft (Ge-winnung neuen, unwahrscheinlichen Wissens), Religion (Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität, Ausschaltung von Kontin-genz). Diese Systeme zeichnen sich durch operative Geschlossenheit aus. Sie sind wechselseitig füreinander Umwelt, das heißt, sie können sich ge-genseitig nur beobachten, nicht aber von außen beeinflussen. Es gibt kei-ne hierarchische Integration aller Teilbereiche mehr nach einem für alle gültigen Prinzip, sondern eine funktionale Spezialisierung. Jedes System konstituiert sich auf der Basis einer Leitdifferenz und verwendet symbo-lisch generalisierte Kommunikationsmedien (z.B. Geld, Macht, Kunstwer-ke).

Neben seiner spezifischen gesellschaftlichen Funktion, für die nur das jeweilige System zuständig ist und in der es durch kein anderes ersetzt werden kann, kann jedes System für die anderen Systeme bestimmte Leis-tungen erfüllen. Trotz der operativen Geschlossenheit gibt es also durchaus eine Interpenetration der Systeme. So kann etwa die Wissenschaft für das politische System Erkenntnisse zur Verfügung stellen, die aber erst poli-tisch kodiert werden müssen, bevor sie zu Entscheidungen beitragen kön-nen. Oder die Wirtschaft stellt die Infrastruktur für die Distribution von literarischen Texten in Gestalt von Büchern bereit, und dabei kommt es natürlich zu Interferenzen und auch zu Konflikten zwischen dem Kunst-system und der Wirtschaft. Wichtig ist aber, dass innerhalb des jeweiligen Systems ein Gegenstand nur gemäß der systemspezifischen Kodierung beobachtet werden kann. Ein Text wird nicht deshalb zu einem Kunst-werk, weil er sich gut verkaufen lässt. Umgekehrt ist ein Kunstwerk nicht deshalb für das Wirtschaftssystem interessant, weil es künstlerisch innova-tiv ist. Das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Kunst und Moral (welche bis zum 18. Jahrhundert noch aufs engste mit der Religion zu-sammenhing): Ein moralisch gutes Buch ist nicht schon ein künstlerisch gelungenes Buch. Die beiden Kategorien der künstlerischen und der mo-ralischen Qualität sind prinzipiell voneinander unabhängig (was nicht heißt, dass sie nicht in konkreten Werken auf komplexe Weise zusam-mengebunden werden können).5 Genauso ist es im Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft. Die künstlerische Qualität eines Textes kann nicht definiert werden durch seine Erkenntnisleistung. Die Leitdifferenz gilt stets nur innerhalb des Systems. ______________________

5 Zum komplexen und durchaus spannungsvollen Verhältnis von Literatur und Moral in der Moderne vgl. Thomas Klinkert, »Literatur und Moral im Zeitalter der funktionalen Ausdif-ferenzierung – mit Beispielen von Friedrich Nietzsche, Gabriele D’Annunzio und André Gide«, in: Pensées – Pensieri – Pensamientos. Dargestellte Gedankenwelten in den Literaturen der Ro-mania. Festschrift Werner Helmich zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Klaus-Dieter Ertler/Siegbert Himmelsbach, Münster 2006, S. 329-362.

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Für die Kunst um 1800 hat die funktionale Ausdifferenzierung Luh-mann zufolge radikale Konsequenzen:

Immer mehr macht sich bemerkbar, daß keines der Funktionssysteme für ein an-deres einspringen kann. Damit verlieren auch Kriterien in allen Funktionssyste-men ihre gesamtgesellschaftliche Plausibilität, und das wird mehr oder weniger gespürt, aber nicht durch einen neuen Begriff von Gesellschaft erklärt. Wenn Hegel vom Ende der Kunst spricht – »In all diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergan-genes« [Vorlesungen über die Ästhetik Bd. 1, Werke, Frankfurt 1970, Bd. 13, S. 25] –, ist wohl nur dies gemeint: daß die Kunst die Unmittelbarkeit des Bezugs auf das Weltverhältnis der Gesellschaft verloren und ihre eigene Ausdifferenzie-rung zur Kenntnis zu nehmen hat. Sie kann immer noch eine Universalkompe-tenz für alles und jedes in Anspruch nehmen; aber nur noch als Kunst, also nur noch auf der Basis einer spezifischen, eigenen Kriterien folgenden Operations-weise.Damit muß auch die Vorstellung aufgegeben werden, daß die Kunst, repräsen-tiert durch die Künstler, irgendwo anders in der Gesellschaft kunstsachverständi-ge und sympathisierende Komplemente finden könne. [...] Die Kommunikation zwischen Künstlern und Kunstkennern und -genießern ist als Kommunikation ausdifferenziert, und sie findet nur im Kunstsystem statt, das sich auf diese Weise etabliert und reproduziert. Entsprechend nimmt die Romantik das, was sie Kunstkritik nennt, als »Reflexionsmedium« [Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Frankfurt 1973] in das Kunstsystem hin-ein und sieht in ihr geradezu das Bemühen um Vollendung des vom Künstler vorgegebenen Werkes. Überhaupt ist die Romantik der erste Kunststil, der sich auf die neue Situation einer dem System zugefallenen Autonomie einläßt.6

Die Kunst erreicht also Luhmann zufolge um 1800 einen Zustand der Ausdifferenzierung und Autonomie, in dem erkennbar wird, dass die für sie gültigen Kriterien nicht mehr gesamtgesellschaftlich generalisierbar sind. Der Preis der erreichten Autonomie besteht darin, dass die Kunst keinen Allgemeingültigkeitsanspruch mehr erheben kann bzw. genauer: sie kann einen solchen Anspruch auf »Universalkompetenz« zwar schon noch erheben und tut dies ja auch, muss aber zugleich erkennen, dass sie es nur noch als Kunst, also innersystemisch tun kann. Kunstkommunikation ist fortan keine aktive Interaktion mehr zwischen dem Kunstsystem und anderen Teilen der Gesellschaft, sondern sie ist integraler Bestandteil des Kunstsystems selbst. Kunst wird also grundlegend selbstreferentiell und kann dies dann, wie es etwa in der Romantik geschieht, durch »Reflexi-onsmedien« wie Kunstkritik oder auch Liebe7 systemintern zur Darstel-lung bringen. ______________________

6 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 269 f. (Anm. 4; Hervorh. im Text.) 7 Vgl. hierzu Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur

Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Hölderlin, Foscolo, Madame de Staël und Leopardi), Freiburg 2002.

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2. Literatur als Wissenschaft?

So weit die Luhmannsche Theorie der modernen Gesellschaft, die in der Tat eine hohe Plausibilität für sich beanspruchen darf, die aber anderer-seits den im Bereich der Kunst und speziell der Literatur tatsächlich statt-findenden Wechselwirkungen mit anderen Teilsystemen, insbesondere mit dem uns hier interessierenden Teilsystem Wissenschaft, nicht voll Rech-nung tragen kann. Ich möchte zunächst einige Zitate von bedeutenden französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts anführen, die das Verhält-nis zwischen Literatur und Wissenschaft – zwei laut Luhmann im 19. Jahrhundert klar gegeneinander ausdifferenzierten Funktionsbereichen – veranschaulichen mögen. In Honoré de Balzacs 1842 erschienenem »Avant-propos« zur Comédie humaine liest man unter anderem folgenden Satz: »Si Buffon a fait un magnifique ouvrage en essayant de représenter dans un livre l’ensemble de la zoologie, n’y avait-il pas une œuvre de ce genre à faire pour la Société?«8 Balzac orientiert sich bei der poetologi-schen Fundierung seines Romanprojekts also explizit an wissenschaftli-chen Modellen; er versucht im Rekurs auf Naturwissenschaftler wie Buf-fon und insbesondere seine Zeitgenossen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire sein eigenes literarisches Projekt als wissenschaftliche Leistung auszuweisen. Umgekehrt erscheint ihm der Paläontologe Cuvier als großer Dichter:

Cuvier n’est-il pas le plus grand poète de notre siècle? Lord Byron a bien repro-duit par des mots quelques agitations morales; mais notre immortel naturaliste a reconstruit des mondes avec des os blanchis, a rebâti comme Cadmus des cités avec des dents, a repeuplé mille forêts de tous les mystères de la zoologie avec quelques fragments de houille, a retrouvé des populations de géants dans le pied d’un mammouth.9

Auch Gustave Flaubert postuliert in seiner Korrespondenz programma-tisch die wechselseitige Annäherung von Kunst bzw. Literatur und Wis-senschaft. So heißt es etwa in Briefen an Louise Colet: »Plus l’art sera scientifique, de même que la science deviendra artistique« (24.4.1852) bzw. »La littérature prendra de plus en plus les allures de la science; elle sera surtout exposante« (6.4.1853).10 In seinen Romanen hat Flaubert dieses poetologische Postulat durch seinen minutiösen, objektivistisch-›impassiblen‹ Darstellungsstil zu realisieren versucht. Émile Zola schließ-lich rückt in seiner 1880 in Buchform erschienenen Programmschrift Le______________________

8 Honoré de Balzac, »Avant-propos« (1842), in: La Comédie humaine, Bd. 1: Études de mœurs. Scènes de la vie privée, hrsg. v. Pierre-Georges Castex et al., Paris 1967, S. 7-20, hier S. 8.

9 Balzac, La Peau de chagrin, hrsg. v. S. de Sacy, Paris 1974, S. 47 f. 10 Beide Briefe werden zitiert nach Marc Föcking, Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und

wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 209.

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roman expérimental Literatur und Naturwissenschaft in einen so engen Zu-sammenhang, dass diese – theoretisch – beinahe ununterscheidbar wer-den. Er spricht von der Anwendung der in der Naturwissenschaft entwi-ckelten experimentellen Methode auf den Roman:

Dans mes études littéraires, j’ai souvent parlé de la méthode expérimentale appli-quée au roman et au drame. Le retour à la nature, l’évolution naturaliste qui em-porte le siècle, pousse peu à peu toutes les manifestations de l’intelligence humai-ne dans une même voie scientifique.11

Die wenigen hier zitierten Beispiele sollten genügen, um zu verdeutlichen, dass die großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts – die ja die Entwicklung eines sehr wichtigen, nämlich des wirklichkeitsdarstellen-den (›realistischen‹) Stranges des europäischen Romans exemplarisch re-präsentieren – die Literatur der Naturwissenschaft annähern und zumin-dest auf der poetologischen Ebene eine Äquivalenz zweier Bereiche pos-tulieren, welche es nach der Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung eigentlich nicht geben kann. Wenn nämlich Literatur und Wissenschaft unterschiedliche Funktionsbereiche der modernen Gesellschaft sind, dann können sie nicht füreinander einspringen und dann kann es auch die von den Autoren behaupteten Assimilationen nicht geben, das heißt, dann kann Literatur nicht zur Wissenschaft werden und umgekehrt. Wie ist mit diesem Widerspruch umzugehen?

3. Distanz und Nähe

An dieser Stelle muss man fragen, was es konkret bedeutet, wenn man sagt, dass es in der modernen Gesellschaft Kunst und Wissenschaft als zwei unterschiedliche, ausdifferenzierte Funktionsbereiche gebe. Simulie-ren wir einmal den Blick eines Außenstehenden, der unsere Gesellschaft nicht kennt. Wenn er wissen wollte, was der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft sei, so würde er vielleicht fragen, ob diese beiden Berei-che unterschiedlich institutionalisiert seien. Unterschiede zeigen sich in der Tat auf der Ebene der institutionellen Verankerung. Für Wissenschaft-ler gibt es Beamtenstellen an Universitäten, Künstler müssen sich dagegen auf dem freien Markt behaupten. So einfach kann man es sich mit der Unterscheidung indes nicht machen, denn es lässt sich ja zu Recht ein-wenden, dass es auch viele Wissenschaftler gibt, die ohne Planstelle sind, und umgekehrt viele Künstler, die staatlich alimentiert werden (z.B. Or-chestermusiker und Theaterschauspieler). Also muss man weiterfragen: Nicht, wie Künstler und Wissenschaftler bezahlt werden bzw. welchen ______________________

11 Émile Zola, Le roman expérimental, Paris 1880, S. 1.

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institutionellen Status sie haben, sondern was sie tun, ist das Entscheiden-de – und wofür sie es tun. Die Antwort wäre: Sie produzieren ein Werk, ein wissenschaftliches bzw. ein künstlerisches. Wenn man den Blick auf literarische Künstler einschränkt, dann kann man die Antwort noch weiter zuspitzen: Wissenschaftler und literarische Künstler produzieren in der Regel geschriebene Texte. Hier haben wir eine wichtige Gemeinsamkeit entdeckt, die vielleicht die Affinitäten zwischen Literatur und Wissen-schaft mit erklären helfen kann; in jedem Falle machen sich diskursanalyti-sche Zugänge diese Tatsache nutzbar. Die von Literaten und von Wissen-schaftlern produzierten Texte nun erscheinen in unterschiedlichen Publikationszusammenhängen (Verlage, Reihen, Zeitschriften, wobei es hier natürlich auch Berührungspunkte geben kann) und sie unterliegen unterschiedlichen Diskursregeln. Außerdem werden sie von Lesern mit unterschiedlichen Erwartungen und Intentionen rezipiert, haben mithin unterschiedliche Funktionen.

Wie aber lassen sich diese Funktionen allgemein bestimmen? Um die-se Frage zu beantworten, empfiehlt sich ein Blick auf eine weltweit aner-kannte und weltweit operierende Institution, welche alljährlich hervorra-gende wissenschaftliche und auch literarische Leistungen prämiert: den Nobelpreis. Ich zitiere einen Passus aus Nobels Testament vom 27. No-vember 1895 (vgl. § 1 der Statuten der Alfred-Nobel-Stiftung):

The whole of my remaining realizable estate shall be dealt with in the following way: the capital, invested in safe securities by my executors, shall constitute a fund, the interest on which shall be annually distributed in the form of prizes to those who, during the preceding year, shall have conferred the greatest benefit to mankind. The said interest shall be divided into five equal parts, which shall be apportioned as follows: one part to the person who shall have made the most important discovery or invention within the field of physics; one part to the per-son who shall have made the most important chemical discovery or improve-ment; one part to the person who shall have made the most important discovery within the domain of physiology or medicine; one part to the person who shall have produced in the field of literature the most outstanding work in an ideal di-rection; and one part to the person who shall have done the most or the best work for fraternity between nations, for the abolition or reduction of standing armies and for the holding and promotion of peace congresses.12

Alfred Nobel sah also fünf Gebiete vor, in denen Preise vergeben werden sollten: Physik, Chemie, Physiologie/Medizin, Literatur und Friedensför-derung. Die Preise sollten an jene Personen gehen, die im Jahr der Preis-verleihung jeweils der Menschheit den größten Nutzen erbracht hätten. Dass am Ende des positivistischen und wissenschaftsgläubigen 19. Jahr-hunderts von einem Techniker und Erfinder wie Alfred Nobel die natur-______________________

12 http://nobelprize.org/nobel/nobel-foundation/statutes.html#par1 (zuletzt abgerufen am 13.3.2006).

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wissenschaftlichen Disziplinen für geeignet erachtet werden, der Mensch-heit zu nützen, erstaunt wenig. Dass einer, der sein Vermögen u.a. mit Dynamit verdient hat, nun sozusagen Abbuße leistet, indem er friedens-fördernde Taten prämieren lässt, ist ebenfalls nachvollziehbar. Dass er aber neben die naturwissenschaftlichen Disziplinen ganz selbstverständ-lich und gleichberechtigt die Literatur stellt, bedarf der näheren Betrach-tung. Einerseits scheint Nobel keinen Unterschied zwischen der Literatur und den Naturwissenschaften zu machen, wenn er ihnen allen zugesteht, der Menschheit zu nützen. Andererseits macht er dann doch einen Unter-schied, und zwar bei der genaueren Benennung der Qualitäten, die ein preiswürdiges Werk haben soll: Während bei den wissenschaftlichen Wer-ken Entdeckungen und Erfindungen oder auch Verbesserungen prämiert werden, erhält den Literatur-Nobelpreis derjenige Autor, welcher »the most outstanding work in an ideal direction« geschaffen haben soll. Impli-zit ist hiermit der Gegensatz real vs. ideal aufgerufen. Die Wissenschaft ist im Bereich des Realen angesiedelt, die Literatur im Bereich des Idealen. Nun könnte man einwenden: Ist der Gegensatz wirklich so groß? Gibt es nicht eine Realität der Ideen und eine Idealität des Realen? Ist nicht, um ein prominentes Beispiel anzuführen, die von Albert Einstein entwickelte Relativitätstheorie, die in der Wissenschafts- und Technikgeschichte des 20. Jahrhunderts ganz massiv reale Auswirkungen gehabt hat, zunächst einmal ein rein gedankliches, mathematisches, also ›ideales‹ Konstrukt gewesen? Wo lässt sich hier die Grenze genau ziehen?

Luhmann, um zu ihm zurückzukehren, sagt, die Funktion der Wissen-schaft sei es, neues, unwahrscheinliches Wissen zu gewinnen; die Wissen-schaft als System operiere mit der Leitdifferenz ›wahr vs. falsch‹. Kunst bzw. Literatur dagegen habe die Funktion, durch die Kopplung von Wahrnehmung und Kommunikation das Unbeobachtbare sichtbar zu machen; die dabei relevante Leitdifferenz laute ›schön vs. hässlich‹. Das wurde von Gerhard Plumpe und Niels Werber etwas allgemeiner formu-liert: Kunst binde die in der Moderne exponentiell zunehmende Freizeit durch Unterhaltung und sie operiere mit der Leitdifferenz ›interessant vs. langweilig‹.13 Die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft wäre nach dieser Theorie ihre jeweils unterschiedliche Kodierung. Einmal geht es um die Differenz von wahr und falsch, das andere Mal geht es um den Ge-gensatz von schön und hässlich bzw. interessant und langweilig. Oder prägnanter formuliert: Wissenschaft ist dominant epistemologisch, Kunst dominant ästhetisch kodiert. Was natürlich nicht ausschließt, dass es un-terhalb der jeweils dominanten Kodierung noch weitere Kodierungen ______________________

13 Gerhard Plumpe/Niels Werber, »Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft«, in: Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Per-spektiven, hrsg. v. Siegfried J. Schmidt, Opladen 1993, S. 9-43.

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geben mag, etwa wenn im Wissenschaftssystem auch ästhetische Fragen eine Rolle spielen oder im Kunstsystem epistemologische.

Machen wir nun die Probe aufs Exempel und werfen einen Blick in die Laudationes, mit denen am 10. Dezember 2004 in Stockholm die No-belpreise für Physik und für Literatur verliehen wurden. Der Physik-Nobelpreis ging an David Gross, David Politzer und Frank Wilczek für ihre Forschungen im Bereich der Teilchenphysik. Sie haben eine Theorie entwickelt, die das Verhalten von Quarks, jenen Teilchen, aus denen Pro-tonen und Neutronen bestehen, erstmals adäquat vorhersagen kann. Diese Quarks verhalten sich insofern unerwartbar und bizarr, als die sie zusam-menhaltende Kraft noch verstärkt wird, wenn man sie zu trennen ver-sucht; während die Quarks umgekehrt bei einer Annäherung eine asymp-totische Freiheit an den Tag legen, sich also trotz der starken sie zusammenhaltenden Kraft nicht vereinigen lassen. Ich zitiere nun eine längere Passage aus der Laudatio von Lars Brink:

Could a theory of the quarks behave like that? This behaviour of the force bet-ween quarks seemed to be outside the realm of any theory of the kind that had so successfully explained the electromagnetic force. So around 1970 particle physics stood in front of a great dilemma. Common sense, and all calculations that were attempted told us that the force between quarks should behave in a manner that contradicted the experimental facts. In the end the issue came down to one speci-fic question. Does any theory predict a minus sign in the right place? All theories that were tested gave the incorrect positive sign. In 1973, David Gross and Frank Wilczek and David Politzer considered a novel class of theories. To the surprise of the world and to their own great astonish-ment they found the result –11/3 that signalled that these theories are asymptoti-cally free. Seldom has a negative result had such a positive effect! A theory for the strong force between the quarks could now quickly be formulated and a detailed comparison with experiments could be performed. During the last fifteen years experiments at large accelerators have confirmed the theory with great accuracy.14

Die prämierte wissenschaftliche Leistung bestand also darin, dass eine Diskrepanz zwischen beobachtbaren Phänomenen und den zur Erklärung dieser Phänomene herangezogenen Theorien abgebaut wurde. Dies ge-schah durch die Formulierung einer neuen Theorie, deren Gültigkeit in der Folge experimentell bestätigt werden konnte. Hier wird übrigens sehr schön deutlich, was Luhmann meint, wenn er sagt, dass Wissenschaft die Funktion habe, neues, unwahrscheinliches Wissen zu gewinnen: Das von den Physikern entdeckte mathematische Resultat hat bei ihnen selbst gro-ße Verblüffung ausgelöst (»to their own great astonishment«), war also offenbar höchst unwahrscheinlich. Wenn man dieses Beispiel verallgemei-nern darf, so kann man sagen: Eine bedeutende naturwissenschaftliche ______________________

14 http://nobelprize.org/physics/laureates/2004/presentation-speech.html (zuletzt abgeru-fen am 13.3.2006).

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Leistung besteht darin, dass neue Theorien und Gesetze formuliert wer-den, die so allgemein sind, dass sie eine möglichst große und auch hetero-gene bzw. widersprüchliche Anzahl von beobachtbaren Erscheinungen erklärbar bzw. vorhersagbar machen. Die naturwissenschaftlichen Theo-rien mögen mathematisch und abstrakt sein; doch bleiben sie rückbezogen auf eine durch Messinstrumente und Apparate im Experiment beobacht-bare Wirklichkeit (in der Laudatio ist von Teilchenbeschleunigern die Rede). Es erfolgt also ein Abgleich zwischen Theorie und Wirklichkeit. (Einschränkend müsste man hinzufügen, dass die beobachtbare Welt nicht die objektiv vorhandene Welt an sich ist, sondern nur das, was man aus einer bestimmten Perspektive mithilfe bestimmter Apparate erkennen kann, also ein künstlich präparierter Ausschnitt oder ein vereinfachtes Modell der Wirklichkeit.)

Wie verhält es sich nun dagegen mit der Literatur? Welche relevanten Merkmale werden ihr zugeschrieben? Auch das zeigt ein Blick auf die Nobelpreis-Laudatio des Jahres 2004. Preisträgerin war Elfriede Jelinek. (Ich möchte darauf hinweisen, dass es mir im Folgenden nicht um das Werk von Elfriede Jelinek an sich geht und auch nicht darum, ob die in der Laudatio gemachten Aussagen über dieses Werk zutreffend sind, son-dern es geht mir allein um die Beobachtung der Metaebene, also um die Art und Weise, in der über Literatur geredet wird, wenn man ihr höchste Relevanz zuspricht. Dass ich einen solchen Vorbehalt glaube machen zu müssen, verweist implizit auf einen vielleicht wesentlichen Unterschied zwischen Literatur und Wissenschaft, nämlich den, dass wir geneigt sind, die Ergebnisse von wissenschaftlicher Forschung umstandslos als wahr und objektiv hinzunehmen oder ihre Beurteilung ganz den Fachleuten zu überlassen, während bei Literatur jeder sein subjektives Geschmacksurteil einfließen lassen darf und es somit auch regelmäßig vorkommt, dass selbst einem mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Werk von bestimmten Men-schen die Relevanz abgesprochen wird.) Der Laudator, Horace Engdahl, spricht zunächst über das Verhältnis zwischen der Autorin und der »stran-ge, mixed voice that speaks from her writing«;15 in literaturwissenschaftli-cher Terminologie würde man sagen, es geht um das Verhältnis zwischen dem Autor als textexterner Instanz und den textinternen Sprech- oder Erzählinstanzen. Dieses Verhältnis sei bei Jelinek so, dass die Autorin überall und nirgends zugleich sei, dass sie nirgendwo auktorial greifbar werde, aber auch niemals hinter ihren Figuren ganz verschwinde. Ihr lite-rarisches Werk sei nicht illusionierend, sondern sprachfokussiert (»nothing but a stream of saturated sentences«). Von Beginn an spricht Engdahl also

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15 http://nobelprize.org/literature/laureates/2004/presentation-speech.html (zuletzt abgeru-fen am 14.3.2006).

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über die sprachliche Verfasstheit des literarischen Werks von Jelinek. Die-ses Werk nehme gesellschaftliche Klischees, Codes und Diskurse als Aus-druck des kollektiven Unbewussten unserer Gegenwart in sich auf. Die Codes der Trivialgenres (Schundliteratur, Comics, Pornographie usw.) würden einer Bearbeitung unterzogen, die dazu führe, »that the inherent madness in these ostensibly harmless consumer phenomena shines through«. Die Sprache werde von der Autorin abgehorcht, so wie der Arzt den Brustkorb eines Patienten abhorche. Hier wird nun interessanterweise – ist es Zufall oder Traditionszwang? – der literarische Autor mit dem Mediziner, dem Naturwissenschaftler gleichgesetzt (man erinnere sich an Balzac, Flaubert und Zola). Das impliziert offenbar, dass der Autor mithil-fe seines Werkes eine Diagnose, eine Erkenntnis in die Welt setzen kann. Worin besteht solche Erkenntnis? Sie besteht im Entdecken von in der Alltagssprache verborgenen Wahrheiten (in diesem Falle: Unterdrückung, Sexismus, Chauvinismus, Geschichtsfälschung usw.) und führt dazu, dass wir die Welt mit neuen Augen sehen:

When our normal ideals and daydreams are rendered with Elfriede Jelinek’s in-strumentation of heartless word-plays, macabre metaphors and infernally twisted quotations from the classics, they are never again the same. Her insinuating tone, like infrared light elucidates the hidden writing of civilisation. Where we saw normal society, we now see a locked-down system of male/female, assault and submission, hunter and prey.

Die uns vertrauten Elemente der alltäglichen Wirklichkeit werden sozusa-gen durch sprachlich-künstlerische Bearbeitung bis zur Kenntlichkeit entstellt; Literaturwissenschaftler sprechen hier von Verfremdung oder Deautomatisierung. Man erkennt hinter der Alltagsfassade eine ganz ande-re Welt. Literatur vermag es also, uns einen neuen Blick auf die Wirklich-keit zu vermitteln. Sie wird zum Messinstrument (»like infrared light«), der Autor zum Mediziner oder Wissenschaftler. Zugleich aber wird in der Laudatio großes Gewicht auf die Art und Weise der sprachlichen Bearbei-tung gelegt. Es ist die Rede von den Klischees, den Codes und Diskursen, von der Revolutionierung der Form und auch von der literarischen Tradi-tion, in der Elfriede Jelinek steht. Ja, man muss sagen, dass das Hauptge-wicht der Laudatio auf diese Aspekte gelegt wird. Wir erkennen hieran, dass es in der Literatur zwar durchaus auch um Wissen und Erkenntnis gehen mag, dass dies aber nicht die wesentliche oder ausschließliche Qua-lität eines literarischen Textes sein kann. Als Sprachkunstwerk hat der literarische Text seine wesentliche Qualität in der Form der Darstellung.

Bestätigt dies nun die Luhmannsche Theorie der getrennten Funkti-onsbereiche Kunst und Wissenschaft? Meine These ist, dass diese Funkti-onsbereiche zwar prinzipiell getrennt sind, dass es aber im Bereich der künstlerisch innovativen literarischen Texte, im Bereich der sog. Höhen-

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kammliteratur, die nicht zu Unrecht normalerweise im Mittelpunkt litera-turwissenschaftlicher Betrachtung steht, besondere Affinitäten zwischen Literatur und Wissenschaft gibt. Diese Affinitäten manifestieren sich deut-lich in einer mächtigen Traditionslinie des europäischen Romans seit Be-ginn des 19. Jahrhunderts, einer literarischen Reihe, welche unter anderem Werke von Goethe, Balzac, Manzoni, Flaubert, Zola, Verga, Pirandello, Proust, Svevo, Musil, Thomas Mann, Borges, Cortázar, Calvino, Del Giu-dice und Houellebecq umfasst. In diesen und anderen vergleichbaren Texten öffnet sich das literarische System dem Wissenschaftssystem, das heißt, es findet teilweise eine Grenzüberschreitung statt, deren Resultat im Extremfall hybride Textgebilde sind, bei denen eine eindeutige Zuordnung zum System Literatur oder zum System Wissenschaft schwerfällt. Beson-ders auffällig ist das etwa in Robert Musils essayistischem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, welcher über weite Strecken seine Identität als fiktionaler Text einbüßt, wenn der Erzähler in weit ausholenden Passagen zu philosophischen oder soziologischen oder gar naturwissenschaftlichen Erklärungen ansetzt. Ähnliches gilt schon für Flauberts Bouvard et Pécuchet,wo die romaneske Handlung nur noch als Rahmen für die – ironisch-kritische – Darstellung der verschiedenen Wissensdisziplinen des späten 19. Jahrhunderts dient. Schließlich gilt es für einen Text wie Italo Calvinos Palomar, der noch nicht einmal mehr eine kontinuierliche Rahmenhand-lung besitzt, sondern wie ein expositorischer Text seinen Protagonisten in Situationen stellt, die für das jeweils in Frage stehende epistemologische Problem paradigmatisch sind. Aber natürlich sind bei aller Kühnheit auch solche Texte basal noch romaneske Fiktionen.

Genau an dieser Stelle nun lässt sich der Bogen zum Ausgangspunkt zurückschlagen. Die Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen ist eine konflikthafte. Prinzipiell ist es so, dass im Bereich des Ästhetischen – des »interesselosen Wohlgefallens«16 – Wissen und Er-kenntnis natürlich immer auch enthalten sind, allerdings unspezifisch und offen, virtuell sozusagen. Dieses Wissen muss sich sozusagen erst Bahn brechen, es muss vom Leser geborgen werden, es steht im Konflikt mit der Eigenschaft literarischer Texte, ästhetisch interessant, abweichend, offen zu sein. Man kann sicher durch die Lektüre von Franz Kafkas Tex-ten etwas erfahren und lernen. Die Frage ist nur: was genau? Ausdruck dieser Unsicherheit ist nicht zuletzt die Vielfalt der divergierenden Inter-pretationen im Bereich der Kafka-Forschung. War Kafka (ich karikiere ein wenig) ein Kritiker der k.u.k. österreichisch-ungarischen Bürokratie und ______________________

16 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1990, § 5, S. 48: »Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstel-lungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.«

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Behördenwillkür (Der Proceß)? Hat er die Schrecknisse der Konzentrations-lager antizipiert (In der Strafkolonie)? Geht es bei ihm um ödipale Konflikte (Das Urteil)? Sind seine Texte theologische Parabeln (Vor dem Gesetz)?Oder geht es um scheiterndes Künstlertum (Ein Hungerkünstler)? All das ist sicher in seinen Texten enthalten, daneben aber noch vieles mehr und in wechselnden Mischverhältnissen; letztlich verweigern sich diese Texte einer eindeutigen Sinngebung und damit auch einem eindeutigen Wissen, das aus ihnen zu gewinnen wäre.

Nun muss man nicht einen so schwierigen und eigenwilligen Autor wie Kafka bemühen, um zu erkennen, dass Literatur – bei aller Affinität zu Diskursen und Modellen der Wissenschaft, die sie gelegentlich aufwei-sen mag – niemals völlig darin aufgehen kann, so wie die Wissenschaft neues, unwahrscheinliches Wissen zu generieren, ohne ihre Identität als Literatur zu verlieren. Wenn also Literatur das ihr eigentlich vorbehaltene Terrain des Ästhetischen verlässt und sich in den Bereich des Epistemolo-gischen begibt, dann stellt sie sich in ein konflikthaftes Verhältnis zu eben diesem Epistemologischen und zu dem Wissen als Resultat der epistemo-logischen Reflexion, und zwar deshalb, weil das Epistemologische eigent-lich einem anderen gesellschaftlichen Funktionsbereich vorbehalten ist. Ich möchte sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Konfrontation mit dem Epistemologischen die Identität des literarischen Textes bedroht, worauf dieser dann wiederum durch Subvertierung des Epistemologischen reagieren kann. Diese These möchte ich nun an einem konkreten Beispiel veranschaulichen, welches die sich aus der Begegnung von Literatur und Epistemologie ergebenden Paradoxien in der Form des Textes reflektiert, nämlich an den Ficciones von Jorge Luis Borges.

4. Jorge Luis Borges oder die Subvertierung des Epistemologischen in der literarischen Fiktion

Der Argentinier Borges veröffentlichte im Jahr 1941 eine Sammlung von sieben Kurztexten unter dem Titel El jardín de senderos que se bifurcan. Diese Sammlung wurde 1944 mit der aus neun Texten bestehenden Sammlung Artificios verbunden und unter dem Titel Ficciones erneut publiziert. Nun ist in der Forschung hinlänglich dargelegt worden, in welch umfassender Weise Borges wissenschaftliches und epistemologisches Gedankengut verarbeitet.17 Ich möchte dagegen weniger auf das verarbeitete Wissen ______________________

17 Ich verweise hier exemplarisch auf folgende Studien: Ulrich Schulz-Buschhaus, »Borges und die Décadence. Über einige literarische und ideologische Motive der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius«, in: Romanische Forschungen 96 (1984), S. 90-100; Heinz Schlaffer, Borges,

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abzielen als vielmehr auf das Verhältnis, in dem dieses Wissen zur Form seiner Verarbeitung steht.18 Es geht mir also um die diskursive Gestalt jener Texte, die Borges nicht ohne Grund als Ficciones bezeichnet.

Im Vorwort zu El jardín de senderos que se bifurcan schreibt der Autor: Desvarío laborioso y empobrecedor el de componer vastos libros; el de explayar en quinientas páginas una idea cuya perfecta exposición oral cabe en pocos minu-tos. Mejor procedimiento es simular que esos libros ya existen y ofrecer un resu-men, un comentario. Así procedió Carlyle en Sartor Resartus; así Butler en The Fair Haven; obras que tienen la imperfección de ser libros también, no menos tautoló-gicos que los otros. Más razonable, más inepto, más haragán, he preferido la es-

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Frankfurt a.M. 1993; Santiago Juan-Navarro, »La alquimia del verbo: ›Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‹ de J. L. Borges y la sociedad de la Rosa-Cruz«, in: Hispanofila 120 (1997), S. 67-80; Jorge Luis Borges. Thought and Knowledge in the XXth Century, hrsg. v. Alfonso de To-ro/Fernando de Toro, Frankfurt a.M. 1999, darin insbesondere: Eckhard Höfner, »Some Aspects of the Problem of Time in the Works of Jorge Luis Borges: An Eclectic Between Plato and the Theory of Relativity«, S. 207-239; Mario Bunge et al., Borges científico. Cuatro estudios, Buenos Aires 1999; Jorge Luis Borges: Ciencia y Filosofía, hrsg. v. Alfonso de Toro, Hildesheim 2007. – Zur allgemeinen Charakterisierung der Ficciones siehe Noé Jitrik, »Estructura y significación en Ficciones, de Jorge Luis Borges«, in: El fuego de la especie. Ensayos sobre seis escritores argentinos, Buenos Aires 1971, S. 129-150.

18 Vgl. hierzu etwa Walter Mignolo, »Emergencia, espacio, ›mundos posibles‹: las propuestas epistemológicas de Jorge L. Borges«, in: Revista Iberoamericana 43 (1977), S. 357-379; Arturo Echevarría Ferrari, »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius: creación de un lenguaje y crítica del lenguaje«, in: Revista Iberoamericana 43 (1977), S. 399-413; Ottmar Ette, Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist 2001, Kapitel 5 (»Vom modernen Erzählraum zum Orbis Tertius«), insbes. S. 247-268. – Mignolo betrach-tet die Erzählungen von Borges als paradigmatisches Beispiel »emergenter« Textstrukturen (also solcher, die mit bislang gültigen narratologischen Kategorien nicht mehr adäquat be-schreibbar sind). Mithilfe der Unterscheidung »discurso analógico« (d.h. »aquel tipo de dis-curso que respeta la continuidad en la contigüidad«) vs. »discurso discontinuo« (d.h. »aquel que opera una alteración de la continuidad y en el cual nuestra intuición reconoce una rup-tura entre dos hechos (sintagmas) adyacentes«, S. 363) beschreibt Mignolo das Spezifische einer Erzählung wie etwa El Sur, welche zugleich beide Lesarten – die »analoge« und die »diskontinuierliche« – zulasse. Die Koexistenz mehrerer, einander ausschließender Lesarten lasse auf die Existenz mehrerer möglicher Welten schließen, und insofern seien die Erzäh-lungen von Borges aufgrund ihrer Darstellungsform bzw. Schreibweise als Korrelate be-stimmter Theoriediskussionen zu betrachten (vgl. insbes. S. 367). – Echevarría Ferrari zu-folge lotet Borges in Tlön Natur und Grenzen jeglicher Sprache aus. Dies werde mittels der Form der Texte geleistet, denn »los principios gnoseológicos que postula el cuento están inscritos en el desarrollo de la trama, en la estructura misma del relato y en un hábil, lúcido y complejísimo manejo de un lenguaje para luego llevar a cabo una devastadora crítica del lenguaje« (S. 400). – Ette untersucht die Hybridität der Erzählungen von Borges, die Fikti-onalisierung »diktionaler« Modelle (S. 247, zum Begriff der »Diktion« vgl. Gérard Genette, Fiction et diction, Paris 1991), welche dazu führt, dass man die Erzählungen sowohl diktional-referentiell als auch fiktional lesen kann. – An die genannten Untersuchungen möchte ich anknüpfen.

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critura de notas sobre libros imaginarios. Éstas son ›Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‹ y el ›Examen de la obra de Herbert Quain‹.19

Borges folgt hier ganz offensichtlich einer Logik der Reduktion, welche Sinn und Zweck von Büchern grundlegend infrage stellt und als Zeichen einer für das 20. Jahrhundert charakteristischen Krise der Literatur gedeu-tet werden kann. Es lohne nicht den Aufwand, 500-seitige Bücher zu schreiben, wenn man die in ihnen enthaltenen Ideen mündlich in wenigen Minuten vermitteln könne. Daher – so der erste Schritt der Reduktion – sei es besser, man gebe vor, dass besagte Bücher bereits existierten, und schreibe eine Zusammenfassung oder einen Kommentar (das heißt, man kürzt einen Teil der Bücher weg, nämlich die Primärtexte). Diese Art von kommentierenden Büchern sind wie etwa die genannten von Carlyle und Butler Metatexte (Bücher über Bücher) mit der Besonderheit, dass ihr Gegenstand, also das kommentierte Buch, nicht real, sondern fiktiv ist. Damit wird bei Borges also die Verschränkung von Fiktion (einem litera-turtypischen Merkmal) und Metatextualität (einem im weiteren Sinne wis-senschaftsspezifischen Merkmal) zum Programm erhoben. Dieses Pro-gramm wird in einem zweiten Schritt der Reduktion dahingehend verändert, dass Borges nicht Bücher, sondern nur »notas«, also Anmer-kungen bzw. Kurztexte, über imaginäre Bücher schreibt. Die Paradoxie lässt sich indes dadurch nicht aus der Welt schaffen, denn auch die »notas« ergeben in ihrer Summe am Ende wieder ein ganzes Buch. Wenn Borges sein eigenes Vorhaben mit den widersprüchlichen Adjektiven »Más razo-nable, más inepto, más haragán« motiviert, so scheint er auf dessen grund-legende Paradoxie zu verweisen.

Liest man den die Sammlung eröffnenden (und von Borges als Bei-spiel für sein Reduktionsverfahren genannten) Text Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, so stellt man fest, dass dieser zunächst bei unvoreingenommener Betrachtung aussieht wie ein non-fiktionaler Bericht. Wir finden eine Rei-he von Authentizitätssignalen: Gleich zu Beginn ist die Rede von einer mit dem Erzähler befreundeten Person namens Bioy Casares. Diese Person ist

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19 Jorge Luis Borges, Obras completas, Barcelona 1996, Bd. I, S. 429. – Deutsche Fassung: Jorge Luis Borges, Fiktionen. Erzählungen, übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luch-ting/Gisbert Haefs, Frankfurt a.M. 1994, S. 13. »Ein mühseliger und strapazierender Un-sinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwal-zen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorzulegen. So machte es Carlyle in Sartor Resartus, so Butler in The Fair Haven: Werke, behaftet mit der Unvollkommenheit, daß sie eben auch Bücher sind, nicht minder tautologisch als die anderen. Aus größerer Gewitztheit, größerer Unbegabtheit, größerer Faulheit habe ich das Schreiben von Anmerkungen zu imaginären Büchern vor-gezogen. Diese sind ›Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‹ und ›Untersuchung des Werks von Her-bert Quain‹.«

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der Schriftsteller Adolfo Bioy Casares, der 1940 einen der großen Romane des 20. Jahrhunderts publiziert hat, nämlich La invención de Morel, dessen Handlungsführung übrigens sein Freund Borges in einem Vorwort als »perfekt« bezeichnet hat.20 Die beiden Freunde befinden sich in Ramos Mejía, einem real existierenden Ort in der Nähe von Buenos Aires. Sie sprechen, was bei Schriftstellern üblich sein dürfte, über einen zu schrei-benden Roman:

[...] nos demoró una vasta polémica sobre la ejecución de una novela en primera persona, cuyo narrador omitiera o desfigurara los hechos e incurriera en diversas contradicciones, que permitieran a unos pocos lectores – a muy pocos lectores – la adivinación de una realidad atroz o banal.21

Alles wirkt also, als wäre es direkt aus dem Leben gegriffen. (Allerdings lässt sich das letzte Zitat auf einer zweiten Ebene auch als Fiktionssignal und heimliche Rezeptionsanweisung22 für den vorliegenden Text verste-hen, einen Text, der ja ebenfalls, wie noch zu zeigen ist, voller Fallen und Widersprüche steckt.)

Durch einen Zufall fällt die Rede auf eine Gegend namens Uqbar. Als nämlich die beiden Schriftsteller von einem Spiegel geblendet werden, erinnert Bioy Casares an das Diktum eines Häresiarchen aus Uqbar, wo-nach »los espejos y la cópula son abominables, porque multiplican el número de los hombres«.23 Borges fragt seinen Freund nach der Quelle dieses Diktums, Bioy verweist ihn auf die Anglo-American Cyclopaedia, einen Nachdruck der Encyclopaedia Britannica. Als man im betreffenden Band nachschlägt, findet sich jedoch kein Eintrag zum Stichwort Uqbar. Die dadurch ausgelöste Recherche ergibt, dass Bioy ein offenbar abweichendes Exemplar eben dieser Enzyklopädie besitzt, in dem sich jener von ihm zitierte Eintrag zu Uqbar tatsächlich befindet. Sein Exemplar hat vier Seiten mehr als der reguläre Teilband der Enzyklopädie. ______________________

20 Adolfo Bioy Casares, La invención de Morel. El gran Serafín, hrsg. v. Trinidad Barrera, Madrid 1984, S. 91.

21 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 431 (Anm. 19). – »[...] wir waren in eine weitläufige Pole-mik über die Ausarbeitung eines Romans in Ich-Form geraten, dessen Erzähler Tatsachen auslassen oder entstellen und sich in verschiedene Widersprüche verwickeln sollte, die es wenigen Lesern – sehr wenigen Lesern – gestatten würden, eine grausige oder banale Wirk-lichkeit zu erahnen.« (Borges, Fiktionen, S. 15 [Anm. 19])

22 Vgl. hierzu auch Ette, Literatur in Bewegung, S. 249 (Anm. 18), der den Beginn von »Tlön« – also die den Erzähler und seinen Freund Bioy Casares implizierende Lese- und Schreibsitu-ation – als »Keimzelle oder generatives Modell« des Textes bezeichnet, also poetologisch interpretiert. Ebenso Juan-Navarro, »La alquimia del verbo«, S. 68 (Anm. 17): »Esta novela imaginaria nos remite a cualquiera de los relatos incluidos en la antología Ficciones y, en especial, al propio cuento que estamos leyendo«.

23 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 431 (Anm. 19). – »[…] die Spiegel und die Paarung seien abscheulich, weil sie die Zahl der Menschen vervielfachen.« (Borges, Fiktionen, S. 15 [Anm. 19])

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Allmählich erkennt man als Leser, dass der Text Tlön, Uqbar, Orbis Ter-tius keineswegs ein schlichter Bericht von tatsächlich Vorgefallenem ist, sondern dass er ein hochartifizieller, auf Symmetrien und Spiegelungen beruhender künstlerischer Text ist. Zwei Schriftsteller unterhalten sich übers Romaneschreiben. Dabei geht es um Entstellungen, Auslassungen und Widersprüche und darum, dass nur wenige Leser in der Lage sein werden, die in der romanesken Darstellung verborgene Wirklichkeit zu erkennen. Das eigentliche Thema ist also die Täuschung des Lesers durch den Text. Die Protagonisten werden sodann von einem Spiegel geblendet. Dies führt zum Thema der Multiplikation bzw. der Verdoppelung, wel-ches zusammen mit dem der Täuschung das Hauptthema des nun Fol-genden sein wird (wobei auch zu berücksichtigen ist, dass Blendung eben-falls etwas mit Täuschung zu tun hat). Die Anglo-American Cyclopaedia ist eine Kopie oder Verdoppelung der Encyclopaedia Britannica, allerdings eine offenbar in mindestens zwei Varianten existierende Kopie. Die Kopie wird also noch einmal kopiert – und es wird eine Abweichung eingebaut, um den Leser zu verwirren.

Das Spiel mit Täuschung und Verdoppelung geht noch sehr viel wei-ter. Später nämlich stößt der Ich-Erzähler durch Zufall auf einen Band mit dem Titel: A First Encyclopaedia of Tlön. Vol. XI. Hlaer to Jangr. Dazu fol-gender Kommentar des Erzählers:

Hacía dos años que yo había descubierto en un tomo de cierta enciclopedia práctica una somera descripción de un falso país; ahora me deparaba el azar algo más precioso y más arduo. Ahora tenía en las manos un vasto fragmento metódi-co de la historia total de un planeta desconocido [...]. Todo ello articulado, cohe-rente, sin visible propósito doctrinal o tono paródico.24

Der Text gibt also vor, dass der betreffende Band einer Enzyklopädie von Tlön tatsächlich existiere. Zugleich wird vom Erzähler klar gesagt, dass die Welt von Tlön eine fiktive sei. Er vermutet sogar, dass ein ganzes Wissen-schaftlerkollektiv daran gearbeitet habe, Tlön zu erfinden, denn ein Ein-zelner habe unmöglich allein alles erfinden und niederschreiben können. Die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist somit bislang auf der Handlungsebene des Textes möglich, sodass man diesen weiterhin als Metatext über Fiktion lesen kann, mithin in gewisser Weise als litera-turwissenschaftlichen Text. Wenn man allerdings die oben erwähnten Fiktionssignale (autoreferentielle Situation der beiden Schriftsteller, Spie-______________________

24 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 434 (Anm. 19). – »Vor zwei Jahren hatte ich in einem Band einer gewissen Raubdruck-Enzyklopädie die zusammenfassende Beschreibung eines fal-schen Landes entdeckt; jetzt bescherte mir der Zufall etwas weit Kostbareres und Schwie-rigeres. Jetzt hielt ich ein umfangreiches methodisches Fragment der Gesamtgeschichte ei-nes unbekannten Planeten in Händen [...]. Dies alles gegliedert, zusammenhängend, ohne ersichtliche Lehrabsicht oder parodistische Färbung.« (Borges, Fiktionen, S. 20 [Anm. 19])

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gelungen, Täuschungen und Verdoppelungen) mit berücksichtigt, dann wird die Unterscheidung zwischen Fiktion und wirklichkeitsdarstellendem Bericht auf der Ebene der énonciation schon fragwürdig.

Im Folgenden wird vom Erzähler das in Tlön herrschende »concepto del universo« vorgestellt. Es ergibt sich das Bild einer der uns bekannten in vielerlei Hinsicht entgegengesetzten Welt. Die Bewohner von Tlön sind ›Idealisten‹. »El mundo para ellos no es un concurso de objetos en el espa-cio; es una serie heterogénea de actos independientes. Es sucesivo, tempo-ral, no espacial.«25 Man glaubt nicht an räumlich-zeitliche Identität und Kontinuität und kennt somit nicht das Kausalitätsprinzip:

[...] no conciben que lo espacial perdure en el tiempo. La percepción de una hu-mareda en el horizonte y después del campo incendiado y despues del cigarro a medio apagar que produjo la quemazón es considerada un ejemplo de asociación de ideas.26

Unter diesen Bedingungen kann es keine Wissenschaft geben, denn einen Sachverhalt zu erklären oder ihn zu beurteilen bedeutet, ihn mit einem anderen Sachverhalt zu verknüpfen (so wie man Rauch mit Feuer ver-knüpft und jenen als Zeichen für dieses interpretiert); und eine solche Verknüpfung ist – der in Tlön herrschenden ›idealistischen‹ Überzeugung zufolge – eine nachträgliche, durch das beobachtende Subjekt vorgenom-mene Manipulation, hat also nichts mit der beobachteten Objektwelt selbst zu tun. Der Text von Borges vermittelt hier also offenbar eine epis-temologische Grundlagenreflexion. Er ist ein Text, der Wissenschaft, Philosophie und Wissen zum Gegenstand hat und der uns an einem fikti-ven Gegenentwurf zu unserer Welt die Voraussetzungen und die Relativi-tät unseres eigenen Denkens vor Augen führt. Das ist die ›Ernstebene‹ des Textes, die neben der artistischen Virtuosität und ironischen Abgründig-keit Bestand hat. Dennoch kann man aus dieser Ernstebene keine kohä-rente philosophische oder wissenschaftliche Position ableiten.

Dagegen spricht schon die grundlegende Widersprüchlichkeit des Textes, die wir gleich weiter beobachten können. Trotz des fehlenden Kausalitätsdenkens nämlich gibt es in Tlön zahllose Zweige der Wissen-schaft und Philosophie, und zwar gerade deshalb, weil man sich dessen bewusst ist, dass jede Wissenschaft und jede Philosophie (Borges scheint ______________________

25 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 435 (Anm. 19). – »Die Welt ist für sie nicht ein Zusam-mentreffen von Gegenständen im Raum, sondern eine heterogene Reihenfolge unabhängi-ger Handlungen. Sie ist sukzessiv, zeitlich, nicht räumlich.« (Borges, Fiktionen, S. 21 [Anm. 19])

26 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 436 (Anm. 19). – »Sie erfassen das Räumliche nicht als in der Zeit fortdauernd. Die Wahrnehmung eines Rauchgewölks am Horizont und danach der brennenden Steppe und danach der halberloschenen Zigarre, die den Brand verursach-te, wird als ein Beispiel von Gedankenassoziation gewertet.« (Borges, Fiktionen, S. 23 [Anm. 19])

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hier keinen terminologischen Unterschied zwischen beiden zu machen) unter dem Zeichen des »Als Ob«27 steht, also letztlich nicht nach Wahr-heitssuche strebt. »Los metafísicos de Tlön no buscan la verdad ni siquiera la verosimilitud: buscan el asombro. Juzgan que la metafísica es una rama de la literatura fantástica.«28 Weitere Bereiche des Tlönschen Geistesle-bens, die der Erzähler im Folgenden vorstellt, sind: der Streit um den Materialismus (illustriert durch die Anekdote von den neun Geldstücken), die Geometrie, die Literatur (es gibt keine individuelle Autorschaft, denn »se ha establecido que todas las obras son obra de un solo autor, que es intemporal y es anónimo«),29 die Rückwirkung des Idealismus auf die Realität (hrönir als verdoppelte verlorene Gegenstände – erneut greift der Text hier das Thema der Verdoppelung auf).

An den Text, der mit der Beschreibung von Tlön abbricht (und somit nicht wieder auf die Ebene des Erzählrahmens, also der durch die »con-junción de un espejo y de una enciclopedia« ausgelösten Suche des Ich-Erzählers, zurückkehrt), schließt sich ein auf das Jahr 1947 datierter Nach-trag (»Posdata de 1947«)30 an. Mittlerweile hat der Erzähler weitere In-formationen über die Entstehung der Fiktion von Tlön erhalten. Dem-nach gehe die Idee auf den Beginn des 17. Jahrhunderts zurück, als eine Geheimgesellschaft den Plan entwickelt habe, ein Land zu erfinden. Im Laufe der Jahrhunderte sei daraus die Idee entstanden, einen ganzen Pla-neten zu erfinden, zugleich aber diese Erfindung geheim zu halten. Einer der Urheber des Projekts sei der amerikanische Millionär Ezra Buckley gewesen, der mit dieser menschlichen Gegenschöpfung Gott, an den er nicht geglaubt habe, habe herausfordern wollen (»Buckley descree de Di-os, pero quiere demostrar al Dios no existente que los hombres mortales

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27 Borges zitiert den Titel von Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (Leipzig 1922) auf deutsch (Obras completas, Bd. I, S. 436 [Anm. 19]).

28 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 436 (Anm. 19). – »Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: Sie suchen das Erstaunen. Sie halten die Metaphysik für einen Zweig der phantastischen Literatur.« (Borges, Fiktionen, S. 23 [Anm. 19])

29 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 439 (Anm. 19). – »[…] man geht davon aus, daß alle Werke das Werk eines einzigen Autors sind, der zeit- und namenlos ist.« (Borges, Fiktionen, S. 27 [Anm. 19])

30 Ette, Literatur in Bewegung, S. 256 (Anm. 18), macht darauf aufmerksam, dass das auf 1947 datierte Nachwort eine Mystifikation ist, war es doch bereits im Erstdruck von Tlön (er-schienen im Mai 1940 in der Zeitschrift Sur) enthalten. Diese Mystifikation aber, so Ette, macht dem Leser des Erstdruckes, der die im Nachwort erwähnte Ausgabe der Zeitschrift Sur ja in Händen hält, deutlich, dass hier ein bewusstes Spiel mit den Grenzen zwischen Fiktion und Realität inszeniert wird (bzw., um es mit den von Ette verwendeten, von Gé-rard Genette stammenden Begriffen zu sagen: mit Fiktion und Diktion).

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son capaces de concebir un mundo.«).31 Im Jahr 1914 erscheint die erste Ausgabe der 40-bändigen Ersten Enzyklopädie von Tlön, die geheim bleibt und im Folgenden in eine der – natürlich ebenfalls erfundenen – Sprachen von Tlön übersetzt wird (diese übersetzte und erweiterte Fassung der Ersten Enzyklopädie von Tlön nennt sich Orbis Tertius). Danach berichtet der Erzähler von seltsamen Vorfällen, die man als Einbruch der imaginierten Welt in die reale interpretieren muss. So entdeckt man auf einem silbernen Kompass Buchstaben, die einem der Alphabete von Tlön entsprechen, oder jemand gelangt in den Besitz eines Metallkegels, der in Tlön als sak-raler Gegenstand gilt. Weitere Ereignisse (u.a. die Entdeckung der 40-bändigen Ersten Enzyklopädie von Tlön im Jahr 1944) deuten darauf hin, dass die erfundene Welt von Tlön die reale Welt nach und nach ersetzen wird. »El mundo será Tlön.«32

Der Übergriff der erfundenen Welt auf die reale ist nach der uns ge-läufigen Logik ein Ding der Unmöglichkeit. Die dafür ins Feld geführten Indizien werden aber von demselben Erzähler genannt, der uns zuvor die Differenz zwischen Wirklichkeit und Erfindung vor Augen geführt hatte. Und er distanziert sich auf keinerlei Weise von diesen Behauptungen. Dadurch wird aber die Opposition zwischen Tatsachenbericht (Geschich-te der Entdeckung des fiktiven Tlön durch Borges und Bioy Casares) und Fiktion (die Welt von Tlön) dekonstruiert, sodass man am Ende gar nicht mehr weiß, was man vom ursprünglich geglaubten Tatsachenbericht hal-ten soll. Ist auch er eine Erfindung? Der scheinbar authentische, ›wissen-schaftliche‹ Bericht erweist sich möglicherweise als das Résumé eines fik-tiven Buches, nicht eines realen Buches mit fiktivem Inhalt. Es handelt sich möglicherweise um die Simulation einer Simulation, die aussieht wie ein wissenschaftlicher Bericht. Borges generiert also einen literarischen Text, indem er so tut, als schriebe er einen quasi-wissenschaftlichen Tatsa-chenbericht. Unter der Hand und gegen die diskursiven Rahmenbedin-gungen entsteht bei ihm sozusagen die Literatur, es handelt sich um Anti-Literatur im modernen Sinn, eine Literatur, die sich parasitär in einen wissenschaftlichen Diskurs einzuschreiben scheint.

So, wie die erfundene Welt von Tlön im Konflikt mit der realen Welt steht, lässt sich in den Texten von Borges häufig ein konflikthaftes Ver-hältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen literarischem und wissenschaftlichem Schreiben beobachten. Das lehrt ein Blick auf Texte wie Pierre Menard, autor del Quijote, La Biblioteca de Babel oder Funes el memori-______________________

31 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 441 (Anm. 19). – »Buckley glaubt nicht an Gott, will aber dem nichtexistierenden Gott beweisen, daß die Sterblichen fähig sind, eine Welt auszuhe-cken.« (Borges, Fiktionen, S. 30 [Anm. 19])

32 Borges, Obras completas, Bd. I, S. 443 (Anm. 19). – »Die Welt wird Tlön sein.« (Borges, Fiktionen, S. 34 [Anm. 19])

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oso. Diese und viele andere seiner Texte sehen aus wie Tatsachenberichte, ja häufig wie wissenschaftliche Analysen oder Metatexte, die mit zahlrei-chen Authentizitätssignalen wie Fußnoten und Quellenangaben versehen sind. Ihre Schreibweise und ihre Gesamtstruktur lösen indes die Erwar-tungen, die man an wissenschaftliche Texte stellen darf, nicht ein.33 Viele der erwähnten Autoren und Quellen gibt es gar nicht, Zeitangaben sind falsch usw. Daneben enthalten die Texte aber auch korrekte bzw. ver-schobene, fiktionalisierte Informationen (man denke etwa an die partiellen Gemeinsamkeiten zwischen Pierre Menard und Paul Valéry).34 Die Frage ist also, wie man sich diesen Texten gegenüber verhalten soll/darf, wie man sie lesen kann.

Aus meiner Lektüre dürfte klar geworden sein, dass ich diese Texte als metapoetische und metaepistemologische Kommentare lese, welche die Selbstbehauptung der Literatur in einem von der Dominanz naturwissen-schaftlichen Denkens und von der Heterogenität unterschiedlichster Wis-senssysteme aufgrund einer Omnipräsenz des Archivs geprägten Zeitalter zum Thema haben. Die Literatur macht sich einerseits zum Medium wis-senschaftlich-epistemologischer Diskurse, aber auch historisch unter-schiedlicher Wissensordnungen (man denke an den Islam oder auch an Indien),35 sie simuliert diese Diskurse und stellt sie in ein polylogisches Verhältnis zueinander. Zugleich aber behauptet sie gegen diese fremden Diskurse ihre brüchig gewordene Identität, indem sie mit den Mitteln einer abgründigen Fiktionalisierung operiert, welche häufig auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen ist, aber dennoch als Generalverdacht über allem von Borges Geschriebenen steht. Die höchste und zugleich parado-xe Vollendung solcher Fiktionalisierung besteht nämlich genau darin, dass die Texte wie wissenschaftliche oder nicht-fiktionale Texte aussehen und man doch ständig den Verdacht hat, dass es sich um Fiktionen handelt.

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33 Vgl. hierzu Schlaffer, Borges, insbes. S. 82-99 (Anm. 17). 34 Zu Pierre Menard, autor del Quijote vgl. Christian Wehr, »Originalität und Reproduktion. Zur

Paradoxierung hermeneutischer und ästhetizistischer Textmodelle in Jorge Luis Borges’ Pi-erre Menard, autor del Quijote«, in: Romanistisches Jahrbuch 51 (2000) [=2001], S. 351-369. Wehr vertritt die These, dass der poetologische Gehalt von Pierre Menard auf énoncé-Ebene (viel-schichtige Intertextualität, offener Werkbegriff usw.) durch die ironisch-satirische énonciation(der Text als Persiflage literarischer Klatschkolumnen) gebrochen und damit relativiert werde. Solche Relativierung löscht indes m. E. nicht den Ernst-Charakter der auf énoncé-Ebene verhandelten Konzepte.

35 Zur Bedeutung von Indien im Werk von Borges vgl. Jörg Müller, Indische Religion und Philo-sophie im Werk von Jorge Luis Borges, Mannheim 2005 (unveröffentlichte Magisterarbeit).

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5. Schluss

Der Beitrag ging aus von der Luhmannschen These, wonach Kunst/ Literatur – wie andere gesellschaftliche Funktionsbereiche auch – um 1800 sich zu einem autonomen System ausdifferenziert und im Prozess der Selbstbeobachtung auch die Grenzen dieser Autonomie erkennt, näm-lich dass die eigenen Ansprüche und Maßstäbe nicht mehr gesamtgesell-schaftlich generalisierbar sind. Die einzelnen Funktionsbereiche haben sich auf je eine Funktion spezialisiert und können daher, so Luhmann, nicht wechselseitig füreinander einspringen. Vor diesem Hintergrund wurde auf die dazu im Widerspruch stehende Tatsache hingewiesen, dass in den Romanpoetiken von Balzac, Flaubert und Zola vehement für eine wechselseitige Angleichung von Literatur und Naturwissenschaft plädiert wird. Wenn Luhmanns Theorie stimmt, kann es eine solche Angleichung indes nicht geben. Um diesen Widerspruch zu interpretieren, wurde die Metaebene beobachtet, von der aus in der Gegenwart Naturwissenschaft und Literatur beschrieben und bewertet werden – anhand der Nobelpreis-Laudationes des Jahres 2004. Dabei ergab sich, dass zwar sowohl einer physikalischen Theorie als auch einem literarischen Werk bescheinigt wer-den kann, sie förderten die Erkenntnis, dass im Falle der Literatur jedoch nicht die Erkenntnisleistung dominant gesetzt wird, sondern die sprachli-che Form. Wenn Literatur und Wissenschaft zwar durchaus im Sinne Luhmanns funktional ausdifferenzierte Bereiche sind, es aber in der Hö-henkammliteratur seit etwa 200 Jahren immer wieder zu Öffnungen und Grenzüberschreitungen von Literatur in Richtung Wissenschaft gekom-men ist, so wurde hiervon ausgehend die These formuliert, dass solche Grenzüberschreitungen in Extrembeispielen die Identität der Literatur gefährden können, worauf diese reagieren kann, indem sie das konflikthaf-te Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft durch Paradoxierung sichtbar macht. Diese These wurde abschließend anhand einer Analyse von Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius illustriert.

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II. Die Generierung von Wissen durch literarische Texte.

Zwei Fallbeispiele aus dem 19. Jahrhundert

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WEERTJE WILLMS

Wissen um Wahn und Schizophrenie bei Nikolaj Gogol’1 und Georg Büchner.

Vergleichende Textanalyse von Zapiski sumasšedšego(Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) und Lenz

1. Einleitung

»Die Schilderung des menschlichen Seelenlebens ist ja [des Dichters] ei-gentlichste Domäne; er war jederzeit der Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie.« So schrieb Freud in Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹ (1999: 70) und lieferte damit ein prominentes Beispiel dafür, dass führende Psychiater und Psychoanalyti-ker die fiktionale Literatur als eine fruchtbare Quelle für ihre medizini-schen und psychologischen Forschungen aufgefasst haben und bis heute auffassen. Umgekehrt zeugt die große Anzahl psychisch gestörter Men-schen und die Auseinandersetzung mit psychischen Leiden und Konflik-ten, ihren Ursachen und Folgen in der Weltliteratur2 davon, dass die Lite-ratur sich seit langer Zeit mit psychischen oder auch psychiatrischen Fragestellungen befasst. Die Beschäftigung mit der menschlichen Psyche ist ein anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen und somit der Literatur. Die mit diesem Thema verknüpften Normen und Werte, die Fragen danach, was gesund und was krank sei, wie Gesundheit und Krankheit zu bewerten seien usw., unterliegen dagegen dem historischen Wandel. Es sind hier zwei Diskurse aufeinander bezogen – Literatur und Psychiatrie –, die im heutigen Verständnis zu zwei verschiedenen sozialen Systemen gehören, im Laufe der Geschichte indes von ihren jeweiligen

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1 Zu Beginn ein Hinweis für Nicht-Slavisten, um mögliche Irritationen zu vermeiden: Der Apostroph hinter dem Namen Gogol’ ist das lateinische Transkriptionszeichen für das kyril-lische Weichheitszeichen ( ). Die Form Gogol’s ist also kein Verstoß gegen die deutsche Rechtschreibung, weil der Apostroph hier nicht den Genitiv markiert.

2 Man denke nur an so prominente Beispiele wie Shakespeares Ophelia in Hamlet, Goethes Werther, E. T. A. Hoffmanns Elixiere des Teufels.

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Weertje Willms 90

Vertretern unterschiedlich stark voneinander getrennt oder aufeinander bezogen wurden.

In der vorliegenden Untersuchung möchte ich anhand einer verglei-chenden Textanalyse zweier Erzählungen, in denen auf besonders ein-drucksvolle und umfassende Weise psychotische Erkrankungen dargestellt werden, nämlich Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) von Nikolaj Gogol’ (1809-1852) und Lenz von Georg Büchner (1813-1837), der Frage nachgehen, welche Form des Austauschs zwischen den beiden Diskurssystemen Literatur und Psychiatrie sich in diesen beiden Texten manifestiert. Wie und warum finden Anleihen zwischen den Diskurssys-temen statt, wie sind die Texte historisch in die Entwicklung der Diskurse und der Gesellschaft eingebunden (Kapitel 2)? Welches spezifische Wis-sen generiert die Literatur durch die Adaptation des fremden Diskurssys-tems und welche spezifischen Formen und Schreibweisen wählen die Texte, um das fremde Diskurssystem fruchtbar zu machen (Kapitel 3)? Welche Anliegen formulieren die literarischen Texte mit der Darstellung der Krankheit (Kapitel 4)?

2. Die Austauschbeziehungen zwischen den Diskurssystemen Literatur und Psychiatrie

Die Austauschbeziehung zwischen den Diskurssystemen Literatur und Psychiatrie kann in zwei Richtungen gehen: von der Psychiatrie zur Litera-tur und, in umgekehrter Richtung, von der Literatur zur Psychiatrie. In-wieweit zwei Diskurssysteme miteinander kooperieren, hängt von vielen Faktoren ab – zum Beispiel von den jeweiligen Vertretern der Systeme, dem zu einem historischen Zeitpunkt herrschenden Wissenschaftsver-ständnis und auch von den Entwicklungen in den anderen Diskurssträn-gen der Gesellschaft. Dass ein Transfer von einem Wissenschaftsdiskurs hin zur Literatur stattfindet, ist der auf den ersten Blick nachvollziehbare-re, da leichter nachweisbare Fall; es gibt indes auch zahlreiche Hinweise in der Geschichte der Literatur und des Wissens darauf, dass sich ein Trans-fer von der Literatur in andere Wissenssysteme vollzogen hat. Beide Rich-tungen möchte ich im Folgenden anhand meiner Beispieltexte skizzieren.

2.1 Von der Psychiatrie zur Literatur

Die Entwicklung der Psychiatrie als klinischer Wissenschaft und Therapie begann in Russland im 18. Jahrhundert unter Katharina II. mit der Öff-nung des Landes nach Westen. Sie verlief von Anfang an in allen Berei-

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chen – Theorie, Organisation der Krankenversorgung, Behandlung – ähnlich wie die Entwicklung in Deutschland, da Russland dieses Wissens-system aus Deutschland, als dem lange Zeit führenden Land in dieser Disziplin, übernahm, bevor es dann ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Ausbildung einer eigenständigen Tradition kam.3 Daher können die in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert jeweils herrschenden theoreti-schen Ansichten über psychische Krankheiten weitgehend, wenn auch mit leichten Zeitverschiebungen, auf die russischen Verhältnisse übertragen werden.

Aus einer Selbstaussage Gogol’s wissen wir, dass dieser nie einen Text eines wahnsinnigen Menschen gelesen hat (Pursglove 1997: 9); ob er die psychiatrischen Fachbücher seiner Zeit rezipiert hat, ist dagegen nicht bekannt. Für die Wahnsinns-Darstellung seiner Erzählung hätten diese ihm indes auch nur wenig helfen können, da es zu der Zeit, als die Zapiskierschienen, nämlich 1834, noch keine geschlossene Beschreibung, Defini-tion und Kategorisierung von Geisteskrankheiten gab. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fanden sich in den psychiatrischen Fachbüchern nur vereinzelte Beschreibungen von Geisteskrankheiten, daneben theoretische Überlegungen zu den Ursachen und zur Organisation der Krankenversor-gung. Erste vereinzelte Beobachtungen zur Schizophrenie, der Krankheit also, welche sowohl bei Gogol’ als auch bei Büchner dargestellt wird, wurden 1809 von Philippe Pinel in Frankreich und John Haslam in Eng-land niedergeschrieben, die Systematisierung der Schizophrenie erfolgte aber erst viel später, nämlich 1896 durch Ernst Kraepelin. Dies hängt zum einen mit der wissenschaftlichen Entwicklung der Fachdisziplin Psychia-trie zusammen, ist zum anderen aber sicher auch dem Umstand geschul-det, dass die diagnostizierten Schizophrenie-Erkrankungen seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts stark zugenommen hatten (vgl. Shorter 1999: 83 f.).

Parallel zu der Ausbildung der Psychiatrie als Fachdisziplin und den damit einhergehenden Überlegungen, Theorien und Publikationen seit ca. 1800 war das allgemeine Thema ›Wahnsinn‹ auch in der Literatur in Russ-land und in Deutschland in den drei Jahrzehnten vor dem Erscheinen der beiden Texte – 1834 (Gogol’) bzw. 1839 (Büchner) – von großer Bedeu-tung. Doch in den Texten der Romantik galt der Wahnsinn als etwas Posi-tives, er war eine Metapher für den außergewöhnlichen, kreativ-künstlerischen Menschen, der in der Gesellschaft der ›normalen‹ Bürger ______________________

3 So waren die ersten Psychiater in Russland Deutsche, die russischen Ärzte, die seit den 1830er Jahren tätig waren, absolvierten immer noch zumindest einen Teil ihrer Ausbildung im deutschen Ausland (Decker 2002: 103 f.; 1998: 71 f.). Alle Informationen zur Psychia-triegeschichte in Russland stammen von Natalja Decker, vgl. besonders Decker (1998) und (2002).

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keinen Platz findet. Die Wahnsinns-Darstellungen in den Zapiski und in Lenz sind mit denen der Romantiker indes nicht mehr zu vergleichen. Hier ist der Wahnsinn nicht mehr Metapher für etwas Positives, sondern er ist ein Leiden, eine Krankheit, an der die Protagonisten in letzter Konse-quenz zugrunde gehen.4

Anders als im Falle Gogol’s wissen wir von Georg Büchner, dessen Vater Arzt war und der selbst Medizin studierte, dass er sich für medizini-sche und psychiatrische Fragen interessierte und entsprechende Publikati-onen zur Kenntnis nahm. So ist zum Beispiel bekannt, dass Büchner das medizinische Gutachten über den Mörder Johann Christian Woyzeck las, welches der Mediziner Johann Clarus (1789-1869) 1825 veröffentlichen ließ und in welchem dieser sich mit der Frage der Zurechnungsfähigkeit des Delinquenten auseinandersetzte (Büchner 1983: 392 f.). Wie in ande-ren psychiatrischen Schriften aus dieser Zeit auch, wurden die zum Krankheitsbild der Psychiatrie gehörenden Merkmale nur vereinzelt ge-nannt und waren nicht die eigentliche Stoßrichtung dieser Publikationen, sondern es war die Einstellung zur Krankheit und zum Kranken durch die anderen Mitglieder der Gesellschaft, welche den eigentlichen Schwerpunkt dieser Texte bildete. Dennoch lässt sich anhand von Clarus’ Gutachten nachweisen, dass es in der Gesellschaft der 1830er Jahre ein implizites und punktuelles Wissen um die Schizophrenie und ihre Symptome gegeben hat.

Es kann festgehalten werden, dass psychiatrisches Wissen im heutigen Sinn in nur geringem Maße in die hier vorliegenden literarischen Texte eingegangen sein kann, da es noch kaum und nicht systematisch vorlag, und dass stattdessen zeitgenössische medizinisch-philosophische Theo-rien, die sich mit der Bewertung von Krankheit und Gesundheit auseinan-______________________

4 Vom Wahnsinn als positiver Entität des Wissens spricht Foucault (121996), wenn er in der Geschichte des Wahnsinns um 1800 eine Veränderung in dessen Bewertung diagnostiziert. Nachdem der Wahnsinn im klassisch-rationalistischen Zeitalter als Verneinung von Ver-nunft und Ordnung und somit als ein negatives Phänomen wahrgenommen worden sei, sei man am Übergang zum 19. Jahrhundert von ihm als einer rätselhaften Größe fasziniert gewesen. – Wie sich im Schaffen Gogol’s der Übergang von der Romantik zum Realismus bzw. zur Natürlichen Schule (Natural’naja škola) vollzieht, zeigt sich u.a. daran, dass seine Erzählung ursprünglich unter dem Titel Zapiski sumasšedšego muzykanta (Aufzeichnungen eines wahnsinnigen Musikanten) erscheinen sollte und damit in einer Reihe mit den Erzählungen gestanden hätte, in denen es um wahnsinnige (romantische) Künstler geht (Portret und Nevskij Prospekt), während in der endgültigen Fassung des Textes der Protagonist ein einfa-cher Beamter ist (Pursglove 1997: 5). Aus einer 1835 erschienenen Rezension des wichtigs-ten zeitgenössischen Literaturkritikers, Vissarion Belinskij, geht denn auch hervor, dass Gogol’s Text, zumindest nach Belinskijs Einschätzung, nicht als romantische Wahnsinns-darstellung aufgefasst wurde, sondern unter anderem als »Geschichte einer psychischen Krankheit in poetischer Form« / » ,

« (Belinskij 1953: 297). Indem die Literatur den Wahnsinn als Krank-heit darstellt, nähert sie sich dem Diskurs der Psychiatrie an.

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dersetzen, den Hintergrund dieser Erzählungen bilden (diesen Punkt wer-de ich in Kapitel 3 aufgreifen).

Wenn in den hier zu untersuchenden Texten besonders umfassende und eindrückliche Krankheitsschilderungen von Schizophrenie vorliegen, diese aber, wie eben gezeigt, wegen mangelnder Fachkenntnisse auf die-sem Gebiet kaum von dem Wissenssystem Psychiatrie zum Wissenssys-tem Literatur ›gewandert‹ sein können, so liegt der Schluss nahe, dass die Literatur hier unabhängig von der Psychiatrie psychiatrisches Wissen gene-riert hat. Dass das System Literatur ›Wissen‹ im Sinne von Bewusstseins-zuständen oder Formen des Denkens und Fühlens hervorbringt und in die anderen Systeme und die Gesellschaft als Ganzes einspeist, ist leicht vorstellbar. Betrachtet man aber die Reaktionen von Psychiatern auf den inzwischen so bekannten Text Büchners, so liegt hier Wissen in sehr viel konkreterer Weise vor: Heute wird Lenz in der Psychiatrie stets als die erste geschlossene und umfassende Schizophrenie-Studie bezeichnet, als ein literarischer Text also, in dem psychiatrisches Wissen vorweggenom-men und auf ein bis dahin unbekanntes Prägnanzniveau gebracht wird.5

Zwar ist mir nicht bekannt, dass Gogol’s Erzählung in der russischen Psychiatrie in ähnlicher Weise rezipiert wurde, aber angesichts dessen, was wir von der Entwicklung der Psychiatrie in Russland und der Literaturge-schichte wissen, scheint es so zu sein, dass die Zapiski einen ähnlichen Fall darstellen wie Lenz.

Psychiatrisches Wissen wird in den beiden Texten gleich auf dreierlei Weise entwickelt, und in allen drei Fällen handelt es sich um Vorwegnah-men:

Die Darstellung der Krankheits-Symptome: Zwar gibt es die Erkran-kung an Schizophrenie und anderen Psychosen seit jeher, diese Krankhei-ten sind jedoch vor Gogol’ und Büchner niemals so vollständig mit allen ihren Symptomen dargelegt worden.

Die Art und Weise, eine Krankheit zu beschreiben: In den ersten psy-chiatrischen Lehrbüchern wurden neben der Auseinandersetzung mit den Begriffen ›gesund‹ und ›krank‹ sowie mit der Organisation der Kranken-versorgung lediglich einzelne Symptome einer Krankheit genannt. In den Erzählungen von Gogol’ und Büchner dagegen wird der Dreischritt vor-genommen, der später allen kasuistischen Krankheitsbeschreibungen zugrunde liegen wird: Beschreibung der Symptome – Frage nach den Ur-sachen – Prognose der Krankheit und ihres Verlaufs. Für den Text Büch-ners gilt außerdem noch:

Die Einstellung zum Kranken: Waren in der Zeit vor dem Erscheinen des Lenz die Theorien der ›Psychiker‹ vorherrschend, welche in dem Kran-______________________

5 Z.B. Müller-Holthusen (1997: 597); Wyrsch (1982: 302); Irle (1965: 82).

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ken einen moralisch Schuldigen sahen, so exkulpiert Büchner seinen Hel-den und tritt ihm mit der Haltung mitleidiger Einfühlung entgegen. Diese Einstellung gegenüber den Kranken setzt sich ab den 1840er Jahren zu-nehmend durch.6

2.2 Von der Literatur zur Psychiatrie

Die hier vorliegenden Texte scheinen zwar zwei besonders herausragende Beispiele dafür zu sein, dass und wie psychiatrisches Wissen in der Litera-tur vorweggenommen wird. Die Geschichte der Psychiatrie und die Äuße-rungen ihrer führenden Vertreter machen indes deutlich, dass die Literatur schon immer auf besondere Weise psychiatrisch relevantes Wissen formu-liert und ein Wissenstransfer von der Literatur zur Psychiatrie immer schon stattgefunden hat. In dem eingangs zitierten Text von Freud heißt es weiter: »So kann der Dichter dem Psychiater, der Psychiater dem Dich-ter nicht ausweichen, und die poetische Behandlung eines psychiatrischen Themas darf ohne Einbuße an Schönheit korrekt ausfallen.« (1999: 70). Diese Überzeugung indes unterliegt dem historischen Wandel: War es nämlich für die Ärzte der Goethezeit, die sich mit Geisteskrankheiten beschäftigten, noch gang und gäbe, sich in ihren Darstellungen auf die Literatur zu beziehen und literarisches Beispielmaterial zu zitieren (vgl. Anz 1989: 13), so ändert sich diese Praxis in der Zeit des Erscheinens der vorliegenden Texte grundlegend. Das Zeitalter des Positivismus bricht heran, und die Naturwissenschaften werden zum Leitparadigma. Die Ver-treter der psychiatrischen Wissenschaften – sie gehören nun zunehmend der Schule der ›Somatiker‹ an – lehnen alle Formen von Krankheitsdarstel-lungen ab, welche die Literatur in erster Linie hervorbringen kann: die Beschreibung der Symptome, die Frage nach den psychogenetischen Ur-sachen, die Verletzung von gewünschten oder geforderten Normen durch den Kranken und sein Konflikt mit den anderen Mitgliedern der Gesell-

______________________

6 Mit den ›Psychikern‹ und ›Somatikern‹ sind die Vertreter der beiden Richtungen der Psy-chiatrie benannt, welche im 19. Jahrhundert um die Vorherrschaft in der Theoriebildung stritten. Die ›Psychiker‹, welche während des Zeitraumes der Romantik wortführend waren, sehen den Sitz der Geisteskrankheit in der Seele, die Krankheitsursachen gelten als in letz-ter Konsequenz moralischer Natur. Das heißt: Der Kranke hat sich eines gesellschaftlichen Normverstoßes schuldig gemacht, was zur Folge hat, dass die Geisteskrankheit als Strafe Gottes Besitz über ihn ergriffen hat. Die ›Somatiker‹ setzen sich in Deutschland seit den späten 1830er Jahren, in Russland etwa zehn Jahre später, zunehmend durch. Sie führen Geisteskrankheiten allein auf körperliche Defekte zurück. Dies hat zwar den positiven Ef-fekt, dass die Geisteskranken wirklich als Kranke anerkannt und nicht als Schuldige ver-dammt werden, es führt jedoch auf der anderen Seite zu einer Vernachlässigung der psy-chischen Symptome. (Vgl. Anz 1989: 1-52; Shorter 1999: 54 f.; Decker 2002: 105)

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schaft u.ä. Die ›Somatiker‹ engen ihren Blickwinkel streng auf die natur-wissenschaftlich-körperlichen Aspekte der Geisteskrankheit ein, wie Ana-tomie und Nervenpathologie. Die zur Zeit Büchners vorherrschende Psy-chiatrie nahm folglich auch Lenz nicht als Wissensquelle zur Kenntnis, sondern grenzte die beiden Diskurs- und Wissenssysteme scharf vonein-ander ab. Heute äußern manche Psychiater die Überzeugung, dass die Entwicklung der Psychiatrie schneller vorangekommen wäre, wenn sie sich weiterhin der Literatur als Erkenntnisquelle bedient und Büchners Text rezipiert hätte: »Sind es müßige Kalkulationen, wenn man sich vor-zustellen sucht, wie viel rascher die Psychiatrie vorangekommen wäre, falls einer ihrer Großen im vorigen Jahrhundert auf dieses geschlossene Bild einer Krankheitseinheit gestoßen wäre?« (Irle 1965: 82).

3. Das Wissen der Literatur: Literarische Schreibweisen als Quellen psychiatrischen Wissens

Betrachtet man die Inhaltsebene der beiden Erzählungen – in erster Linie die Symptome der Krankheit – so kann man sagen, dass hier psychiatri-sches Wissen formuliert wird, das in der Psychiatrie unabhängig von den literarischen Texten und erst zu einem späteren Zeitpunkt erarbeitet und niedergeschrieben wurde. Betrachtet man aber die Ebene der Erzählweisen,so kann sogar behauptet werden, dass hier die Literatur mit den nur ihr eigenen Mitteln spezifisches Wissen generiert. Beide Ebenen möchte ich im Folgenden betrachten.

3.1 Die Inhaltsebene der Zapiski sumasšedšego(Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen)

Bei den Zapiski handelt es sich um die Tagebuchaufzeichnungen eines Titularrates namens Popryš in, welche einen Zeitraum von etwa drei bis vier Monaten umfassen. Der Ich-Erzähler und Protagonist ist zu Beginn des Textes noch nicht vollständig wahnsinnig, zeigt aber bereits viele Symptome einer psychotischen Störung, welche sich während des Text-verlaufs zu einer manifesten Psychose7 entwickelt, die ihn dann endgültig aus der Gemeinschaft der anderen Menschen ausschließt. ______________________

7 Psychose oder psychotische Störung bedeutet allgemein »Geisteskrankheit«. Die wichtigste Psychose-Form ist die Schizophrenie. Ihre Leitsymptome sind formale und inhaltliche Denkstörungen mit Halluzinationen und Wahn, daneben vollziehen sich Affektverfla-chung, soziale, berufliche und persönliche Beeinträchtigungen und Vernachlässigungen u.a.m. Als wahnhafte Störung bezeichnet man Krankheiten, die durch die Entwicklung einer

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Als Beamter, der auf seiner Dienststelle dafür zuständig ist, dem Di-rektor die Federn zu spitzen, ist Popryš in zwar in ein soziales Gefüge und einen Dienstablauf integriert, es wird jedoch von Anfang an deutlich, dass er sozial inkompetent ist und seine Funktions- und Anpassungsfähigkeit gestört sind. In zahlreichen Eintragungen zeigt sich eine ausgeprägte Le-thargie (was sich in der häufig wiederholten Wendung »Lag danach die meiste Zeit auf dem Bett.« [180] / »Bol’šeju astiju ležal na krovate.« / » .« [201] ausdrückt) sowie Tenden-zen zur sozialen Desintegration bzw. zur Isolation: So geht er zu spät auf das Amt (170/193) oder entscheidet, gar nicht zur Arbeit zu gehen, weil ihn »verschiedene Gründe und Erwägungen« (»raznye pri iny i razmyšlenija« / » « [189/207]) davon abhalten, er ist ohne soziale Kontakte, und er sondert sich dezidiert von anderen Menschen ab. Popryš ins soziale Isolation und Inkompetenz kann man als psychotisch interpretieren, denn indem er den Austausch mit den anderen Menschen vermeidet, vermeidet er auch den Abgleich mit der Realität und der Realitätswahrnehmung durch die anderen Men-schen. So scheint die Verkennung der Realität als ein weiteres Wahnmerkmal des Protagonisten nur punktuell aus dessen Aufzeichnungen hervor, vor allem dann, wenn er die Aussagen anderer Personen zitiert. Die Kritik und das Verhalten seines Vorgesetzten interpretiert er beispielsweise als Neid gegenüber den angeblichen Wohlwollensbekundungen des Direktors, die aber, wie wir aus den Schilderungen interpretieren können, gar nicht statt-finden (176/198). Popryš in notiert auch, dass er Dinge sehe und höre, die außer ihm niemand anderes wahrnehme (173/196), und meint damit vor allem den Briefwechsel zweier Hunde, aus dem er verborgene Infor-mationen über die Realität zu erfahren meint. Dass der Abgleich mit ande-ren Menschen nicht (mehr) funktioniert und Popryš in sich in soziale Isolation begibt, ist mit einer weiteren Wahnstruktur verbunden, nämlich seinem Größenwahn – denn nur, wenn Popryš in alleine ist, kann er der Größte sein. Der Erzähler hält sich von Anfang an für etwas Besseres (für einen adeligen, vornehmen, besonders gebildeten und kultivierten Men-schen [z.B. 179/200]), und mit der pathologischen Aufwertung seiner ______________________

einzelnen Wahnidee oder eines Wahnzustandes charakterisiert sind, die sich auf einen Be-reich beziehen, ohne die gesamte Persönlichkeit des Patienten zu erfassen. Der Patient entwickelt dabei keine Denkstörungen und erreicht nicht denselben Zustand von geistiger Zerrüttung wie bei der Psychose. Eine wichtige Unterscheidung wird zwischen Psychose und Neurose getroffen. Während das Risiko, an einer Psychose zu erkranken, wesentlich gene-tisch determiniert ist (Maier 2007: 377) und das geistige Funktionieren des Psychotikers derart beeinträchtigt ist, dass der Patient die Welt auf eklatante Weise verkennt, liegt der Neurose eine Fehlverarbeitung von auf Konflikten beruhenden Erlebnissen zugrunde. Er-leben und Verhalten sind bei neurotisch Erkrankten gestört, haben aber nicht vollkommen ausgesetzt.

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selbst geht eine Abwertung aller anderen Menschen einher. Diese Art pathologischen Selbstbewusstseins ist ein sehr typisches Merkmal für eine Wahnstörung, in dem wiederum zum Ausdruck kommt, wie der Abgleich mit der Realität außer Kraft gesetzt wird: das eigene Selbst wird nicht an der Realität gemessen. Kompensiert der Größenwahn zunächst noch Minderwertigkeitskomplexe (denn Popryš in ist ja anfangs durchaus in der Lage, die negativen Reaktionen der Menschen um ihn herum wahrzuneh-men und auf seinen Status als Beamter einer unteren Rangstufe und Fe-derspitzer, mittellos und überaus hässlich, zu beziehen), so setzt dann später die Realitätswahrnehmung völlig aus und Popryš in imaginiert sich als den König von Spanien. Als eine Form und Begleiterscheinung des Größenwahns manifestiert sich Popryš ins Beziehungswahn: Alles, was um ihn herum geschieht, bezieht er auf sich – sei es der Gestank auf der Stra-ße (179/200) oder der angebliche Neid der anderen Menschen auf ihn (und aus den Bemerkungen oben wird deutlich, wie absurd dieser Gedan-ke ist). Die egomanischen Vorstellungen kulminieren in einem Verfolgungs-wahn, der sich sowohl auf private Vorgänge bezieht (so meint er z.B., die Abneigung der Tochter des Direktors, Sophie, ihm gegenüber sei eine Intrige seines Abteilungsleiters [186/205]) als auch auf politischer Ebene abspielt. Das eigene Überlegenheits- und Verachtungsgefühl wird hier auf andere projiziert, sodass sich der Kranke dann von den anderen verfolgt fühlt. Imaginiert Popryš in zunächst noch die Zuneigung Sophies und anderer Frauen und äußert damit einen leichten Liebeswahn, so verschlim-mern sich seine Wahnzustände in dem Moment, als er erfährt, dass Sophie einen Kammerjunker heiraten will, derart, dass er nicht mehr in der Lage ist, in der ihn umgebenden Realität zu funktionieren. Sein Geist verwirrt sich (was sich zum Beispiel darin zeigt, dass die Tagebuchdaten phanta-siert werden [z.B. »43. April 2000«, 189 / »God 2000 aprelja 43 isla«, » 2000 43 «, 207] und er verworrene Dinge nieder-schreibt [z.B., dass der Wind das Gehirn vom Kaspischen Meer hertrage, 190/208]), er geht gar nicht mehr zur Arbeit und er imaginiert sich eine neue, statushöhere Identität, nämlich die des Königs von Spanien. Befindet sich Popryš in anfänglich noch in einem Zustand zwischen Wahn und Erkenntnis, verliert er die Wirklichkeitsbezüge mehr und mehr, bis er in ein Irrenhaus gebracht wird. Dieses kann er indes gar nicht mehr als sol-ches identifizieren. Die Loslösung von der räumlichen und zeitlichen Rea-lität sowie der eigenen Identität schreitet bei Popryš in immer weiter fort, bis sie in einer schizophrenen Psychose und in totaler geistiger Umnach-tung kulminiert. Vergleicht man die Liste der Wahnzustände Popryš ins mit den heute gültigen Definitionen (z.B. in Andreasen/Black 1993: 141

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f.), so sind fast alle Kriterien erfüllt, um Popryš in eine Wahnstörung und am Ende eine Schizophrenie zu attestieren.8

3.2 Die Inhaltsebene in Lenz im Vergleich zu den Zapiski

In Bezug auf den Protagonisten Lenz der gleichnamigen Erzählung von Georg Büchner wird von Seiten literarisch interessierter Psychiater immer wieder festgehalten, dass es sich hier um eine nach heutigen Kriterien lehrbuchmäßige Darstellung einer Schizophrenie handelt: »Der runde und geschlossene Entwurf des Krankheitsbildes einer Schizophrenie könnte ebensogut heute wie vor 125 Jahren aufgezeichnet sein«, schreibt Irle (1965: 82). Auch in diesem Text wird ein Fortschreiten der Krankheit nachvollzogen, welche sich immer mehr verschlimmert und im Abtrans-port des Kranken in die Irrenanstalt endet. Anders als bei Popryš in be-steht das Überhandnehmen der Krankheit indes nicht darin, dass sich verschiedene Wahnzustände verstärken und der Kranke sich in einer schi-zophrenen Neu-Identität und Geistesverwirrung verliert, sondern bei Lenz äußert sich die Krankheit in psychotischen Anfällen oder Schüben, nach deren Abklingen der Kranke wieder vernünftig und gefestigt ist. Zu Beginn der Erzählung kommt der bereits erkrankte Lenz zu einem Pfarrer namens Oberlin in ein abgeschiedenes Tal im Elsass, was ihm zunächst Linderung verschafft. Nachdem der Pfarrer ihn wegen einer Reise verlas-sen muss, beginnen die Anfälle sich zu häufen und in immer kürzeren Abständen und immer heftiger aufzutreten, bis Lenz am Ende nicht mehr aus der psychotischen Welt herausfindet. Beide Erzählungen zeichnen einen kontinuierlichen Krankheitsverlauf, der im finalen geistigen und emotionalen Zusammenbruch endet.

Es zeigt sich von Beginn an, dass Lenz eine gestörte Wahrnehmung hat; diese manifestiert sich jedoch nicht – wie bei Popryš in – in erster Linie in der wahnhaften Fehlinterpretation von Vorgängen und Verhaltensweisen, sondern in einer physiologisch – optisch und akustisch – verzerrten Wahrnehmung der Außenwelt. Als Folge hiervon funktioniert die Ich-Verortung nicht mehr. Bereits während des ersten Anfalls, der auf Lenzens Wanderung durch das Gebirge ins elsässische Steintal stattfindet, präsen-tiert sich die Außenwelt durch die gestörte Wahrnehmung gefiltert. Natur-erscheinungen wie Nebel und beginnende Dämmerung – welche also die ______________________

8 Während die Schizophrenieerkrankung in Lenz so exakt und vollständig dargestellt wird, dass nur diese eine Diagnose möglich ist, ließe die Krankheitsbeschreibung in den Zapiskiwegen der weniger ausgeprägten Darstellung der formalen Denkstörungen sowie aufgrund ihres progressiven Verlaufs neben der Diagnose Schizophrenie auch die einer progressiven Paralyse (Gehirnsyphilis) zu.

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Außenwelt verdunkeln, undurchsichtig machen – oder starkes Sonnen-licht, welches die Objekte in grelles, überscharfes Licht taucht – bewirken ein Verschwimmen der Konturen zwischen dem Selbst des Wahrnehmen-den und der Außenwelt: »er dehnte sich aus […]; die Erde wich unter ihm« (Lenz, 69 f.). Die Trennung der eigenen Körper- und Geistesgrenzen von der Außenwelt, die Ich-Verortung und die Identität sind bei Lenz ge-stört, und er versucht immer wieder, »zu sich« zu finden, indem er künst-lich Außenreize herstellt (Schmerzen, Geräusche, kaltes Wasser usw.) oder den Abgleich mit anderen Menschen sucht. Besonders der Blick in die ruhigen Augen des stabilen Pfarrers Oberlin macht es Lenz möglich, die Grenze zwischen dem Selbst und den Objekten wiederherzustellen. Trotz anfänglicher Heilung schreitet die Dissoziation des eigenen Selbst den-noch mit den wiederkehrenden Anfällen weiter fort (»er war sich selbst ein Traum […] er konnte sich nicht mehr finden«, 71), bis sie in Ich-Spaltung (»es war als sei er doppelt«, 87) und totaler Identitätsverwirrung mündet. Ein wichtiges Schizophrenie-Merkmal sind Lenzens Halluzinationen: Ne-ben den bekannten akustischen Halluzinationen des Stimmen-Hörens (»und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme mit ihm gesprochen«, 86) wird Lenz auch von Leib-Halluzinationen bedrängt: »Jetzt ist es mir so eng, so eng, sehn Sie, es ist mir manchmal, als stieß’ ich mit den Händen an den Himmel; o ich ersticke!« (81). Die zunehmende Erkrankung führt zu einer fortschreitenden Störung der Affekte, besonders zu einer Affektver-flachung. Zunächst quälen Lenz Gefühle von Einsamkeit, unbestimmter Angst und Unruhe. Diese Zustände von psychotischer Angst (vor unbe-stimmten Gefahren), depressiver Stimmung (Gefühle von Einsamkeit, Ungewissheit, Leere) und Unruhe wechseln mit Gefühlen der totalen Gleichgültigkeit, welche die psychosetypische emotionale Entleerung und Versteinerung ankündigt, und dem »Danebenliegen« der Affekte: »es fass-te ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren« (70), »er versuchte alles, aber kalt, kalt« (72), »da lachte er« (84). Zunächst beruhi-gen Lenz, wie bereits gesagt, die Gemeinschaft mit anderen Menschen und der Abgleich mit ihnen angesichts der quälenden Empfindungen, doch mit fortschreitender Erkrankung hilft ihm nichts mehr. Die Halluzi-nationen werden immer bedrängender, das geistige Funktionieren setzt aus, die Identität verwirrt sich völlig, Wahrnehmung und Emotionen funktionieren nicht mehr, und Lenz gebärdet sich mit den typischen Schi-zophrenie-Merkmalen des späten Stadiums, wie Fratzenschneiden und Erstarrung der Augen (86). Der Protagonist kommt nicht mehr in die Wirklichkeit zurück, sondern endet, wie der letzte Satz deutlich macht, im finalen Stupor und totalen Ausgebranntsein: »es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin« (89). Büchner zeichnet das

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Bild einer fortschreitenden Schizophrenie mit ihren immer häufiger und heftiger werdenden Anfällen und dem endgültigen Zusammenbruch. Der Krankheitsverlauf in Gogol’s Text gestaltet sich insofern anders, als sein Held Popryš in trotz seiner diversen Wahnstörungen sehr viel länger in der Gesellschaft ›funktioniert‹, bevor seine geistige und Identitätsverwir-rung so manifest werden, dass er in die Irrenanstalt abtransportiert wird. Mit Popryš ins Ankunft und mit Lenzens Abtransport enden die beiden Texte.

3.3 Die Ebene der Erzähltechnik in Lenz

Obwohl die Krankheitssymptome in den beiden Erzählungen sich in vie-len Punkten ähneln, hinterlassen die beiden Figuren beim Rezipienten einen völlig anderen Eindruck. Kurz gesagt zwingt uns die Darstellung Lenzens zu Mitfühlen und Mitleid mit dem Kranken, während uns dieje-nige Popryš ins abstößt. Dieser Effekt ist eine Folge der unterschiedlichen Erzähltechnik der beiden Texte und gleichzeitig die besondere Leistung der literarischen Darstellung in Bezug auf die Krankheitsschilderung.

Betrachten wir den Beginn von Lenz, wo der erste Anfall und dessen Abklingen geschildert werden: »Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. […] Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts.« (69) – Der Erzähler dieses Textes ist ein heterodiegetischer Erzähler, ein Er-Erzähler, der nicht Teil der erzählten Welt ist, sondern, außerhalb die-ser stehend, die Ereignisse des kranken Lenz und der mit ihm in Kontakt stehenden Personen in allwissender Weise berichtet. Durch das Vorhan-densein einer fremden Erzählerstimme existiert ein Korrektiv, welches zum einen die Welt der Figur, zum anderen aber auch eine andere Welt, vor allem die des Pastors Oberlin, repräsentiert. Dies ist umso bedeutsa-mer, als die Fokalisierung während der Anfälle tendenziell von einer Null- zu einer internen Fokalisierung wechselt, was sich in dem Moment, wo der Anfall endet, wieder ändert.9 In Korrelation hierzu steht die temporale Gestaltung des Textes: Während der Anfälle werden die Ereignisse und Wahrnehmungen Lenzens in szenischer Zeit gestaltet, d.h. die literarische Darstellung entspricht der Ereignisdauer, nach Abklingen der Anfälle werden die Ereignisse wieder gerafft wiedergegeben (z.B. 69-71). Auch die sprachliche Gestaltung ist während der Schübe – wenn wir also sozusagen mit dem Kranken alleine sind – eine andere als während der beruhigten Phasen. Wenn wir die Welt aus Lenzens Augen sehen, aus seiner Perspek-______________________

9 Insgesamt ist der Text in einer ungewöhnlichen Mischfokalisierung gestaltet, welche sich in der von mir beschriebenen Weise graduell zugunsten einer internen oder Nullfokalisierung verschiebt.

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tive, in szenisch ablaufendem Tempus, erscheint die Welt in beängstigen-der Weise lebendig und bedrängend. Dieser Eindruck wird durch eine Sprache voller Metaphern, Bilder und Vergleiche, durch Personifizierun-gen, die häufige Wiederholung bestimmter Worte, eine unvollständige, verkürzte Syntax und lange, durch Kommata aneinander gereihte Sätze hervorgerufen, die die Naturschilderungen als Projektionen von Lenzens Emotionen und Wahrnehmungen erscheinen lassen:

Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern ver-hallende Donner, und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Ros-se heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so dass ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt […]. (69)

Wie weiter oben bereits erwähnt, evoziert Lenzens Blick auf die Natur übergroße Leere oder Enge sowie ein Verschwimmen der Konturen in Dämmerung oder gleißendem Licht, in denen sich das Selbst verliert. Als Rezipienten tauchen wir in die Welt des kranken Protagonisten ein, der Erzähler holt uns nach dem Schub aber auch wieder heraus in die ›norma-le‹ Welt, sodass wir auf diese Art den Wechsel zwischen den Anfällen und der Beruhigung Lenzens miterleben. Wichtig ist, dass wir die Welt mit den Augen des Kranken, durch seine Wahrnehmung gefiltert, erleben, die Geschichte aber von einer fremden Stimme berichtet wird, die diese Schilderung nicht kommentiert, aber insofern korrigiert, als sie sie in die Realität, wie sie von anderen Personen erfahren wird, einbettet. Durch diesen Kontrast erleben wir das Leiden des kranken Lenz, und es erzeugt bei uns Mitfühlen und Mitleid. Dies wird durch die Charakterisierung des Helden unterstützt, der uns als freundlich, kindlich und anhänglich vorge-stellt wird und nach seinen Anfällen, die er auch meist zu verbergen sucht, in tiefe Scham und Schuldgefühle versinkt. Ganz dezidiert sucht Lenz auch die sozialen Bezüge, insbesondere den Kontakt mit dem in sich ru-henden Oberlin, der ihn beruhigen und ihm helfen kann. Erst ganz am Ende des Textes, als die Schizophrenie Oberhand gewinnt, meidet Lenz den Kontakt zu anderen Menschen und bekommt in dem Moment zum ersten Mal etwas Abstoßendes.

3.4 Die Ebene der Erzähltechnik in Zapiski sumasšedšegoim Vergleich zu Lenz

Das Abstoßende ist dem Protagonisten des Gogol’schen Textes dagegen von Anfang an eigen. Da es sich bei dieser Erzählung um die Tagebuch-

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aufzeichnungen des wahnsinnigen Popryš in handelt, spricht nur seine Stimme und nicht die eines übergeordneten Erzählers. Der wahnsinnige Protagonist ist der Ich-Erzähler seines eigenen Textes. Dass sich Popryš in bereits von Anfang an in einer Wahnwelt befindet, lässt sich vor allem dann erkennen, wenn er die Äußerungen und Verhaltensweisen anderer Personen nennt und interpretiert, wenn also ein Abgleich mit der Realität und dem Wahrnehmungssystem anderer Menschen stattfindet. Dies ist freilich nur punktuell der Fall, ansonsten steht der Rezipient vor der Wahn-Welt eines homo- bzw. autodiegetischen Erzählers, die in sich abgeschlossen wirkt. Da das erzählende Ich außerdem mit dem erleben-den Ich identisch ist – das heißt, die Tagebuchaufzeichnungen erfolgen stets an dem Tag des Erlebens, und es findet keine korrigierende Selbstre-flexion des Ich-Erzählers statt –, erhält der Leser stets nur eine Perspekti-ve und nicht, wie in Lenz, darüber hinaus das Korrektiv eines übergeord-neten Erzählers. (Die einzige Ausnahme hierzu stellt der Titel der Erzählung dar, der von einem übergeordneten Erzähler kommentierend gesetzt wurde, welcher aber darüber hinaus nicht in Erscheinung tritt.) Obwohl der Ich-Erzähler uns Einblick in sein Tagebuch gewährt, also in seine intimsten Gedanken und Gefühle, macht es gerade die Erzähltech-nik des Tagebuchs dem Rezipienten unmöglich – und darin unterscheidet sich der Text von Lenz –, Mitfühlen und Mitleid mit dem Kranken zu empfinden. Ohne das Regulativ einer ›gesunden‹ Figur prallen wir auf eine in sich abgeschlossene psychotische Welt, die niemanden ›reinlässt‹. Popryš ins unsympathische Charakterzüge – welche zum Teil ja seiner Krankheit geschuldet sind (wie etwa Größen-, Beziehungs-, Liebes- und Verfolgungswahn) – tragen außerdem dazu bei, dass man für den an sich bemitleidenswerten Kranken kein Mitgefühl entwickeln kann. Er besitzt alle negativen Eigenschaften, die er bei anderen kritisiert (Autoritätshörig-keit, fehlendes Pflichtbewusstsein, Materialismus, Karrierismus, Schielen auf den eigenen Vorteil u.ä.), er erhebt sich über andere und biedert sich bei den Ranghöheren an. Vor allem seine Überheblichkeit und Verach-tung gegenüber anderen Menschen, mit denen er sich dezidiert aus den sozialen Bezügen isoliert, sondern ihn aus der Gemeinschaft aus – ganz im Gegensatz zu Lenz, der ja den Kontakt mit anderen Menschen sucht, welcher ihm auch stets hilfreich dabei ist, seine Krankheitsanfälle zu überwinden und ruhig zu werden. Nur an einer Stelle, ganz am Ende des Textes, öffnet sich Popryš in und deutet so etwas wie Selbsterkenntnis an – er ruft seine Mutter an und bittet sie um Hilfe. In diesem Moment, da der wahnsinnige Popryš in einen anderen Menschen in seine Welt einlässt, kann sich Mitleid mit dem Kranken einstellen, zumal die Anrufung der Mutter eine Regression bedeutet:

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Mütterchen, rette deinen armen Sohn! Laß ein Tränchen auf sein krankes Köpf-chen fallen! Sieh nur, wie sie ihn quälen! Drücke dein armes Waisenkind an die Brust! Es gibt keinen Platz für ihn auf dieser Erde! Sie hetzen ihn! Mütterchen! Erbarme dich deines kranken Kindes! … (198) Matuška, spasi tvoego bednogo syna! uroni slezinku na ego bol’nuju golovušku posmotri, kak mu at oni ego! prižmi ko grudi svoej bednogo sirotku! emu net mesta na svete! ego gonjat! – Matuška! požalej o svoem bol’nom ditjatke! . . (214)

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! ! ! – !! . . (214)

Das Kriterium des Mitfühlen-Könnens ist deshalb so wichtig, weil es in der Psychiatrie lange Zeit als ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Psy-chose und Neurose galt, denn das Mitfühlen mit dem Psychotiker (dem Schizophrenen) ist in hohem Maße erschwert. Man kann und will nicht in die Welt des Psychotikers eintreten, kann und will nicht an seine ›falschen‹ Affekte andocken. Deshalb wird allgemein die Einstellung vertreten, dass es nicht möglich ist, sich in die Welt des Schizophrenen oder Wahnsinni-gen einzufühlen (vgl. z.B. Irle 1965: 82). Die Analyse oben konnte indes zeigen, dass es die spezifische Darstellungsform des literarischen Textes möglich macht, einen Einblick in die Welt der Psychose zu erhalten, da sie die Krankheit gleichsam von innen schildert. Durch die ihr eigenen spezifi-schen Mittel (Fokalisierung, Erzählerstimme, Tempus, sprachliche Gestal-tung) kann die Literatur die Krankheit aus der Innenperspektive schildern und so auf je unterschiedliche Weise anschaulich und begreiflich machen – durch Empathie oder durch gequältes Abgestoßenwerden.

Schlägt man in einem Lehrbuch für Psychiatrie unter den Stichworten »Schizophrenie« oder »Wahnhafte Störung und andere Psychotische Stö-rungen« nach, so wird man dort tabellarische Auflistungen der Krank-heitssymptome finden, von denen eine bestimmte Anzahl erfüllt sein muss, um die Erkrankung einem bestimmten Krankheitsbild zuordnen zu können. Unter diesen Kriterien findet man unter anderem die in den bei-den ersten Abschnitten dieses Kapitels kursiv gesetzten Symptome. Diese Auflistungen und Definitionskriterien – welche sich auf die Dauer der Störung, die Kombination verschiedener Merkmale, die Intensität u.ä. stützen – sind für den behandelnden Arzt von großer Wichtigkeit. Ver-gleichen wir aber zwei Sätze aus dem Lehrbuch und aus dem literarischen Text miteinander, welche sich auf dasselbe Phänomen stützen, die Hallu-zinationen:

Halluzinationen sind Wahrnehmungen ohne einen äußeren Reiz der Sinnesorga-ne und von einer ähnlichen Qualität wie wirkliche Wahrnehmungen. Schizophre-ne Patienten können akustische, visuelle, taktile, Geruchs- und Geschmacks-halluzinationen […] haben, obwohl die akustischen Halluzinationen am häufigs-

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ten sind. Diese Halluzinationen werden gewöhnlich als Geräusche, Musik oder häufiger als »Stimmen« erlebt. (Andreasen/Black 1991: 142) […] im Weggehen wandte er [Lenz] sich plötzlich um und trat wieder ganz nah zu Oberlin und sagte rasch: sehn Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören müßte mir wäre geholfen. »Was denn, mein Lieber?« Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Hori-zont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt, seit ich in dem stillen Tal bin, hör’ ich’s immer, es lässt mich nicht schlafen, ja Herr Pfarrer, wenn ich wie-der einmal schlafen könnte. Er ging dann kopfschüttelnd weiter. (Lenz, 88)

Aus dieser Gegenüberstellung wird einmal mehr deutlich, was die Text-analyse des vorangehenden Abschnitts illustriert hat, nämlich, dass der literarische Text durch die Innenperspektive der Krankheit dem Außen-stehenden ein anderes, besseres Verständnis von der Krankheit ermöglicht als es die wissenschaftlich-psychiatrische Schilderung leisten kann. Durch die literarische Schreibweise also, die Literarizität des Textes, ist die Litera-tur in der Lage, spezifisches Wissen zu generieren, welches andere Dis-kurssysteme so nicht hervorbringen können. Somit stellt die Literatur ein eigenständiges Medium der Erkenntnis dar. Dieses benötigt den Schrift-steller als Vermittler, welcher aufgrund der ihm eigenen Sensibilität gegen-über seiner Umwelt und aufgrund seines verbalen Ausdrucksvermögens fähig ist, Dinge zu vermitteln, die ein kranker Mensch in der Regel nicht in dem Maße kommunizieren kann.

4. Wahnsinn und Sozialkritik

Obwohl Nikolaj Gogol’ und Georg Büchner in ihren Erzählungen psychi-atrisches Wissen exakt und früher als die psychiatrische Wissenschaft auf einem bis heute gültigen Niveau formuliert haben, darf man den beiden Schriftstellern nicht unterstellen, mit ihren Texten ein diagnostisches An-liegen verfolgt zu haben. Man kann nicht davon ausgehen, dass sich hier zwei Literaten in ein fremdes Diskurssystem einmischen wollten; es ist vielmehr anzunehmen, dass die psychiatrisch exakte Schilderung das ›Ne-benprodukt‹ verschiedener anderer Anliegen ist, wie z.B. der Wahnsinn im allgemeinen, die poetische Sprache, die Literaturgeschichte (Lenz). Ein aus der Behandlung des Wahnsinns-Themas durchscheinendes Anliegen der beiden Texte ist für die vorliegende Untersuchung von besonderem Inte-resse und soll daher im Folgenden genauer betrachtet werden: Gogol’ und Büchner formulieren nämlich im Mantel des psychiatrischen Themas auf je unterschiedliche Weise auch ein soziales Anliegen.

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4.1 Wahnsinn und Gesellschaft in den Zapiski sumasšedšego

Im letzten Abschnitt der Zapiski äußert Popryš in in dem Hilferuf an seine Mutter einen Satz über sich selbst, der gleichsam paradigmatisch für sein Problem steht: »Es gibt keinen Platz für ihn auf dieser Erde!« (198; »emu net mesta na svete!« / » !«, 214). Popryš ins gestörte Identität ist stets geknüpft an das Problem, einen Ort für sich zu finden, wobei das soziale System der Ränge zentral ist. Der Protagonist und Ich-Erzähler ist Titularrat, also ein kleiner Beamter auf der neunten von insgesamt vierzehn Rangstufen. Sein niedriger Rang und die Einord-nung der Menschen in das Rangsystem sind für Popryš in ein ständiges Thema, denn besonders als kleiner Beamter leidet er unter diesem System der sozialen Ausgrenzung. Popryš in setzt aber nie andere, neue Maßstä-be, sondern versucht, innerhalb des bestehenden Systems und unter Bei-behaltung desselben einen Ort und eine adäquate Identität für sich zu definieren. So erhebt er sich ständig über andere, vermeintlich unter ihm Stehende, wünscht sich, ein General zu sein, »um zu erleben, wie sie um einen herumscharwenzeln« (187; » toby uvidet’, kak oni budut uvivat’sja« / » , «, 205) usw. Als er von So-phies Verlobtem, einem Kammerjunker, ›ausgestochen‹ wird, bricht sein endgültiger Wahnsinn aus, und er imaginiert sich eine rangmäßig nicht zu überbietende Identität, nämlich die des Königs von Spanien. Interessant ist nun, dass keine der in dem Text auftretenden Figuren andere Werte vertritt als Popryš in. Die Rangfixiertheit und die daraus resultierende Einstellung, den Wert eines Menschen nach seinem sozialen Rang zu be-messen, betrifft alle genannten Figuren: Popryš ins Vorgesetzten, den Direktor, die Tochter des Direktors. Alle bewerten sich gegenseitig auf der Grundlage von Besitz und Rang, wobei keiner Erfüllung und eine gefes-tigte Identität findet, auch nicht diejenigen, die ganz oben auf der sozialen Leiter angekommen sind (z.B. 182 f. / 202 f.). Der Ich-Erzähler ist also nicht deshalb aus der Gesellschaft ausgeschlossen, weil er etwas Besonde-res wäre (romantische Variante), oder weil er ›verrückt‹ und die anderen ›normal‹ wären, oder weil die anderen, Ranghöheren, unmoralisch wären und ihn, den sozial unter ihnen Stehenden, grausam ausgrenzten. Nein, alle in dieser Gesellschaft sind gleich schlecht und gleich ›verrückt‹. Es geht darum, dass die Gesellschaft die Subjekte determiniert, die unter den gegebenen Umständen moralisch verkommen. Der Text ruft auch nicht, wie oben dargestellt, zum Mitleid mit dem Individuum auf, oder gar mit dem kranken, leidenden Individuum: Der implizite Autor formuliert hier

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gesellschaftliche Wahrheiten und Probleme, die unter dem Deckmantel des Wahnsinns vor der Zensur versteckt wurden.10

4.2 Das leidende Individuum in Lenz im Vergleich zu den Zapiski

Auch in der Erzählung Lenz kann die Krankheit (unter anderem) als An-klage gegen soziale Normen verstanden werden, doch anders als in den Zapiski vermittelt uns Lenz in erster Linie das Leiden eines psychisch Kranken.Steht bei Gogol’ die Gesellschaft im Zentrum, ist die Stoßrichtung Büch-ners das Individuum in der Gesellschaft. In diesem Anliegen kommt eine zu Lebzeiten Büchners aktuelle medizingeschichtliche Entwicklung zum Ausdruck, nämlich die Auseinandersetzung zwischen den ›Psychikern‹ und den ›Somatikern‹. Führten die ›Somatiker‹ die Geisteskrankheit auf einen körperlichen Defekt zurück, bewerteten die ›Psychiker‹ dieselbe als eine Strafe (Gottes) für normwidriges Verhalten und erklärten den Kranken damit für schuldig an seinem Leiden. Der Streit zwischen den ›Psychikern‹ und ›Somatikern‹ stand in Deutschland in den 1830er Jahren auf seinem Höhepunkt und wurde kurz darauf zugunsten der ›Somatiker‹ entschie-den.11 Er vereinigt in sich wiederum verschiedene Diskursstränge – den theologischen, philosophischen, juristischen, medizinischen –, sodass hier die Literatur als Interdiskurs12 fungiert. Der übergeordnete Erzähler in Lenz exkulpiert den Kranken und bewertet sein Leiden als eine ich-fremde Macht, die in Anfällen von ihm Besitz ergreift, was bereits in der Sprache deutlich wird, mit der Büchner die Krankheit beschreibt (z.B. in Formulie-rungen wie »drängte es ihm in der Brust«, 69, Hervorh. W.W.). Die ande-ren in der Erzählung vorkommenden Figuren dagegen vertreten noch die ______________________

10 Dass die Zensur unter Nikolaus I. diesen Sachverhalt genauso eingeschätzt hat, beweist die Rekonstruktionsarbeit von Asch (1976): Alle gesellschaftlichen Bezüge wurden von den staatlichen Behörden in der 1835 publizierten Version der Zapiski gestrichen. Auch Peace (1995: 44) sieht in den Zapiski eine politische Dimension, welche er in einen weiteren Zu-sammenhang stellt: »In Russian cultural history the whole question of the interrelationship between ›madness‹ and outspoken criticism of society is one of lasting importance.« Den-noch meine ich, dass man die Sozialkritik in diesem Text nicht dahingehend missverstehen darf, dass Gogol’ ein Sozialreformer gewesen wäre. Dieser Schriftsteller geht mit seinen sa-tirisch-grotesken Schilderungen noch viel weiter – er verlacht alles und betreibt damit eine fundamentale Zerstörung von Sinnsystemen überhaupt, nicht nur der russischen Gesell-schaft seiner Zeit.

11 In Russland findet diese Auseinandersetzung mit einer Zeitverschiebung von einigen Jahren statt. In Gogol’s Erzählung findet sie indes keinen Niederschlag, denn hier geht es nicht, wie im Lenz, um die Bewertung der Geisteskrankheit und um die Einstellung gegen-über dem Kranken, sondern, wie dargestellt, primär um die Gesellschaft.

12 Dieser Begriff stammt von Jürgen Link (z.B. Link/Link-Heer 1990) und will die Fähigkeit der Literatur ausdrücken, als integrierendes Medium der Spezial-/Fachdiskurse zu fungie-ren.

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bis dahin vorherrschenden Ansichten: Die Mägde, also die weniger gebil-deten Personen, »hielten [Lenz] für einen Besessenen« (87), der in das Steintal gereiste Freund von Lenzens Vater, Kaufmann, vertritt diejenige Welt, welche die Krankheit als eine Folge normwidrigen Verhaltens ein-stuft. Dies wird besonders in dem Gespräch zwischen Lenz, Oberlin und Kaufmann deutlich, in dem Kaufmann wie ein Abgesandter aus einer anderen Welt in die Abgeschiedenheit des Steintals kommt, wo der Kran-ke Linderung erfahren hatte. Im Auftrag des Vaters fordert Kaufmann Lenz dazu auf, nach Hause zurückzukehren, in die Welt des Vaters und der väterlichen Werte, welche die der Vernunft und Zweckrationalität sind (»wie er sein Leben hier verschleudre, unnütz verliere, er solle sich ein Ziel stecken und dergleichen mehr«, 77). Lenz aber wehrt sich dagegen, wis-send, dass diese Welt ihn krank macht: »Hier weg, weg! Nach Haus? Toll werden dort? […] Ich würde toll! Toll! Laßt mich doch in Ruhe! Nur ein bißchen Ruhe, jetzt wo es mir ein wenig wohl wird! […] was will mein Vater?« (77 f.). Obwohl auch Oberlin sich den Normen dieser Welt an-schließt, wenn er Lenz dazu auffordert, sich dem väterlichen Willen zu beugen (»Dabei ermahnte er ihn, sich den [sic!] Wunsch seines Vaters zu fügen […] heimzukehren. Er sagte ihm: ›Ehre Vater und Mutter‹ und dergleichen mehr«, 83) und wir aus seinem Bericht, der Vorlage für Büch-ners Erzählung, wissen, dass auch er Geisteskrankheit moralisch bewerte-te,13 ist es doch der Pfarrer, der als einziger dem Kranken gegenüber ein Verhalten an den Tag legt, welches diesem hilft, nämlich Liebe, Einfüh-lung und Mitleid. Lenz klammert sich an Oberlin wie ein Kind an seine Mutter, nur seine Anwesenheit, sein Blick und seine Worte helfen ihm. Oberlin begegnet Lenz nicht wie einem Verdammten (also einem mora-lisch Schuldigen vor Gott, wie es bis dahin die Psychiker und die Kirche gesehen hatten), sondern er vertritt die moderne Einstellung gegenüber dem Kranken, wenn er ihm als einem leidenden Individuum gegenüber-steht. Indirekt nimmt er damit auch die moderne Einstellung ein, die Krankheit als eine Krankheit und nicht als eine Strafe zu bewerten. Len-zens Leiden ist zentral in dem Text, es ist ein grausames, sinnloses Leiden. Gogol’ dagegen geht mit dem Individuum, seiner Krankheit und seinem Leiden mitleidlos um (er gibt es sogar der Lächerlichkeit preis) – die me-dizinhistorischen Diskurse, welche im Lenz aufscheinen (also die Bewer-______________________

13 In seinem Bericht über Lenzens Aufenthalt im Steintal erklärt Oberlin die Krankheits-symptome als die »Folgen der Prinzipien die so manche heutige Modebücher einflößen, die Folgen seines Ungehorsams gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, sei-ner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umgangs mit Frauenzimmern« (zit. n. Hasselbach 1986: 16). In seiner aufschlussreichen Untersuchung bezieht Anz (1989: 1-52) Büchners Vorlage auf die Erzählung und kommt zu dem Schluss, dass die moralisti-sche Sicht- und Argumentationsweise Oberlins bei Büchner umgedreht wird: Nicht ein be-stimmtes Verhalten gilt hier als krankmachend, sondern die Verhältnisse.

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tung der Krankheit und die Einstellung gegenüber bzw. der Umgang mit dem Kranken), sind in den Zapiski nicht zentral, weshalb der Wahnsinn als Form sozialer Kritik auch stets ins Satirisch-Groteske gewendet wird.

5. Abschließende Bemerkungen

Die Analyse und Gegenüberstellung der beiden literarischen Texte konnte deutlich machen, dass Literatur Wissen anderer Diskurssysteme vorweg-nehmen und in exakter Weise formulieren kann. Dies betrifft die Be-schreibung der Krankheiten (die Symptome), die Art der Beschreibung (Verknüpfung der Symptome mit der Frage nach den Ursachen und der Prognose der Krankheit), die Einstellung gegenüber der Krankheit (Krankheit als Krankheit statt Krankheit als selbstverschuldete Strafe für Fehlverhalten) und die Einstellung gegenüber dem Kranken (liebend-verstehende Einfühlung statt moralischer Verdammung). Wichtiger aber ist, dass die Literatur durch ihre spezifischen Verfahren, ihre Literarizität, Sachverhalte anders formulieren kann als es die anderen Wissenssysteme können, und dass sie dadurch Wissen generieren kann. In dem vorliegenden Beispiel knüpft sich der spezifische Erkenntnisgewinn vor allem an die Innendarstellung der Krankheit, welche dem Rezipienten ein genaues Bild von der schwer nachvollziehbaren psychotischen Welt gewährt. Die litera-rische Darstellung kann der Psychiatrie also ergänzendes Wissen liefern. Das Wissen der Psychiatrie scheint durch die Literatur besonders gut vermit-telbar zu sein, denn hier geht es ja stets um das Innenleben von Men-schen, welches kommuniziert werden muss. Die Diskurssysteme Literatur und Psychiatrie erscheinen in hohem Maße aneinander anschlussfähig. Dass keines der beiden dadurch seinen Autonomiestatus verliert, sehen wir einerseits darin, dass die Psychiatrie sich mit Gebieten beschäftigt, welche der Literatur unzugänglich oder für sie nicht von Interesse sind, andererseits darin, dass die Erzählungen zwar als psychiatrische Fallstu-dien rezipiert werden können, gleichzeitig aber genuin literarische Texte sind und auch ohne genaue Kenntnis des psychiatrischen Hintergrundes als solche gelesen werden können.

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NIELS WERBER

Effekte. Das Wissen der Literatur am Beispiel von Gustav Freytags Soll und Haben

Systemtheorie und Wissen

Systemtheoretikern, die sich der Frage nach dem Verhältnis ›Literatur – Wissen – Wissenschaften‹ annehmen, könnte man folgende Standardant-wort unterstellen: Literatur ist etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein autonomes Sozialsystem der funktionsspezifisch ausdifferenzierten Ge-sellschaft, das seine Operationen eigenständig codiert und programmiert. Was immer an ›Wissen‹ oder ›Wissenschaften‹ in der literarischen Kom-munikation vorkommen mag, hat aus dieser systemtheoretischen Perspek-tive Teil an der Selbstproduktion der Literatur durch Literatur im Netz-werk autopoietischer Operationen. Anders gesagt: Am ›Wissen‹ oder an den ›Wissenschaften‹, wie sie in literarischen Texten vorkommen oder von der Literatur beobachtet werden, ist nicht entscheidend, ob das Wissen eigens als ›wissenschaftlich‹ markiert ist, ob es falsifizierbar ist oder nicht; es ist auch nicht ausschlaggebend, ob die Wahrheit des Wissens durch wiederholbare methodenkontrollierte Forschung zustande gekommen ist oder nicht, ob es dem Gewinn von Erkenntnissen dient oder ob es in einer Form präsentiert wird, zu der bestimmte Standards des Zitierens von Forschungsgrößen oder des Anführens bestimmter Quellen gehören. Das Wissen wissenschaftlicher Kommunikation und das Wissen literari-scher Kommunikation unterscheiden sich also gravierend. Was immer man auch so nennen mag: ›Wissen‹ ist im Wissenschaftssystem etwas an-deres als im System der Literatur.1 Das wissenschaftliche Wissen wird, mit einem Ausdruck Luhmanns aus seinem Aufsatz über die Codierbarkeit der Kunst, »nicht-identisch reproduziert«.2 Was sich bei dieser nicht-identischen Reproduktion des wissenschaftlichen Wissens durch das Lite-

______________________

1 Vgl. dazu Niels Werber, Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation,Opladen 1992.

2 Niklas Luhmann, »Ist Kunst codierbar?«, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 245-266, hier: S. 257 f.

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ratursystem ändert, ist die Codierung und Anschlussfähigkeit des Wissens. Das Wissen der Literatur muss sich in die Textstruktur fügen, Handlungen motivieren, Interesse wecken. Bei der Rolle der Astrologie im Wallensteinkäme es weniger darauf an, ob die astrologische Spekulation wahrheitsfä-hig ist oder nicht, sondern auf die Frage, wie sehr und warum Wallenstein sich von den Deutungen der Sternbilder in seinem Handeln leiten lässt. Oder die von Adorno inspirierte Theorie der Zwölftonmusik in Thomas Manns Doktor Faustus wäre nicht primär musikwissenschaftlich aufzufas-sen, sondern als Baustein eines komplexen Romangewebes, das zur Cha-rakterisierung Adrian Leverkühns genausoviel beiträgt wie sein Aussehen, seine Haltung und seine Sprache. Und Judith Butler-Zitate in Thomas Meineckes Tomboy dienen nicht der Plausibilisierung oder Deplausibilisie-rung von Forschungsperspektiven, sondern der Handlungsführung und der literarischen Inszenierung eines Milieus. Wissenschaftliches Wissen wird in der Literatur zum Medium für Formen, und die poetische For-mung des Mediums setzt Prioritäten der Codierung und Programmierung, die den Wissenschaften völlig fremd sind. »Dichtung« ist nicht »auf Wahr-heit verpflichtet«, aber »Literatur darf nicht langweilig sein«.3 Dies öffnet Chancen und schränkt zugleich Möglichkeiten ein, aber vollkommen an-ders als in den Wissenschaften, in denen langweiliges Wissen durchaus wahr sein kann, während in der Literatur als falsch geltendes oder obsole-tes Wissen interessant sein könnte. August Wilhelm Schlegel hat mit die-sem Argument die Verwendung von Astrologie und Alchemie in der Kunst ausdrücklich gerechtfertigt. Diese aus wissenschaftlicher Sicht völ-lig veralteten Künste seien poetischer als Newtons Physik und die neue Chemie: »Ebenso wie die Astrologie fordert die Poesie von der Physik die Magie.«4

Wissen wäre also aus dieser systemtheoretischen Perspektive immer Wissen, das außerhalb der Literatur von den Wissenschaften gewonnen würde, um dann von der Literatur aus literarischen Motiven importiert und durch diesen Import transformiert zu werden, sodass die Fragen, die man an dieses Wissen der Literatur richten könnte, niemals mit ›wahr‹ oder ›falsch‹ beantwortet werden könnten, sondern nur mit ›interessant‹ oder ›langweilig‹ oder auch ›stimmig‹ oder ›unstimmig‹. Das Wissen, das Gustav Freytag bis 1855 für die Verfassung von Soll und Haben zur Verfü-gung stand, wäre also aufzulisten, im Roman zu lokalisieren und nach seiner literarischen Funktion zu befragen. Was Freytags Roman über Kaf-feehandel oder Wasserbau, Hypothekenkredite oder Stadtrecht, die Ge-______________________

3 Jochen Hörisch, Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt a.M. 1999, S. 60, 63. 4 August Wilhelm Schlegel, »Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der deut-

schen Literatur« (1802), in: Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters, hrsg. v. Franz Finke, Stuttgart 1984, S. 3-94, hier: S. 56.

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Das Wissen der Literatur am Beispiel von Gustav Freytags Soll und Haben 113

schichte des Deutschen Ordens oder die Bekleidung ostjüdischer Händler weiß, erweist seine Funktion innerhalb des Romans und innerhalb des Literatursystems. Da nach systemtheoretischer Auffassung funktionsspe-zifisch codierte Kommunikation Anschlussfähigkeit mit hoher Wahr-scheinlichkeit allein in eben diesem Funktionssystem findet und nirgends sonst,5 kann man sich allenfalls noch nach der Anschlussfähigkeit dieses Wissens in anderen literarischen Texten umschauen, die sich auf Freytag beziehen wie beispielsweise das schier unglaubliche Ostzug-Buch Vogt Bertold von Hans Venatier aus dem Jahre 1943.

Luhmanns Systemtheorie der Kunst ist an Effekten, die über die Sys-temgrenzen hinaus wirksam würden, nicht interessiert. Worauf es ihm allein ankommt, ist »Formunterschiede wahrnehmen [zu] können, die im sozialen System der Kunst für Zwecke der Kommunikation erzeugt sind.«6 Die »Formentscheidungen des Kunstwerks« verlangen »angemes-senes Beobachten« (S. 126) und dienen dann, wenn sie denn angemessen beobachtet werden, folgender Funktion: »Die Herstellung von Beobacht-barkeit hat keinen anderen Sinn als den einer Kommunikation von Ord-nung in einem Formenarrangement, das nicht von selbst passiert.« (S. 131) Derartige Zwecke verfolgen die Wissenschaften nicht, und auch Wissen wird nicht daran gemessen, ob es durch seine Formqualitäten überzeugt oder ob es den Anschein von Ordnung im Reich der Kontingenz zu we-cken vermag. Das Wissen in einem Roman wie Soll und Haben wäre also nur wichtig, sofern es zu einem überzeugenden »Formenarrangement« beitrüge. Eine derartige systemtheoretische Lektüre Freytags könnte von dem bekannten Bonmot Theodor Fontanes über Soll und Haben ausgehen, es werde »im ersten Buch des Romans kein Nagel in die Wand geschlagen [...], an dem nicht im sechsten und letzten Buch eine Jacke aufgehängt werde.«7 Das Wissen hätte Platz und Bedeutung allein innerhalb dieser äußerst strengen narrativen Ordnung.

Effekte der Literatur. Anschlussfähigkeit

Eine Abhandlung über die Effekte des Wissens der Literatur will sich mit dieser Perspektive freilich nicht begnügen. Ich glaube, dass es auch gar ______________________

5 Der Code fungiert als Selektionsmechanismus, der das System stabilisiert. Vgl. Niklas Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, in: Epochen-schwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, hrsg. v. Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer, Frankfurt a.M. 1985, S. 11-33.

6 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 83. 7 Zit. nach Gerhard Plumpe, »Roman«, in: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. 1848 – 1890,

hrsg. v. Edward McInnes/Gerhard Plumpe, München 1996, S. 529-689, hier: S. 539.

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nicht nötig ist, das systemtheoretische Interesse an Literatur auf die Re-konstruktion autonomer literarischer Kommunikation und ihrer Autopoi-esis zu beschränken. Anschlüsse kann Literatur auch außerhalb anderer literarischer Texte finden, wenn dies auch gewiss nicht zur spezifischen Funktion literarischer Texte gehört und derartige Anschlüsse literaturex-terner Kommunikationen an Literatur sicher nicht in dem Maße erwartbar sein können wie innerhalb des Literatursystems. Anders formuliert: Wäh-rend innerhalb der Literatur Rückbezüge (etwa in Form von Zitaten oder Formübernahmen) erwartet werden können, wird man beispielsweise politische oder wissenschaftliche Anschlüsse an Literatur für vergleichs-weise unwahrscheinlich halten müssen. Es ist aber durchaus denkbar, und das ist die zentrale These meines Beitrags, dass außerliterarische Effekte aus soziolo-gischer Sicht gewichtiger ausfallen als die innerliterarische Anschlussfähigkeit, die ein Text findet. Ich glaube, dass dies bei Freytag der Fall sein könnte. Soll und Haben war sicherlich ein buchhändlerischer Erfolg, der zu Kopien ermu-tigte, aber schulbildend in ästhetischer Hinsicht war der Roman sicher nicht. Sein Echo in der weiteren Geschichte der Literatur war eher schwach, und die Reprisen in den 1940er Jahren bestätigen die politische Bedeutung des Textes. Ungemein bedeutend ist die Rezeption des Ro-mans in der politischen Geographie, der Geopolitik und der kulturpoliti-schen Semantik. Ich werde zu zeigen suchen, dass der Roman selbst ›Wis-sen‹ erzeugt, das sich gerade außerhalb der literarischen Kommunikation als äußerst anschlussfähig erweisen wird.

Theoretisch könnte man mein Interesse an dieser Form von An-schlussfähigkeit als Historiographie von Selbstbeschreibungen verstehen. Selbst-beschreibungen sind Beschreibungen, die ein Sozialsystem von sich selbst anfertigt. »Unter einer ›Beschreibung‹ verstehe ich« mit Luhmann »im Unterschied zu einer bloßen ›Beobachtung‹ etwas, was nicht nur im Mo-ment geschieht, sondern was zum Beispiel in einem weiten Sinne zu einem Text wird oder eine Identität produziert, die auch in anderen Zusammen-hängen wiederverwendet werden kann. Selbstbeschreibung«, so erläutert Luhmann weiter, »bedeutet also, daß das System sich als etwas erklärt, beobachtet, beschreibt, was auch für andere Zusammenhänge bedeutsam werden kann«.8 Worauf es mir an dieser Passage ankommt, ist der Vor-schlag, dass bei einer Selbstbeschreibung so etwas entsteht wie Texte, die in anderen Zusammenhängen wiederverwendet werden können. Eine bestimmte Beschreibung von etwas steht dank Schrift und Buchdruck, dank Photographie oder Film oder weiteren Formen des sozialen Ge-dächtnisses für Neuverwendungen zur Verfügung und muss nicht noch

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8 Niklas Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft (Bielefelder Vorlesung WS 1992/1993), hrsg. v. Dirk Baecker, Heidelberg 2005, S. 286.

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einmal erfunden werden. Neuverwendung impliziert, dass die Beschrei-bung in andere Kontexte eingelassen wird und das, was Luhmann »Identi-tät« nennt, sich dadurch mitverändert. Im Falle Gustav Freytags könnte man etwa sagen, dass er mit suggestiven Formulierungen wie jenen von der »polnischen Wirtschaft«9 oder der »slawischen Wüste«10 Beschreibun-gen popularisiert und zur weiteren Verwendung in ›anderen Zusammen-hängen‹ bereitstellt, etwa für die Verwendung in den ›Zusammenhängen‹ der geopolitischen und kulturpolitischen Semantiken des 19. und 20. Jahr-hunderts. Interessant ist an diesen Formeln nicht nur, dass sie in einem Roman fallen und dann in (geo-)politischen Texten Karriere machen, sondern dass gerade die Kontextierung der Formeln im Roman den geo-politischen Programmen eine Evidenz zukommen lässt, der sie sonst ent-behrten. Es geht also bei dem Anschluss der Geopolitik an die Literatur durchaus auch darum, spezifisch literarische Leistungen aus der literari-schen Kommunikation in den neuen Kontext zu übernehmen.

Ich möchte dies kurz an zwei Textpassagen vorführen, die erstens eine Schilderung jenes »Bodens« geben, den der junge Anton Wohlfahrt auf seinem Weg von Ostrau nach Breslau erblickt,11 und zweitens eine Be-schreibung jener »Wüste«, die er als Gutsverwalter in Polen kennenlernt.12

Szene 1: Es war ein lachender Sommertag, auf den Wiesen klirrte die Sense des Schnitters am Wetzstein [...]. Kleine Bäche von Erlen und Weidengruppen eingefaßt durch-rannen lustig die Landschaft, jeder Bach bildete ein Wiesental, das auf beiden Sei-ten von üppigen Getreidefeldern begrenzt wurde. Von allen Seiten stiegen die hellen Glockentürme der Kirchen aus dem Boden auf, Mittelpunkt einer Gruppe von braunen und roten Dächern, die mit einem Kranz von Gehölz umgeben wa-ren. Bei vielen Dörfern konnte man an der stattlichen Baumallee und dem Dach eines großen Gebäudes den Rittersitz erkennen, welcher neben den Dorfhäusern lag, wie der Schäferhund neben der wolligen Herde.13

Es ist eine geordnete, durch Arbeit geschaffene Landschaft, in der ord-nende Differenzen wie die von Zentrum und Peripherie, Feld und Flur, Schutz und Gehorsam unmittelbar augenfällig werden. Das Rittergut be-wacht das Dorf wie der Schäferhund die Herde. Konzentrisch legen sich um die Kirche kreisartig Dorf, Gehölz, Acker, Weideland. Bäche durch-schneiden diesen Raum trennscharf, ohne Schnittmengen zu bilden wie Sümpfe oder Moraste, die Landstraßen sind vom Umland durch Gräben und Baumreihen markant unterschieden. ______________________

9 Gustav Freytag, Soll und Haben (Leipzig 1855), München 1953, S. 565. 10 Ebd., S. 410 f. 11 Ebd., S. 10 f. 12 Ebd., S. 410 f. 13 Ebd., S. 10 f.

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Anton durchschritt auf dem Fußpfad einen Wiesengrund, ging über eine Brücke und sah sich in einem Wäldchen mit gut erhaltenen Kieswegen. Immer mehr nahm das Gebüsch den Charakter eines gepflegten Gartens an, der Wandrer bog um einige alte Bäume und stand vor einem großen Rasenplatz. Hinter diesem er-hob sich ein Herrenhaus mit zwei Türmchen in den Ecken und einem Balkon. Wer auf dem Balkon stand, konnte über den Grasplatz hinüber durch eine Öff-nung in den Baumgruppen die schönsten Umrisse des fernen Gebirges sehen. An den Türmchen liefen Kletterrosen und wilder Wein in die Höhe, und unter dem Balkon öffnete sich gastlich eine Halle, welche mit blühenden Sträuchern ausge-schmückt war.14

Die klaren Unterscheidungen zwischen Wald und Weg, Allee und Feld, die Anzeichen von Pflege und Schmuck des ganzen schlesischen Rittersit-zes der Rothsattel – all dies fällt erst im Kontrast auf zu jener Raumerfah-rung, die Anton Wohlfahrt und sein junger Begleiter Karl Sturm auf ihrem Weg zum polnischen Gut der Rothsattel machen. Szene 2:

Der Wind fegte mit seinem riesigen Besen Sand und Strohhalme über die Stop-pelfelder, die Straße war ein breiter Feldweg, ohne Gräben und Baumreihen, die Pferde wateten bald durch ausgefahrene Wasserpfützen, bald durch tiefen Sand. Gelber Sand glänzte zwischen dem dürftigen Grün der Äcker überall, wo eine Feldmaus den Eingang zu ihrer Grube angelegt, oder wo der emsige Maulwurf nach Kräften gearbeitet hatte, die Ebene durch kleine Hügelketten zu unterbre-chen. In den Senkungen des Bodens stand schlammiges Wasser; an solchen Stel-len streckten die ausgehöhlten Stämme alter Weiden ihre verkrüppelten Arme in die Luft, ihre Ruten peitschten einander im Wind, und die welken Blätter flatter-ten herunter in das trübe Wasser. [...] Kein Haus war zu sehen [...], und kein Fuhrwerk.15

Während Anton auf dem preußischen Grund und Boden ringsum die Melodie der Arbeit vernimmt und allenthalben auf Kultur und Ordnung, auf Pflege und Differenzierung trifft, ist in Polen der Übergang zwischen Straße und Acker, Erde und Wasser fließend. Die Bäche sind nicht klar, sondern »trüb«, morastartig.16 Statt auf Felder und Weiden treffen Anton und Karl auf »Stoppelland«. Statt auf ein Ensemble von Kirche, Dorf und Gut stoßen sie auf einen Haufen »Lehmhütten«. Ohne Zeichen einer An-eignung und Kultivierung des Raums durch Generationen zu finden, er-blicken sie nichts als Provisorien. »Um das Dorf war manches nicht zu finden, was auch die ärmlichsten Bauernhäuser seiner Heimat schmückte, kein Haufe von Obstbäumen hinter den Scheuern, kein umzäunter Gar-ten, keine Linde auf dem Dorfplatz, einförmig und kahl standen die schmutzigen Hütten nebeneinander.«17 Es geht hier nicht einfach um den

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14 Ebd., S. 11. 15 Ebd., S. 411 f. 16 Ebd., S. 412. 17 Ebd., S. 413 f.

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Das Wissen der Literatur am Beispiel von Gustav Freytags Soll und Haben 117

Gegensatz von deutscher Sauberkeit und polnischem Schmutz,18 die Dif-ferenzen sind weitaus komplexer. Das Spannungsfeld, das Freytag zwi-schen den metaphorischen Polen festes Land und ungekerbter Raum, zwischen Raumordnung und glatten Räumen ausbaut, nimmt den geopoli-tischen Diskurs des 20. Jahrhunderts von Karl Haushofer und Carl Schmitt bis Gilles Deleuze und Félix Guattari mit allen Implikationen vorweg. Man könnte auch sagen: Was Carl Schmitt und Paul Virilio oder auch Michael Hardt und Antonio Negri wissen,19 weiß Freytag in gewisser Weise schon lange. In ›welcher Weise‹ er dies schon weiß, werden wir im Folgenden zeigen.

Im europäischen Völkerrecht des 19. Jahrhunderts, schreibt Carl Schmitt, sei es selbstverständlich, dass auf der anderen Seite einer Staats-grenze nicht eine »friedlose Unordnung« eines »herrenlosen« Bodens zu finden sei, sondern Recht und Ordnung des Nachbarstaates. In Soll und Haben dagegen trennt die von preußischem Militär gesicherte Grenze zu Polen »eine befriedete Ordnung« von ihrem Gegenteil: dem »Chaos«.20 In Polen herrscht »die Gewalt« des Naturzustandes, in Deutschland dagegen herrschen »Recht und Gesetz«.21 Polen muss ganz ohne Ruhe, Sicherheit und Ordnung auskommen und kennt keine staatliche Organisation. Die »Polizei muß dort mangelhaft sein«.22 Tatsächlich ist die »oberste Polizei« von den niedrigsten Dieben kaum zu unterscheiden.23 In Polen agieren räuberische Banden, die umherziehen wie Nomaden »in einem Raum ohne Grenzen und Einfriedung«.24 Das Nomadische der Polen wird in Soll und Haben überall augenfällig, und wie bei Deleuze und Guattari macht sich das Nomadische allenthalben an die Deterritorialisierung des Staats-apparates und seiner gekerbten Räume. Es entfaltet, wie bei Hardt und Negri, seine deterritorialisierende Kraft.

Polen erscheint in Freytags Darstellung als »glatter Raum«.25 Für Schmitt wäre dieser Raum ohne »Spur« und ohne »feste Linien« ein ______________________

18 Vgl. Gabriele Büchler-Hauschild, Erzählte Arbeit. Gustav Freytag und die soziale Prosa des Vor- und Nachmärz, Paderborn 1987, S. 90 ff.

19 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus (1980), übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1997; Karl Haushofer, Raumüberwindende Mächte, Leipzig/Berlin 1934; Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mäch-te (1941), Berlin 1991; Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung (Cam-bridge, Mass. 2000), übers. v. Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Frankfurt a.M. 2003; Paul Virilio, Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung, übers. v. Bernd Wilczek, Wien 2000.

20 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde (1950), Berlin 1997, S. 22. 21 Freytag, Soll und Haben, S. 434 (Anm. 9). 22 Ebd., S. 486. 23 Ebd., S. 440 f. 24 Deleuze, Tausend Plateaus, S. 523 (Anm. 19). 25 Ebd., S. 524.

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»Meer«. Das gleichsam maritime Polen weist bei Freytag jedenfalls weder »Ordnung noch Ortung« auf.26 Polen ist keine »polis« und hat keine »Poli-zei«, keine »Ordnung« und keine »Verwaltung«, denn dazu wäre eine spe-zifische Bindung des Volkes an den von ihm bewohnten und geprägten Raum notwendig.27 »Der Raum der Seßhaftigkeit«, heißt es in den Tausend Plateaus, »wird durch Mauern, Einfriedungen und Wege zwischen den Einfriedungen eingekerbt, während der nomadische Raum glatt ist.«28

Meer, Wüste, Steppe und Eis dagegen sind glatter Raum29 ohne Hegun-gen, Grenzen und Kerbungen und daher so frei wie gesetzlos.30 Die pol-nische Gegend sei eine »Wüstenei«, meint Karl, ja eine »Wüste«, bestätigt Anton. Es sei eine Gegend, »wo der Sand unter den Beinen wegläuft wie Wasser«, wo das »Land [...] nicht fest genug« ist.31 Die »leere Ebene« mit ein paar »Sandhügeln« um das Gut herum visualisiert der Erzähler als »Dünen der öden Wasserflut«.32 Im Vergleich zum preußischen Landerscheint Polen als Meer oder Wüste – mit allen geopolitischen Implikatio-nen.33 Während die aufständischen Polen deutsche Plätze berennen und überall Unordnung gegen Ordnung, Meuten gegen Formationen antreten, imaginiert Antons Freund Fink die Verwandlung festen Landes in aufge-wühlte See. Seine Begleiterin Lenore möge sich vorstellen, wie alles im Sturm untergehe: »das Haus ist verschwunden, an der Stelle befindet sich ein Loch, ein Strom, ein Haufe herangespülter Felsen. Vielleicht fängt dann auch die Erde an ein wenig zu beben und schlägt Wellen, wie das Meer im Sturme.«34 Gegen diese Auflösung der Raumordnung wird Fink ein Kolonisierungsprojekt setzen, das Polen einen Nomos geben soll.

Während in Preußen eine germanische Raumnahme stattgefunden hat, deren »Ordnung« durch »tausendjährige Gewohnheit von Geschlecht zu Geschlecht vererbt« wird,35 findet sich auf der slawischen Seite der Gren-ze nichts als die in jedem Sinne unordentliche »polnische Wirtschaft«.36 Es entspricht der Logik der semantischen Konfiguration des Romans, dass

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26 Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 13 (Anm. 20). Die für die Tausend Plateaus zentrale Metapher des »glatten Raums« findet sich schon bei Schmitt (S. 258).

27 Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie (Vitesse et Politique, Paris 1977), übers. v. Ronald Voullié, Berlin 1980, S. 22, S. 96 f.

28 Deleuze, Tausend Plateaus, S. 524 (Anm. 19). 29 Ebd., S. 526 f. 30 Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 14 (Anm. 20). 31 Freytag, Soll und Haben, S. 411 (Anm. 9). 32 Ebd., S. 413. 33 Carl Schmitt, Land und Meer (1942), Stuttgart 1993. 34 Freytag, Soll und Haben, S. 558 (Anm. 9). 35 Ebd., S. 423 f. 36 Ebd., S. 565.

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Fink Polen eine »slawische Sahara« nennt,37 die tatsächlich von »Karawa-nen« deutscher Händler durchzogen wird.38 Diese Wüste ist unbegrenzter, kulturloser, ungehegter Raum wie Schmitts Meer, und wohin sie kommt, da werden bestehende Raumordnungen verwüstet. In Polen lauern entspre-chend alle Gefahren nomadischer Kriegsmaschinen.

Die Vorstellung bestimmter Beziehungen von Volk und Raum, wel-che der Begriff der »polnischen Wirtschaft« bei Freytag konnotiert, macht Karriere. Walther Darré hat 1933 die Slawen als parasitäre »Nomadenvöl-ker« bezeichnet, die von gewaltsam »erpreßten Abgaben« leben.39 Nicht die stereotype Schilderung des Juden Veitel Itzig interessiert den national-sozialistischen Spitzenfunktionär an Soll und Haben, sondern die Differenz von glattem und gekerbtem Raum, von Staatsapparat und Nomaden. Po-len könne gar kein Staat sein, denn die Polen seien Nomaden, behauptet Darré. »Das heißt, sie haben keine Kultur«, Polen sei kein »Staat«, schluss-folgert auch der Handelsherr Schröter.40 Freytags Beschreibungen des polnischen Raums und seiner Bewohner als Wüste und als Nomaden machen ihn qua »Wiederverwendung« zum Avantgardisten einer furchtba-ren politischen Semantik. Nicht nur der Freytag-Leser Darré41 kann im Osten nur Wüsten und Nomaden sehen. Adolf Hitler hat 1937 vom östli-chen Mitteleuropa als einem »volklosen Raum« gesprochen und hinzuge-fügt, er sei eine »Art Wüste«.42 Freytags ›Text‹ wird wiederverwendet und erzeugt auch in einem vollkommen neuen politischen Kontext Evidenz. Für Hitler ist die slawische Sahara ganz selbstverständlich ein glatter Raum, der in eine Raumordnung überführt werden muss, wozu freilich die »Au-genblicksgrenzen« Deutschlands erst einmal aufgehoben werden müs-sen.43 Die Völker und Nationen in diesem Raum seien aber eben deswe-gen leicht »hinwegzufegen«, weil sie sich den Raum nie angeeignet hätten.

Dass eine preußische »Abteilung Husaren« eine zahlenmäßig weit überlegene »Masse« polnischer Insurgenten hinwegfegt, ist für den Erzäh-ler in Soll und Haben ganz natürlich, tatsächlich folgt diese Einschätzung den geopolitischen Unterscheidungen des Romans. Die Husaren treiben »kleine Haufen« der Feinde vor sich her wie der Wind welkes Laub, sie finden eben nirgends einen Halt, schon gar nicht in sich selbst, etwa als ______________________

37 Ebd., S. 526. 38 Ebd., S. 294. 39 Richard Walther Darré, Um Blut und Boden. Reden und Aufsätze, München 1940, S. 73. 40 Freytag, Soll und Haben, S. 273 (Anm. 9). 41 Darré, Um Blut und Boden. Reden und Aufsätze, S. 92 (Anm. 39). 42 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, übers. v. Stefan Mon-

hardt, Frankfurt a.M. 2003, S. 75. 43 Adolf Hitler, Mein Kampf. Eine kommentierte Auswahl (1925/26), hrsg. v. Christian Zenter,

München 2001, S. 132.

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Formation.44 Der Generalplan Ost, könnte man spekulieren, basiert auf der Vorstellung, dass die slawischen Bevölkerungen wurzellos sind wie der »ewige Jude«, dem als »Fremdem« die »organische Verbindung« mit dem Boden vor Ort stets fehle.45 Dieser absurden wie folgenreichen Unter-scheidung von germanischer Verwurzelung und slawisch-jüdischem No-madentum hat aber Soll und Haben eine Evidenz verliehen, von der die politische Semantik zu profitieren vermag. Aus der literarischen Selbstbe-schreibung der Gesellschaft ist so eine politische geworden, welche die ästhetischen Evidenzen des Romans in politische Propaganda ummünzt. Es gibt ja kein einziges sinnvolles Argument für die Behauptung, dass das östliche Mitteleuropa ein »volkloser Raum« sei; was es aber gibt, sind die weitverbreiteten Vorstellungen vom Osten als einem unbesiedelten Raum, in dem man nicht auf Bewohner trifft, die das Land in tausend Generatio-nen in eine Heimat verwandelt haben, sondern auf Nomaden, die kom-men und gehen.

Raumordnung versus Netzwerk

Soll und Haben wird nach 1933 auch von NS-Organisationen herausgege-ben und ihren Mitgliedern geschenkt; wie sich Christa Wolfs Nelly erin-nert, stand in den Bücherregalen der späten 1930er Soll und Haben gleich neben Hans Grimms Volk ohne Raum, beide Bücher dienten der »Natio-nalsozialistischen Bildung und Erziehung«.46 Dass diese Romane nicht als autonome Literatur geschätzt werden, sondern gerade aufgrund ihres so-zusagen lehrfähigen, vermittelbaren »Wissens«, wird in dieser kurzen Pas-sage der Kindheitsmuster völlig deutlich. Man lernt in diesen Texten, dass der verlotterte »polnische Korridor« von den Deutschen so richtig aufge-räumt werden muss. Der autobiographische Roman bestätigt den politi-schen Traktat: In Aufsätzen und Reden aus den Jahren 1933 und 1934 hat der Reichsführer der deutschen Bauernschaft Walther Darré Gustav Frey-tags Soll und Haben für die Klarheit gelobt, mit der dort »jüdisch-nomadisches und germanisch-bäuerliches Denken« unterschieden wer-de.47 Er bleibt nicht der einzige. In »der Ostfrage«, schreibt Erwin Laaths 1934 in seiner Dissertation über Soll und Haben, rede Freytag »ausschließ-lich« als »der selbstbewußte, kampfbereite, nationale Deutsche. Freytags Haltung gegen Polen ist vielleicht der erfreulichste Teil seines vaterländi-______________________

44 Freytag, Soll und Haben, S. 605 (Anm. 9). 45 Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1910), München/Leipzig 1920, S. 225. In diesem

Verhältnis zum Raum überschneiden sich das Polen- und das Juden-Bild bei Freytag. 46 Christa Wolf, Kindheitsmuster (1976), München 2002, S. 198 f. 47 Darré, Um Blut und Boden. Reden und Aufsätze, S. 92 (Anm. 39).

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schen Wollens, weil es hier rein und ungemindert in Erscheinung tritt.«48

Was hier laut völkischer Expertise ›rein‹ in Erscheinung tritt, ist jene Kombination geopolitischer und biopolitischer Programme, die die Ero-berungs- und Rassepolitik des Nationalsozialismus auszeichnet. Die »sla-wische Wüste« wartet auf die deutschen »Kulturbegründer«,49 die Polen als Nomaden dieser Wüste sind rassisch minderwertig und müssen als »Urwidersacher« des deutschen Volkes verdrängt werden.50 Wir werden noch sehen, dass sich der Nationalsozialismus hier nicht völlig unbegrün-det eine Traditionslinie erfindet, die von Soll und Haben zum »Staatsgedan-ken von Blut und Boden« führt.51 Nicht ohne Grund, denn der Erzähler versteht den Auftrag des vom adeligen Dandy zum Conquistador des deutschen Ostgedankens verwandelten Fink explizit geopolitisch und biopolitisch: »Sein Leben wird ein unaufhörlicher siegreicher Kampf sein [...]; und aus dem Slawenschloß wird eine Schar kraftvoller Knaben he-rausspringen, und ein neues deutsches Geschlecht, dauerhaft an Leib und Seele, wird sich über das Land verbreiten, ein Geschlecht von Kolonisten und Eroberern.«52 Lebensraum bekommt ein Volk eben nicht »vom Himmel geschenkt«, es muss ihn »durch Lebenseinsatz erkämpfen«. Erst das »sieg-reiche Schwert«53 mache den wüsten »Raum im Osten« zu »Grund und Boden, auf dem dereinst deutsche Bauerngeschlechter kraftvolle Söhne zeugen können.«54 Gustav Freytags Roman erhält eben nicht nur schwa-che Resonanz im Literatursystem, sondern auch starke – in der national-sozialistischen Propaganda.

Ernst Moritz Arndt schreibt 1849: »Wir Deutschen wollen und müs-sen ein ganzes Volk und Reich sein. Wir wollen und müssen Weltverkehr und Handel haben.«55 Wie stehen ganzes Volk und Reich zu Weltverkehr und Handel? Das Problem, beides zugleich zu wollen, prägt auch Soll und Ha-ben. Der Roman kennt mehr als nur Fritz von Fink, der die polnischen Nomaden aus der »slawischen Sahara« hinausfegt, um dem Raum erstmals einen Nomos zu geben, der Volk und Reich verbindet.56 Interessant für meine These der Effekte literarischen Wissens ist das Konzept des Netz-______________________

48 Erwin Laaths, Der Nationalliberalismus im Werke Gustav Freytags, Wuppertal 1934, S. 61. 49 Hitler, Mein Kampf, S. 145 (Anm. 43). 50 Laaths, Der Nationalliberalismus im Werke Gustav Freytags, S. 60 (Anm. 48). 51 Darré, Um Blut und Boden. Reden und Aufsätze Teil II (Anm. 39). 52 Freytag, Soll und Haben, S. 696 (Anm. 9). 53 Hitler, Mein Kampf, S. 133 (Anm. 43). 54 Ebd., S. 132. 55 Arndt am 19. Juni 1849 in der »Deutschen Zeitung«, in: Ernst Moritz Arndt, »Arndts

Werke. Kleine Schriften III«, in: Arndts Werke. Bd. 10, hrsg. v. Wilhelm Steffens, Ber-lin/Leipzig/Wien/Stuttgart o.J., S. 138.

56 Carl Schmitt, »Der Reichsbegriff im Völkerrecht« (1939), in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles. 1923-1939, Berlin 1994, S. 344-354.

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werks, das Freytag in Soll und Haben vorlegt. Der Begriff »Netzwerk« kommt im Roman auch wörtlich vor,57 auf die damit verbundene Vorstel-lung kommt es mir allerdings an. Bezeichnet wird damit eine Beziehung zum Raum, wie sie der Weltverkehr globalen Informations- und Waren-austausches ermöglicht hat. Dass die Welt der Eisenbahnen und Telegra-phen sehr, sehr klein geworden ist, weiß Freytag genauso wie Politische Geographen und Technikphilosophen wie Carl Ritter58 und Ernst Kapp.59

Anton Wohlfahrt, Lehrling beim bedeutenden Großhändler Schröter, beschreibt die Welt der Wirtschaft als Verkehrs- und Kommunikations-netz:

Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die sich von einem Menschen zu dem anderen, über Land und Meer aus einem Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden einzelnen und verbinden ihn mit der gan-zen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen, und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten aller fremden Länder und jede menschliche Tä-tigkeit vor die Augen; dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch ich mithelfe, und sowenig ich auch ver-mag, doch dazu beitrage, daß jeder Mensch mit jedem andern Menschen in fortwährender Verbindung erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein.60

Die Fäden eines Netzes verbinden Knotenpunkte im Raum, während eine Raumordnung sich das Territorium restlos aneignet. Die netzwerkartige Verbindung von Relais lässt dagegen mehr oder minder große Maschen. Mit dem Begriff des Netzes wird also ein völlig anderes topographisches Konzept bezeichnet als das, was das oben skizzierte Projekt der Raum-nahme ausmacht. Das Netz, das der Handel über Land und Meer hinweg spinnt, sodass jeder einzelne mit der ganzen Welt verbunden wird, besteht in Soll und Haben aus Medien wie Telegraphen, Eisenbahnen und Dampf-schiffen, die Geld, Frachtbriefe, Terminkontrakte und natürlich Waren zirkulieren lassen. Land und Meer machen hier keinen geopolitischen Unterschied aus, sondern machen nur unterschiedliche Medien notwen-dig, um die Relais zu verbinden: Eisenbahnen oder Dampfschiffe, Kara-wanen oder Flöße. Der Weltverkehr einer globalen Weltgesellschaft brei-tet sich vor Antons Augen in einem Warenlager der Handlung Schröter aus:

Fast alle Länder der Erde, alle Rassen des Menschengeschlechts hatten gearbeitet und eingesammelt, um Nützliches und Wertvolles vor den Augen unseres Helden zusammenzutürmen. Der schwimmende Palast der Ostindischen Kompagnie, die fliegende amerikani-

______________________

57 Freytag, Soll und Haben, S. 356 (Anm. 9). 58 Carl Ritter, Einleitung zu allgemeinen vergleichenden Geographie, Berlin 1852. 59 Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus

neuen Gesichtspunkten (Braunschweig 1877), Düsseldorf 1978. 60 Freytag, Soll und Haben, S. 196 f. (Anm. 9).

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Das Wissen der Literatur am Beispiel von Gustav Freytags Soll und Haben 123

sche Brigg, die altertümliche Arche der Niederländer hatten die Erde umkreist, starkrippige Walfischfänger hatten ihre Nasen an den Eisbergen des Süd- und Nordpols gerieben, schwarze Dampfschiffe, bunte chinesische Dschunken, leich-te malaiische Kähne mit einem Bambus als Mast, alle hatten ihre Flügel gerührt und mit Sturm und Wellen gekämpft, um dies Gewölbe zu füllen.61

Freytags Roman lässt keinen Zweifel daran, wie sehr Anton und die Handlung Schröter zu schätzen seien. Wenn man aber nach der Raumpo-litik fragt, für die der Welthandel der Firma einsteht, dann wird eine ver-blüffende Parallele zu den jüdischen und polnischen Protagonisten des Romans sichtbar. Denn genau wie die polnischen Nomaden erweist sich der Weltverkehr in Soll und Haben überall im Verhältnis zum Staat und seiner Raumordnung als Vektor der Deterritorialisierung. Der Netzwerk-begriff und die Metaphorik des monetären Strömens entsprechen ganz und gar nicht dem Entwurf einer festen Bindung von Volk und Raum. Schröter begrüßt ausdrücklich die Loslösung des aus seiner Sicht degene-rierten Geschlechts der adeligen Rothsattel von ihrem angestammten Bo-den, der endlich kapitalisiert und produktiv gemacht werden soll. Am Ende des Romans macht der Erzähler Bilanz und schreibt:

Das Geld [...] wird wieder rollen aus einer Hand in die andere, es wird dienen den Guten und Bösen, und wird dahinfließen in den mächtigen Strom der Kapitalien, dessen Bewegung das Menschenleben erhält und verschönert, das Volk und den Staat groß macht und den einzelnen stark oder elend, je nach seinem Tun.62

Soll und Haben enthält nicht nur ein Plädoyer für Netzwerke, also für ein gänzlich anderes Raumkonzept als das der »polnischen Wirtschaft« sug-gestiv entgegengesetzte Bild der deutschen Raumordnung, der Roman singt auch das Hohelied des Geldes, obwohl an der deterritorialisierenden Funktion des Geldes kein Zweifel besteht, denn der Roman führt minuzi-ös vor, wie Geld uralte Bindungen von Volk und Raum auflöst. Freytag befindet sich hier in bester Gesellschaft mit zeitgleichen Geldtheorien von Marx, Heine oder Adam Müller.63 Es ist seinem Protagonisten Schröter vorbehalten, ausdrücklich für eine Auflösung ererbter Bindungen von Blut und Boden einzutreten:

______________________

61 Ebd., S. 50. 62 Ebd., S. 685. 63 Karl Marx, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844«, in: MEW,

Bd. 40, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1956 ff., S. 465-589; Heinrich Heine, »Ludwig Börne. Eine Denkschrift« (1839), in: Werke und Briefe in zehn Bänden, hrsg. v. Hans Kaufmann, Berlin/Weimar 1972, S. 83-229, hier: S. 107; Friedrich Balke, »Die ›Zirkulation des Staates‹. Adam Müller und die Medien der politi-schen Steuerung um 1800«, in: Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750-1830, hrsg. v. Erich Kleinschmidt/Torsten Hahn/Nicolas Pethes, Würzburg 2004, S. 123-146.

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Niels Werber 124

Wo die Kraft aufhört in der Familie oder im einzelnen, da soll auch das Vermö-gen aufhören, das Geld soll frei dahinrollen in andere Hände, und die Pflugschar soll übergehn in eine andere Hand, welche sie besser zu führen weiß.64

Das Geld soll frei zirkulieren, nichts habe daher auf Dauer Bestand in der »großen Flut der Kapitalien«. Die Gesellschaft evoluiert, sie ist ständig in Fluss. Die globale Zirkulation des Kapitals und der Weltverkehr der Wa-ren und Informationen werden im Roman durchgängig mit Metaphern des Maritimen belegt. Obwohl ein großer Teil des Romans das Meer als glatten Raum perhorresziert und damit in Struktur und Details den gesam-ten geopolitischen Diskurs von Ratzel bis Haushofer vorwegnimmt, wird der »mächtige Strom« oder die »große Flut der Kapitalien« als notwendig, fortschrittlich und nützlich begrüßt, gerade weil er alte Ordnungen auflöst und festes Land mobilisiert. Der Deutschordensritter und Baron Rothsat-tel erlebt die Mobilisierung seines Gutes durch moderne Finanzinstrumen-te als Überflutung, aber diese Auflösung fester Ordnung in bloße »Wellen« gilt den Händlern als notwendig.65 Während alles Fluten und Strömen aus der proto-geopolitischen Sicht des Romans stets negativ konnotiert wird, erscheint es aus der Netzwerkperspektive des Weltverkehrs als produktiv. Anton Wohlfahrt vertritt völlig unaufgelöst beide Positionen, wenn er etwa auf der einen Seite das Gut Rothsattel bewundert und die Ostkoloni-sation beschwört und auf der anderen Seite den Welthandel als grenzenlo-se globale Kommunikation, als Verkehr zwischen den Knotenpunkten eines Netzes feiert.

Das ›Wissen‹ der Literatur über Netze und Relais wird in ganz anderer Weise ›wieder verwendet‹ als das ›Wissen‹ über Rassen und Raumordnungen. Freytags Beitrag zur Mobilisierung und Zirkulation bleibt ohne Anschlussfä-higkeit und wird, anders als sein Ostkolonisationskonzept, nicht zur ›Kultur‹ im Sinne einer für die Wiederverwertung aufgehobenen Beschreibung. Den-noch handelt es sich in beiden Fällen um Selbstbeschreibungen, und zwar um Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, die sich im ersten Fall als Netzwerkge-sellschaft versteht, wie es heute mit Verweis auf das Internet selbstverständ-lich geworden ist, und die sich im zweiten Fall als eine Gesellschaft im Kampf oder Krieg unterschiedlicher Raumordnungen versteht, wie dies Carl Schmitt immer wieder vertreten hat und man es spätestens seit Huntingtons Aufsatz über den Clash of Civilizations in allen neorealistischen Publikationen zur Welt-politik wiederfindet. Die Fernwirkungen des Wissens um Räume, Ordnungen, Medien und Menschen, das Soll und Haben artikuliert, sind beträchtlich, und selbst der Widerspruch zwischen Raumordnungsmodell und Netzwerkmodell bei Freytag hat heute eine große Zukunft vor sich.

______________________

64 Freytag, Soll und Haben, S. 400 (Anm. 9). 65 Ebd., S. 375.

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III. Zwischen Positivismus, Hypothesenstreit und Utopie.

Das Paradigma Zola

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ECKHARD HÖFNER

Zola – und kein Ende? Überlegungen zur Relation von Wissenschaft und Literatur.

Der Roman expérimental und der Hypothesen-Streit im 19. Jahrhundert1

I.

Als Thomas Klinkert mich einlud, hat er durchblicken lassen, dass ihm ein Thema zum 19. Jahrhundert gut ins Tagungs-Konzept passen würde. Warum eigentlich nicht? In vielerlei Hinsicht kann man dieser Periode eine epistemologische Lage zwischen Literatur, Wissen, Wissenschaft ent-nehmen, die sehr spezifische Konturen aufweist: also eine bestimmte historische Variable darstellt.2

Ehe ich dazu einige kleine Punkte zu skizzieren versuche, möchte ich Sie mit wenigen kurzen, nennen wir sie interpretations-relevanten, Kon-textproblemen belästigen, die das »Beziehungsdreieck« (Klinkert, im vor-liegenden Band, S. 65-86) von Wissen, Wissenschaft, Literatur nicht selten belasten.

Wir – und ich nehme mich nicht aus, im Gegenteil – wissen viel zu wenig: aus wissenschafts-disziplinärer Verhaftetheit, aus ›Two-cultures‹-Übermut, gar Schwanitz’schem (Schwanitz 2002), geisteswissenschaftlich gut ›aufgeladenem‹ (Non-)Bildungsbegriff, oder einfach, weil ars lunga, vita brevis. Das meint nicht unsere literaturwissenschaftlichen, literaturhistori-schen Kenntnisse; nicht einmal unbedingt unsere Vorstellungen und Mo-delle vom ›Wissen‹ einer Epoche, von deren Epistemologie. In aller Regel ______________________

1 Der Text ist eine etwas verlängerte Fassung des Vortrages, den ich zum Kongress in Mannheim hätte halten wollen, krankheitshalber aber nicht habe halten können; man sehe mir zwei Dinge nach: Zum einen habe ich den Rede- und Vortrags-Stil beibehalten; zum anderen eine Misch-Bibliographie vorgelegt, d.h. die mir relevanten Forschungs-Texte fin-den sich am Ende des Beitrages zusammengefasst; zuweilen habe ich aber die bibliographi-schen Angaben auch in die Fußnoten verbannt, um die Literaturliste nicht über Gebühr auszudehnen.

2 Auch darüber habe ich, ebenso wie im weiteren Rahmen des Kongress-Themas, mehrfach dilettieret: Höfner (1980); (1987); (1991); (1998); (1999a/1999b); (2002); (2004).

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Eckhard Höfner 128

sind wir keine breit gefächerten Wissenschafts-Historiker; es ist ohnedies eine Schande, dass der Relevanz dieser Disziplin so wenig Raum gegeben wird an deutschen/europäischen Universitäten.

Das freilich ist zunächst ein Satz, dem man vielleicht eine leichte In-terdisziplinaritäts-Verbitterung3 meinerseits entnehmen kann (Höfner 2004); aber allemal noch kein Kontext- oder Interpretationsproblem. Stel-len wir uns aber einen Moment lang vor, ein literarischer Text ›umkreise‹, wie auch immer, eine, sagen wir, physikalische Theorie: meinethalben – wir haben vor kurzem deren 100. Geburtstag begangen – die (Spezielle) Relativitätstheorie. Das gäbe es nicht: bei Borges, Broch, Calvino, Dür-renmatt, Musil, neuerdings bei Thomas Lehr4 e tutti quanti? Und dann trifft dieser Text seinen Interpreten, einen ausgewiesenen Literatur-/Kultur-wissenschaftler, der aber das Pech hat, wiewohl sich erinnernd, als Student ein poster geliebt zu haben, das Einstein mit herausgestreckter ›Ätsch‹-Zunge zeigt, dem aber zumindest die Raumzeit-Vorstellung verborgen geblieben. Was zieht unser Interpret heran, wenn er das Allusions-Potential seines Textes schon deshalb nicht berücksichtigen kann, weil er gar nicht bemerkt, dass eine semantische Achse, gespeist aus anderen Wissens-Quellen denn seinen eigenen, wichtig sein könnte? Nun, er wird die Muster seines Wissens ›abklappern‹, die ihm vertraut; und dann den Versuch unternehmen, den Fremd-Text ›einzugemeinden‹. Und dabei u.U. die relevanten semantischen Achsen nicht gebührend berücksichtigen (cf. Höfner 2004). Intertextualität speist sich aber in der Regel, zumindest häufiger als man zunächst annehmen möchte, nicht allein aus Texten der »literarischen« (Tynjanov) oder verwandten ›Reihen‹, sondern auch aus anderen, die herbeizuziehen und geltend zu machen man nicht ohne wei-teres gewöhnt ist.5

Ich schmuggle mich nicht am angekündigten Thema vorbei. Meine zwei, drei passus hatten mit unserem General-Thema zu tun; ich will hof-fen, dies Profil halbwegs gültig aufzeichnen und umreißen zu können.

Um 1800 beginnt ein – temporeicher, ständig sich akzelerierender – Ausdifferenzierungs-Prozess in den Wissenschaften; und, was vielleicht noch wichtiger, es wird immer schwieriger, die Einzeldisziplinen, die ihrer Methoden, Wahrheits-Ansprüche, Autonomien gewahr werden, an und in ______________________

3 Vertieft durch die Tatsache, dass das ›geisteswissenschaftliche Imperium‹ zurückzuschlagen allzeit bereit erscheint, grundsätzlich unter Absolut-Setzung der Hermeneutik (dazu: Höf-ner 2004), zur Not mit Hegel’schen ›Geist‹-Begriffen; so neuerdings selbst aus, eigentlich, schien es, berufener Feder: Manifest (2005).

4 Thomas Lehr, 42, Berlin 2005, der einen seiner Handlungsorte mit einem Text Daniele Del Giudices (Atlante occidentale, Torino 1985) teilt, nämlich den des Teilchenbeschleunigers CERN in der Nähe von Genf.

5 Cesare Segre (1982) hat dazu den Begriff der interdiscorsività vorgeschlagen und neben die gewohnte intertestualità gestellt.

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Zola – und kein Ende? 129

Wissensbäumen6 zu orientieren, wie sie lange Zeit Geltung konnten bean-spruchen.

Auf der anderen Seite herrscht, sowohl im breite(re)n Publikum als auch unter vielen Wissenschaftlern, weiterhin Vertrauen auf Überblick-barkeit der Wissenschaften. Selbst unter Akademikern prävalieren nicht selten ›Kompatibilitäts‹-Annahmen, nämlich dergestalt, zu meinen, das eine, ein Befund (x) in (Y), schließe das andere, einen Befund (u) in (Z), nicht aus. Ein epistemologisches ›Allgemein-Wissen‹, jedenfalls seine Er-möglichung, bestehe fort. Ich meine, solches schlage sich nieder:

(a) in einer Akkumulations-Variante, für die die vielen Enzyklopädien und Conversations-Lexica (Meyer etc.) stehen;

(b) in einer Übersetzungs-/Übertragbarkeits-Überzeugung, die davon ausgeht, ein Befund des Wissenschafts-Feldes (x) sei auf Strukturen, Empirien des Feldes (y) nahezu bruchlos, eins-zu-eins, übertragbar – wie erkläre ich mir sonst – (Neo-)Nazis gab es ja noch nicht – so ›harte‹ Auswirkungen wie etwa den Sozial-Darwinismus? Der Weg zur Metaphorisierung steht weit offen: und wissenschaftlich ist das nicht der ›Königsweg‹; jedenfalls aus heutiger Sicht; auch nicht aus der einer behutsam rekonstruierenden Wissen-schafts-Geschichte;

(c) in der verbreiteten Überzeugung, bestimmte Wissenschaften, etwa die Physik, seien ›aus-theoretisiert‹; könnten darüber hinaus unbedenklich auf weitere Teilbereiche theoretische Anwendung finden. Womit in Zusam-menhang stehen mag

(d) die Ausformung fester, unverrückbarer Denk-/Habitualisierungs-Zwänge: ›Neues‹ und Unvertrautes hat es, gerade in Physik und Mathema-tik, schwer, wissenschaftliche Akzeptanz zu finden. Man beachte etwa Hilberts Axiomatik oder Machs Position zur Frage des Atoms;7 1867 er-schien Riemanns Habilitations-Schrift über die nicht-euklidische Geomet-rie: Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen; Helmholtz, ein großer und interdisziplinär gebildeter Gelehrter, replizierte 1868 mit einer Streitschrift: Über die Thatsachen, die der Geometrie zum Grunde liegen: Er wollte sich seinen Kant, seine synthetischen A-priori, sein Wahrnehmungs- und ______________________

6 Man ziehe getrost Texte wie Zolas Le Docteur Pascal heran, oder Pío Barojas El árbol de la ciencia.

7 »Sie sagen ›Atom‹? Haben’S scho aans g’seh’n?« Zuweilen hat es den Anschein, als wäre Kuhns (1962) Beschreibung des Paradigmen-Wechsels in der Wissenschaft und Wissenschafts-Geschichte solchen Epochen stärker verpflichtet denn etwa der ungleich höheren ›Wechsel‹-Freudigkeit des 20. Jahrhunderts.

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Eckhard Höfner 130

Rezeptions-Potential nicht nehmen lassen. Nur: den Sieg davongetragen, bis in die Minkowski-Räume, Albert Einsteins Theorie, so man mag: die Topologie, hat Riemann.

Auf der einen Seite also beginnt Wissenschaft ›hart‹/›exakt‹ zu werden, auch elitär, gruppen-abgeschottet; auf der anderen zerfließt damit das verbindliche Wissen, dem eine bestimmte Form der Encyclopäditis (cf. auch: Höfner 2002), trotz etwa Kants Warnung, versucht, eine Zusammenfas-sung, Popularisierung, Zugänglichkeit zu bewahren. Die vielleicht schöns-te Parodie stellt dazu Flauberts Bouvard et Pécuchet (cf. auch Höfner 1987) dar.

Die Literatur musste – so meine zweite Insinuierung, nicht schon gleich ›These‹ – auf diese epistemologische Herausforderung reagieren: ihr Verbindlichkeits-Anspruch, in Modellen – meinethalben sei der Ausdruck ›Fiktion‹ nicht gescheut – schmolz; das Wort, die Rhetorik, die Literatur fanden sich umstellt von anderen Sprachen und Fach-Semantiken, Per-spektiven und Methoden.

Wer sich nicht als bloßer Fabulierer verstehen wollte, musste wohl den Blick riskieren auf die Macht der Wissenschaft, die auch noch schein-bar Unumstößliches zu sagen wusste, seit dem anthropologic turn des 18. Jahrhunderts, über Reaktionsweisen des Menschen, seine Handlungen, seine Gefühle, kurzum: den Fundus der Literatur und ihrer Modellierun-gen.

Und so ist denn wohl der literarische Realismus nicht rückbindbar an Deskriptions-Verliebtheiten über détails, auf der Schiene des Champfleury – wie sagte doch Baudelaire (1961: 636) in einem Aufsatz, der dem fol-genden zur Madame Bovary problem-nah und ergebnis-fern steht, so schön: »Cependant, if at all, si Réalisme a un sens – discussion sérieuse« –, auch nicht allein an die Beobachtung und Thematisierung sozio-ökonomischer Strukturen, die es andererseits gibt; nicht einmal allein an die Ästhetik des Hässlichen, also den Anspruch, dass Literatur nicht nur die »belle nature« verhandle, sondern jedwede; sehr wohl aber ist er, vielleicht in besonde-rem Maß, in seiner Rückkoppelung an Wissenschaft – wobei es völlig unerheblich bleibt, ob so manche der wissenschaftlichen wie in der Litera-tur vertretenen Annahmen über ›Welt‹ über ein gewisses Lach-Potential, aus heutiger Sicht, verfügen – eine ›Naturwissenschaft‹.

Im Spannungsfeld unseres General- und Leit-Themas lässt sich, so meine ich, eine Orientierungs-Wissenschaft meines Zeitraumes ausma-chen: nämlich die Biologie, selbst wenn deren Wissensgebiet noch ziemlich lange unter dem Term histoire naturelle verhandelt wird, obzwar die neue Bezeichnung – eben ›Biologie‹ – 1802 sowohl von Lamarck wie von Bi-chat in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde.

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Zola – und kein Ende? 131

Selbstverständlich träfe die Entgegnung, ich verkürzte und verstüm-melte – schließlich werden wir auch Zeuge einer non-euklidischen Geo-metrie, der Formulierung ›formaler‹ und logischer Sprachen und anderer Dinge mehr – die Wissenschafts-Geschichte, die weder überblicksgemäß noch gar strukturiert vorzutragen ich mir anmaße, völlig ins Schwarze; aber ich kenne kaum einen literarischen, kulturgeschichtlichen Text, der diese Entwicklungen aufgefangen, gar reflektiert hätte: sehr im Gegensatz zu kulturgeschichtlichen und literarischen Texten des 20. Jahrhunderts.8

Allerdings: diese ›biologische Dominanz‹ fächert sich schnell auf: Phy-siologie, Psychologie, Neurologie, Evolutionslehre; Genetik, Zellfor-schung. Ja, sogar Soziologie: Comte. Ich kann mich sehr wohl täuschen; aber dass plötzlich, statt der Ritter und Recken, der höfischen Menschen, auch der Schäfer und Idylliker, der berufslosen Individuen, der Philoso-phen etc. plötzlich die Ärzte zu zentralen Roman-Figuren geraten: Mir erschien dies immer auch als der Versuch, diverse biologische Teil-Tätigkeiten und deren Wissen in Form einer ›Berufs‹-Figur zu bündeln; gar nicht so unklug, denn schließlich erhält auch der Term ›Beruf‹ neue Kon-turen (cf. Föcking 2002); selbst wenn ein alters-spöttischer Flaubert die Experiment-Phase, die permanent scheiternde, ins nachberufliche Leben seiner Protagonisten verlegt (Bouvard et Pécuchet). Schließlich bestehen auch literarische Notwendigkeiten – solche also der Textsorte –; und ein Arzt ist eine Figur, ein agens, dem man Diverses unterlegen kann: zeitgemäßes Wissen, aber auch Emotionen, Handlungsweisen, Erklärungsmuster eben-so wie Irrtümer oder Scheitern.

Wenn mir meine Skizze nicht arg verrutscht ist, so könnte sie auch zeigen, dass man lange Zeit im 19. Jahrhundert noch versucht hat – auch Claude Bernard und Émile Zola wären kein schlechtes Beispiel dafür –, gegenseitige Darstellungs-Kontakte zu etablieren: eine Initiative, die aber gegen Ende der Epoche verloren ging. Damals wurde der Bruch zwischen den »zwei Kulturen« (Snow) eingeleitet, unter Verschulden aller beteiligten Fraktionen, der durch Verbesserungs-Vorschläge, etwa »drei Kulturen« (Lepenies), kaum gemildert wurde. Und der Zwist trägt, wie etwa die De-batte zwischen »Hirnforschung und Willensfreiheit« zeigt: die »Geistler« ______________________

8 Schon in ersten Jahrhundert-Rückblicken wird, aus weniger kulturwissenschaftli-chem/anderem wissenschaftsgeschichtlichen Blickwinkel, das 19. Jahrhundert als das »na-turwissenschaftliche Zeitalter« (Werner von Siemens, Das naturwissenschaftliche Zeitalter,1886), als Ära des »Übergangs aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeit-alter« (Rudolf Virchow – das Comte’sche Drei-Stadien-Gesetz lässt grüßen –, Die Gründung der Berliner Universität und der Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter,1893), als »Jahrhundert der mechanischen Naturauffassung« (Ludwig Boltzmann, Der Zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie, 1886) oder, tout court, als »Jahrhundert der Naturwis-senschaft« (Ernst Haeckel, Die Welträtsel, 1899) gekennzeichnet. Und die damalige Biologie ist noch nicht ohne weiteres als ›Naturwissenschaft‹ zu interpretieren.

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sind verärgert – schaut man genau hin: nicht zuletzt von der Tatsache, dass sie von Neurologie nichts verstehen; die anderen haben, in der Hoff-nung, ein Dialog könne sich einstellen, Experiment-Ergebnisse über die Maßen und Parameter hinaus interpretiert. Und andere Wissenschaften reden lieber gar nicht mit der Kultur-Wissenschaft; und vice versa. Bloß: Wie lesen wir sie dann, die Texte von Borges, Brecht, Broch, Calvino, Dürrenmatt, Musil e tutti quanti?

Ich schulde Ihnen, zu den obgenannten Punkten, Behauptungen und verkappten Thesen, zumindest einige Beispiele. Und an einem etwas aus-führlicheren möchte ich es denn nicht fehlen lassen.

Zunächst aber möchte ich mit einigen Fragen beginnen,9 die das Problem umkreisen sollen, wie man die Relation(en) Wissen, Wissenschaft,Literatur – R ((W); (Wt); (Lt)) – halbwegs gültig beschreiben könnte. Ich werde mich dabei allerdings in erster Linie auf die R ((Wt); (Lt)) beschrän-ken; in meiner Epoche sind (W) und (Wt) bereits so ausdifferenziert, dass von einem verbindlichen Wissens-System kaum mehr – allen enzyklopädi-schen Unternehmungen zum Trotze (cf. Höfner 2002) – gesprochen wer-den kann, und die Frage nach R ((W); (Wt)) nur noch auf der Rezipienten-Ebene – welche Elemente von (Wt) finden, vermittels welcher Text-Distribution, Eingang in ein (W)10 bestimmter sozialer Gruppen? – venti-lierbar scheint.11

(a) Unter welchen Bedingungen können die jeweiligen ›humanen Tätigkei-ten‹, die ›Systeme‹ (Wt) und (Lt) aufeinander bezogen werden? (b) unter welchen meta-diskursiven Prämissen? (c) unter welchen Wissens-(Produktions-; Text-; Rezeptions-)Vorausset-zungen kann die Frage nach der R ((Wt); (Lt)) überhaupt erst gestellt wer-den?

So erkenntnisdienlich auch viele Einzelstudien ausgefallen sind, es bleibt der Eindruck bestehen, dass zum einen Interpretations-Regeln sensu stricto(am systematischsten wohl Titzmann 1977) solcher Zuordnungs-Möglichkeiten noch ausstehen – und solches wird ohne jeweilige System-Rekonstruktionen nicht zu leisten sein; dass zum zweiten die Interaktion (Produzent) – Text – Rezipient nicht hinreichend ausgeleuchtet ist; des ______________________

9 Cf. Maillard/Titzmann; in: Literatur/Wissen (2002: 7-37). 10 Äußerst nützlich und operationalisierbar die Begriffe des sozio-kulturellen Wissens (Titzmann

1977) und der enciclopedia (Eco 1987). 11 Durchaus auch sprachlich/terminologisch gesehen. Vorbei die Zeit, zu der man in

Deutschland, noch im 18. Jahrhundert, sagen konnte, (X) habe ›die Wissenschaft, Gemüse zu züchten‹ (cf. etwa Adelungs Wörterbuch). In Frankreich scheint der Term scientifiquedurch Marat um 1792 Eingang gefunden zu haben in die Dictionnaires; in England hat of-fenbar erst Whewell um 1840 den Begriff scientist hof- und gebrauchsfähig gemacht.

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Zola – und kein Ende? 133

weiteren die R ((W); (Wt)) zu beobachten bliebe, ungeachtet der Tatsache, dass sich eine Wissenschaft ab dem 19. Jahrhundert erheblich vom ›All-gemein‹-Wissen entfernen kann; ferner, dass eine R ((Wt); (Lt)) auf diver-sen Ebenen denkbar ist, so etwa in der Methodologie oder aber in den ›Ergebnissen‹, die man einer (Wt) entlehnen will; letztlich, dass, da eine Eins-zu-Eins-Übertragung in aller Regel nicht zu leisten ist, mit einiger Wahrscheinlichkeit ›Gebrauchs‹- oder ›Übertragbarkeits‹-Annahmen den Transfer mitbestimmen, etwa dergestalt, dass man, so der Fall des 19. Jahrhunderts, stärker auf anthropologisch-biologi(sti)sch zentrierte (Wt)-Systeme rekurriert denn auf zeitgleich verfügbare andere.

Diesen vielfältigen Fragestellungen kann ich hier nicht gerecht wer-den; einige werden aufgegriffen und an meinem Beispiel sichtbar.

II.

Ich möchte mit einem (scheinbar) wohlbekannten Text beginnen, mit Zolas Ausführungen zum Roman expérimental (1879). Im Versuch, eine ›déjà-vu, déjà connu‹-Reaktion zu vermeiden oder einzuschränken, fokus-siere ich diesen Text auf seine wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte. Sol-ches hat nicht nur den inconvénient, dass damit die Wissenschaftsbreite der Epoche nicht in den Blick gerät. Das ist insofern zu verschmerzen, als in aller Regel gerade die Lebenswissenschaft(en) dieses Zeitraums besonders beachtet werden, gerade auch von der Literatur, in denen freilich, zur Ausdifferenzierung des eigenen Forschungs-Bereiches, der Eindruck ent-stehen kann, als seien Physik und Chemie quasi abgeschlossene Diszipli-nen, die zwar partiell als Basis für die Lebenswissenschaften gelten müssten, aber nicht weiter entwicklungs- und transformations-offen wären, gemäß einem der vielen ›Stadien‹-Gesetze Comte’scher Prägung, die nicht nur geschichts-spekulativ sind, sondern auch die berühmte ›Pyramide‹ der Wissenschaften mit sich führen, die eben von einer physikali-schen/chemischen/teil-astronomischen Basis aus sich verjüngt in Biolo-gie, Pathologie, Medizin, letztlich Physiologie, die ihrerseits erneut eine gültige Basis würden abgeben können für Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, ein Gebilde, in dem dann auch die Künste, gerade die Litera-tur, ihre neue Heimstatt würden finden können, jedenfalls dann, wenn sie sich der strikten wissenschaftlichen Methodologie würden anschließen wollen und können; diese Annahmen sind zwar wissenschaftstheoretisch nicht unproblematisch, im 19. Jahrhundert aber tragend. Zum zweiten wird man, bemüht man das genannte Beispiel Zolas, auch noch die Breite der Debatten, auch der Irrwege und Fehlschläge, innerhalb der Lebenswis-senschaften genötigt sein einzuschränken auf die Faktoren, die dem Litera-

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ten hier primär erschienen: (neue) Physiologie (die Claude Bernards), »méthode expérimentale« (vs. Spekulation, Naturphilosophie, ›reine‹ Empirie), Verer-bungslehre.

Bleibt ein letztes, in minimal zwei Aspekte aufgliederbares Unbeha-gen: (a) nach welchen Grund-Mustern man denn generell Wissenschafts-Geschichte zu schreiben wünscht, scheint mir so gänzlich noch nicht ausdiskutiert zu sein – und die Frage stellt sich bei ›Beschreibungs-Skizzen‹ keineswegs weniger heftig denn in ausführlichen Monographien. So ist es zwar gängig, eine Kontinuitäts-Darstellung, gerne betont als Fortschritts-, Entwicklungs-Geschichte, zu favorisieren, ein uni-lineares Modell, das die Brüche, Diskussionen, débats acharnés verkürzt, gar unter-schlägt, wiewohl man gewiss aus der Deskription der Diskontinuitäts-Gründe viel lernen kann, nicht zuletzt über die, stellenweise gut verborge-nen, ›metaphysischen‹ Vor-Urteile der Positionen (X) oder (Y); man, in zweitem Modell, Zugriffe bekäme auf die ›Zufälle‹, ›Intuitionen‹ u. dgl., die im Vorfeld von Theorie-Bildung sich häufig ergeben; und (b) verwiese uns auf den Tatbestand, dass, jedenfalls in Wissenschafts-Klassen gesehen, das 19. Jahrhundert, das sich dazu freilich des, wenn auch bereits auf wackeli-gen Terrain-Beinen stehenden, Terminus der Allgemeinbildung bedienen konnte – man rufe allein eine Gestalt wie Helmholtz als Beispiel auf den Plan –, interdisziplinärer war als so manche Studien-Ordnung auf Inter-disziplinarität ausgerichteter Studien-Gänge. Ich darf Ihnen versichern, dass ich in erster Linie mich selbst meine, in meinem Bemühen, etwas zu skizzieren, das mir nur teil-vertraut ist; es aber dennoch bemerkenswert finde zu sehen, dass Zolas Text beinahe überall in ästhetischen Diskussio-nen verhandelt wird, obgleich der Autor selbst dieser Perspektive nur die »divers points secondaires« im V. Kapitel seiner Schrift widmet; wohinge-gen die Wissenschafts-Historiker im allgemeinen, und selbst wenn sie belesen sind wie etwa Canguilhem, die Aufgreifungs-Bemühungen der Literaten grundsätzlich nicht in Anschlag setzen; obgleich auch hier gälte, dass man, selbst aus der ›Schieflage‹ der Adaptation, einiges über die Re-zeption der wissenschaftlichen Modelle zu lernen vermöchte.

Wir konzentrieren uns auf einige wenige wissenschaftliche Entwick-lungen des 19. Jahrhunderts, die mit Zolas speziellen Interessen, nicht nur denen des Roman expérimental, Schnittmengen bilden:

(a) Vererbung: bekanntlich hat Zola selbst, in seinem Projekt der Rougon-Macquart, auf Prospère Lucas (1847-50) Bezug genommen; ebenso be-kannt ist, dass dies – wissenschaft(-sgeschicht-)lich – keine sonderlich förderliche Referenz darstellt. Es bleibt also zu rekonstruieren, welches Wissen der Zeit in diesem Forschungsbereich als halbwegs gesichert gel-ten kann.

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Unternimmt man diesen Versuch, selbst in Form einer Rahmen-Skizze, stößt man auf ein sehr ungesichertes Wissen dieser Zeit, in dem, neben den Lücken, die sich auftun, und neben den (natur)-philosophischen Annahmen und Postulaten, hohe Unsicherheit herrscht. So war auch den genetisch interessierten Forschern, selbst den durchaus einen Determinismus akzeptierenden, die Theorie Lamarcks, der zufolge auch erworbenes Wissen vererbbar sei, willkommener – cf. noch etwa Mach (1896) und (1905) – denn des knapp späteren, Zola bekannten Embryologen Weismann schroffe Zurückweisung dieser Annahme, so als wäre Lamarck der letzte Brückenpfeiler zum Ufer des Vertrauten, gar ›Humaneren‹.

Daneben stehen die Rezeptions-›Katastrophen‹, wie etwa im Falle Mendels, dessen erste Ergebnisse zwar 1865 vorlagen, sogar in veröffent-lichter Form, freilich an einer Stelle, der Brünner Akademie, vorgelegt von einem Mönch, wo sie über lange Jahre kein Echo fanden; wiewohl der sonstige internationale, jedenfalls europäische Austausch der Ergebnisse recht befriedigend funktionierte. Geläufig dagegen waren philosophische Überlegungen zu einer Urzeugung, denen zufolge ›Leben‹, jedenfalls ›niede-res‹, auch aus bestimmter faulender organischer Materie hervorgehen könne; ferner die Vorstellung eines involucrum (»Präformationstheorie«), wonach sich, etwa im Ei (etwa des Huhns), das zu gebärende Geschöpf ausgebildet und eins-zu-eins abgebildet befinde, wenn auch en miniature.Plausibler erschien die Vorstellung Lamarcks – auch glaubwürdiger, war er doch ›Biologe‹, hatte zudem erste Gedanken zu einer Evolution entwi-ckelt; neben dem weiteren, sehr einflussreichen Gedanken, jede biologi-sche Entwicklung schreite vom Einfachen zum Komplexen fort –, (nahe-zu) alles, selbst Anerlerntes, Anerzogenes sei (weitgehend) vererbbar. Jedenfalls fehlte noch weitgehend, zumindest auf Akzeptanz-Stufe, eine halbwegs ausformulierte Zytologie, gar eine Embryologie.

Ein wissenschafts-linear denkender Epistemologie- oder Diszip-lin(en)-Historiker wird dem, im Entkräftungsversuch der Ansicht einer Malpighi- oder Spallanzini-Verhaftetheit, eine, eben, Entwicklungslinie ent-gegenhalten, die die Studien von Baers auflisten könnte, die Rathkes, Browns, Schleidens und Schwanns et aliorum bis hin zu Weismann und ff. Der Katalog könnte sogar exhaustiv ausfallen; er litte dennoch zumindest an einem Fehler der archéologie du savoir (M. Foucault), nämlich an dem, die Echos, Resonanz-Böden und Reperkussionen vernachlässigt zu haben; damit die epistemologischen Zusammenhänge, in denen solche Orientie-rungen gelesen, rezipiert, weiterverarbeitet wurden.12______________________

12 Um en passant ein schönes Beispiel zu geben, verweise ich auf das Nachwort des Herausge-bers der Edition einiger Schriften von Baers: Karl Ernst von Baer, Entwicklung und Zielstre-bigkeit in der Natur. Schriften, hrsg. v. Karl Boegner, Stuttgart 1983. Der Herausgeber zögert

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Ich exkulpiere hier nicht Zolas zuweilen, weil ›unwissenschaftlich‹ – aber in wessen Augen? –, belächelten Rekurs auf P. Lucas; ich konstatiere, dass er, selbst bei besserem Wissenschafts-Verständnis, kaum in der Lage gewesen wäre zu sagen: ›Nach gültiger, übereinstimmender Theorie, ist (x) so zu sehen, dass im Theorie-Rahmen (Y) ein(-ein-)deutig folgt, dass (x) (…)‹, so etwa wie ein heutiger Physiker zu sagen berechtigt wäre, unter der Gültigkeits-Annahme der Quanten-Theorie oder der Relativitäts-Theorie sei ein (physikalisches) ›Ereignis‹ genau so und so zu beurteilen.

Ich meine eher: Wenn es weiterhin interessant ist, sich mit der Epis-temologie des 19./(beginnenden) 20. Jahrhunderts zu beschäftigen, so liegt das präzise an diesem konstatierbaren Aufbruchs-, Optimismus-, ›Positivismus‹-Faktor, der sich gleichsam von selbst mit hochgradiger Tritt-Unsicherheit paart, an diesen Unsicherheits- und Unstimmigkeits-Variationen.

Ich gebe gerne zu, dass angesichts einer Vererbungs-Vorstellung, die Erbanlagen vermeint ›mathematisieren‹ zu können, nicht per Algorithmen, sondern per Bruchrechnung, einem Leser, der z.B. von der arischen Aus-sonderung in Halb-, Viertel-, Achtel-Juden choqué ist und bleibt, berechtig-te Vorbehalte ›sauer‹ aufstoßen, auch wenn ein Zola diese Vererbungs-Vorstellung nicht nur teilt, sondern sie, im Zusammenhang mit gewiss kaum vererbbaren Phänomenen wie Alkoholismus, gar zum ›biologischen Zyklus‹-Aufbau seiner Rougon-Macquart wählt.13

Aber zuweilen habe ich Lust, einem Gedanken zu folgen, der, nach Canguilhem, gar nicht allein bodenlos, spekulativ, sondern aufschlussreich ist; und der seit der Uchronie Charles Renouviers bis zu den ›A-Chronie‹-Überlegungen von Historikern wie Literaten eine Rolle spielt:14 Was hätte ein Zola z.B. – man entwächst nicht so leicht (pseudo-)mathematisierten Modellen etwa eines cartesianischen Weltbildes, in das die ›Lebens-Tatsachen‹ durchaus (wie rudimentär auch immer) eingebettet sind, selbst dann nicht, wenn man das 18. Jahrhundert im Sinne etwa Diderots durch-forstet hat; und die recht deutliche Rückweisung der Mathematik in der Biologie ist schon wieder passé, wie immer weitere Entwicklungen ausfal-______________________

nicht, von Baer einzuordnen, nicht nur in die Reihe der goethezeitlichen Naturphilosophie; er erhebt ihn auch zum Ahnen – und das hat der wackere Balte wahrlich nicht verdient – der Anthroposophie Rudolf Steiners.

13 Erheblich sodbrennen-förderlicher sind etwa die Rassen- und Vererbungstheorien bei Baroja (1911), IV. Teil, die freilich, keineswegs allein in Spanien, (allgemeines und politi-sches) ›Wissens‹-Terrain erobern.

14 Zur Figur ›Was wäre geschehen, wenn nicht (x), sondern (y)‹ in Historiographie wie Litera-tur cf. Rodieck (1993); literarisch z.B. Jorge Semprún, L’Algarabie (Paris 1981; dt.: Algarabía oder Die neuen Geheimnisse von Paris, Frankfurt a.M. 1985; der Untertitel spielt auf einen Ro-man Eugène Sues an, Les mystères de Paris (1843), der in der Folge romanhafte Großstadt-Geheimnisse – London; Sankt Petersburg; Lissabon – inspirierte).

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len mögen, da eben die entwickelte Mathematik, im Sinne des Aufbaus von kybernetischen Regelkreisen und informations-theoretischen Formal-Sprachen, der Biologie applikable Modelle an die Hand gegeben hat –; ich denke also manchmal daran, was z.B. Zola in den 1865er Studien des re-zeptions-unglücklichen Brünner Mönches gefunden, besser: ›gelesen‹ hät-te. Auch die Mendel’schen Gesetze kennen eine, wenn auch auf Zeit- und Orts-Achsen verteilte, ›aufgespaltene‹ Bruchrechnung; wenn auch über andere, nicht strikt automatisierte ›Verteiler‹-Stationen; hätte er, Zola, sich bemüßigt gefühlt, seine Vererbungs-Annahmen zu revidieren? Ich präsu-miere solches nicht, aber es würde mich, en cas que, nicht wun-dern/gewundert haben, hätte er seinen Lucas dann mit Mendel ›gemen-delt‹.

Innidationen wissenschaftlichen Wissens, vor allem dann, wenn ge-koppelt mit der Tragweite der Modelle – auch da hat eine Beschleunigung der Prozesse eingesetzt, allerdings spürbar erst im 20. Jahrhundert –, be-dürfen der Reflexions- wie Akzeptanz-Zeit.

Man muss diesem ›Überzeugten‹ – dem in seinem epistemologischen System keineswegs ›Naiven‹ – seine ›Überzeugung‹ nicht rauben; und schon gar nicht, weil das Œuvre ästhetisch-literarisch vielschichtiger, multi-perspektivischer erscheint, was ja selbst Literatur-Kritiker zuzugeben be-reit sind. Wenn wir auch selbst, von Fall zu Fall, ›Kinder unserer Zeit‹ zu sein wünschen, dann sollte man solches problemlos konzedieren; auch wenn man, inzwischen, über die da und dort verhandelten biologischen und literarischen, nicht: allgemein moralisch-ethischen, Vorstellungen hinausgekommen ist.

(b) Zytologie (Zell-(Kern-)Forschung) und Bakteriologie: Der Tenor einer Verschränkung von Erbforschung und Zellforschung klang bereits an – ohne Beschreibung der Zelle keine Lebenswissenschaft, ohne Embryologiekeine (anthropos-spezifische) Evolution.

Relevanter erscheinen uns die Ergebnisse der Zellforschung auf dem Gebiet der Bakteriologie, und zwar unter dem Eindruck, dass das wissen-schaftliche Ansehen, das sie, auch als eine gesellschafts-relevante, genießt – und mit ihr das der Mediziner (insgesamt, cf. auch Föcking 2002) –, nicht allein, aber gewiss auch prominent vertreten in der Literatur auf-taucht.

Besonders die Mikrobiologie dürfte hier eine große Rolle spielen: Auf der einen Seite werden, innerhalb der Wissenschaft, und zwar in einer Weise, die Cartesianer, wenn auch nicht Anhänger Diderots, vor den Kopf stoßen muss, die Grenzen von belebt vs. unbelebt neu gezogen; auf der anderen ist diese Forschung geeignet, durch die Erfolge in Seuchenbe-

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kämpfung, Impfung und Hygiene,15 damit Steigerung statistischer Lebens-Erwartung, langanhaltende Ängste auch des breiteren Publikums zu mi-nimieren und in optimistische Sicht zu transformieren: ein Fortschritts-glaube macht sich breit, der erst gegen Ende des Jahrhunderts über das Problem eines möglichen ›Wärme‹-/›Kälte‹-Todes: Energie-Verlustes der Erde (Entropie-Problem und der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik) wieder zu neuen innerweltlichen Befürchtungen gerät.

Wir schreiben aber keine Sozialgeschichte, auch keine Sozial-Psychologie; bleiben also bei Zola. Was aber – neben dem Ruf Claude Bernards als eines Experimentators, der die bereits länger bekannte Physio-logie auf neue, bislang und bis zu Magendie unbekannte Pfeiler stützt: Zola wird geradezu hymnisch von einer neuen Ära des »homme physiologique« sprechen – könnte letztgenannten bewogen haben, sich mit ersterem so genau auseinanderzusetzen? Bernards verstreute Anmerkungen zum Sta-tus der Literatur, die mehr als klassizistisch traditionell ausfallen, bestimmt nicht; Zola hat sich selbst vehement gegen dies Traditionsbild von den Aufgaben und Spezifizitäten der Künste gewehrt. Die Darlegungsform der Introduction à la médecine expérimentale schon eher, die zwar hochgradig wis-senschafts-theoretisch relevant (dazu: Unterpunkt (c)), aber so geschrie-ben ist, dass man kein Fachmann zu sein braucht, um sie lesen und ver-stehen zu können; das freilich teilt sie mit einer Reihe von Fach- und Dis-ziplin-Begründungs-Schriften des Zeitraums.16

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15 In aller Kürze sei erinnert an die Entdeckung der Mikro-Organismen und an den Nach-weis, dass sie als Auslöser der contagia animata in Frage kommen: die Pocken-Impfung war bekannt; nun also: Gärung (Pasteur, um 1857); um 1878-1880: Milzbrand; TBC, Cholera(Koch); Typhus, Diphtherie, Bubonen-Pest (Koch-Schüler); Hühner-Cholera, Tollwut (Pasteur). Dazu Hygiene (etwa: Pettenkofer; Semmelweis: Kindbettfieber). Wir verweisen auf historische, nicht medizinische Arbeiten Alain Corbins: zum einen auf Le Miasme et la Jonquille. L’odorat et l’imaginaire social, XVIIIe –XIXe siècles, Paris 1982; zum anderen auf Les filles de noces. Misère sexuelle et prostitution (19e siècle), Paris 1978: vor allem letzteres – die Registrierung und medi-zinische Pflicht-Untersuchung der Prostituierten – hat viel mit der Vererbungs-Frage zu tun; nicht nur in Frankreich, auch in anderen Ländern, ging die Furcht um, das ›Erbgut der Nation‹ könne durch Geschlechtskrankheiten, übertragen vor allem durch Prostitution, ir-reparablen Schaden nehmen. Den Syphilis-Erreger bekam man freilich erst 1905 in den wissenschaftlichen Griff; und bis zur medizinischen Penicillin-Therapie (anstelle von Quecksilber) sollte es noch eine gute Weile dauern.

16 Korrelat zur Naturphilosophie; wenn man gegen die ›Systeme‹ wettert, versucht man auch, so zu schreiben, dass man breitere, ›philosophische‹ Resonanz finden kann. Und zwar nach Möglichkeit weniger metaphysisch-›geschraubt‹, klarer und unter Beiseite-Lassung indefini-ter/nicht-verifizierbarer Begriffe: es ist ja nicht so, dass man etwa Schelling klar verstehen könnte; und selbst bei z.B. Carus hat man so seine Mühen. In den Naturwissenschaften ist es schon lange üblich, die eigenen Ergebnisse auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen – und zwar so, dass nicht der unsinnige Vorwurf der Populärwissenschaft im Raum steht; in unserem Zeitraum, cf. etwa Ludwig Boltzmann, Populäre Schriften, Leipzig 1905; Hermann von Helmholtz, Vorträge und Reden, 2 Bde, Braunschweig 1865 und 1896;

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Schon in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts gelang Bernard, der im Bereich des Metabolismus arbeitete, eine neue Entdeckung mit Nachweis: die Bildung von Glucose in der Leber selbst, die dann ins Blut abgegeben wird, im Urin ausgeschieden werden kann. Neu, weil man bis dahin angenommen hatte, dass Zucker ausschließlich durch Nahrungs-Aufnahme in den (organischen) Körper gelange. Da es sich bei diesem Vorgang um die Bildung eines Stoffes innerhalb einer Körper-Drüse und dessen Weitergabe handelt, nannte man ihn ›Innere Sekretion‹.17

Der Gesamtkomplex innerer Sekretionen, soweit damals bekannt, taucht bei Bernard unter dem Terminus des »milieu interne« auf, auch in der Introduction. Diese Vorgänge, die eine Regel-Basis haben, einem ›Me-chanismus‹ gehorchen, haben ihre erste Beschreibungs-Grundlage in der organischen Chemie; sie sind in der Physiologie und Pathologie von hoher Relevanz; sie sind eindeutig ›beobachtbar‹, aber auch, ein-eindeutig, der ›experimentellen Methode‹ unterwerfbar.

Es ist nicht allzu schwierig sich vorzustellen, was einen Zola, einen Schriftsteller, der seinen Comte genau gelesen und von ihm die Konzepti-on einer Wissens-›Pyramide‹, nach der ein Ergebnis der Chemie weiter verwert- und ausweitbar sein wird in der Physiologie/Pathologie/Medizin, aufgreift, am »milieu interne« ›elektrisiert‹ haben muss. Nicht zuletzt des-halb, weil seit Comte Annahmen darüber, dass es in Biologie wie Soziolo-gie nicht nur einen deutlichen, sondern sogar deterministisch zu interpre-tierenden Einfluss des »milieu externe«, der Umwelt, gebe, sozusagen, nicht Wissens-, aber doch Wissenschafts-Standard geworden war; und die Schriften Darwins und der Evolutions-Biologie bestätigen solches aufs deutlichste.18

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Ernst Mach (1896) und (1905). Der Trend hat sich im 20. Jahrhundert erheblich verstärkt; cf. Höfner (2004).

17 Noch heute führen medizinische Wörterbücher, etwa der Pschyrembel, den Namen des Entdeckers an: »Sekretion. Innere S. (Claude Bernard, 1855)«. Das Datum ist nicht ganz korrekt: Claude Bernard, Recherches sur une nouvelle fonction du foie considéré comme organe produc-teur de matière sucrée chez l’homme et les animaux, Thèse-doctorat ès sciences, Paris 1853. Bekanntlich verabreicht die Medizin bei Hyperglykämie wie Diabetes mellitus, klinisch seit 1931, Insulin, ein Zell-Produkt (Langhans-Zellen) des Pankreas; es liegt also, im non-pathologischen Fall, endokrin, ein Steuerungs-Mechanismus per ›innerer Sekretion‹ vor, den man im Fall seiner ungenügenden Leistungen »von außen« aussteuern muss. Um mich dem Verdacht zu entziehen, mich hier einzig auf den Pschyrembel zu stützen: man nehme jedes beliebige medizinische Hand- und/oder Fachbuch; zur Wissenschafts-Geschichte, etwa Canguilhem (1943), vor allem (1977).

18 Ähnliche Gedanken gelten bereits für Geoffroy Saint-Hilaire, der Balzac – nach Zolas Auffassung einer der ersten romanciers naturalistes – maßgeblich motivierte (cf. den »Avant-Propos«, aber auch die Widmung des Père Goriot); cf. etwa auch Lyell, der auf Darwin rückwirkt.

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Wenn sowohl Physiologie wie Soziologie Wissenschaften sind, in de-nen durch Determinismen bestimmte ›Vorkommnisse‹, ›Ereignisse‹ eine beobachtbare zentrale Rolle spielen, stellt sich die Frage nach dem Zu-sammenwirken dieser ›milieux‹ für die Lebens- und Sozialwissenschaften.Wenn sie nicht isomorph oder aufeinander abbildbar sein sollten, in wel-chen – vielleicht quantifizierbaren – Relationen stünden sie dann; welche Rolle könnte die Erforschung und Aufdeckung solcher Relationen spielen für die Steuerung des biologischen wie sozialen Lebens? Welcher Hypo-thesen bedürfte man dann hierzu; könnte es gar sein, dass einer zwar be-reits beobachtenden, aber noch nicht experimentellen Darstellungs-Form, gar der Literatur, daraus eine neue wissenschaftliche Rolle erwüchse? Schließlich sind generelles Sozial-Verhalten, Affekte, z.B. einmal in einem bestimmten Sozial-Milieu (x), einmal in einem anderen (y) beobachtet; Intelligenz, z.B. in Vererbung, selbst etwa Kriminalität19 u.ä. noch keines-wegs, bis allenfalls ansatzweise, erforscht, am Ende des Zola’schen Jahr-hunderts.

Strikt deterministische Modelle erfreuen sich in den Geistes-/Kultur-wissenschaften, auch in der (Sozial-)Psychologie, gar im Recht, von der Theologie ganz zu schweigen, selten großer Beliebtheit; schließlich gelte es, den ›Freien Willen‹ des Menschen hervorzuheben, und meist wird so getan, als sei eine ›liber arbiter‹-Behauptung grundsätzlich, in inkompatib-ler Weise – das Begriffs-Paar Zufall vs. Non-Zufall (Schicksal; Notwendig-keit; Gesetz, etc.) steht dann meist nicht fern20 –, mit einer Determinis-mus-Proposition unaufhebbar oppositionell. Manche (›böse‹) Zunge ver-steigt sich gar zur Rede vom ›Freiheits‹-Schibboleth. Jeglichem Determi-nismus-Gedanken haftet dann häufig ein Ruch an, nicht nur des ›Materia-lismus‹, sondern auch der einer gewissen ›Naivität‹.

Solches ist – schon deshalb, weil es auf starre Oppositionen setzt, nicht etwa auf Zusammenwirken von Teilstrukturen; weil es sich ›absolut‹ gibt, statt statistischen Werten oder Quanten zu trauen – nicht besonders klug. Ebenso wenig vermutlich wie zu glauben, diese Vorstellungen hätten sich allesamt mit dem 19. Jahrhundert erledigt; um dann etwa Zola sein ______________________

19 Ein gutes Beispiel für solchen (›Vererbungs‹-, ›milieu‹-, etc.) Determinismus-Optimismus, an experimentelle Modelle geknüpft, liefert etwa Cesare Lombroso, Genio e follia, Milano 1864; L’uomo delinquente studiato in rapporto alla Antropologia, alla Medicina Legale ed alle discipline carcerarie, Milano 1876; Delitti di libidine, Torino 1883; Pazzi e anomali, Città di Castello 1886; La funzione sociale del delitto, Palermo 1896; La donna delinquente e la prostituta, Torino 1911 (postum); cf. Renzo Villa, Il deviante e i suoi segni. Lombroso e la nascita dell’Antropologia criminale,Milano 1985.

20 Noch vor rund 30 Jahren wurde das Buch Jacques Monods, Le hasard et la nécessité, Paris 1970 (dt.: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1971) heftig diskutiert. Ein wunder Punkt dabei könnte Monods Interpretation des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik sein.

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eigenes Oppositions-Modell entgegenzuhalten, ein Vorgehen, das zumeist so verfährt, ihm zwar nicht vorzuwerfen, er habe das Verhältnis Wissen- (-schaft)/Literatur auf die Aufgabe reduziert, in Literatur die Ergebnisse der (Natur-)Wissenschaften einfach ›abzukupfern‹, aber doch so, dass man seinen Wissenschafts-Begriff, vor allem den der Hypothese, für obsolet betrachtet, um sich dann gerne darauf zurückzuziehen, er sei, wenn auch ein miserabler Wissenschafts-connaisseur, allemal doch ein großer Schrift-steller gewesen und geblieben, was man an seinen Vertextungs-Formen, der Erzähl-Haltung, dem Metaphern-Reichtum – wobei die Freude an der Metaphorisierung denn auch gleich seine Ausführungen zur Wissenschaft mit beträfe – unschwer einsehen könne.

Ich fürchte, die These von den ›Zwei Personen‹ in Zola geht so treff-lich an der wissenschafts-historischen Realität vorbei wie die ›Two-Cultures‹-Theorie, die seit eben diesen Jahren des 19. Jahrhunderts die Wissenschafts-Groß-Formationen trennt. Selbst Determinismus-Annah-men sind so veraltet nicht, wie man vermeint; in diversen Disziplinen wird gerätselt, in welchen Relationen etwa Vererbung, also milieu interne par excellence, und Verhalten in milieux externes stehen (könnten); nicht allein in Verhaltens-Forschung und Sozial-Psychologie. Und kürzlich hat die Neu-rologie bekanntlich, in prominenter Vertretung,21 aus neurologischen Beobachtungen und Tests/Testreihen, also mittels der méthode expérimenta-le, sozial-relevante, ›philosophische‹ Konsequenzen gezogen, mit denen der Vorstellung eines ›liber arbiter‹, und zwar angeblich generell, der Bo-den entzogen wäre. Der Streit innerhalb der eng damit beschäftigten Dis-ziplinen (Neurobiologie, (Kognitions-)Psychologie, Neurologie selbst) tobt nicht weniger denn innerhalb der gesamten scientific community: die Ethiker, die Soziologen, die Juristen, die Theologen, die Philosophen, alle traten zwischen die Schranken des Turniers. Ich meine, selten mit kühlem Helm oder gar Kopf. Man muss nämlich keineswegs alle humanistischen Kräfte, philosophischen Schlagwörter (hier häufig, aber inkorrekt: Katego-rienfehler genannt) und determinismus-feindlichen Vorurteile mobilisieren, um gegen die aus den vorgelegten Test-Reihen gezogenen Konsequenzen anzutreten: Die angeführten Benjamin-Libet-Experimente, auch in ihren bisherigen Erweiterungen, erlauben wissenschafts-theoretisch den (kurz gesagt) Roth-Singer-Schluss, zumindest hic et nunc, in keiner Weise. Womit man – auch Nida-Rümelin (2005) hat, ebenso naturwissenschaftlich wie ______________________

21 In Deutschland: Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1997; Gerhard Roth, »Neuronale Grundlage des Lernens und des Gedächtnisses«; in: Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt a.M. 1991; Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt a.M. 2002; Matthias Prinz und andere; cf. auch die Kontroversen in: Hirnforschung und Willensfreiheit; hrsg. v. Christian Geyer, Frankfurt a.M. 2004.

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wissenschafts-theoretisch geschult, solches klar zur Sprache gebracht – genau den Boden der ›Freiheit‹ wiedergewonnen hat, den man andernorts vermeinte mit den Klauen der Wissenschafts-Spaltung rückerobern zu müssen. Es geht nicht um die ›Widerlegung ein für alle Mal‹ – mit wel-chem ›Kategorien-Fehler‹ stünde man erst da, erwiese sich, dass der ›Geg-ner‹ letztlich denn doch (weit(er)gehend) Recht hatte? –, sondern einzig um Rückstellung in der Frage des Gültigkeits-Feldes; die Beweislast-Umkehr, die wissenschafts-theoretisch erheblich besser fundiert ist denn juristisch, verweist nur darauf, dass in einem Schluss/Beweis für (x) (noch: das ›noch‹ ist offen) nicht genügend Potential liegt, um ihn auf (y) anwen-den zu können.22

Es ist also gar nicht nötig – und in den seltensten Fällen machbar –, die generelle Möglichkeit von (x) zu falsifizieren; es reicht hin, die Trag-weite von (x) einzuschränken, jedenfalls bis zum Gegenbeweis. – Ehe wir vollends den Kontext einbüßen, gehen wir über zu:

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22 Wenn die experimentellen Befunde solches ergeben, wüsste ich nicht, warum ich am so genannten »Bereitstellungs-Potential« zweifeln sollte. Bei quasi-automatischen Routine-Handlungen, so wird belegt, haben die dafür ›zuständigen‹ zerebralen Areale die Hand-lungs-Durchführung, per neuronalen Verbindungen, bereits bereitgestellt, ehe ich mir ein-bilde, zu wollen, dass ich den Arm hebe. Nun bestehen menschliche Handlungen aber zwei-felsfrei nicht allein, auch nicht wesentlich, aus solchen Routine-Handlungen: Wir haben, bislang nicht widerlegt, Intentionen, die durchführen zu können wir auf Formen von strategi-schen Erwägungen – auch in Zeitversetzung, Wiederholung etc. – rekurrieren. Etwa: ich habe den Wunsch, eine bestimmte schöne Frau zu erobern: ((X) intendiert (P)); da es keine Ge-setzmäßigkeiten gibt, denen gemäß man schöne Frauen sicher erobert, aber eine Reihe von mehr oder weniger plausiblen, schichten-, gruppen-‚ ›szene‹-spezifischen, bestenfalls statis-tisch abrufbaren Normen und sozialen Verhaltensweisen, geht (X) zu Rate, mit sich, mit ›Ratgebern‹. ((X) erkennt, dass er (Q: Q1, Q2, Q3… Qn) tun könnte, um (P) zu erreichen). (X) erstellt also einen Katalog, eine Matrix, möglicher (Qs); hier ein recht verwickelter Du-casse-Satz. Um schlussendlich, Gewichtungen folgend, eine Handlung auszuführen, die er zur Erreichung von (P) durch Einsatz einer Gültigkeits-Plausibilitäts-Erwägung über die (Qs) für günstig hält. Ich schließe die Komödie mit komödien-adäquatem Ende, dem ge-lingenden, dem happy end; ich verzichte auch auf eine weitere Beispiel-Kette: Ein Literatur-Wissenschaftler verfolgt das Projekt der Drittmittel-Einwerbung, stößt auf die Finanzlage der Stiftungen, das StGB und den Satz Bert Brechts, dass die Gründung einer Bank krimi-neller sei denn die Plünderung einer Bank (…); was tun? Hier wäre dann angemessener von Tragikomödie zu sprechen. Wie ich in zwei Vorträgen ausführlicher, auch ernsthafter, zu begründen versuchte: Solange mir die Neurologie nicht per Experimenten zu zeigen in der Lage ist, dass alle diese strate-gischen Überlegungs-/Handlungsschritte jeweils von einem ›Bereitstellungs‹-Potential prä-formiert sind, bzw. dass in einer End-Entscheidung gar nicht auf eine intentionale Matrix zerebral zurückgegriffen wird, sondern einer Gehirn-Entscheidung mehr oder weniger be-havioristischen Musters gefolgt wird, auch entgegen den rationalen Erwägungs-Tendenzen im Vorlauf des Prozesses – nun, solange vertraue ich gerne den Libet et al.-Experimenten, kann daraus einem Schluss auf die generelle In-Existenz ›freier‹ Erwägung aber nicht zu-stimmen; er ist aus ihnen nicht (wissenschaftlich/logisch) ableitbar.

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(c) Es werden im 19. Jahrhundert, scheint mir – aus Raumgründen kann ich nicht vertiefen; aus Kompetenz-Gründen nicht präziser werden –, Probleme der Interrelation von Deduktion(-ismus) und Induktion(-ismus) virulent;das ist nicht weiter verwunderlich: ( ) noch fehlt eine ausgearbeitete Wis-senschafts-Logik ebenso wie eine (logische) Fachsprachen-Regelung; ( )die (reine) Deduktion hat noch mindestens ebenso viele Anhänger wie die (›modernere‹, ›wissenschaftlichere‹) Induktion; ( ) die beiden Positionen scheinen unaufhebbar oppositionell, damit inkompatibel, aufeinander weder abbildbar noch reduktibel zu sein; ( ) die Ausdifferenzierung in Wissenschafts-Disziplinen fordert aber nachhaltig ein methodologisches Basis-Fundament, ein nach Möglichkeit metaphysik-freies Begründungs-Schema, das sie andrerseits gerade durch die Spezialisierung teil-verhindert im Prozess der Einzel-Erkenntnisse.

Die Frage(n) ist/sind zwar nicht notwendig dilemmatisch;23 werden aber durchaus häufig als solche betrachtet. Das Problem ist nicht unver-traut: zur Deduktion von Einzel-Erscheinungen bedarf man eines (allwal-tenden) Gesetzes, jedes A-priori bedarf seiner Instanz, und kann eigentlich nur in einer Metaphysik angesiedelt, aus ihr erkannt werden; notfalls – solches wird zum Zentral-Vorwurf der sich entwickelnden (Natur-) Wissenschaften bei Galilei24 wie Newton, findet sich aber etwa auch in Claude Bernards Introduction – ist es, manque de pot, gesetzt worden ex aucto-ritate; berufe ich mich andererseits auf Bacons Induktion, kann ich zweifel-los eine Fülle präziser faktischer Ergebnisse katalogisieren, diese aber kaum, jedenfalls nur schwer gegeneinander abwägen, einteilen, taxonomie-ren, erklären, klassifizieren; schon gar nicht in einem Erklärungs-Modell auseinander hervorgehen lassen; dazu bedürfte es eines ›Gesetzes‹: und dieser Begriff scheint weitgehend noch so auctoritas-besetzt, dass er Geset-zes-Autonomien für reale Teilbereiche, ohne Rekurs aufs ›Ganze‹, nicht weniger verbietet denn die Elaborierung einer statistischen Valenz, mit der man, gesetzes-›artig‹, ›rechnen‹ könnte, in der Form von Wahrscheinlich-keits-Kalkülen;25 in der Darlegung Bernards (auch Zolas) schlägt sich ______________________

23 Zum hoch-diskussionswürdigen »Münchhausen-Trilemma« im Begründungs-Problem cf. Albert (1968; verbessert/erweitert 1991).

24 Nicht nur bei ihm, so widerspruchsfrei wohl nicht: die Dialoghi sui Massimi Sistemi (1632) verteidigen das Kopernikanische Modell; mit guten physikalischen Gründen, aber auch un-ter der Begründung, die ptolemäische Annahme lasse das gesamte immense Kosmos-Gebäude mit seinen Sphären und Körpern um die winzige Erde rotieren; und dies wider-spreche der Auffassung von der Rationalität des Schöpfers bei der creatio mundi. Die Stellen aus Newton, die mit metaphysischen Schöpfungs-Annahmen operieren, sind ebenso zahl-reich wie bekannt.

25 Probabilistik im Theorie-Bereich, etwa der Induktionslogik; cf. etwa: Hans Reichenbach, Experience and Prediction (1938); Wolfgang Stegmüller, Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit(1959); Imre Lakatos (Hg.), The Problem of Inductive Logic (1968); W. K. Essler, Induktive Logik(1970).

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solches nieder, wenn dem empirisme/der empirie bestenfalls ein Zwischen- und Durchgangs-Status eingeräumt wird, der heutige Leser seltsam be-rührt.

In der Tat schien das 18. Jahrhundert durchaus in seinen ›Aufklärern‹ und philosophes – zu handeln ist nicht von der interpretatorischen Potentia-lität der Texte, sondern von deren (wissenschafts-)historischer Rezeption – das ›Dilemma‹ verschärft zu haben: wer ein »Système« (de la nature, z.B.) erstellt, kommt mit empirischen Beobachtungs-Daten, per Induktion, nicht aus; wenn er dann keine Deduktions-Regeln anzugeben weiß, be-treibt er eine Art ›leerer‹ Metaphysik (so wurde etwa der Natur-Begriff erheblich extensions-erweitert, bis man, um auf ›Göttliches‹ oder andere ›Autorität‹ zu verzichten, aus ihm selbst etwa auch moralisch-gesellschaftliche Postulate glaubte ableiten zu können; die ›vergöttlichte‹ Materie löst aber den Theorie-Konflikt keineswegs; kommt im Fortgang der Wissenschafts-Geschichte und -Ausdifferenzierung den Einzel-Ergebnissen sogar in die Quere): es verwundert nicht, das Wort System als Verunglimpfungs-Term26 im Munde der Wissenschaftler des 19. Jahrhun-derts vorzufinden; auch, wiewohl nicht allein, etwa bei Claude Bernard (bis etwa zu Bertalanffy, der den Strukturalismus in den Dreißigerjahren für die Biologie entdeckt). Daraus erklärt sich auch, meine ich, die perma-nent repetierte Forderung, untersuchen zu wollen nicht le pourquoi, son-dern le comment (cf. Zola).

Was aber führte heraus aus dem ›Dilemma‹? Kann man das Hu-me’sche Beispiel der Billard-Kugeln,27 die Frage also: connected or conjoined,lösen? Ließe sich, am Ende, Deduktionismus mit Induktionismus in einem Stufen-Schema – wir sind in der Ära der Stufen – koppeln? Lassen sich die Schwächen der (induktiven) Entdeckungslogik etwa Mill’scher Prägung28

in solcher strikt theoretischen Weise beheben, ohne in den ›göttlich-absoluten‹ Deduktionismus zurückzufallen?

Dieser Weg wird in der Tat bereits im 19. Jahrhundert eröffnet, noch ohne Rückgriff auf Probabilistik, etwa – er dürfte kaum der einzige sein, wirkt aber in der Rezeption recht folgenreich – durch Whewell (1840), (1858):

______________________

26 Wobei man davon absah, dass bereits im 18. Jahrhundert und sogar früher geordnete Hypothesen-Gebilde zuweilen Systeme genannt wurden, der Term also auch synonym zu Hypothese verwendet wird.

27 Man beobachtet, dass durch die Einwirkung eines Stoßes mit einer Queue eine dadurch in Bewegung gesetzte Billardkugel auf eine andere ruhende trifft und sich dann wieder von dieser eine Strecke weit entfernt: sind die Vorgänge miteinander verbunden oder bloß zeit-gleich verknüpft?

28 John Stuart Mill, A System of Logic, London 1843.

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Induction is familiarly spoken of as the process by which we collect a general propo-sition from a number of particular cases: and it appears to be frequently imagined that the general proposition results from a mere juxtaposition of the cases, or at most, from merely conjoining and extending them. But if we consider the process more closely […], we shall perceive that this is an inadequate account of the mat-ter. The particular facts are not merely brought together, but there is a new ele-ment added to the combination by the very act of thought by which they are combined. There is a conception of mind introduced in the general proposition, which did not exist in any of the observed facts. (Whewell 1840, II, 213)

Daraus lässt sich genau der Punkt ableiten, den wir hier verfolgen: die Er-stellung von Hypothesen. Aus der Sammlung/»Entdeckung« von empiri-schen Beobachtungsdaten/›Fakten‹ ergibt sich noch keine Regularitäts-Annahme, gar ein Gesetz;29 aber man kann eine solche Sammlung, zur Not die Bacon’schen »Tafeln«, dazu verwenden, um ›Mutmaßungen‹/»con-jectures« zu bilden, deren Gültigkeit und Tragweite dann an den Fakten zu überprüfen sein wird.

Wer Wissenschaft(-stheorie) nur unter der Dominanz der einen von etwa sieben möglichen Bedeutungen des Satzes Hypotheses non fingo beiNewton30 betreibt oder gemäß Bacon, ohne dessen zuweilen ›dunkle‹, eher hypothetische Verfahren zurückweisende Stellen zur Kenntnis zu nehmen,31 für den ist die neue Herausforderung groß.

Whewells Vorschlag – Induktion konstituiert sich sinnvoll in Stufung mit hypothetisch-deduktiven Theorien, und zwar als ein methodisch gere-geltes Konjekturieren allgemeiner Sätze, das experimentell bestätigte de-______________________

29 Zweifellos führten Formulierungen wie etwa die des Petrus Ramus – »partium enumeratio ad totum concludendum« – den inconvénient mit sich, dass der ›induktive Schluss‹ genau für die Klasse der beobachteten ›Dinge‹ zutrifft, aber eben allein auf diese; statistische Verfah-ren sind noch nicht einsetzbar; die anderen, etwa Eliminierungs-Regeln, lösen das Problem nicht: im Schluss steht nicht mehr denn in den Prämissen, wie bereits Galileo Galilei ange-merkt hatte: ›l’induzione‹ […], »quando avesse a passare per tutti i particolari, sarebbe im-possibile o inutile; impossibile, quando i particolari fussero innumerabili; e quando e’ fusse-ro numerabili, i considerargli tutti renderebbe inutile o, per meglio dire, nullo concluderlo per induzione« (Riposta a Vincenzo di Grazia).

30 So etwa: »Rationem vero harum gravitatis proprietatum ex phaenomenis nondum potui deducere, et hypotheses non fingo. Quidquid enim ex phaenomenis non deducitur, hy-pothesis vocanda est, et hypotheses seu metaphysicae, seu physicae, seu qualitatum occulta-rum, seu mechanicae, in philosophia experimentali locum non habent. In hac philosophia propositiones deducuntur ex phaenomenis, et redduntur generales per inductionem« (New-ton, Philosophiae naturalis Principia mathematica, lib. III, sect. V; cf. Newtoni Opera, ed. Horseley, London 1782).

31 »Duae viae sunt, atque esse possunt, ad inquirendam et inveniendam veritatem. Altera a sensu et particularibus advolat ad axiomata maxime generalia, atque ex iis principiis eorum-que immota veritate judicat et invenit axiomata media; atque haec via in usu est. Altera a sensu et particularibus excitat axiomata, ascendendo continenter et gradatim, ut ultimo loco perveniatur ad maxime generalia, quae via vera est, sed intentata« (Bacon, Novum Organum(1620) I, § 19).

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duktive ›Schlüsse‹ aus ›Fakten‹ erlaubt – wurde begierig – wir sind zu Ber-nard und seinem Bewunderer Zola zurückgekehrt – aufgegriffen und in Wissenschafts-Praxis umgesetzt. Immerhin ließ sich damit ein Rekurs auf das absolut ›Ganze‹, ein Regress ad infinitum – wenn auch nicht in Letzt-Begründung und metatheoretische Begründungs-Begründung – umgehen; die Methode war auf die Bereiche der Einzelwissenschaften anwendbar: man musste dazu ja nur die vorliegenden Annahmen als zu überprüfenden Hypothesensatz auffassen, diesen an der Beobachtung testen, daraus neue Hypothesen bilden, die man wiederum der Beobachtungs-Prüfung unter-werfen konnte, usf. Wir übergehen die spätere Entwicklung des Indukti-ons-Gedankens in ihren wissenschaftstheoretischen Verästelungen (Ma-thematik: vollständige Induktion; Probabilistik; Forschungs-Logik; Wissen-schafts-Pragmatik und dgl. mehr).32

Aber wir verweisen noch auf eine der zeitgleichen Überlegungen zum Hypothesen-Induktions-Problem, das sich bei Charles Sanders Peirce findet, in dessen wissenschafts-theoretischen Reflexionen um 1878, die dann den heutzutage so gerne aufgegriffenen Begriff der Abduktion – und das ist nichts anderes denn ein bestimmter Hypothesen-Typ – generieren.33 Dort werden zwei Klassen von Schlüssen aufgestellt: (a) analytische oder de-duktive; (b) synthetische: nämlich Induktion und/versus Hypothese (1878b: 376). Dass diese Klassifikation nicht präzise der heutzutage ge-bräuchlichen entspricht, tut weniger zur Sache als Peirce’ Darlegungs-Vorgang, dem man entnehmen kann, wie nach diesem Modell sich die

______________________

32 Bemerkenswert klar bei Victor Kraft formuliert: »Ein Sinnesdatum präsentiert sich ledig-lich selber und sonst nichts; aber Beobachtung ist Wahrnehmung von etwas. Das wird sie durch die Interpretation des Sinnesdatums mit Hilfe theoretischer Begriffe. Beobachtung setzt theoretische Begriffe voraus und schließt sie ein« (Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral (1968: 51)); und: »Induktion besteht in Extrapolation […]. Weil die Extrapolation darauf beruht, dass unter gleichen Bedingungen das Gleiche eintritt, kommt es darauf an, die Bedingungen eines zu extrapolierenden Geschehens festzustellen. Diese Bedingungen werden durch Schlussfolgerungen erkannt, sie werden mit Hilfe von Gesetzen und Einzel-tatsachen erschlossen. Es gibt kein spezifisches induktives, nicht-deduktives Verfahren da-für […]. Deduktion zusammen mit der Feststellung durch Beobachtung ist das ausschließ-liche Verfahren zur Begründung der Gültigkeit der Erfahrungserkenntnis« (in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 1 (1970), 81). Es mag ein wenig snobistisch erscheinen, setzt man, an Stelle etwa von Meinong, Vaihin-ger, Reichenbach, Carnap, Stegmüller, Popper, Lakatos et al., hier ein Zitat Krafts ein; da letzterer aber relativ unbekannt geblieben in der Forschungs-Literatur, mir andererseits ge-rade eine Dissertation zu ihm vorliegt – Jan Radler, Konstruktion und Logischer Empirismus. Eine historische und philosophische Studie zur Wissenschafts- und Erkenntnistheorie Victor Krafts (vor-gelegt an der Viadrina Frankfurt (Oder) im November 2005) –, wird mein Snobismus viel-leicht entschuldbar.

33 So etwa, unter Bezug auf Peirce, mehrfach in den Schriften Umberto Ecos; cf. auch J. Habermas, Erkenntnis und Interesse (Frankfurt a.M. 1968 u.ö.). Die Abduktion lässt sich nun vollständig als Hypothese interpretieren; cf. etwa Peirce (1878a) und (1878b).

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Hypothese erst aus der Induktion befreien muss: »Die Analogie der Hypo-these mit der Induktion ist so groß, dass einige Logiker beides verwechsel-ten. Die Hypothese wurde eine Induktion von Merkmalen genannt« (381); aber:

Der große Unterschied zwischen Induktion und Hypothese liegt darin, dass die erstere auf die Existenz von Phänomenen, so wie wir sie in ähnlichen Fällen beo-bachtet haben, schließt, während die Hypothese etwas annimmt, das von dem verschieden ist, was wir unmittelbar beobachtet haben, und häufig etwas, das unmittelbar zu beobachten uns gar nicht möglich ist (389); Wir haben dann eine Mischung von Induktion und Hypothese, die einander stüt-zen; und diesen Charakter haben die meisten Theorien der Physik [sic!]. (389)

– nicht sehr weit von Whewell entfernt –; ferner: Wir haben in der Unmöglichkeit, induktiv hypothetische Konklusionen zu er-schließen, einen zweiten Grund, zwischen den zwei Arten des Schlusses zu unter-scheiden (391);

und schließlich, erneut ein ›sic!‹ wert, die Frage, welche »Emotion« im Rahmen der (ein wenig eigentümlichen) psycho-physiologischen Überle-gungen Peirce’ den jeweiligen Schlussformen zukomme: Hypothese, das sensuelle Moment; Induktion, das habituelle; Deduktion, das willentli-che/voluntative Moment des Denkens:

Bei den Naturwissenschaften haben wir erstens die klassifizierenden Wissen-schaften, die rein induktiv sind, – systematische Botanik und Zoologie, Mineralo-gie und Chemie. Dann haben wir die Wissenschaften der Theorie in dem Sinne, wie sie oben erklärt wurde, – Astronomie, reine Physik usw. Dann haben wir die Wissenschaften der Hypothese – Geologie, Biologie. (392)

Diese Peirceiana replizieren ziemlich präzis auf die Wissenschafts-Reflexionen, wie wir sie im Fall Comte, Bernard, Zola u.a. kurz hervorge-hoben haben – schon sehr viel weniger ›tastend‹, unter Einbeziehung der nicht-euklidischen Geometrie, des Probabilitäts-Kalküls etc., der Physiker und Mathematiker Poincaré (1902) – , unter dem Aspekt einer gewissen Umschichtung des Denkmodells, die epochen-spezifisch, nicht generell wissenschafts-spezifisch ist.

Es ist an dieser Stelle sinnvoll, weil einige Punkte zusammenfassend, die Tragweite des ›Hypothesen-Streites‹ im 19. Jahrhundert beleuchtend, Whewell nochmals aufzugreifen, und zwar in seiner Stellungnahme, die er mit vielen Physikern Englands teilt (man hat nachgerade von der »viktori-anischen Physik« gesprochen; Pulte 1995), zu Darwins Theorie, die wir weiter oben zurückgestellt hatten. Whewell hatte sich, neben vielen ande-ren, so vor allem William Thomson (Lord Kelvin), vehement gegen Dar-win ausgesprochen, der doch seinerseits immer wieder auf das naturwis-senschaftlich-physikalische Modell Bezug genommen, und der in der Re-

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zeptionsgeschichte schon bald als ›Kopernikus‹ oder ›Galilei‹ der Biologie bezeichnet werden sollte.

Das Paradigma dieser Physik hat Pulte (1995: 110) treffend gekenn-zeichnet als: (a) hierarchisch-gradualistisch (hypothetisch-deduktive Struktur mit Stufenfolgen); (b) certistisch (Erkennbarkeit unfehlbarer Gesetze); (c) prognostizistisch (Bestätigung durch Vorhersage); (d) essentialistisch (Vera-causa-Doktrin). Um diesem Typus das Modell Darwins entgegenzustellen (Pulte 1995: 121); es sei: (a) holistisch (»eher netzartig als pyramidenför-mig«); (b) probabilistisch (Wahrscheinlichkeit der Aussagen statt Sicherheit); (c) plausibilistisch (Verständlichkeit der Phänomene vor Vorhersage neuer Phänomene); (d) deskriptionistisch (Beschreibung statt (genetischer) Kausal-erklärung).

Unser Zitat hat angedeutet, dass Whewell et al. sehr wohl der Hypo-these Raum gegeben haben, aber vorwiegend dann, wenn sie als Vermu-tung zur Erschließung neuer Phänomene nicht allzu weit hinausschießt über die empirischen, induktiv gewonnenen Fakten, nicht in Gefahr gerät, in Spekulation zu verfallen, etwa auch Großbereiche und Zeiträume zu umfassen, die man empirisch zum Beweis nur schwer und indirekt, gar non-kausal, zugänglich machen kann. Die Betonung liegt hier also auf der Induktion; bevorzugt wird, mit Mach (1905) zu sprechen, die Hypothese »in ihrer selbstzerstörenden Funktion«,34 id est die, die nahe am Beweis liegt. Solche Hypothesen sind also nicht ›kühn‹, sondern eher ›eng‹; sie finden ihren Platz »in abgeschlossenen Partien der Wissenschaft«, nicht aber in der »werdenden Wissenschaft«,35 wo sie dagegen eine »fördernde Funktion« besitzen (Mach 1905: 249). Eben diese Verfahrens-Vorsicht hat, wie gesehen, Peirce dazu geführt, von zuweilen auftretender, hoch-gradiger »Analogie« (besser: Ähnlichkeit) von Hypothese und Induktion zu sprechen.

Daraus erklären sich auch die Zentral-Vorwürfe an Darwin: Es ist (a) nicht so, dass man Darwin vorwirft, er gehe nicht von beobachteten Tat-sachen aus, aber die ›Stufenfolge‹ im Aufbau von Induktionen und Hypo-thesen scheint nicht – pyramiden-/stufen-förmig – eingehalten; die Ge-samthypothese damit nicht gestützt, also allzu ›kühn‹, ergo rein spekulativ;

______________________

34 »Die Auffassungen, welche sich so ergeben haben, sind keine Hypothesen mehr, sondern Forderungen der Denkbarkeit der Tatsachen, Ergebnisse der analytischen Untersuchung« (Mach 1905: 248). Oder zu J. St. Mill: »In den M i l l schen, die Hypothese beschränkenden Re-geln spricht sich eine große Überschätzung des bereits Gefundenen gegenüber dem noch zu Erforschenden aus« (249).

35 Und hier geht es weniger um bestimmte Wissenschafts-Disziplinen als durchaus um For-scher-›Kühnheit‹ in jeder Disziplin; sogar in der Mathematik, wenn diese auch »die Spuren ihres Entwicklungsganges in der Darstellung mehr als jede andere Wissenschaft zu beseiti-gen« pflege. Zur Geometrie cf. oben, S. 162 (Riemann vs. Helmholtz).

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eine Deduktion (neuer) empirischer Aussagen scheint daraus nicht ableit-bar, im Sinne einer Prognose, die sich dann prüfen ließe.36

Ferner wird nach Physiker-Meinung (b) gegen ein Grundlagen-Gesetz der Naturwissenschaft verstoßen, das der Kausalität. Variation wie Selektionsind zwar nach Darwin naturgesetzlich bestimmt, aber sie enthalten inconcreto ein Zufalls-Moment; damit für einen Newtonistischen Physiker etwas Unerträgliches. Für solche ›Zufälligkeiten‹ bedurfte es offensichtlich, induktionsgemäß, eines probabilistischen Kalküls, noch dazu, wie Peirce, dem nicht entgangen war, dass es solche Modelle seit Maxwell 1860 in der Physik gab, vermerkte, »in the long run«.37

Zum dritten (c) setzte das Darwin’sche Modell der evolutionären Zeitdauer Zeiträume voraus, die den Rahmen der Physiker-Berechnungen, gemäß dem Wärme-Erhaltungs-Satz, zu sprengen drohten; das Erdalter wurde, da man die (natürliche) Radioaktivität noch nicht kannte, für ge-ringer erachtet – vgl. die berühmte Debatte um den »Wärmetod« –, als es Darwin vorausgesetzt hatte.38

Eine weitere ›Sünde‹ Darwins, (d), war in den Augen dieser Physiker darin zu sehen, dass dieser disziplinen-übergreifend zu sein vorhatte, in gewisser Analogie zur Physik dennoch deren originäres Feld überschrei-tend. Das mag zum einen ein wenig verwunderlich erscheinen, beachtet man, dass in eben dieser Physik ein heftiges Verlangen nach Reduktionis-mus vorherrschte, in der Hoffnung, alle physi(kali)schen, aber auch die biologischen Vorgänge in eine Mechanik zu bringen. Aber eben dieser Reduktionismus sollte unter dem ›methoden-festen‹ Primat der Physik und Chemie stehen, dergestalt, dass nur auf der Grundlage genau dieser Physik eine Biologie (und Geologie) – deren Status noch zwischen Natur-philosophie und Naturgeschichte oszillierte – erst, unter strikter Einhal-tung chemiko-physikalischer Theorie, noch zu errichten sei.39 Dahinter ______________________

36 »The great defect of this theory is the want of all positive proof […]«, so Hopkins, Physical Theories of the Phenomena of Life, 1860 (in: Hull 1973; hier zit. nach Pulte 1995: 114). Hier ha-ben die »Viktorianer« einige Mahnungen Newtons überlesen: »You sometimes speak of gravity as essential and inherent to matter. Pray do not ascribe that notion to me; for the cause of gravity is what I do not pretend to know, and therefore would take more time to consider of it« (Briefwechsel mit Bentley; 17.1.1693; cf. auch an denselben: 25.2.1693).

37 Peirce, The Fixation of Belief, 1877; eine gute, kurze Darstellung der Auseinandersetzung Peirce’ mit Darwin findet sich in Apel (1967: II, 129 ff.)

38 So vor allem, nahezu missionarisch, W. Thomson, aber auch der (vorsichtigere) Helmholtz. Der Vorwurf, darin zu irren, betraf auch den Anreger Darwins, Lyell. Inzwischen ist der Term der Evolution auch in Kosmologie und Astrophysik geläufig; cf. etwa, um einen populärwissenschaftlichen Text zu bemühen, Lee Smolin, Warum gibt es die Welt? Die Evolution des Kosmos, München 1999.

39 Der Ausdruck ist nicht ›uneigentlich‹ gebraucht; man bedenke, dass die »viktorianischen« Physiker, und das durchaus seit Newton, weitgehend Physiko-Theologen waren: die Ent-deckung der unwandelbaren Naturgesetze bot ihnen scheinbar auch Einblick in Gottes

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steht also, was wir bei Comte et aliis bemerken konnten, die Vorstellung eines Stufenbaus einer Wissenschafts-Pyramide; dieser Gedanke findet sich auch bei Bernard und damit Zola noch, allerdings, sich weniger unterord-nend, mit mehr Selbst- und Zukunfts-Vertrauen in die eigene Wissen-schafts-Disziplin. Schon bei Helmholtz (ab 1869), später bei Mach, wer-den dagegen Formen der Theorie-Vernetzung und Theorie-Übernahmen ins Spiel gebracht und wissenschafts-theoretisch abgesichert; bei beiden unter Rückgriff auf Darwin.

Und zum letzten Punkt unseres kurzen Überblicks: (e) die ›Sünde‹ der Metapher/Metaphorisierung. Darwin hatte mehrfach, im Hauptwerk wie in den Notebooks, zum Ausdruck gebracht, dass er eine Übereinstimmung zwischen dem Theoriegebäude der Physik und seinem eigenen zur Ent-stehung der Arten sehe; nicht zuletzt darin, dass er die Gravitationskraft der Newtonianer homolog setzte zum Prinzip der natürlichen Selektion (mehr-fach als »force« oder »power« ausgewiesen) als dem grundlegenden (Kau-sal-)Gesetz, als »vera causa«.

Nun war die »vera causa« ein Schibboleth, seit Newton, für alle New-tonianer; ein physiko-theologisches und, kaum verkleidet, metaphysisches Relikt: das Gravitationsgesetz galt als Formulierung einer essentialistischen Gravitationskraft, als Entität, nicht als deskriptiver Theorie-Term. Und zwar trotz der ›Tatsache‹, dass diese nicht induziert werden konnte, als ›Kraft‹ unbeobachtbar blieb,40 auch wenn diese Annahme eine enorme Menge von Phänomenen rational und kausal erklären konnte.

Und genau als solchen – metaphysik-freien – deskriptiven Theorie-Term wollte Darwin seine nicht weniger direkt beobachtbare natürliche Selektion auch verstanden wissen.41 In den Augen eines Newtonianers war ______________________

Schöpfungsplan, diente nachgerade zum Gottesbeweis; gäbe gar Raum für die Mutmaßung eines (permanenten) göttlichen Eingreifens in das Naturgeschehen. Letzteres war zwar durch Laplace in der Physik obsolet geworden; umso mehr vermeinte man diese Idee durch Verlagerung auf den biologischen Bereich des Lebens retten zu können. Wie Pulte (1995) zu Recht vermerkt, wird man darin den populärwissenschaftlichen Impetus sehen können, der Gelehrte wie W. Thomson bewog, auf anti-darwinistische Vortragsreisen für ein breiteres Publikum zu gehen. Darwin (1859: 668) kommentiert: »Obgleich ich von der Richtigkeit der auszugsweise in diesem [meinem] Werk mitgeteilten Ansichten durchaus überzeugt bin, erwarte ich keines-wegs auch die Zustimmung solcher Naturforscher, deren Geist von Tatsachen erfüllt ist, die sie jahrzehntelang von einem entgegengesetzten Standpunkt aus ansahen. Es ist ja leicht, seine Unwissenheit hinter Ausdrücken wie ›Schöpfungsplan‹, ›Einheit der Absicht‹ usw. zu verbergen und zu behaupten, man gebe eine Erklärung, während man lediglich ei-ne Tatsache mit etwas anderen Worten feststellt.«

40 »[…] is the attractive power in any way known, except by explaining the fall of the apple, and the movements of the planets?« (Darwin, Life and Letters, 1887; zit. nach Pulte 1995: 117.)

41 »Man hat behauptet, meine Art der Beweisführung sei unklar. Allein ich verwende die gleiche Methode, die bei der Beurteilung der gewöhnlichen Lebenserscheinungen benutzt

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das ein Sakrileg, die ungerechtfertigte Übertragung eines seiner Zentral-Terme in ein anderes Feld, und zwar, so der Vorwurf, durch (illegitime) Metaphorisierung. Und ›Metapher‹ musste die Darwin’sche Annahme schon deshalb sein und bleiben, weil das damit Postulierte sich nicht an-gemessen in fachspezifischer Sprache – seit Galilei ist die Mathematik die Sprache der Natur – ausdrücken ließ, im Gegensatz zum Gravitations-Gesetz.

Es wird eine Weile dauern, bis sich wissenschaftstheoretisch durch-setzt, dass, wenigstens im Bereich der Hypothesen-Bildung, eine nicht-mathematisierte Sprache ihre wohlbegründete Funktion hat;42 und wie angedeutet, hält sich in der Literaturwissenschaft hartnäckig der Vorwurf an Zola, dass er, habe er irgendetwas von den Wissenschaften denn ver-standen, allein auf ›metaphorische‹ Übertragungen setze, ganz so, als ob allein das bereits verwerflich wäre.43

Viel seltsamer mag es bei solchem Diskussions-Stand anmuten, dass ausgerechnet die genannten Physiker selbst beherzt zur Metaphorisierung griffen, als sie gegen Darwin, aber in dessen eigenem Forschungsfeld, plötzlich eine ›Kraft‹ annahmen, die lange Zeit in der Wissenschaftsge-

______________________

und oft von den größten Naturforschern angewandt worden ist. Auf dieselbe Weise ge-langte man zu der Theorie von der Wellenbewegung des Lichts, und die Annahme, dass sich die Erde um ihre eigene Achse bewege, ist bis vor kurzem kaum durch einen direkten Beweis gestützt worden. Es ist kein begründeter Einwurf: die Wissenschaft habe bisher kein Licht über das viel höhere Problem vom Wesen oder vom Ursprung des Lebens ver-breitet. Wer kennt denn das Wesen der Anziehungskraft oder der Schwerkraft? Niemand zögert, die aus dem unbekannten Element der Anziehung hergeleiteten Resultate anzuer-kennen, obwohl einst Newton von Leibniz beschuldigt wurde, er habe ›geheime Eigen-schaften und Wunder in die Philosophie eingeführt‹« (Darwin 1859: 666).

42 Um nochmals Ernst Mach (1905: 249 f.) sprechen zu lassen, in seinem Kapitel Die Hypothe-se: »Wenn wir abstrakt genug denken würden, so würden wir einer Tatsache nur diejenigen begrifflichen Merkmale zuschreiben, welche ihr notwendig zukommen. Wir hätten dann nichts zurückzunehmen, würden aber auch die Anregung zu neuen Versuchen durch an-schauliche Analogien entbehren. […]. Der Gebrauch von Bildern, die mit Bewußtsein als sol-che verwendet werden, ist auch hier nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sehr zweckmä-ßig. Es gibt Tatsachen, die wir unmittelbar sinnlich wahrnehmen, die wir sozusagen mit ei-nem Blick überschauen. Andere Tatsachen ergeben sich erst durch ein kompliziertes Beo-bachtungs- und begriffliches Reaktionssystem. […] Mit Hilfe solcher Vorstellungen über-sehen wir rascher und leichter die Lichtphänomene als durch abstrakte Begriffe. Dieselben sind, um einen modifizierten Ausdruck von H e r t z zu gebrauchen, Bilder von Tatsa-chen, deren psychische [ein um die Jahrhundertwende gebräuchlicher Term, den man sich wohl am besten mit ›kognitiv‹ übersetzt] Folgen wieder Bilder der Folgen dieser Tatsachen sind. Hat man einmal festgestellt, worin das Bild mit der Tatsache begrifflich übereinstimmt, so verbindet dieses den Vorteil der Anschaulichkeit mit dem der begrifflichen Reinheit.« – Das sind Sätze, die sich sehr gut auf das Zola-Programm münzen ließen; gegenseitige Kennt-nisnahmen Zola-Mach liegen dabei nicht vor.

43 Zuweilen scheint der Verdacht nicht unbegründet, dass Literaturwissenschaftler zuweilen wenig von Wissenschaftsgeschichte und/oder Wissenschaftstheorie verstehen.

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schichte wirkungsmächtig blieb: »the vital power«44 (cf. Wilson 1987), die als eigentliche biologische »vera causa« das Prinzip der natürlichen Selek-tion, wenn schon nicht ersetzen, so doch angeblich gott-ähnlich steuern würde.

Welche ›Fraktionen‹ den Hypothesen-Streit im 19. Jahrhundert für sich entscheiden konnten, ist hier nicht nachzuzeichnen – wir waren oh-nedies bereits skizzenhaft genug. Die klassische Physik Newtons und der Newtonianer geriet, so könnte man sagen, versuchte man eine Wissen-schafts-Geschichte der Diskontinuitäten zu schreiben, in eine Grundla-gen-Krise, die nur deshalb wenig ins Auge fällt, weil die modern(er)en Theorien sich bereits abzuzeichnen begannen, und sei es in der erhebli-chen Vielfalt von Paradigma-Erweiterungen, vorgenommen von durchaus ›klassisch‹ ausgebildeten Naturwissenschaftlern,45 die zwar durchaus zu Debatten führte – Entropie-Streit, Atomismus-Streit etc. –, aber auch zur Bereitstellung vordem ausgeschlossener oder bekämpfter Methodologien; zu einem gerüttelt Maß hat daran Darwin in seiner Rezeption Anteil.

Man darf sich diese Transformations-Prozesse getrost als ›dramatisch‹, um nicht zu sagen traumatisch,46 vorstellen: der mähliche Zusammen-bruch der Newton’schen Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit; das Zufalls-Prinzip und das Probabilitäts-Kalkül; die Ein-schränkung gesamt-deterministischer Laplace-Träume und der absoluten Gültigkeit der Kausalität; die Reflexion über die theoretischen Vorausbe-dingungen jeder (spezifischen)47 Beobachtung.

Aber vielleicht ist es dienlich, wenigstens die Punkte anzuschneiden, in deren weiterer Beachtung und Bearbeitung ein Anstoß von Darwin ausge-gangen sein mag; aus einer wissenschaftsgeschichtlichen post-festum-›Optik‹ zeigt sich darin eine gewisse ›Modernität‹, die genau in den Kritik-Punkten liegt, die die viktorianische Physik vermeinte, Darwin entgegenhalten zu müssen:

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44 Zu Stokes und W. Thomson, cf. Wilson (1987). Bekanntlich enthält auch Bernards Introduc-tion noch das Relikt des ›élan vital‹, der auch sonst häufig anzutreffen ist, in Philosophie wie Biologie; spätestens in Drieschs Vitalismus fallen dann bio-darwinistische und sozialdarwi-nistische Aspekte zusammen; die politischen Weiterungen in Deutschland sind bekannt.

45 Die im Vergleich mit den ›Viktorianern‹ größere Theorie-Offenheit deutscher (und franzö-sischer) Physiker betont zurecht Pulte (1995).

46 Die Kognitions- und Seelen-Turbulenzen moderner Physiker um die Jahrhundert-Wende sind legendär.

47 Dass der Newton’sche Apfel stets aus dem Spalier nach unten fällt, lässt sich, meine ich, ›theorie‹-los beobachten; erst wenn ich das Herunterfallen erklären will, muss ich eine (Ge-setzes-)Annahme machen. Andererseits werde ich in jedem Fall ein gewisses Wissens-Interesse aufwenden, um das Herabfallen intensiv zu beobachten; und dies wird nicht vor-urteils-frei sein, weder von den Annahmen, von denen ich traditionell gehört habe, noch von denen, die mich zur Beobachtung drängen.

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(a) Zweifellos denkt Darwin in den Kategorien von Kausalität und all-gemeiner Gesetzmäßigkeit; allein, solches lässt sich, wie schnell klar wur-de, ohne Probabilistik nicht bestätigen; (b) was man Darwin glaubte als Metaphorisierung vorwerfen zu können, nämlich die Verwendung de-skriptiver, essentialismus- und metaphysik-freier Theorie-Terme, setzte sich durch; nicht weniger denn (c) die Fruchtbarkeit von Theorie-Übertragungen in interdisziplinären Feldern; bereits Mach u.a. werden um 1875 beginnen, Entwicklungs-Theorien in die Erkenntnis- und Wissen-schafts-Theorie zu integrieren; (d) was noch bei den ›Viktorianern‹ abge-lehnt wurde, im Glauben an unmittelbare, voraussetzungslose Beobacht-barkeit, wird hier deutlich mitgedacht: die Theorie-Affiziertheit von Beo-bachtungen;48 und schlimmer kömmt’s: (e) eine Theorie über die Evoluti-on der biologischen Arten musste notwendig auch den Menschen ein-schließen, damit aber auch dessen Kognitions-Fähigkeiten dem evolutio-nären Prozess unterwerfen, etwa Erkenntnis(se) als ›Anpassung(en)‹ inter-pretieren: es sollte nicht lange dauern, bis eine Psychologie der Forschung darin Eingang fand und sich evolutionistische, genetische Erkenntnis-Theorien entwickelten (cf. etwa die Forschungen in der Zeitschrift Mind,u.a. B. Russell, um die Jahrhundertwende; cf. Piaget 1970); (f) trotz der im 19. Jahrhundert allgegenwärtigen Historisierungs-Tendenzen in Einzelwis-senschaften (cf. u.a. Foucault 1966) führte die genannte Physik dies Prob-lem kaum mit sich – nicht verwunderlich bei Konzepten wie der ›absolu-ten‹ Zeit, den universellen Gesetzen, etc. –, aber Entwicklungs-Denken setzte sich in anderen Bereichen gegen die Kritik der Physiker durch (cf. Herbert Spencer; auch Ernst Haeckel), gerade die für Zola so wichtigeVererbung(-slehre), Familien-Geschichte, gibt ein Beispiel; und selbstver-ständlich hatten solche Ablauf-Modelle Rückwirkungen auf die Ge-schichtsschreibung und -theorie selbst.49

Bekanntlich kannte Zola Darwins Theorie; dennoch erscheint es nicht unangebracht, unseren Kurz-Überblick nicht mit Darwin selbst, gar den aus seinen Schriften ableitbaren wissenschaftstheoretischen ›Modernisie-______________________

48 John F. Herschel, A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy, London 1830 (cf. dazu Charpa 1987: 129 ff.), hatte solches, ebenso wie weitgehend Whewell, abgelehnt; dagegen Darwin: »[…] for without the making of theories I am convinced there would be no observations« (Life and Letters; zit. nach Pulte 1995: 114). Man vergleiche Bernard (1865): »Nous avons dit ailleurs que le raisonnement expérimental s’exerce sur des phéno-mènes observés, c’est-à-dire sur des observations; mais, en réalité, il ne s’applique qu’aux idées que l’aspect de ces phénomènes a éveillées en notre esprit« (78); »Quand un phéno-mène quelconque nous frappe dans la nature, nous nous faisons une idée sur la cause qui le détermine« (82).

49 Es ist noch heute ein Problem, wie man historische Modelle so entwickelt, dass sie hypo-thetisch-deduktiven Formen gehorchen, sich in Erklärungs-Ansätze einpassen lassen – und sei es nicht das strikte Hempel-Oppenheim-Schema, so doch wenigstens das der Erklä-rungs-Skizze (Hempel) (cf. etwa Danto 1965; von Wright 1971; Höfner 1999c).

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rungen‹ zu beschließen, sondern mit der Zola’schen Direkt-›Quelle‹, der Introduction Claude Bernards. Dessen Einlassungen zum Hypothesen-Streit sind verhältnismäßig knapp (Bernard 1865: 59-61; vor allem 78-83), ganz so, als sei bereits entschieden, dass ein Naturwissenschaftler gar nicht anders vorgehen könne denn nach dem Modell: Ausgangspunkt = bereits gewonnene Gesetze und Aussagen-Komplexe, die freilich immer noch, im Gegensatz zu den Axiomen der Mathematiker und deren ›reiner Dedukti-on‹, mit einer gewissen Unsicherheit (id est Falsifikations-Möglichkeit; moderner würde man den Term Fallibilität bevorzugen) belastet sind, also nicht ›absolut‹ gelten können; daraufhin: (deduktionistisch) Hypothese- (nbündel) und Verifikation, per Experiment, an den Fakten, wobei darauf hingewiesen und Wert gelegt wird, dass es sich bei diesen Denk- und Ar-beitsschritten mitnichten um einen circulus vitiosus50 handele:

[…], je me bornerai à dire que dans la pratique il me paraît bien difficile de justi-fier cette distinction et de séparer nettement l’induction de la déduction. Si l’esprit de l’expérimentateur procède ordinairement en partant d’observations particuliè-res pour remonter à des principes, à des lois ou à des propositions générales, il procède aussi nécessairement de ces mêmes propositions générales ou lois pour aller à des faits particuliers qu’il déduit logiquement de ces principes. Seulement quand la certitude du principe n’est pas absolue, il s’agit toujours d’une déduction provisoire qui réclame la vérification expérimentale (78 f.). La situation du naturaliste est bien différente; la proposition générale à laquelle il est arrivé, ou le principe sur lequel il s’appuie, reste relatif et provisoire parce qu’il représente des relations complexes qu’il n’a jamais la certitude de pouvoir connaî-tre toutes. Dès lors, son principe51 est incertain […]; dès lors les déductions, quoi-que très logiques, restent toujours douteuses, et il faut nécessairement alors invo-quer l’expérience pour contrôler la conclusion de ce raisonnement déductif (81).

Ohne Zola über Gebühr ›modernisieren‹ zu wollen, gilt doch, bei gewissen Einschränkungen: Er bewegt sich mit seinem Roman expérimental durchaus innerhalb der (Hypothesen-)Streit-Aspekte – ganz selbstverständlich die Entwicklungen im Paradigma Mathematik, Physik gar nicht wahrneh-mend; nicht-deterministische, non-›mechanische‹, nicht aus etwa Comte ableitbare Psychologie außer Acht lassend –, und zwar im Versuch, die

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50 Das ist in etwa auch der Ausgangspunkt Krafts; wohingegen im Kritischen Rationalismus zuweilen denn doch die ›Zirkel‹-Angst umgeht.

51 »Il procède toujours instinctivement d’un principe qu’il a acquis ou qu’il invente par hypo-thèse; mais il ne peut jamais marcher dans les raisonnements autrement que par syllogisme [älterer Term für jeden deduktionistischen Schluss], […]«. »[…], c’est un syllogisme dont la conclusion reste dubitative et demande vérification« (81). Woraus Bernard leicht ironisch – hier klingt das Streit-Klima durch – folgert: »En un mot, l’induction a dû être la forme de rai-sonnement primitive et générale, et les idées que les philosophes et les savants prennent constamment pour des idées a priori, ne sont au fond que des idées a posteriori« (80) – man sieht, die in Deutschland wie England beliebte kantianische Idee eines synthetischen Apriorikommt in dieser Diskussion erst gar nicht vor.

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Kunst/die Literatur mithilfe der neuen Erstellungs-Freiheiten, die man jetzt der Hypothese zubilligen konnte, neu zu situieren und zu platzieren im ›Erkenntnis-, Wissens-Baum‹.

Das freilich stellt literarisch eine Novität dar; in den Augen von Wis-senschaftlern und Theoretikern auch eine ›Kühnheit‹: was hätte er denn, literarisch, zu induzieren? Andrerseits: könnte die Literatur, ausgehend von sozio-biologischen Konzepten, nicht doch möglicherweise Hypothe-sen vorschlagen, etwa über physio-psychologisches Verhalten unter ver-schiedenen Milieu-Bedingungen, die dann zur Prüfung, gar Verifikation an die Wissenschaften selbst zurückzureichen wären?

III.

Wenden wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal speziell dem Roman expérimental zu. Zolas Text steuert ja zunächst nicht in erster Linie eine wissenschaftliche Aufgabenstellung, sondern seine Besorgnis einer Reihe von literatur-kritischen Einwänden innerhalb der Debatten seiner Epoche; und nicht nur solche der strikt klassizistisch-idealistischen Richtung, gar der rein ›moral-kritischen‹, wie sie sich bei Barbey d’Aurevilly, Potvin und anderen geäußert hatte (und weiterhin äußern wird).52 Um 1880 hat die ›alte‹ Ästhetik durchaus noch ihre kompromisslosen Anhänger; zugleich macht sich eine spiritualistische, esoterische, auch pseudo-erotische (Mo-dell: der Androgyne, nicht bezogen aus der Physiologie, sondern aus ob-genannten okkultistischen Gnosen gewonnen) bemerkbar, die, natürlich, der Matérialisme dans l’Art – so der Titel eines ersten Beitrags Joséphin Péladans, des späteren Décadence-Gruppen-Gurus und selbst-ernanntenPriester-Dichters, in einer von Charles Buet edierten Zeitschrift, Le Foyer. Journal des familles –, erneut des Teufels ist, wenn auch keineswegs des klas-sizistischen, auch nicht des römisch-katholischen Barbey d’Aurevillys, der freilich dennoch schon bald zum »connétable ès Lettres« dieses ›Mysto-Vereins‹53 aufrückt. ______________________

52 Jules Barbey d’Aurevilly, in diversen Artikeln der Epoche; später dann: B. d’A., Le roman contemporain, Paris 1902; B. d’A., Le XIXe siècle; Neudruck Paris 1968; Ch. Potvin, De la Cor-ruption littéraire en France. Étude de littérature comparée sur les lois morales de l’art, Bruxel-les/Leipzig 1873; A. David-Sauvageot, Le réalisme et le naturalisme dans la littérature et dans l’art,Paris 1889.

53 Joséphin Péladan und andere décadents, wobei etwa der Fall des Rémy de Gourmont (L’Idéalisme, 1893) interessant ist, der sich lange diesem »idéalisme«, id est der Inverse des »Matérialisme dans l’Art«, verschrieb, auch einem gewissen Symbolismus – Übergänge aber etwa in: Sixtine. Roman de la vie cérébrale (1890) –, 1900 aber, cf. La culture des idées, damit brach; seine Überlegungen zur »dissociation des idées« gehören bereits in den Bereich der aufkommenden psycho-kognitiven Spekulation, der sich gleichzeitig auch die Wissenschaft

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Und selbst die ›grands auteurs‹ – wir hatten oben ein Beispiel genannt: Baudelaire in Auseinandersetzung mit dem Realismus vom Typ Champfleurys – stehen zumindest einigen Banal-Beschreibungen der lite-rarischen Strömung skeptisch bis ablehnend gegenüber.54

›Si naturalisme, if at all, discussion sérieuse‹: genau das scheint der Ausgangspunkt des Roman expérimental zu sein: Offenbar gilt es zu vermei-den, dass der Realismus/Naturalismus (weiterhin) aufgefasst werden kön-ne als Wiedergabe der détails minutieux, also als einfach und reflexionslos aus observations gewonnene, bare und belanglose ›Reproduktion‹ der Wirk-lichkeit.55 Ein Gutteil der Einwände seiner Gegner lässt sich auf diesen Vorwurf reduzieren; damit auf einen Term, der in den ästhetischen Debat-ten gerne auf die Photographie Anwendung findet, in durchaus pejorativer Bedeutung. Zu entgegnen ist in dieser Richtung einer verbreiteten Be-hauptung, die neue Kunstrichtung sei gar keine eigentliche Kunst, sondern eine Sammlung aspekt-/perspektive-loser ›Protokoll‹-Sätze, erhoben am Ende auch noch über kunstferne Bereiche der Lebenswirklichkeit, über ausschließlich die (moral-losen) »bas-fonds« der Gesellschaft;56 jedenfalls Texte ohne jedes Eingreifen eines Text-Organisators, einer Ordnungs-Instanz,57 nennen wir sie hier modernistisch eines »impliziten Autors«, in ______________________

(-stheorie) anzunehmen beginnt. Zwei Punkte sind für unser Thema relevant: (a) Péladan entreißt Honoré de Balzac, dessen Katholizismus etwa auch dem Avant-Propos zur Comédiehumaine gut entnehmbar ist, dem Zola’schen Naturalismus-Panthéon; er stellt ihn schlicht unter die überzeitlichen Genie-Größen, Shakespeare, Dante etc.; (b) er entwirft eine Gru-sel-Lehre, die man heutzutage möglicherweise einen ›code vestimentaire‹ nennen würde – für bohèmehaft-dekadent-der-Welt-Enthobenes –, Dandytum als Wissenschaft, den er die Wissenschaft namens Kaloprosopie nennt: »Celui qui réalise l’extériorité d’une idée en réalise l’intériorité, à moins qu’il ne se démente; de même l’intériorité peut amener l’adéquate exté-riorité.« Auf den ersten Blick, auch mit einiger chuzpe, kann man solchen Geschwollenhei-ten eine Art Milieu-Theorie entnehmen: interner Zirkel: Künstler vs. externer Zirkel: Bürger; sich zur Not gewisser Balzaciana bedienend: »[…], enfin toute sa personne« – Madame Vauquer aus dem Père Goriot – »explique la pension, comme la pension implique sa person-ne«.

54 So etwa Flaubert; auch: Maupassant, cf. sein Vorwort zu Pierre et Jean. 55 Dieser ›naive‹ Realismus à la Champfleury sieht sich ohnedies ständig bedroht vom Banali-

täts-Problem; allein aus der Beobachtung und unstrukturierten Notierung von (Alltags-) Realität lässt sich auch nach-klassizistisch, nach-›romantisch‹ kein Kunstanspruch ableiten.

56 Titel eines Artikels von Maupassant, in: Guy de Maupassant, Chroniques, 3 Bde, Paris 1980. Offenbar ist den Kritikern entgangen, dass die diversen Zyklus-Anordnungen immer das Ziel hatten, bei Balzac, bei den Goncourts, bei Zola selbst, verschiedene milieux heranzu-ziehen, nicht allein die Quartiere der ›niederen‹ Schichten.

57 Womit genau eine ästhetische Position, damit auch Erzähltechnik in Frage gestellt wird, die Autoren des 19. Jahrhunderts für eine Errungenschaft halten: die der impersonnalité (Flau-bert, Maupassant, Zola, Céard; in der Lyrik: Leconte de Lisle; in Italien etwa Verga; in Por-tugal Eça de Queiroz). Bekanntlich stützt sich der Immoralismus-Vorwurf, den, in Sachen Madame Bovary, der Staatsanwalt gegen Flaubert erhebt, gerade auf diese Erzähltechnik, nicht etwa auf einen thematischen Vorwurf, den der Darstellung des Ehebruchs.

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den Worten des Jahrhunderts »Autor« tout court; der mehr oder minder noch klassizistisch-idealistisch, auch »romantisch« (Zola) eingestellte Kri-tiker der Zeit spräche dann von einem Fehlen des »génie (créateur)« – Zola wird denn in unserem Text auch betont eine Umsemantisierung des Begriffs génie, eine Aufgaben-Transformation des Künstlers vorschlagen und dagegenstellen.

Der Argumentations-Zusammenhang erscheint einem späteren, heuti-gen Leser alles andere denn schlüssig, also schwer zu rekonstruieren, ist er doch daran gewöhnt, (auch) in etwa Photographien eine Perspektive zu erkennen; weiß er doch – und zwar (auch) durchaus wissenschaftlich –, dass Beobachtungssätze stets eine Beobachter-Perspektive voraussetzen. Und bei Überprüfung der einschlägigen, literarischen wie non-literarischen Text-Menge(n) wäre es ein leichtes zu zeigen, dass Perspektivität bereits im 19. Jahrhundert, in literarischen wie wissenschaftlichen und/oder phi-losophischen Stellungnahmen, ihre bedeutende Rolle spielt.58 Ebenso vertraut ist ihm die Tatsache, dass Darstellungen in (›ikonischen‹, ›indexi-kalischen‹, ›symbolischen‹) Zeichensystemen – nicht nur in den noch kei-neswegs überall elaborierten wissenschaftlichen Fach- und Formelspra-chen – nicht ›Realität‹ reproduzieren, sondern diese in ihre Zeichensyste-me und Modelle repräsentativ ›übersetzen‹ und umwandeln; auch hierzu kennt das 19. Jahrhundert bereits, zumindest in Ansätzen, seine Vorläufer, nicht nur den hier ›verdeckt‹ zitierten Peirce.

Es ergibt sich für Zola, so scheint mir, eine Skylla-und-Charybdis-Situation: auf der einen Seite die kunst-idealistischen, ›romantischen‹ (so durchgehend Zola), zuweilen auch noch ›moralisierend‹ aufgetürmten Brandungsfelsen; auf der anderen die Klippen populär-positivistischer Annahmen, (wissenschaftliche) Deskription habe es mit dem id est zu tun, nicht aber mit dem aliquid stat pro aliquo. Und solcher Positivismus mutet sich und anderen eine generalisierte Beobachtungs-, gar ›Messbarkeits‹-Regel zu, der zu gehorchen er gar nicht imstande sein kann. Qui pis est: der Modell-Charakter, die Modellierung von ›Realität‹, in wissenschaftlichen wie literarischen Suppositionen resp. Beschreibungen, gerät aus dem Blick.

Haben unsere grob skizzierten Ausgangspunkte Gültigkeit, so würde wohl verständlicher als bislang vermutet, wieso Zola als recht selbstsiche-rer Odysseus die Introduction à la médecine expérimentale Claude Bernards – und die Frage, ob er diese an jedem Punkte ihrer methodischen Tragweite wie

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58 Sie gilt bereits für Stendhal (die Vie de Henry Brulard führt häufig den Beobachter-Standort vermittels Faustskizzen ein; cf. Stendhal: »Il n’y a pas de vérité, il n’y a que les petits faits vrais«); dann: Flaubert (»Il n’y a pas de Vrai! Il n’y a que des manières de voir!« – Brief an Léon Hennique vom 3.2.1880), Maupassant u.a.

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ihrer methodischen Schwächen59 überblickt, ist durchaus zweitrangig – begierig(st) aufgreift. Denn in der Tat schien die méthode expérimentale einen Ausweg zu zeigen aus dem obgenannten Dilemma: eine Art (›eleganter‹) Klippen-Umschiffung.

In Zolas Interpretation stellt sie ein Vorgehen dar, das über die blan-ke, ›rahmen‹-lose Beobachtung hinausgeht: man regelt die Versuchs-Anordnungen – zwar ohne idées préconçues,60 aber denn doch unter einem Untersuchungs-Ziel –, deren Ergebnisse dann per observation erhoben wer-den. Keine Frage, damit hält etwas ›Kreatives‹ Einzug und erhält Bürger-recht: Hypothese/Theorie (als wohlgeordnete Menge von Sätzen, die überprüfungs-offen sind). Zwar ist es offensichtlich sinnlos, eine logische Unmöglichkeit in eine Hypothese einzuführen; aber wie man zu Hypothesen gelangt, unterliegt durchaus auch kreativen, intuitiven Denkakten; die Stringenz liegt erst auf der Seite der Hypothesen-Formulierung (Überprüfungs-Offenheit), in den Verfahren der Falsifikation.

Man kann sich also – jedenfalls unter halbwegs rationaler Hypothe-sen-Bildung – mögliche Welten einfallen lassen, durchaus in Konzepten, die sich dann an der beobachteten Realität und an den ›Gesetzen der Natur‹ würden prüfen und ›messen‹ lassen müssen. Diese möglichen Welten wären, unter obgenannten Bedingungen, Bestandteil eines (wissenschaftlichen) Wissens, jedenfalls solange sie nicht als einschlägig falsifiziert betrachtet werden (müssen).

Das Faszinosum, das für Zola in solchen Wissenschafts-Überlegungen stecken musste, scheint mir verständlich: Es scheint die Sprache(n) der Kunst, der Literatur insbesondere, von verschiedenen ›Auflagen‹ und Re-striktionen zu befreien, die Opposition ›Realität‹ vs. ›Fiktionalität‹ zumin-dest einzuschränken, Freiräume zu vergrößern; das ›Kreative‹, also auch das génie (wenn auch nicht mehr das ›romantische‹), bekommt wieder sei-nen geregelten, unwiderlegbaren Platz und Stellenwert im Denk- und Wis-sens-System, ohne Abkoppelung von ›objekt‹-bezogener Wissenschaft.

Mehr noch: Gemäß der – wie oben skizziert – neuen Auffassung der Wissenschaften als einer Art Pyramide, gar als ›Netzwerk‹ (Darwin) derge-stalt, dass die bereits szientifizierten, ›positivierten‹ Basis-Wissenschaften ______________________

59 Bekanntlich finden sich darin, und zwar an relevanten Stellen, noch einige ›metaphysische‹ Annahmen, die mit der eigentlich gewählten Methode kaum kompatibel zu machen sind; so der – allerdings bis in die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts reichende – élan vital.

60 Die so definierte ›nicht vorgefasste Idee‹ gehört zum Methoden-Handwerk, selbstverständ-lich auch bei Bernard; wie wenig ›trittsicher‹ Zola sich bei der Verwendung des Terms fühlt – also doch eine Vorstellung des Untersuchungs-Zieles, wenn auch nicht, weil dann zirku-lär, die Vorwegnahme des Untersuchungs-Ergebnisses –, mag man seinem Text selbst ent-nehmen, der immer wieder zwischen Bejahung und Einschränkung schwankt. Zola dürfte nicht der einzige Zeitgenosse sein, dem diese Idee noch nicht zur Selbstverständlichkeit ge-raten war.

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das Fundament bilden für sich darüber erhebende weitere Wissenschafts-Disziplinen – ›Wissens-Sätze‹ in (X) als Basis für Hypothesen in (Y), die, eines Tages ihrerseits bestätigt, das Fundament darstellen könnten für erneute Hypothesen in (Z) –, wäre seine eigene Epoche, so Zola, dadurch charakterisiert, dass die Grundlagen in Physik und anorganischer Chemie, angewandt auf die »corps bruts«, jetzt die hypothetische Anwendung auf andere Wissenschaften erlaubten, hier eben auf die Physiologie, auch wenn letztgenannte sich erst noch im ›Kindheits‹- und ›Stotter‹-Stadium befinde; man sollte diese Metapher Zolas, durchaus unter Verweis auf Bernards Introduction, ernst nehmen. Dass also genau dieser Blickwinkel einer me-thodologo-praktischen Übertragbarkeit die Arbeit an der Physiologie, auch an der Medizin, leiten müsse. Sollte sich aber die Physiologie konsoli-dieren können, kann der Schritt zur Psychologie61 – etwa im Sinne der Wir-kung eines bestimmten humanen Affekts oder auch der Intelligenz, je nach Diversität der Vererbung und des Einflusses der milieux externes, also der sozialen Lagen und Situationen, der ›Umwelt‹ – gültig gewagt werden.

Wenn das aber gilt, wenn man ausgehend von der Basis sich kontinu-ierlich erweiternden, gesicherten Wissens, durch Applikation auf andere, bislang quasi unerforschte, oder ›falsch‹ erforschte Bereiche, in diese ein-dringen, neue Erfahrungen und neue wissenschaftliche Sicherheiten – ›wissenschaftliche Seligkeiten‹, so ein leicht skeptischer Nietzsche (Die fröhliche Wissenschaft) – gewinnen kann, so kommt in diesem wissenschafts-historischen Prozess den Künsten, der Literatur über kurz oder lang eine neue Rolle zu, gerade dann, wenn letztere nicht mehr auf imitatio setzt, auf »ut pictura poesis«, etwa indem sie vorgängige wissenschaftliche Errun-genschaften einfach ›abmalt‹;62 sie selbst bildete dann Hypothesen über bislang ›graue‹, erst teil-erforschte Bereiche im ihr genuinen Feld des Le-bens und der Lebens-Umstände ihrer ›Figuren‹/Protagonisten, die sie, à la façon de l’expérimentateur, zwar nicht ›erfindet‹, aber auf gesicherter Basis ›entwirft‹, um diese ihre Darstellung dann der Falsifikation der Wissen-schaften zu unterwerfen:

On a souvent dit que les écrivains devaient frayer la route aux savants. Cela est vrai, car nous venons de voir, dans l’Introduction, l’hypothèse et l’empirisme précé-der et préparer l’état scientifique, qui s’établit en dernier lieu par la méthode expé-rimentale. […] C’est ainsi que la science, à mesure qu’elle avance, nous fournit, à nous autres écrivains, un terrain solide, sur lequel nous devons nous appuyer pour nous élancer dans de nouvelles hypothèses. En un mot, tout phénomène

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61 In der Tat ist ja die Psychologie, wenn auch unter unterschiedlichen Basis-Annahmen, durchaus eine experimentelle Wissenschaft geworden. Die Neurologie macht ihre Fort-schritte über Kranologie hinaus; ein Freud ohne Charcot ist schlecht denkbar: Physiologie zu Psychologie.

62 Diesen Vorwurf wird man dem nicht minder wissenschafts- und naturalismus-begeisterten Bölsche (1887) z.B. getrost machen dürfen.

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déterminé détruit l’hypothèse qu’il remplace, et il faut dès lors transporter l’hypothèse plus loin, dans le nouvel inconnu qui se présente (Zola 1879: 95).

Ob generell Literatur dergleichen überhaupt zu leisten vermag, ist meine Frage, hic et nunc, eher nicht: ich versuche, Zola zu rekonstruieren.

Natürlich ist das zugrunde gelegte Pyramiden-Konzept, das im 19. Jahrhundert, jedenfalls in Frankreich, den altbekannten (cf. auch Eco 1996) Wissens-Baum, den arbre encyclopédique,63 nicht ablöst und ersetzt, aber doch erheblich modifiziert, eine Geschichts-Spekulation letztlich Com-te’scher Prägung, die aber durch einen Evolutionismus, der teleologisch denkt, auch durch Lamarcks Weg vom ›Einfachen‹ zum ›Komplexen‹, verstärkt wird, aus heutiger Sicht hoch problematisch. Solche (stetige) Kontinuitäts- und Akkumulations-Vorstellungen erscheinen uns eher krude; nicht weniger denn die Annahme eines allen Wissenschaften ge-meinsamen ›Ganzen‹; die Streuung ihrer Akzeptanz im 19. Jahrhundert ist aber sehr groß und keineswegs auf Comte und Comtianer begrenzt, auch Bernard vertraut auf diese Entwicklung.64

Man wird jedenfalls behaupten dürfen, dass sich Zola im epistemolo-gischen Feld des 19. Jahrhunderts keinen ganz geringen Platz verdient hat: nicht, weil er ›recht hat‹, sondern weil er sich in seiner Epoche nahezu ›modern‹ bewegt; seine ›Irrtümer‹ – immer noch abgesehen von seinen literarischen Texten selber – in dieser Ästhetik sind zu einem guten Teil der Wissenschaft seiner Zeit geschuldet, wenigstens bezüglich der Einzel-wissenschaften, die er aufzugreifen versucht. Wer ihn darin ›naiv‹ nennt, muss ein Gutteil der gesamten Epoche so bezeichnen. Allzu viele Ästheti-ken, die nicht eine ›Beschreibungs‹- und ›Ergebnis‹-Ebene der wissen-schaftlichen Resultate zum Ausgangspunkt ihrer Annäherungs-Versuche von Wissen, Wissenschaft und Literatur wählen, sondern den Weg über Verfahrens-Modalitäten und methodische Reflexionen, wird man in sei-nem Jahrhundert nicht finden.

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63 Zu dessen Rolle in Zolas Werk cf. Le Docteur Pascal (cf. Höfner 1980; Kaiser 1990). 64 Daran dürfte nicht die hochgradige Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissen-

schaften schuld sein; aber wir hätten zurecht erhebliche theoretische Bedenken. Immerhin sind die beiden Groß-Paradigmen in der Physik, Relativitätstheorie und Quanten-Physik, bislang nicht bruchlos zu vereinigen; ob der String-Theorie der Sprung gelingt zur TOE (Theory of Everything) ist noch nicht absehbar. Auf der anderen Seite ist man auch nicht be-reit, sieht man von gewissen weniger wissenschaftlichen denn ideologischen Blickwinkeln ab, jeder Form von sinnvollem Reduktionismus abzuschwören. Und als Naivitäts-Gipfel heu-tiger Zeit darf die Rede von der Wissens- und Informations-Gesellschaft gelten, die munter den Wissens-Zuwachs pro Erdsekunde zu ermitteln beliebt, vorsichtshalber ohne je zu definie-ren, was denn Information oder Wissen(-s-Bestandteil) sei (cf. auch Mittelstraß 2001).

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IV.

Es ist natürlich verlockend, zum Abschluss des Beitrags jene literatur-praktischen Fragen wenigstens noch zu streifen, die aus dem Roman expé-rimental hervorgehen, sich z.T. in ihm ausgedrückt finden: »Avant de con-clure, il me reste à traiter divers points secondaires« (Zola 1879: 89).

Der zentrale Punkt, der dabei herausgestellt wird, ist ein literarisches Verfahren, das wenigstens seit Flaubert und eben auch bei Zola selbst praktiziert wird, das der impersonnalité, mit der dem ›Ich-Kult‹ der Roman-tik literarisch ein Gegengewicht verliehen werden soll; die Perspektiven-Technik lässt den (omniscienten) Erzähler zurücktreten. Wenn man dafür Flaubert, wo nicht als ›Erfinder‹ ansetzen will, so doch als einen der ers-ten, die dies Verfahren über ganze Romantexte durchzuhalten wussten, so wird man feststellen, dass bei aller Begeisterung Flauberts für die (Natur-) Wissenschaften bei ihm diese Technik nicht (allein) in Auseinanderset-zung mit den Methoden der Wissenschaft eingeführt wurde. Zola nun versucht eben dies Verfahren aus der wissenschaftlichen Methode selbst, aus zumindest einer (Teil-)Analogie, abzuleiten und für den »artiste expé-rimentateur« als einzig geeignete Darstellungs-Form auszugeben (cf. Höf-ner 2002).

Noch einmal zeigen sich die Skylla- und Charybdis-Felsen und -Un-tiefen: gerade der in seiner Wissenschaft so fortschrittliche Claude Ber-nard nämlich verfolgt, in seinen spärlichen Einlassungen zur Kunst, noch ein klassizistisch-romantisches Ideal, wie Zola enttäuscht konstatiert: »[Bernard] ›Qu’est-ce qu’un artiste? C’est un homme qui réalise dans une œuvre d’art une idée ou un sentiment qui lui est personnel.‹« – Das kann Zola, im Zeichen der geforderten (narrativen) impersonnalité, nicht stehen lassen: »Je repousse absolument cette définition.« (Zola 1879: 94)

Er kann es in der Tat nicht stehen und durchgehen lassen; diese Ber-nard’sche Vorstellung gehört nicht nur einer ›romantischen‹ Ästhetik an, sie entspricht nicht einmal strikt literarisch gesehen der ästhetischen De-batten-Vielfalt, vor wie nach der Romantik: jede Modellierung von Welt in Kunst, die über eine Ich-Spiegelung hinausginge, auch nur ›Charakter‹, ›Typus‹ etc. beträfe, wäre damit zerstört. Also gilt es an zwei Fronten der ›Ignoranz‹ tätig zu werden: der Wissenschaftler muss lernen, auch Kunst-werke angemessen zu interpretieren, so wie der ›romantische‹ Kritiker, mit ihm ein breites Publikum, sich von den einseitigen ästhetischen Mustern lösen und lernen muss, der Wissenschaftlichkeit einen gebührenden Platz

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einzuräumen, und zwar auch in der Kunst, da die Spaltung ›Realität‹ vs. ›Fiktion‹ nicht (mehr) trägt.65

Und so wird im V. Teil des Roman expérimental Zolas Claude Bernard denn so einiger Kritik ausgesetzt; denn gerade er hatte doch in Zolas Au-gen, wie viele andere Zeitgenossen, das Persönliche und Geniale zu re-integrieren erlaubt, da gilt, dass es in der Hypothesen-Findung am rechten Ort sei, vorausgesetzt, die dann erstellte Hypothese selbst sei nach ›unper-sönlichen‹ Regeln überprüfbar, die bereits für die Hypothesen-Formulierung notwendig gelten. Also geht das Persönliche zwar in die Hypothesen-Findung ein und in die Textsorte, in der sich diese präsentie-ren lässt, macht aber nicht den Kern des Kunstwerks aus:

J’ai constaté que selon moi, la personnalité de l’écrivain ne saurait être que dans l’idée a priori et que dans la forme. Elle ne peut se trouver dans l’entêtement du faux. Je veux bien encore qu’elle soit dans l’hypothèse, mais ici il faut s’entendre (Zola 1880: 95).

Ich halte nochmals fest: das Bemühen Zolas in der Auseinandersetzung von Literatur, Wissen, Wissenschaft gilt, und nicht erst im Roman expéri-mental, der Frage nach der Übertragbarkeit von Methoden, Vorgehenswei-sen, Beweisen/Schlüssen/Fakten; das schließt nicht aus, dass er sich zur Darstellung in Kunst, im Roman der Technik bedient, Wissenschaftsgut an eine/mehrere Roman-Figur(en) zu binden, mit ihr/ihnen zu (re-) präsentieren. Aber, wenn er einen wissenschaftlichen Beruf aufgreift und an einem Berufsträger darstellend festmacht, so bleibt, scheint mir, denn doch die wissenschaftliche Grundlage dieses Berufs präsent; er vermeidet weitgehend also ein literarisches Vorgehen, das etwa an der Figur eines Arztes dessen Lebens-Umfeld, in sozialen Bereichen der Tätigkeit, primär thematisiert. Die literarische Figur des Arztes ist bemerkenswert häufig in der Literatur des 19. Jahrhunderts, aber häufig ohne Rekurs auf die wis-senschaftliche Seite dieses Berufs: so schildert etwa Baroja, im bereits genannten Roman El árbol de la ciencia von 1911, breit die Studienzeit sei-nes Helden Andrés, auch die Berufsjahre, mit ihren Teil-Aufgaben wie Hygiene, Armenarzt, soziale Missstände; der IV. Teil des Buches, schein-bar ein zentraler – I: »Plan filosófico«; II: »Realidad de las cosas«; III: »El árbol de la ciencia y el árbol de la vida«, etc. –, fällt dagegen mehr als ent-täuschend aus, nicht nur für einen heutigen Leser; diese Positionen gelten

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65 Es ist, soit dit en passant, bemerkenswert zu sehen, wie weit das Feld möglicher Hypothesen und Semi-Hypothesen etwa bei Vaihinger (1911/12), über den strikt wissenschaftlichen Kontext hinaus, vermessen wird. Und die modernere Debatte kennt das ›Als-Ob‹ noch zentral – ganz ohne Tarski-Semantik –: cf. Iser (1991/93).

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epistemologisch auch nicht für das 19. Jahrhundert, es sei denn ideolo-gisch.66

Und eine A-Wissenschaftlichkeit, A-Epistemologie wie etwa Capuanas Mediziner in Un vampiro (1906) sie zum Ausdruck bringt, hätte sich Zola vermutlich auch im phantasie-offenen ›Vorderfeld‹ einer Hypothese im Namen der scienza kaum geleistet.67

Dagegen ist Zolas Le Docteur Pascal denn doch eher auf der Höhe des wissenschaftlichen Denkens seiner Zeit. Die Menge der Mythologeme darin, der Metaphern-Reichtum, die vielfältige Intertextualität verhindern nicht notwendig, den Roman auch als Wissenschafts-Exempel zu lesen: sind auch die milieux internes hochgradig determiniert, so könnte es sein, dass Umwelt-Einflüsse, also ausgewählte Steuerung in milieux externes, etwa soziale, schichtenspezifische Verhältnisse etc., in der Vererbung und Ge-nealogie sie zu reduzieren vermöchten, sodass dem Determinismus sich in gewissen Maße – zuweilen wird heutzutage, das sei nun richtig oder nicht, ein Verhältnis von etwa 80% zu 20% angesetzt68 – eine partielle Mecha-nismus-Aufhebung entgegenstellt, durch Erziehung und andere Maßnah-men, wie etwa Pascal sie Clotilde angedeihen lässt. Solches würde gewiss zu keiner befriedigenden Text-Interpretation hinreichen, scheint aber dabei auch nicht gut außer Acht zu lassen zu sein.

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66 Das geht auch in Spanien anders; cf. die Zola-Rezeption bei Emilia Pardo Bazán, vor allem La cuestión palpitante (1882).

67 »Per la scienza c’è di reale soltanto l’organismo, questa compagine di carne e di ossa for-mante l’individuo e che si disgrega con la morte di esso, risolvendosi negli elementi chimici da cui riceveva funzionamento di vita e di pensiero. […] Si comincia di sospettarlo […]. I Vampiri sarebbero individualità più persistenti delle altre, casi rari, sí, ma possibili anche senza ammettere l’immortalità dell’anima, dello spirito.« Capuanas Erzählung ist Cesare Lombroso gewidmet, der seinerseits, mitten im Positivismus, spiritualistische Züge kennt und der einen kriminalistischen Vampir-Fall in Italien beschrieben hatte; cf. C. Lombroso, Verzeni e Agnoletti, Torino 1873. Cf. auch Introvigne (1997).

68 Dgl. wird z.B. von Eysenck (1977) Ende der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts relativ unwidersprochen vertreten.

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ROBERT S. APRIL

Zola’s Utopian Novels. The Use of Scientific Knowledge in

Literary New World Models

Et voilà pourquoi, mon ami, vous m’avez tou-jours vu si paisible, si certain de la délivrance fina-le. Les hommes avaient beau se dévorer stupide-ment dans leurs luttes aveugles, les religions avai-ent beau s’obstiner à entasser les erreurs, les men-songes, pour garder leur domination, la science invincible avançait quand même d’un pas chaque jour, faisait plus de lumière, plus de fraternité, plus de bonheur. Et, d’elle-même, par la force ir-résistible de la vérité, elle emportera le passé de ténèbres et de haines, elle finira par libérer les in-telligences, par rapprocher les cœurs, sous le grand soleil bienfaisant, notre père à tous.

This utopian prophecy based on scientific knowledge was taken from Émile Zola’s notes for Travail, one of his last ambitious novels, Les Quatre Évangiles.1 It is a fitting introduction for a paper which will attempt to show how nineteenth century science was incorporated into literary knowledge for the purpose of validating the fictional utopian society.

It will be helpful to the reader if I begin by examining the basic tenets of positivism, the scientific philosophy that interested Zola and which influenced his naturalistic writing. Positivism was the system of ideas es-poused by Auguste Comte and was based on observation of individual phenomena in chemistry and physics. The goal of the observation was to determine the causal relationship between successive phenomena and to generate a theory about the larger set. Because non-measurable, therefore non-observable forces had been incorporated into previous scientific methods, a deterministic principle governing events in the physical and chemical domain could not be established without recourse to external, metaphysical forces. The idea that a vital force was necessary to under-stand biochemical and physiological systems is an example in point. ______________________

1 Fécondité, Travail, Vérité, Justice.

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Robert S. April 168

Comte wanted to rid his science of all metaphysical causes and limit scien-tific knowledge to an understanding of the interaction of natural events. Zola extended these ideas, which will be developed more fully later in this paper, to his novels, claiming that his characters interacted in ways deter-mined by physiological principles inherent in the biology of his fictional family. For Zola positivism was the science that could produce knowledge not possible before and which could lead mankind to a utopian solution for the New Century.

The specific consideration of this essay is to show the ways Zola used science to justify a new utopian vision of society and its work. It will try to answer the criticism that Zola’s literary creativity had burned out so that now he was obliged to mix scientific terms and traditional conventional morality just in order to tell another story to his public. I will conclude, after much explanation, that Zola fails in his attempt because positivism cannot generate absolute truth or certainty in any domain, physico-chemical or socio-economic. From the viewpoint of science itself, obser-vations alone, without intercession by the scientist’s imagination (hypothe-sis and experimentation), will never generate theories or laws. For these reasons its methodology will always clash with a utopian formulation in which there must exist a dominant ideology for all participants and for which any dissent is inadmissible without a breakdown of the system. The reader will understand this point by thinking back on the twentieth cen-tury’s attempts to make utopia in Nazi Germany and Soviet Russia.

Why is it necessary for the author of utopian fiction to legitimize, ver-ify, or validate his narrative? After all, the reader knows that any idyllic tale is wholly imaginary. Even in a historical period in which utopian novels were popular, he knows what might be, and what might not be, feasible; but even then, so what? Why should one not just accept it as parody, a good tale, or a possibility for some very remote future time? Why must there be legitimizing content of this kind?

One might answer that it is important to convince the reader of the possibility of the social structure that is described. Utopian literature is serious and is not meant solely to entertain. Lateral sets of information can support the possibility that the described systems could possibly exist. Technical details serve that purpose, just like they do in science fiction. For example, Jules Verne’s discussion of ballistics in Les 500 millions de la Bégum is very detailed. The reader is convinced that the trajectory of a mega cannonball can be realized if it is launched with a critical accelera-tion, even though this novel is, in reality, a satirical parody of the Franco-Prussian arms race at the turn of the century.

In general science fiction is either parody or entertainment and differs from utopian fiction in not expressing the vital human longing to improve

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Zola’s Utopian Novels 169

the world in small, or larger, ways, making it better than the present. For Zola the application of scientific knowledge will accomplish this trans-formation in Travail.

When he published Travail in 1901, his penultimate novel, at the age of 61, Zola had been through the Dreyfus Affair and personal exile in England. He had fallen from the pinnacle of literary, and financial, success to a place where he was the target of social criticism and satire, particularly from the political right who labeled him a spokesman for the Jews, com-munists, and anarchists who were, according to them, undermining the traditional health and stability of French society. It was only one year be-fore his untimely death,2 and 30 years since the catastrophic Franco-Prussian War that brought down the Second Empire ignominiously. 10 years earlier he had finished his epic work, the 20 volume Rougon-Macquart series that described the social and natural history of a Second Empire family. Zola had become very famous from these naturalistic novels which described and criticized that society by showing hereditary disease, pov-erty, alcoholism, exploited workers, sexual perversion, and social corrup-tion.3 But he also proved that he was capable of lyric, passionate writing about human emotions, including love in its many forms.4 Why after a remarkably successful career did Zola write utopian fiction of inferior quality to his earlier works? Why did he have to legitimize the possibility of a social utopia by using scientific ideas? To answer these questions one must examine Zola’s literary biography in the context of contemporary scientific thought.

As stated earlier, Zola’s interest in science began very early in his ca-reer. When he was in his twenties, working at his first job in publishing (at Hachette), he read Auguste Comte,5 Hippolyte Taine,6 Prosper Lucas7

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2 Accident or murder? Jean Bedel, Zola assassiné, Paris 2002. 3 For example, L’Assommoir, La Terre, Nana, La Bête Humaine.4 For example, Une page d’amour, Le Rêve, Le Docteur Pascal.5 Auguste Comte (1798-1857) was the founder of positivism. His Cours de philosophie positive

(1830-42) is one of the major philosophical works of the nineteenth century. He completed his philosophical system with a religion of humanity which was integrated into the republi-can ideology of nascent Brazil. My citation of Comte’s thinking comes solely from the fol-lowing reference: Auguste Comte, La Philosophie Positive. Résumé par Émile Rigolage (Jules Rig), vol. II, Paris 1886.

6 Hippolyte Taine (1828-1893) was a philosopher, historian and literary critic who attempted to explain the three-fold influence of race, milieu and time in artistic and historical works, thus having a profound effect on Zola’s naturalist ideology. He published a history of France, English literature, and commentaries on art, among other subjects.

7 Prosper Lucas (1805-1885) is a little known medical figure of the period who published one work that influenced Zola during his years of reading works that were to form his ‘gol-den legend’ of the Rougon-Macquart family – namely, Traité de l’hérédité naturelle. Its content

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Robert S. April 170

and Charles Fourier,8 among other theorists of the day.9 He also spent time reading the works of contemporary psychiatrists.10 His early articles expressed his vision of science and literature. In the Journal Populaire de Lille, April 1864, at age 24, Zola wrote: “Oui, l’humanité monte vers la cité

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had nothing to do with scientific heredity. Before the publication of Le Docteur Pascal, Zola reread Lucas, along with other contemporary neurological texts on heredity which were furnished by his friend, Dr. Maurice de Fleury, a medical editor at Le Figaro and also him-self a student of diseases of the nervous system.

8 Charles Fourier (1772-1837) was a philosopher and economist whose system predicated a communal association of individuals living in what he called a phylanstery, based on har-monious association in voluntary work and on providing for the well-being of each mem-ber.

9 Henri Mitterand, Zola, vol. II, Paris 2001, p. 1102-1103. Mitterand’s discussion of this 1892 period and Zola’s involvement with concepts of heredity is worth citing in full: “[…] de Fleury a mis à sa disposition la traduction récente d’un ouvrage du biologiste allemand Au-gust Weismann, Essais sur l’hérédité et la sélection naturelle. La boucle se referme: Zola revient à ses curiosités de 1867-8 pour les phénomènes de l’hérédité. Mais il s’agira moins d’en tirer de beaux cas romanesques, comme il l’a fait dans ses emprunts originaux à L’Hérédité Natu-relle du docteur Lucas, que d’en nourrir les propos de Pascal. Selon Maurice de Fleury, il avait déjà réuni quelques autres documents sur le même sujet, avant même de s’en venir fouiller dans la bibliothèque du collaborateur médical du Figaro. Il a relu ses notes anciennes sur le livre du docteur Lucas, résumé les trois premiers chapitres du livre du neurologue Jules Dé-jérine (Déjérine, J., L’Hérédité dans les maladies du système nerveux, Paris, Asselin et Houzeau, 1886) et fait le même travail sur les notes fournies par le docteur Georges Pouchet, profes-seur du Musée d’histoire naturelle, ancien ami de Flaubert, que Céard lui avait présenté. Pouchet relativisait le principe héréditaire, récusait la notion d’atavisme, insistait sur le nombre et la complexité des combinaisons qui surviennent dans la lignée des générations. À ses yeux, placer l’arbre généalogique sous la dépendance d’une souche unique, telle que la vieille Adélaïde au sommet de l’arborescence des Rougon-Macquart, n’avait pas de sens puisque cela présupposait l’innéité totale. Il terminait en indiquant que l’influence de l’état des parents au moment de la conception était nulle. Mais Zola était-il dupé de ces modèles de ses représentations? Lisant Pouchet, il a noté sans se troubler l’invraisemblance de l’explication donnée à l’infirmité de Gervaise dans La Fortune des Rougon et dans L’Assommoir… Au surplus, Pouchet admet le droit du romancier à l’invention et à la systé-matisation: et il a symbolisé pour Zola l’hérédité de ses personnages en composant un ta-bleau constitué de cercles, à raison d’un cercle par personnage, à l’intérieur desquels des secteurs de couleur différente représentaient les parts d’hérédité provenant des ascen-dants.” In this discussion one must heed the article of Dorothy E. Speirs, a recognized Zo-la scholar, who discusses the preparatory drafts of Travail and the influence of thinkers of his day. These drafts show the ideological influence of Jean Grave, Pierre Kropotkine and Edward Bellamy but Speirs discusses in detail how much Zola knew of Charles Fourier’s works. She makes the point that Zola (and many other pro-Fourier writers) knew populari-zed accounts, and did not read the original works themselves. In this regard, she cites, with scholarly references, the work of Fourier’s disciple, Hippolyte Renaud, Solidarité, which she describes in her paper and mentions clearly that Fourier’s central theme – the importance of sexual pleasure – was often overlooked, or at least minimized, by his popularizers (Do-rothy E. Speirs, “Zola, lecteur de Fourier,” in: Mimesis et Semiosis. Littérature et Représentation. Miscellanées offertes à Henri Mitterand, ed. Philippe Hamon/Jean Leduc-Adine, Paris 1992, p. 57-63).

10 Mitterand, Zola, p. 942 (note 9).

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idéale. La science lui ouvre les voies […]. Les cieux de Dante ne sont plus, qu’elle chante les cieux de Laplace, plus vastes et plus sublimes.”11 Scien-tific thinking was incorporated in his literary manifesto, Le Roman expéri-mental,12 published in 1879, based on Claude Bernard’s Médecine expérimen-tale.13 Zola used science to give validity to his novels and to the new uto-pian city that was evolving in the ideas of his principal heroes.14 Which scientific discourse interested him most? How does this influence emerge in Travail? Does it validate the utopian city he proposes to the reader?

The subject of ideologies underlying nineteenth century utopian writ-ing is covered extensively in an unpublished thesis of Valerie Narayana (see note 11). It contains an extensive research bibliography and discus-sion of Auguste Comte, Claude Bernard, Émile Zola and positivism. It explains Comte’s wish to remove all metaphysical thinking from scientific discourse.15 This would exclude all discussion of first cause or any non-measurable force in physics, chemistry and biology.16

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11 V. C. Narayana, Édens d’acclimatation: L’Utopie positiviste chez Honoré de Balzac et Émile Zola,Thesis, University of British Columbia 2003.

12 Émile Zola, Le Roman expérimental, Paris 1971. 13 Claude Bernard, Introduction à l’étude de la médecine expérimentale, Paris 1920. 14 One has only to cite the credo of Dr. Pascal: “Je crois que l’avenir de l’humanité est dans le

progrès de la raison par la science. Je crois que la poursuite de la vérité par la science est l’idéal divin que l’homme doit se proposer. Je crois que tout est illusion et vanité, en dehors du trésor des vérités lentement acquises et qui ne se perdront jamais plus. Je crois que la somme de ces vérités, augmentées toujours, finira par donner à l’homme un pouvoir incal-culable, et la sérénité sinon le bonheur....” (Émile Zola, Le Docteur Pascal, Paris 1993, p. 97-98) In this novel there is much contemporary scientific discussion – viz. heredity, sexual differentiation in the fetus, homeopathic therapy, infectious disease, concepts of nutrition and descriptions of syphilis and tuberculosis. Other utopian heroes include Pierre and Luc Froment (Les Trois Villes) as well as Étienne Lantier (Germinal).

15 An insistence incorporated by Dr. Pascal: “Seule, jusqu’à ce jour l’intelligence humaine est intervenue, je te défie bien de trouver une volonté réelle, une intention quelconque, en de-hors de la vie.” (Ibid., p. 57-58)

16 Despite his insistence, reading of his distinction between organic chemistry of living and non living systems tends to conserve a vitalistic force to differentiate the complexity of the former from the latter. “Apres qu’on a dépassé les rangs inférieurs de la hiérarchie zoologi-que, les fonctions chimiques, bien que constituant toujours la base de la vie, sont subor-données à un ordre supérieur de nouvelles actions vitales.” (Auguste Comte, La Philosophie Positive [note 5], p. 157) Later he considers the dissociation of properties of two com-pounds that have the same constituent elements: “[…] où l’on ne peut saisir aucune diffé-rence de composition entre deux substances que leurs principales propriétés ne permettent pas de regarder comme identiques, tels sont le sucre et la gomme. La manière actuelle de philosopher entraîne les chimistes à y supposer une très légère inégalité de composition numérique, dont leurs moyens analytiques ne peuvent constater l’existence. Un tel expé-dient ne fait que reculer la difficulté sans la résoudre.” (Comte, p. 158) He considers this to be an important problem for learning about the complexity of the combination of elements which produce substances identical in primary composition but with entirely different chemical and physical properties. He exhorts the reader to approach this subject of organic

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Comte’s lessons begin with his explanation of the three states through which each branch of science passes or evolves. He believes that the pas-sage from one state to the next is a reflection of the workings of the hu-man mind, which is an evolutionary concept. The three states are the theological, the metaphysical and the positive. In the first two, there is inherent in each phenomenon an abstract, or external, principle, which is responsible for its effect, and therefore constitutes an essence that the observer is seeking. In the third state, the positive, there is only the prop-erty of the object itself and the observation, or the sets of observations themselves, become the basis of a law that underlies the entire phenome-non. In this way the observations, or facts, determine the theory for the positivist scientist. In the first two states, the non-describable, non-measurable essence represents the metaphysical element of knowledge in the widest sense. It is this element that Comte wants to rid from science (and knowledge) once and for all. All laws must be derived from the ob-servations made on this or that concrete phenomenon, producing a lim-ited cause and effect relationship, a circumscribed determinism.17 The aim of positive science is to remove the social sciences, in particular, from all metaphysical and theological influences and to elevate them to the same degree of scientific verification as the physical and chemical sciences.18

For this reason Comte is the first sociologist, at least in theory, although he refused to admit statistical measurement of empirical sociological data. His social ‘laws’ were posited to resolve into relations with one another, and instead of seeking causes in external causes, men would examine only the conditions of social existence themselves. This would allow a homo-geneity in all branches of knowledge, and a regeneration of education without conflicting methods and mutually hostile conceptions. At the end of this evolution of ideas society would reorganize on the basis of knowl-______________________

and inorganic chemistry with an open mind in order to explain these ‘paradoxical’ observa-tions through greater understanding of the nature of isomeric compounds. The study of the properties of chemical isomers, whose unique properties are based on spatial configu-ration, specific chemical bonding, and quantitative aspects of the constituent elements, was yet to be understood in Comte’s day.

17 In his discussion of physiological science he presages Claude Bernard, Introduction à l’étude de la médecine expérimentale, Paris 1898, who writes: “Une science expérimentale ou d’expérimentation sera une science faite avec des expériences, c’est-à-dire dans laquelle on raisonnera sur des faits d’expérimentation obtenus dans des conditions que l’ex-périmentateur a créées et déterminées lui-même.” (p. 28); “[…] toutes les sciences [ital. mine] veulent arriver à la loi des phénomènes de manière à pouvoir prévoir, faire varier, ou ma-îtriser ces phénomènes.” (p. 31)

18 “[…] political science must be considered to be a particular kind of physical science. […] insofar as one can regard it as verified in reality both a priori and a posteriori and having general methods of verification.” (Auguste Comte, “Système de philosophie positive,” in: Catéchisme des industriels, cited by Narayana [note 11], p. 62)

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edge gleaned from positive analysis of each branch of science and would generate a new science of society. Comte traces steps from phenomeno-logical determinism to a world system and, in so doing, transforms himself from empirical scientist to a demagogic visionary who was dictatorial in his personal relationships.

In addition to its interest in social interaction, positivism had a central interest in classifying sciences as branches from one trunk. There is a hier-archy of the sciences, each level becoming more complex and incorporat-ing the truths of the lesser ones. It begins with mathematics and proceeds through astronomy, physics, chemistry, biology and sociology. Each higher member cannot be fully understood without understanding the facts of those coming before. However, he also makes the point that the highest branches will be those that remain longest under the religious-metaphysical influences before passing into the positive state. This think-ing always expresses an evolutionary succession of human knowledge in relation to the evolution of the human brain and intellect.

The major criticisms of Comte’s science have been those relating to the generality and lack of specificity of its results, whereas these criticisms are rebutted by the defense that positivism is less concerned about techni-cal minutiae than by the need to have a coherent philosophy about the organization of society. This, it seems, leads to another metaphysical sys-tem replacing the old order of divine authority and supernatural thinking about natural events, including human society. Positivism – that is, science itself – would become the epistemological basis for this discourse about social organization, even though knowledge would be gained by the same methods used in physics and chemistry.19 Narayana concludes, after much detailed inquiry, that the idea of separating “physics” from “metaphysics” was central to scientific and social thinking throughout the nineteenth century and characterized positivist utopianism in its quasi-dialectical movement from ignorance and disorder to homogeneous enlightenment and perfection.20______________________

19 “En faisant prédominer la considération de l’homme, on est conduit à attribuer tous les phénomènes à des volontés correspondantes, d’abord naturelles, et ensuite surnaturelles, ce qui constitue le système théologique. L’étude directe du monde a pu seule produire et déve-lopper la grande notion des lois de la nature, fondement de toute philosophie positive. Cette étude, en s’étendant graduellement à des phénomènes de moins en moins réguliers, a dû être appliquée à l’étude de l’homme et de la société, dernier terme de son entière généra-lisation.” (Comte [note 5], p. 160) One notes that his discussion of physical systems such as the diffusion of heat in metal bodies, is strictly quantitative, analytical, and ultimately, ma-thematical. There is no systematic similarity when he goes on to discuss human or social interactions.

20 One must give credit to Comte for his efforts to incorporate the laws of organic chemistry (with minimal modification) into biology. This is certainly a big step away from vitalism, the metaphysical force in pre-positivist medical science. (See the discussion about Laen-

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The problematic nature of positivism is demonstrated as follows. Al-though it would appear that Comte wanted to characterize his social ob-ject in an a posteriori, provisional fashion, so that the axioms of the old and new regimes could be tested on different models, something quite different emerged in his work. There is nothing at all provisional about the knowledge he describes. He insists that general laws would be sug-gested and confirmed by the observed facts themselves which often are “only simple facts that are general enough to become principles.”21 In making this statement, Comte blurs the difference between factual object and subjective model, so that verification becomes a problem for the ob-server and the reader of his work. In brief, one does not find any descrip-tion, or numerical evaluation of a particular society, small or large. There are no real data with which to compare or to evaluate one system with reference to another.

It can be said that Comte’s concept of evolution of knowledge that would reach a homogeneous political philosophy and an exalted Religion of Humanity was unmistakably utopian in nature. The passionate enthusi-asm for such an idea is reflected in Zola’s writings. What makes Comte’s social utopianism more attractive than other utopian systems of its day is its belief that social progress will come about, in an evolutionary fashion, through moral transformation without recourse to political violence and forced redistribution of wealth. The transformation is inherent in the Law of the Three States and presupposes an evolution of the human intellect which will be the determining force for the utopian changes.

Comte’s work was written in the first half of the nineteenth century. It was a post-Revolutionary period that created higher schools for science and used competitive examination for acceptance of students. These insti-tutions taught empirical, measurable, testable scientific theories such as Newton’s gravitational principle, as well as applied (engineering) science for the new Industrial Age. Comte’s anti-metaphysical science was attrac-tive because divine authority and divine force were not admissible in the academy even though the Church’s thinking was influential during the

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nec’s consideration of vital principles of physiology and that of the organicists, who were positivists in this argument [Jacalyn Duffin, To See with a Better Eye. A Life of E. T. H. Laen-nec, Princeton 1998, p. 268-73].)

21 Narayana (note 11), p. 97. Such self-contradictory statements fill the pages of his expositi-on and make it very difficult to follow and even more difficult to accept as a consistent set of thoughts. I find it ironic that Comte chose to label his teachings as “catechisms” which implies a fundamental religious set of questions and answers rather than an open, evidence-driven, set of questions and answers about the nature of inquiry itself. It is ironic that the thinker who wanted to rid scientific thinking of all metaphysics introduces a metaphysical process when he calls his chapters “catechisms,” not “reasonings”.

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Restoration and the rest of the century.22 The Church became a major focus of criticism in Zola’s chronicles and late novels (see Vérité), as well as during the Dreyfus Affair.

To summarize Comte’s science one might say that his inability to transpose his natural physics to a social physics was based on his unwill-ingness to measure and to test the dynamic interactions of social organiza-tions. His lasting contribution is the Religion of Humanity, a truly utopian idea included in many of Zola’s writings.

Historically, Comte’s religious ideas were incorporated in the deve-lopment of the republic of Brazil. Indeed, there is a church of the Religion of Humanity standing today in the Gloria section of Rio de Janeiro. Its sanctuary is decorated with the busts of history’s great thinkers and artists, from Socrates to Dante, and there is a full size mural of Clotilde de Veaux, Comte’s muse and love, dressed in Grecian mode, which takes the place of the feminine aspects of the Divine seen in Catholic churches.23 The philosophy of this Church is certainly a utopian one.

The ideology of Charles Fourier, another earlier nineteenth century theorist, was very important to Zola. Fourier proposed a social model for human happiness through communal existence in phylansteries – self-contained, harmonious collectives in which the means of production and the rewards of work would be shared by all. Fourier’s ideological model includes sexual freedom, love between young and old, as well as a phi-losophy of mental health and happiness through physical and sexual hy-giene.24 Fourier never succeeded in creating real-life phylansteries, except

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22 Broussais’s and Laennec’s arguments took place at a time in French history when Church affiliation was important for obtaining good hospital posts. The political relevance of this point is made clear in Duffin’s biography of Laennec. (Duffin [note 20], p. 44-46)

23 To this day Sunday services proclaim the positivist principles of truth, justice and love without reference to the Deity (personal observation, The Church of Humanity, Rio de Ja-neiro, May 2004).

24 It must be stated that Fourier’s motivation was to liberate sexual mores from conventional repression and moral inhibitions. Sexual pleasure was very important to his societal organi-zation, Harmony. “Ce chapitre amoureux qu’on croyait épuisé est à peine ébauché et [...] nous allons entrer dans un nouveau monde amoureux où tout sera pour nous aussi surpre-nant, aussi neuf que le furent les végétaux de l’Amérique pour les premiers qui y abordè-rent.” (Charles Fourier, Vers la liberté en amour, Paris 1975, p. 56) Some of his statements are unabashedly provoking in their frankness: “On voit encore fréquemment des femmes que leurs parents laissent pâtir et mourir plutôt que de leur accorder satisfaction sur ce point et, certes, une jeune fille languissante, souffrante faute de ce plaisir que la nature lui comman-de, mérite bien une exception. Il serait si facile de faire pacte avec un athlète consciencieux qui promettrait la discrétion et les précautions d’usage pour éviter la grossesse que ré-prouve l’opinion.” (p. 79) These thoughts recall later passages in Zola’s texts that strike out against contemporary bourgeois morality in the education of daughters (see Pot-Bouille and his letters on the education of young girls in bourgeois homes and in slum hovels) as well

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for some small ones, so that large communal societies of this nature could not be evaluated empirically. The question of Fourier’s influence on Zola, and in particular the writing of Travail, is of some interest because of the learned opinion that Zola did not read Fourier’s works themselves, but only a popularized version.25 Nonetheless, Dorothy E. Speirs points out rightfully that Renaud’s Fourierist doctrine fulfilled Zola’s literary needs as well as his ideological convictions. So did Fourier’s specific idea of main-taining capital in the hands of the most bourgeois of the socialists, thus leaving a certain hierarchy of property in the new community in contradic-tion to the idea of classlessness espoused by the anarchist writers. Finally, Zola and Fourier both felt strongly about the importance of human pas-sion and the essential goodness of man. Both emphasized that it was less important to change man’s passions than to change their path of expres-sion by offering alternatives. For Zola and Fourier, the idea of displacing, or sublimating, injurious passions, would be instrumental in generating positive, constructive behavior in the new society. This was their way to overhaul the dilapidated state of affairs in the old world, whose institu-tions and customs served only to preserve and propagate fixed ideas. A new order can arise from the socio-cultural tradition only if it manifests a total freedom from the old ways. The theoretician and the writer also agree on the radical change in the nature of production and of work itself. Equating work and pleasure is typical of utopian thinking, but what is new in Fourier is his idea of parceling out work, and dividing the profit be-tween labor, capital and talent, each of which contributes its own unique part. Speirs does an excellent comparison of textual passages from Renaud and from the 1901 edition of Travail.26 She concludes that Zola’s notes taken from Renaud’s Solidarité served as an ideological seed for his novel. The ideas concerning passions and honorable work and a restructuring of society (and world) according to a just sharing of earth’s fruits, are all in harmony with Zola’s fundamental aspirations. However, Zola extracted ______________________

as his ideas about the negative effect of convent education on female sexuality (see Naomi Schor, Zola’s Crowds, Baltimore 1978, p. 91-99).

25 Dorothy E. Speirs, “Zola, lecteur de Fourier” (note 9). When she cites a passage from Renaud describing the first phylanstery, it appears that she is quoting pages from Travail it-self. “[…] les effets de l’organisation du travail se feront sentir, les travaux seront chaque jour moins pénibles; alors, les passions entraînant les hommes au bien, au devoir, la loi dis-ciplinaire sera de moins en moins utile, et la liberté pourra sans danger se substituter à la contrainte.” (Hippolyte Renaud, Solidarité. Vue synthétique sur la doctrine de Charles Fourier, Pa-ris 71898) When Speirs describes the second section of Solidarité, she describes Fourier’s imagined reality of a future global organization of hierarchical phalanges (Fourierian com-munities) in which God and man would work in perfect accord, reflecting a system of customs and habits that would be the least possibly conflictual. Is this not the image of Beaulieu and the Crêcherie at the end of Luc’s life?

26 See Speirs, p. 61 (note 9), footnotes and comparisons at bottom of page.

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from Fourier and other contemporary anarchist writers the elements that best corresponded to his own political, economic and moral prejudg-ments. He never hesitated to change the nature of the ideas he read, and to cut out parts, in order to patch together carefully chosen aspects of Fourier’s thoughts into Travail.27 The combination of labor, capital and talent put forth by Renaud in his theoretical work is repeated many times by both Luc Froment, the hero, and the narrator of Travail. It is an excel-lent example of intertextuality between the fictional narrative and the ‘le-gitimizing’ ideas of the respected and popular theoretician.

Before leaving the subjects of Fourier’s socialism and Comte’s positiv-ism, I would like to consider explanations for the failure of positivism to provide a valid infrastructure for the new philosophies of the fin-de-siècle. Narayana makes the very important observation that the positivists erred by insisting on the generation of theory from the facts alone, negating the creative part of science – namely, the imagination of the scientist to for-mulate an hypothesis – since the multitude of disorderly phenomena that present themselves for observation do not themselves generate a theory. This is part of the creative function of the scientist himself.

The difference between Comte’s ideas and those of Claude Bernard’s experimental science is that they work in opposite directions. The design of the experiments will invalidate parts (or all) of the prior hypothesis, so that certain parameters will be weakened and others strengthened in the observed system. To use a simplistic example, one might theorize that a certain plant would grow under some conditions and not others and pos-tulate the cause to be a critical nutrient in the soil. Only by rearranging controlled observations, systematically including one possible cause at a time in successive stages, can the experimentalist determine which factor is causal and which is not. This use of controlled experiment, and varia-tion in one parameter, is the key concept of Bernard’s experimental sci-ence. It alone provides the basis for a posteriori knowledge. This method allows the systematic invalidation of a previous hypothesis and the posit-ing of a new one to create more experiments that will test it, and so on. Facts are collected to prove or disprove the consequences derived from the hypothesis. The scientific imagination is brought into play at every step and new hypotheses are formulated, new experiments designed, and so on.

In this kind of science there is no absolute, immutable truth. Each new step is tentative. If this principle were translated into social systems, it would imply a community undergoing experimentation, change, and con-tinuous reevaluation. Legitimization through experimentation and change ______________________

27 Speirs, p. 63 (note 9).

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is compatible with the republican ideology espoused by Zola in his reac-tion to the absolute truths of the ancien régime and its descendants28 in his own time. Such an idealized society would not fit the usual utopian model in which the way of life would be specified and approved by a central au-thority that would regulate criticism, experimentation and change. It would be a society that would recognize the fact that utopian perfection is not compatible with liberal republicanism that Zola espoused in his real-politik. His writings always called for change and discussion, expression of the passions of youth, reliance on scientific truth and human justice. The absence of authoritarian sources of knowledge and the partial truths learned from positivist science were in part responsible for the pessimism of the period. When people could not find meaning in existence or ways to alleviate the sufferings of poverty and disease, they turned away from science toward traditional ideologies – namely, religion and mysticism. This conflict was raging at the time that Zola was writing his utopian works, as discussed thoroughly by Ternois.29

With these considerations in mind let us examine the evolution of Zola’s Rougon-Macquart series.30 The hereditary degeneration in one family’s story is related to the science of Prosper Lucas, Charles Darwin, and degenera-tion theory as it affected medicine in general, and neurology in particu-lar.31 His novels are examples of reality filtered through his own artistic ______________________

28 Such as clericalism, monarchism, absolutism, and anti-semitism. 29 René Ternois, Zola et son temps, Paris 1961. 30 Finished in 1893; Travail was finished in 1898. Zola’s involvement in the Dreyfus Affair

began in 1897 even though he knew of it from the time of Captain Dreyfus’s public degra-dation in 1894. One must also be aware of the chronology of Zola’s personal revolution – namely, his falling in love in 1897 with his much younger laundry maid, Jeanne Rozerot, and his having two illegitimate children with her in the next few years, but never divorcing his wife, or abandoning his ‘other’ family. This relationship brought him happiness and personal satisfaction that he had not achieved at an earlier age.

31 Jules Déjérine, L’Hérédité dans les maladies du système nerveux, Paris 1886. “Quant à savoir comment s’effectue cette transmission héréditaire, si variable dans ses formes, malgré son apparente unité, nous ne pouvons émettre à cet égard que des hypothèses.” Among the possible mechanisms, he cites “les arrêts de développement, frappant certains éléments anatomiques, dans telle ou telle région de l’économie.” He also cites as a key idea the existence of “la disposition névropathique héréditaire,” a primal mechanism that would predispose the entire genealogy to neurological diseases that would differ in different indi-viduals. Hence, one could have a tainted family tree manifesting diseases as different as in-sanity, epilepsy, alcoholism, syphilis (in all its forms) in different members (p. 30-31). Tur-ning the discussion to neuropathological observations in his own time, Déjérine cites the works of Arndt (Ueber neuropathische Diathese, Sitzungsberichte des medicinischen Vereins in Greifs-wald aus dem Jahre 1874, Berlin 1875, p. 209) who observed maldevelopment in brain gang-lion cells giving the appearance of embryonal neuronal forms and leading Arndt to the conclusion that this pathology was correlated with the (infantile-like) hyperexcitability of certain mental patients in the clinic. Déjérine, like his teacher, Charcot, placed his faith in

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temperament, but in them are signs of an emerging utopian vision. After writing 19 novels about a family with hereditary degenerative diseases, and a dystopic society of corruption, greed and bestiality, Zola produces a last novel (Le Docteur Pascal) in which a messianic figure emerges. Pascal, a possibly autobiographical scientist-prophet, who works idealistically for knowledge and its human benefits, finally marries his adopted niece, Clo-tilde, whom he has raised and who has become his disciple. They beget a son, who is described in messianic terms.32 The narration takes the reader ______________________

the knowledge given by pathological anatomy, which reflected for him the ‘observable’ he-reditary flaw in the structure of the nervous system. He also relied on the accepted laws of hereditary transmission (direct, indirect, crossed, uncrossed, and atavistic) to explain why a neuropathic family could have different diseases in different individuals. One can extract intertextual similarities from Déjérine’s ideas to those of Zola – for example, speaking of “L’hérédité des passions de divers ordres [...] on sait que quelques-unes d’entre elles, arri-vées à un certain degré de développement, le jeu, l’appétit sexuel, l’avarice, peuvent se transmettre intégralement des parents aux enfants. [...] il est observé fréquemment que les descendants d’hommes ayant acquis de grandes fortunes après beaucoup de peines et de privations, présentent les signes de la dégénérescence physique et mentale, amenant quel-quefois l’extinction de la famille à la troisième ou quatrième génération.” One cannot help to think of the history of the Qurignon family in Travail. When Déjérine discusses the problem of nature vs. nurture, he certainly sides on the former and points out how impor-tant the concept of heredity was for his day. “[...] le milieu peut jouer un grand rôle dans le développement ultérieur de ces dernières, mais il ne peut agir que sur un terrain préparé d’avance, car l’influence héréditaire reprend tôt ou tard le dessus.” Indeed, the thought of the day influenced Zola even in his presentation of criminal acts: “[...] le crime n’est point réveil des instincts, mais bien au contraire, un cas de recul dans la marche du progrès éthi-que, un pas en arrière, un retour à l’état de sauvagerie et d’idiotie morale [...] de nos an-cêtres des époques préhistoriques, état mental dont nous voyons jusqu’à un certain point l’analogue chez beaucoup de peuplades sauvages.” What is most astonishing to the modern technical reader of Déjérine (and of Charcot too) is their emphasis on heredity as the cause of degeneration and even of all illness, including syphilis. Modern medicine and neurology understand clearly that syphilis is a model infectious disease caused by a specific microor-ganism that develops late-onset, immunologically induced lesions in the spinal cord (cau-sing ataxia) and the brain (general paresis of the insane). This sentence explains the thin-king of the nineteenth century neurologists: “La syphilis n’est point très rare dans les anté-cédents des parétiques généraux, et n’imprime dans ces cas aucune marche particulière à l’affection. C’est une coexistence et rien de plus. Que la syphilis puisse actionner le cerveau d’un héréditaire, et y déterminer les lésions de la périencéphalite diffuse [nomenclature of the microscopic pathology of syphilis of the brain], je crois la chose possible, mais ici enco-re la syphilis n’agit que comme une adjuvante. Par elle seule, la syphilis ne peut rien, il faut la prédispoition héréditaire, il n’existe pas une paralysie générale syphilitique, mais bien une paralysie générale chez des syphilitiques, et l’on peut invoquer en faveur de cette dernière opinion, les mêmes arguments que pour le tabès.” (Déjérine, p. 177) The error in this thin-king is evident. By closing one’s eyes to the concept of infectious disease that is transmis-sible from individual to individual (Pasteur’s ideas were not accepted in the general medical community of France until after Zola’s time, cf. Jacques Léonard, Archives du Corps, La San-té au XIXe Siècle, Ouest France 1986, chapitre III, p. 95-144), one accepts heredity as a fata-lism and closes other approaches to knowledge and, ultimately, effective treatment.

32 “C’était une prière, une invocation. À l’enfant inconnu, comme au dieu inconnu! À l’enfant qui allait être demain, au génie qui naissait peut-être, au messie que le prochain siècle atten-

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into a new-born world based on truth, justice and science. This change in writing reflects the transformation from an author of fiction who is also a social critic and descriptive scientist-story teller to a compassionate uto-pian visionary, who foretells a new socialist Eden on earth.

Some of his fictional heroes become more and more visionary in the novels written after 1890 – the Four Evangiles and the Three Cities. These works, as well as his later open letters to the French public and the au-thorities about the noxious forces behind the Dreyfus Affair33 lay the foundation for a future vision of society driven forward by positivist sci-ence, Fourier’s sociology, and Marx’s economic theory. These ideas con-stitute Zola’s “vérité en marche” that nothing will stop from creating a world of truth, justice, and love. This mind-set is what drives Zola’s utopi-anism.

In reading the text of Travail one notes that this ‘science’ reflects es-sentially the conventional morality of the progressive bourgeois Victorian, whom Zola, the individual, personified.34 Socialism overcomes positivism as the legitimizing science for all the utopian novels, but particularly for Travail. The reader can sense the drive to create a new structure to replace the degenerating contemporary society.

The esthetic part of Travail is predictable in terms of the dialectical class struggle against capitalist oppression. The utopian community rises up from the chaos of a society characterized by ignorance, selfishness, inertia, greed, betrayal and violence. In the end, work and love conquer all resistance. This is the nature of the roman à thèse, which is Travail, its thesis being that the world is rotten through and through and that nothing could be worse than what we have, so why not a visionary solution, even if an unrealistic one? Each character becomes the personification of one of the solutions – collectivism (Bonnaire), anarchy (Lange), and Fourierism (Luc).

One might summarize Travail as follows. An unsuccessful strike has taken place in an industrial town, Beauclair, whose brutal steel mine, l’Abîme (the Pit), manufactures armaments. A starving young woman, Jos-ine, brutalized by her mineworker lover, is helped by the hero, Luc Froment, who is visiting Beauclair and his engineer friend, Martial Jordan. Jordan is a frail, hard-working, obsessive scientist, who is developing an ______________________

dait, qui tirerait les peuples de leurs doutes et de leurs souffrances! Puisque la nation était à refaire, celui-ci ne venait-il pas pour cette besogne?” (Zola, Le Docteur Pascal [note 14], p. 358)

33 Alain Pagès (ed.), The Dreyfus Affair. “J’accuse” and Other Writings, New Haven 1996. 34 Émile Zola, Lettres à Jeanne Rozerot 1892-1902, Paris 2004. In these communications from

the exiled Zola one sees his preoccupation with daily family matters, the children’s school-work, the bills to pay and other mundane considerations that are usually not associated with images of the great author, social critic and moralist.

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electrical method to power the blast furnace in the neighboring foundry, La Crêcherie, which manufactures civilian tools and parts. After the first scene, in which Luc risks his own safety to help the downtrodden Josine (with whom he falls in love and whom he will finally marry), he becomes committed to the plight of the exploited worker and sets out to remodel the industry and the town for the purpose of creating a new community that will abolish the wage system, and produce meaningful work as the consuming virtue for its members who will benefit from the new distribu-tion of wealth according to everyone’s needs.

The novel is divided into three parts. The first describes, in dark col-ors, the sad society that Luc finds. It is a scene of foreboding, danger, and potential class warfare. In the second part Luc struggles to win the work-ers to his ideology and to work in the transformed Crêcherie, where the wage system will be abolished and the community will evolve toward soli-darity and modernity. After Luc is stoned by the community for his mis-understood acts, the struggle culminates in the holocaust-like fire that de-stroys l’Abîme, as fire destroyed Sodom, and sets the stage for the third, final part, that of reconciliation, in which the fully-bloomed utopian Crêcherie wins out to buy the Abîme and to consolidate agriculture, produc-tion and distribution of goods in one large commune based on mutual trust and friendship.

Luc’s evolution through Travail’s pages is marked by two key events that incorporate science into literary narration. The first is his revelation and conversion to Fourier’s ideas which he finds in Jordan’s library. The second is the sudden recovery of Jérôme Qurignon, the very old, original founder of l’Abîme, after long years of paralytic mutism. This recovery allows Jérôme to pronounce the words that will give the signal to restruc-ture the ownership and distribution of wealth in Beauclair.

Henri Mitterand tells us that Zola spent six months preparing his sketches for Travail, seeking out information about metal foundries, how a steel mining town was organized and how the people lived their daily lives. These technical data were incorporated into the textual description of the blast furnace, the process of metallurgy and in the discussions about pow-ering with coal, on the one hand, and electricity on the other.35 He also visited a small communal village, organized on Fourier’s model, where he witnessed a community with quasi-military discipline including communal raising of the children, reminiscent of an Israeli kibbutz of the 1940s and ______________________

35 Technical research characterized Zola’s inquiries before other novels too. His descriptions of coal mines, his notes from a personal trip to the Grotto of Lourdes, and his personal observations on Parisian theater life are included in the pages of Germinal, Lourdes and Na-na, respectively. Émile Zola, Carnets d’Enquêtes. Une ethnographie inédite de la France, Paris 1986.

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50s, quite dissimilar from the kind, benevolent, family atmosphere of LaCrêcherie (in which even Boisgelin, the fraudulent, adulterous heir who brings ruin to l’Abîme, is cared for supportively in his forced retirement). Luc himself is the sole decision maker in the new community but is unique in being a bourgeois who is interested in the workers’ plight and works for them in a paternal fashion.36

Mitterand has compared the two novels Travail and Germinal with the writings of Fourier. He concludes that Zola legitimizes his utopian city of the future by creating a Fourier-like phylanstery,37 using his personal ideas of happiness through benevolent human interaction. That might well be the defining space of a utopia, one between scientific reality and the con-fusion of observable social organization, a space that is defined in the text, but is, in reality, no space at all. This is a limit of literary knowledge – that is, the textual topos is defined by the text and cannot be transposed to real life with any certain success.

There are two examples of scientific textual narration that are worthy of discussion. The first is the discussion of the metal foundry itself. In his descriptions, Zola uses technically detailed language to describe the evolu-tion of the primitive blast furnace into the nineteenth century model, which required continuous supervision and arduous labor-intensive physi-cal input. The contemporary system was unstable and volatile. It was ca-pable of going out of control, like an untamed beast. In fact, the author gives it uncontrollable, animal-like properties, in the way he described the

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36 How did this real life community compare to Fourier’s concept of Harmony? Fourier is a frank denier of the value and/or the health of marital fidelity. The social rigidity of marria-ge is, for him, at the base of societal unhappiness. “Quand il est avéré que les hommes ai-ment tous la polygamie et que [les femmes] aiment de même la pluralité d’hommes […] lors dis-je que ces vérités sont constatées par des siècles d’expérience, comment des savan-tasses qui prétendent étudier la nature […] peuvent-ils méconnaître les oracles de la nature et révoquer en doute l’insurrection secrète du genre humain contre toute législation qui exigera de lui cette fidélité amoureuse perpétuelle dont le mariage impose la loi?” (Fourier, Vers la liberté, p. 187 [note 25]) He states clearly his belief that imposed marital fidelity is the cause of all the sins of society – poverty, oppression, hypocrisy, and carnage – because it is a legislated activity that is against natural law. He proposes that there must exist other ways to live in Harmony where all passions must find chances for truthful and liberal expression (p. 191). He notes that those societies with freest sexual mores are the happiest (and names France, as an example of refinement and complexity in love) whereas those in which the passions are suppressed (Spain, for example) are the most intolerant and dictatorial.

37 Once again it is to be emphasized that Zola’s Beauclair was glorified by the faithful marria-ge of the children of different classes. From that point of view it was new and revolutiona-ry, but did not include the practice of changing lovers, promoting sexual pleasure between older and younger members of the community and providing (as an important goal) female pleasure through novel encounters that would replace the old, worn ones. These were to be found in Harmony, where all was to be centered on the constructive aspect of the pas-sions and the pleasure of their fulfillment.

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coal mine in Germinal and the locomotive in the La Bête Humaine. Here is the description of the old blast furnace of l’Abîme:

Bientôt, la masse noire du haut fourneau se dressa. Il était de très antique modèle, il n’avait guère que quinze mètres de hauteur, lourd et trapu. Mais, peu à peu, on l’avait entouré de perfectionnements successifs, d’organes nouveaux qui finissai-ent par faire, autour de lui, comme un petit village. Récemment reconstruite, la halle de coulée, au sol de sable fin, était d’une légèreté élégante, avec ses fermes de fer, recouvertes de tuiles. Puis, c’était, à gauche, sous un hangar vitré, la souf-flerie, la machine à vapeur qui soufflait l’air; tandis que se trouvaient, à droite, les deux groupes de hauts cylindres, ceux où les gaz de la combustion venaient s’épurer des poussières, et ceux où ils servaient à chauffer l’air froid soufflé par la machine, afin qu’il arrivât brûlant dans le haut fourneau, pour activer la fonte. Il y avait encore des récipients d’eau, tout un tuyautage qui entretenait en courant continuel l’usure de l’effroyable incendie intérieur. Et le monstre disparaissait ain-si sous la complication des aides qu’on lui donnait, un entassement de bâtisses, un hérissement de réservoirs de tôle, un enchevêtrement de gros boyaux métalliques, dont l’extraordinaire ensemble, la nuit surtout, prenait des silhouettes monstrueu-ses, d’une fantaisie barbare. En haut, on distinguait, dans le flanc même du roc, la passerelle qui amenait les wagons de minérales et de combustibles, au niveau du gueulard. La cuve, en dessous, dressait son cône noir, et c’était ensuite, dès le ventre jusqu’au bas des étalages, une puissante armature de métal soutenant le corps de briques, servant de support aux conduites d’eau et aux quatre tuyères. Puis, tout en bas, il n’y avait plus que le creuset, où le trou de coulée était bouché d’un tampon de terre réfractaire. Mais quel animal géant, à la forme inquiétante, effarante, et dont la digestion dévorait des cailloux et rendait du métal en fusi-on!38

This description gives the reader some idea of the contemporary process of metallurgy and, in so doing, gives legitimacy to the narration that con-cerns the transformation of metallurgy from a primitive operation, de-pendent on brute human labor, to a mechanized, quality-controlled opera-tion using the mechanical advantage of the newly discovered force – elec-tricity – that was revolutionizing European industry. But the author leaves out excessively technical descriptions of the varied metallurgical processes in Zola’s time. There is no discussion of the chemical methods to oxidize and reduce ores to aid the smelting process and no discussion of extrac-tion and shaping of iron into usable designs that were either cast or forged. The discussion dwells on the basics of foundry work – heating to melting, puddling to separate and then, pouring purer metal. But all of these considerations make up the contemporary and respected science of the metal foundry as it was known to Zola’s time.

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38 Émile Zola, Les Quatre Évangiles: Travail, préface de Thierry Paquot, Paris 1993, p. 153-154.

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A second scientific textual element is the description of Jérôme Qurignon, one of the nineteenth century’s literary paralytics.39 His role in the narration is the following: Jérôme, the founder of l’Abîme, is stricken, at the age of 52, by paralysis and mutism. After his stroke, he observes the continual decline of his foundry due to the (hereditary) ineptitude of his descendants. The present state of crisis relates to the competition with the successful Crêcherie. Jérôme, paralyzed, but observant of everything taking place, survives for 36 years, leading his silent life apart, seen only in his wheelchair, in the background of several scenes. In this manner he ob-serves, perhaps hears and understands, the struggles that are taking place with the community of those who work the foundry. Nevertheless, he is mute and can say nothing. Only Suzanne, his granddaughter, can gaze into his “fathomless” eyes and understand his “slightest and most fugitive emotions”. This is reminiscent of Thérèse Raquin, who was able to read the eyes of her murdered husband’s mother, when the latter was stricken with a total paralysis of body, face and speech. For Zola’s texts immobile and mute observers, like Jérôme and Madame Raquin (as well as her ob-servant cat) who see all, feel all, but say nothing are narratological instru-ments but not scientific facts. They are fictional social observers and pri-vate commentators like the cartoon dog, Snoopy, in Charles Shultz’s car-toon work, Peanuts. However, to return to Jérôme Qurignon and his physical condition, let me return to the science of neurology and what was known in Zola’s day.

In 1875 M. Darolles published the first clinical report in the medical literature of a mute paralytic who, after a stroke, was left with only residual eye movements, but no speech or movement of facial muscles. Observa-tions of responsive movements of the eyes permitted the observing doc-tor to determine that, although paralyzed and mute, the patient was con-scious and able to feel sensations. This was the first description of a disso-ciation between movement and consciousness in the medical literature, an observation that is founded on anatomical separation of neural pathways for each function. This anatomical separation of functional neural path-ways was not understood in 1875. Even though authors had written about paralytics who could feel and understand, it was not until 1875 that a sci-entific description of such an incurable case was observed fortuitously.40

The patient survived only four days from onset of paralysis – in 1875, a ______________________

39 The others are Sue’s Monsieur Will (Atar-Gul), Dumas’s Baron Noirtier de Villefort (LeComte de Monte-Cristo), and Zola’s Madame Raquin (Thérèse Raquin) and Toussaint (Paris).

40 In Darolles’s patient, communication was made by observing “yes” and “no” responses in eye closing and opening – for example, “close your eyes for yes and blink twice for no”. The scientific importance of the observation was that it demonstrated the anatomical sepa-ration of brain pathways for motor activity and conscious perception and cognition.

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time when supportive care for stroke victims was unknown. Darolles also described the post mortem pathology of this first case of what is now called locked-in syndrome, a term to describe total paralysis of body, face, and speech so that the victim is locked into his or her thoughts and feel-ings without being able to move.41

But in Travail the paralyzed victim does not demonstrate a scientific natural history. He is a fictional character whose fictional behavior adds an element of mysterious retribution to a family whose degeneracy has led to ruin at the expense of many exploited victims. When he is 88 years old, 36 years after onset of complete paralysis and mutism, Jérôme suddenly re-gains movement and speech. In the presence of Luc, the director and creator of the new, successful Crêcherie, and his own descendants, Jérôme pleads to give the land and the foundry back to those workers who la-bored it and who were ruined in the endeavor. He is a voice of morality and of mysterious legitimization for a new world order. He bemoans the fact that the old order produced the downfall of his own family. His clini-cal recovery has nothing to do with scientific neurology, in which such a case would be highly extraordinary, but much to do with the esthetics of narration in the novel.

Zola was not ignorant of contemporary concepts of neurology and paralysis and, indeed, by the time of Travail, had known of the writings of Jean Martin Charcot, the world famous Parisian neurologist whom he de-scribed in Lourdes, published in 1893.42 Charcot was famous for his work with hysterics, many of whom had been paralyzed for long periods of time before experiencing recovery by hypnosis, or other methods of treatment. If this was the nature of popular understanding of hysterical paralysis,43

which could be overcome either by miracle or hypnosis,44 it is not surpris-ing that Zola’s Jérôme is capable of this sudden recovery at a time when neurological recovery of function was not unknown in the crowded wards of the municipal hospitals – such as, La Salpêtrière. However, knowledge of Charcot’s cures of hysterical paralytics through hypnosis was widespread, ______________________

41 See J. D. Bauby, Le papillon et le scaphandre, Paris 1997, for a victim’s description of this condition.

42 Charcot’s writing on faith healing and hysterical paralysis should be noted. J. M. Charcot, “La foi qui guérit,” in: Revue hebdomadaire 5 (1892), p. 112-132. Charcot, whom Zola met perhaps once, had strong republican sentiments.

43 Freud worked out the psychodynamics of hysterical symptoms in his seminal work on hysteria between 1890 and 1910. Jules Clarétie, Les amours d’un interne, Paris 1881, describes recovery of function in hysterics at La Salpêtrière, emphasizing that intermittent recovery was characteristic of hysterics, separating them clinically from the other important, but progressively worsening, category of patients – the insane (la folie).

44 Dictionnaire des Sciences Médicales, éd. par une société de médecins et de chirurgiens, 60 vol., Paris 1812-22.

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and probably helped to validate the recovery of Jérôme Qurignon. On the other hand Lourdes was written to provide the basis for a return to mystical belief in religious cure of otherwise incurable human illness and suffering. In this novel Zola gave his reader an excellent description of the way that the miraculous waters of Lourdes were meant to heal the thousands who came, prayed, and hoped for metaphysical intervention, even though he leaves the reader somewhat unsure about the verification of these miracle cures.

When the optimistic, but fictional, Dr. Novarre pontificates in Travailthat “in the mysteries of the brain, into which we as yet penetrate with such difficulty, all things are possible,” (p. 442) he is denying the limits of empirical neurology which has shown us, through the works of Charcot, and those who have followed him in the 115 years since Charcot’s death that all things are not possible and cases like those described simply do not happen outside of fiction. Zola’s text does not provide the scientific details of management of such paralyzed patients – such as, the treatment of bedsores, hyponutrition, supervening infection – which are today’s common causes of death after paralysis of neurological origin – and so, provides no justification for Jérôme’s long life. Rather, it might be inter-preted as a description of hysterical paralysis, thought in Zola’s time to have a hereditary basis, to provide Jérôme’s speech with legitimacy when he supports Luc’s socialist theories, proclaimed as just and proper by the patriarch who has lived in a mute, immobile state for 36 years, watching and suffering the ruination and degradation of his family, before being able to speak his mind about justice and repentance. His timely dictates permit Luc to convince Jordan to merge the metallurgic operations into one giant, centrally administered enterprise, in which “everything ought to belong to all” (p. 156). After all is said and done, this paralysis is a pseudo-scientific event used to validate a textual denouement – the redemption of the degenerate family by an act of faith and justice. It is scientific thinking contributing to literary esthetic.

What is missing for scientific legitimacy? My answer is that Zola was what Russell Jacoby calls a “blueprint utopian,”45 one whose writings specify precise details about how the New World will be constructed and ordered. We see this in the description of Beauclair’s new houses, its common spaces, its landscaping and in the transformation of the metal foundry itself. However, the “blueprint” is flawed and the details are not clearly understandable. For example, just as Zola does not specify how ______________________

45 Russell Jacoby, Picture Imperfect. Utopian Thought for an Anti-Utopian Age, Columbia University Press 2005. This monograph treats the post-Zola era of German Romantic utopian writers from Theodor Herzl to Martin Buber and his school. It contains no reference to Zola’s in-fluence on this group of writers.

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Jérôme is managed at home for 36 years, he also leaves out any details of how Luc goes about changing the socioeconomic structure of Beauclair into the new, perfect city that satisfies everyone without violent confron-tation and by simple common consent. How, indeed? Zola’s broad under-standing of Fourier neglected to tell the reader how the day to day trans-formation came about. He neglects to give us the real blueprint for all of this change, not at all like the works of Karl Marx and Friedrich Engels, who are more practical “blueprint utopians”. The establishment of a be-neficent leadership in the persons of Luc and Jordan seems to supply the necessary momentum for the development of the new, efficient industry and the equitable distribution of wealth among all concerned. This is not a form of representative socialism but a form of benevolent dictatorship, which seems necessary to the construction of a utopia. In that sense it wanders from the Fourierian idea of phylanstery, although it captures its idyllic qualities of warmth, love and acceptance.

These considerations raise the question of what happens to ideas when they are given life. Zola, the utopian visionary, uses these ideas to counteract the fossilization of existing systems of production and the sup-pression of creative thinking. The verification of a communal society must depend on whether it can sustain itself, satisfy its members, and take part in the general economy of the real world in which it is to live. Zola really had nonesuch on which to base his fictional creation. The small, Fourier-like community he observed was the only empirical example on which to base his fictional creation. By using respected scientific ideas of his time Zola attempted to demonstrate to his readership that such a transforma-tion was not only possible and reasonable in his time, but was eminently desirable compared to the corrupt social structures that he described in his earlier novels.

From the standpoint of literary excellence, Travail does not stand up to the level of its great predecessors. It lacks the dramatic intrigue and textual richness of Nana and Germinal, which were Zola’s most successful artistic and commercial creations. Perhaps the simple explanation for the difference is the nature of the novel itself – one based on a thesis and an ideological premise – namely, that happiness could be achieved in a new society based on blending labor, capital and talent. This form is different from the complicated social and psychological interactions that character-ize Zola’s naturalistic novels.

The final narrative of Travail is a symphony of noble, grand and heroic words fit for a chorale of heavenly voices in a Wagnerian triumphal setting – from the forges of the Nibelung to the halls of Valhalla. And in this set-ting, Jérôme dies, “having accomplished his sublime work of reparation, truth and of justice, by lending his aid to that happiness which is the pri-

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mordial right of all men.” (p. 463) Socialist ideology is what we see, not a model of economic reform, but a prophecy uttered by a remarkable para-lytic whose illness shares more features of hysteria than it does of true neurological disease, even if viewed from the standpoint of neurology in Zola’s day.

For all these reasons I would propose again that Zola was telling his reader emphatically that nothing could be worse than the world as it was in reactionary, anti-semitic, corrupt fin-de-siècle France and that anything would be an improvement – even an idyllic, imaginary world based on a childlike (naïve) vision of work, communal ownership, and human love. These hopes for betterment through science, truth, and justice influenced the intellectual climate of Zola’s time. It was a time for “blueprint utopi-ans” who, like Engels and Marx, put forth exact ways in which society would be transformed through social revolution.

In this paper I have tried to show how ideas that Zola took from positivist science, were incorporated into one of his novels, an unmistakably uto-pian one. By using ideas from the work of respected contemporary theo-rists, Zola hoped to produce a work that might inspire the reader to do something in his own life that would lessen some of the evil in the con-temporary society, so well described in Zola’s other works. Though posi-tivism could not supply realpolitik models, the author of the utopian novel was able to throw off bourgeois idées reçues. He could say at least that suf-fering was rife, and that something, no matter what, had to be done to right some of the wrongs. Perhaps this thinking carried over into the so-cial legislation that characterized post-Zola French governments in the first years of the twentieth century.

Travail contradicted the Christian idea that moral faults are the causes of social poverty.46 In Travail the old ways bring about social ruin, perhaps aided by a hereditary taint in the owner’s family leading to fraud, embez-zlement and paralysis, and it is only the rambling, reactive dreams of an old man, resurrected unscientifically from paralysis to express his prophe-cies before death that give the final impetus to a new social order. This is not a scientifically valid basis for supporting the events that transpire in this interesting, but flawed, novel. Its flaws lie in the lack of descriptive, convincing narration about how the whole complicated operation came to be. The reader is led down a road that seems to go exactly where ex-pected. It gets there almost on its own inertia once the vision is explained. It just unravels the way it is hoped to go. However, there is no verification

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46 E. De Laveleye, “Le Socialisme Contemporain” (1881), cited in: René Ternois, Zola et son temps, p. 53 (note 29).

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based on similar non-violent transformations in the real world. The model gets confused with fact and only language serves to legitimize its form. Because language has its own limits, textual utopian systems do not trans-late into truly utopian real-life experiments. The limits of literary knowl-edge are imposed partly by language and partly by lack of scientific verifi-cation, which depends on the quality of the science incorporated in the text.

The late nineteenth century saw an amalgam of scientific and literary knowledge, but what kind of knowledge was brought forth? Zola’s literary creations introduced a knowledge of human motivation and behavior that presaged psychoanalysis but was not capable of creating a valid utopian structure. Zola himself believed that the knowledge from science would generate a new absolutist world in which there would be born a new relig-ion of truth, justice, and beauty. We observers from the twenty-first cen-tury look back on this as a fiction that contradicted everything that science told us about man’s aggressive nature, part of which seeks love and an-other, death. Zola’s utopian novel could never be taken too seriously be-cause it existed in that space that cannot be located exactly, a space de-fined by the text itself, one with very specific limits.

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AURÉLIE BARJONET

Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft*

Je crois à la science, parce qu’elle est l’outil du si-ècle, parce qu’elle apporte la seule formule solide de la politique et de la littérature de demain. C’est elle qui a ouvert la révolution et c’est elle qui la fermera. Il n’y a plus pour l’humanité de salut qu’en elle. Elle agrandira notre domaine, sans rien en retrancher, en précisant nos facultés et en établissant la logique de nos rapports. Je crois au jour qui s’écoule, et je crois au jour de demain, certain d’un élargissement toujours plus vaste, ay-ant mis ma passion dans les forces de la vie. Émile Zola, »La démocratie«, Une Campagne(1882)

Zola war derart begeistert von den Wissenschaften, dass er sie überall agieren sah. In Wirklichkeit steht diese Begeisterung für seinen Wahr-heitsdrang, der Hand in Hand mit der Kritik an den bürgerlichen Sitten, der Pseudo-Moralität von Regierung und Kirche und der Heuchelei der verdorbenen kaiserlichen Gesellschaft geht. Sein Wille zum Wissen ist Wille zur Gerechtigkeit, wovon z.B. sein Engagement für Dreyfus zeugt.1Diese Wissenschaftsbegeisterung entspricht seinem Bild einer modernen Welt gegen Tradition, Idealismus und Akademismus in der Kunst. Die Wissenschaft ist das Leitmotiv seines Fortschrittsglaubens und seines Zukunftsoptimismus. Der ansonsten so reformistische Zola nennt sie revolutionär. ______________________

* Für Korrekturen und wertvolle Anregungen danke ich Heike Klees. 1 Zola selbst spricht von Wissenschaftsreligion, siehe u.a. in Paris, aber, wie René Ternois

feststellt: »Ce qu’il appelle ›religion de la science‹, ce n’est pas la croyance au bonheur par la science, ni à la justice par la science, quoiqu’il s’efforce de dire, c’est la volonté de savoir et l’acceptation de la vérité.« (Zola et son temps. Lourdes – Rome – Paris, Paris 1961, S. 650) – Gi-sèle Sapiro schreibt: »La recherche de vérité est un principe que les écrivains empruntent au champ scientifique en émergence, et qui devient un des fondements de l’éthique de respon-sabilité de l’intellectuel.« (»Le principe de sincérité et l’éthique de responsabilité de l’écrivain«, in: L’écrivain, le savant et le philosophe, hrsg. v. Éveline Pinto, Paris 2004, S. 184-201, hier: S. 185)

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Die Studien zu Zolas Beziehungen zur Wissenschaft sind zahlreich, nicht zuletzt von Seiten der deutschen Literaturwissenschaft. Der vorlie-gende Aufsatz untersucht in einem ersten Teil überblicksartig die Ent-wicklung der Wissenschaftsthematik bei Zola und in einem zweiten Teil die Rezeption dieses Themas bei einem knappen Dutzend deutscher For-scher.

1. Vom Savant zum Propheten

Zolas Faszination für die Wissenschaften tritt in Verbindung mit dem respektvollen Andenken an seinen früh verstorbenen Vater, der ein be-kannter Ingenieur war. Für das Abitur in Paris wählt Zola den naturwis-senschaftlichen Zweig (und scheitert).2 Der junge Zola ist ein Romantiker. Dennoch ist sein Interesse an den modernen Wissenschaften groß. Sehr früh gewinnt er die Überzeugung, dass Literatur, wenn sie etwas bewirken will, wissenschaftlich sein muss, d.h. der Wahrheit entsprechen und mit der Zeit gehen muss. Davon zeugen sein Briefwechsel und seine frühen Artikel. In einem Brief von 1860 an seinen Freund Jean-Baptistin Baille3

schreibt der Zwanzigjährige: Notre siècle est un siècle de transition; sortant d’un passé abhorré, nous mar-chons vers un avenir inconnu. [...] Ainsi donc, ce qui caractérise notre temps, c’est cette fougue, cette activité dévorante; activité dans les sciences, activité dans le commerce, dans les arts, partout [...]. Que fera donc le poète?4

In einer Chronik aus dem Jahre 1864 heißt es: Qu’on le remarque, le savant et le poète, de nos jours encore, partent du même point. Tous deux se trouvent en présence du monde, tous deux s’imposent pour tâche d’en connaître les secrets ressorts et essaient de donner dans leurs œuvres une idée de l’harmonie universelle. [...] l’humanité monte vers la cité idéale. La

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2 Rita Schober, »Der junge Zola – zwischen Revolte und Reklame. Versuch eines Porträts«, in: Lendemains 68 (1992), S. 48-66, hier: S. 49. Schober skizziert Zolas wissenschaftliches Romanprojekt auch in »Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte«, in: Hundert Jahre Rou-gon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte, hrsg. v. Winfried Engler/Rita Schober, Tübin-gen 1995, S. 17-52, siehe insb. »Zum Novitätscharakter«, S. 31-39.

3 Dem gleichen Freund vertraut er im gleichen Jahr ein Projekt an: La Chaîne des êtres, eine große verdichtete Trilogie, die auf den Ergebnissen der modernen Wissenschaften (Geolo-gie, Paläontologie, Physiologie, Physik) beruhen soll. Siehe den Brief von Zola an Jean-Baptistin Baille vom 15. Juni 1860, in: Correspondance Émile Zola, hrsg. v. Bard H. Bakker, Montréal/Paris 1978, Bd. I, Nr. 22, S. 179-184, hier: S. 183 f.

4 Zola an Jean-Baptistin Baille, Brief vom 2. Juni 1860, in: Correspondance, Bd. I, Nr. 20 (Anm. 3), S. 168-174, hier: S. 169.

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science lui ouvre les voies: la poésie, dans les siècles nouveaux qui vont s’ouvrir, ne saurait rester l’éternelle ignorante des siècles passés.5

Da die Literatur in seinen Augen das gleiche Ziel wie die Wissenschaft verfolgt, nämlich die Verbesserung des Lebens, kommt er zu dem Schluss, dass sich ihre Methoden denen der Wissenschaft annähern sollten: Wie die Wissenschaft sollte die Literatur eine Untersuchung, eine enquête, sein. Die zeitgenössische Mode des Positivismus, mit der zahlreiche Lektüren und eine Anstellung bei Hachette, dem Verlag von Littré, den jungen Zola zwischen 1862 und 1866 vertraut machen, bestätigt nach und nach seine Auffassung von einer wissenschaftlichen Kunst und entfernt ihn von der traditionellen Kunstauffassung, der er trotz seiner Begeisterung für die Wissenschaft bislang treu geblieben war.6

Zwischen 1864 und 1866 liest Zola Schriften aus den exakten Wissen-schaften und erarbeitet die Theorie eines wissenschaftlichen Romans, der zum Ziel des Erkenntnisgewinns wissenschaftliche Beobachtungs- und Analysemethoden verwendet. Ab 1864 beschäftigt er sich mit Taine und erst 1879 mit Claude Bernard.7 Taine, die beherrschende Intellektuellenfi-gur der 1870er Jahre, beeinflusst ihn durch das Konzept der doppelten Determiniertheit des Menschen durch Milieu und Epoche; von Claude Bernard, dem Autor von Introduction à l’étude de la médecine expérimentale(1865) – Alter ego in seinen Wunschträumen – übernimmt er das Konzept des Experiments. Zola gelangt so zu seiner Theorie des experimentellen Romans, die er u.a. 1867 in Deux définitions du roman formuliert:

Il [le romancier analyste] est, avant tout, un savant, un savant de l’ordre moral. J’aime à me le représenter comme l’anatomiste de l’âme et de la chair. Il dissèque l’homme, étudie le jeu des passions, interroge chaque fibre, fait l’analyse de l’organisme entier. Comme le chirurgien, il n’a ni honte ni répugnance, lorsqu’il fouille les plaies humaines. Il n’a souci que de vérité, et étale devant nous le ca-davre de notre cœur. Les sciences modernes lui ont donné pour instrument l’analyse et la méthode expérimentale. Il procède comme nos chimistes et nos mathématiciens; il décompose les actions, en détermine les causes, en explique les résultats; il opère selon des équations fixes, ramenant les faits à l’étude de l’influence des milieux sur les individualités. Le nom qui lui convient est celui de docteur ès sciences morales. Le cadre du roman lui-même a changé. Il ne s’agit plus d’inventer une histoire compliquée d’une invraisemblance dramatique qui étonne le lecteur; il s’agit uni-

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5 Émile Zola, »Du progrès dans les sciences et dans la poésie«, in: Le Journal populaire de Lille (16. April 1864), in: Émile Zola, Œuvres complètes, Bd. I, hrsg. v. Henri Mitterand, Paris 2002, S. 369-373, hier: S. 371 u. 373.

6 Siehe dazu Colette Becker, Zola. Le saut dans les étoiles, Paris 2002, S. 43-45. 7 Henri Mitterand, Zola. Bd. II: L’homme de ›Germinal‹ (1871-1893), Paris 2001, S. 504.

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quement d’enregistrer des faits humains, de montrer à nu le mécanisme du corps et de l’âme.8

Diese Theorie wird er im Roman Thérèse Raquin (1867) anwenden, dessen Vorwort als Manifest des experimentellen Romans gelten kann (»[...] mon but a été un but scientifique avant tout. [...] j’en ai écrit chaque scène, même les plus fiévreuses, avec la seule curiosité du savant [...]«).9 Zwar sind die Figuren noch nicht so komplex durch Milieu und Vererbung determiniert wie etwa im zwanzigbändigen Zyklus der Rougon-Macquart.Die Geschichte wird aber bereits mit einem klinischen und physikalischen Wortschatz erzählt,10 und Zola vergleicht sich mit einem Chirurgen.11

Ab Thérèse Raquin wird er sich ausdrücklich als Savant,12 als ein »Ge-lehrter aus den exakten Wissenschaften«, verstehen. Christophe Charle hat gezeigt, wie die Figur des Savant zu einer solchen literarischen Bedeutung gelangen konnte. Zum einen verliert die Künstler-Figur im Laufe des 19. Jahrhunderts – parallel zur wachsenden Rolle des Bourgeois – ihre symbo-lische Macht in der Gesellschaft; zum anderen weichen eine Reihe von Ideologien aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einem optimisti-schen und positivistischen Evolutionismus mit wissenschaftlicher Basis. Charle schreibt:

La »littérature« au sens large du XVIIIe siècle, autrefois en position hégémonique, ne peut plus prétendre être la seule source idéologique à partir du milieu du siècle. L’»homme de lettres«, le »poète«, l’»artiste« se voulaient un substitut au modèle du clerc des religions révélées. À partir des années 1850-60, c’est la science qui se pose en remplaçante de la religion.13

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8 Émile Zola, »Deux définitions du roman« (1867), in: Œuvres complètes, Bd. II, hrsg. v. Colet-te Becker, Paris 2002, S. 503-512, hier: S. 510 f.

9 Émile Zola, Thérèse Raquin, in: Œuvres complètes, Bd. III, hrsg. v. Colette Becker/Jean-Louis Cabanès, Paris 2003, S. 28, 29.

10 Das zeigt Colette Becker in »Thérèse Raquin. La science comme projet, le fantasme comme aveu«, in: L’Autre du roman et de la fiction, hrsg. v. Jean Bessière, Paris 1996, S. 191-203.

11 »Qu’on lise le roman avec soin, on verra que chaque chapitre est l’étude d’un cas curieux de physiologie. [...] J’ai simplement fait sur deux corps vivants le travail analytique que les chi-rurgiens font sur des cadavres.« (Zola, Thérèse Raquin, S. 28 [Anm. 9])

12 Zola hat viele widersprüchliche Aussagen zu der Frage, ob er ein Savant sei oder nicht, gemacht, vgl. z.B. in früheren Jahren den schon zitierten Brief vom 2. Juni 1860 an Baille: »D’ailleurs, la science n’est pas mon affaire; c’est un lourd fardeau, très difficile à mettre sur les épaules. Je le répète, toute mon ambition est de connaître la grammaire et l’histoire. Que ferais-je du reste? J’aime mieux tout tirer de moi que de le tirer des autres.« (S. 171) Später schreibt er dagegen: »Nous ne sommes que des savants, des analystes, des anato-mistes [...] et nos œuvres ont la certitude, la solidité et les applications pratiques des ouvra-ges de science. Je ne connais pas d’école plus morale, plus austère.« (»Le naturalisme au théâtre« (1879), in: Le Roman expérimental (1880), zit. nach: Le roman naturaliste. Anthologie,hrsg. v. Henri Mitterand, Paris 1999, S. 74-79, hier: S. 79; siehe auch unten, Anm. 35)

13 Christophe Charle, Naissance des ›intellectuels‹, Paris 1990, S. 27 f.

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Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt der Savant kulturelle Legitimität und erlebt einen wahren Kult, den Charle zu Recht mit dem des Philosophe oder des Homme de lettres im 18. Jahrhundert vergleicht. Zweifelsohne erhebt auch Zola mit seiner wissenschaftlichen Methode Anspruch auf Legitimität und Autorität,14 was der doktrinäre Ton seines Programms deutlich macht. Charle zeigt, wie sich Zolas soziale und politi-sche Ideen im Laufe der Rougon-Macquart entwickeln, wie Zola von Wis-senschaftlichkeit zu Utopismus wechselt, wie der Savant zum Propheten wird.15

Quand il parle de »saisir l’âme de la société moderne« il a renoncé à la mission d’enquête du savant pour prendre la posture du prophète qui prétend s’attacher aux besoins de son époque.16

Die Figuren des Spätwerks sind weniger stark determiniert und bewältigen Antagonismen teilweise durch eine Doppelnatur:

Quand il songe à peindre la société idéale, il ne le peut qu’en versant dans l’utopie et au moyen de personnages symboles qui résolvent pacifiquement les antago-nismes par leur nature double à la fois manuels et intellectuels (l’instituteur dans Vérité par exemple, l’ingénieur dans Travail).17

Sein großes Projekt, Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire (1871-1893), beginnt Zola in den letzten Jahren des Kaiserreiches. Diesem Romanzyklus liegt ein Stammbaum mit darwi-nistischen Zügen zugrunde.18 Dies erlaubt und erklärt eine Reihe von ______________________

14 Siehe z.B. Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992, 1998, S. 197: »Tout porte à croire en tout cas que la théorie du ›roman expérimental‹ lui [à Zola] offrait un moyen privilégié de neutraliser le soupçon de vulgarité attaché à l’infériorité sociale des milieux qu’il dépeignait et de ceux qu’il atteignait par ses livres [...].« Zola verwendet die Wissenschaft auch als Strategie, weil sie ihm erlaubt, sich von morali-schen und politischen Verantwortlichkeiten in Thérèse Raquin bzw. L’Assommoir freizuma-chen; siehe Joseph Jurt, »›Sur la guerre des sciences et des lettres‹«, in: Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, hrsg. v. Walburga Hülk/Ursula Renner, Würzburg 2005, S. 33-37.

15 Siehe Christophe Charle, La crise littéraire à l’époque du naturalisme. Roman, théâtre, politique,Paris 1979, S. 64 f.; ders. »La lutte des classes en littérature: L’Étape de Paul Bourget et Vérité d’Émile Zola«, in: Les Écrivains français et l’affaire Dreyfus. Actes du colloque organisé par l’Université d’Orléans et le Centre Péguy, hrsg. v. Géraldi Leroy, Paris/Orléans 1983, S. 225-233, hier: S. 229-233; ders., »Situation de Zola dans le champ littéraire«, in: Lendemains 36 (1984), S. 42-46, hier: S. 44. In einem weiteren Artikel zeigt Charle, wie Zola die Nähe berühmter Savants gesucht hat, um sein Image aus seinem Jugendwerk und seiner journalistischen und feuilletonistischen Tätigkeit aufzubessern. (ders., »Le cas de Zola et de L’Argent«, in: L’écrivain, le savant et le philosophe, S. 31-44, hier: S. 37 [Anm. 1])

16 Charle, »Situation de Zola«, S. 45 (Anm. 15). 17 Ebd. 18 »De l’origine des espèces a été traduit de l’anglais en 1862, et Zola connaît bien les thèses évolu-

tionnistes, analysées dans les différents ouvrages sur l’hérédité qu’il a pu lire. […] Comme le montre Alain de Lattre (Le Réalisme selon Zola, 1975), il a pris chez Darwin le sens du récit de l’histoire naturelle et, ce qui est essentiel, l’idée d’une relation entre le biologique et le

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Intrigen und Entwicklungen. Die verschiedenen erblich bedingten Ver-flechtungen und Kombinationen hatte Zola bei Prosper Lucas gefunden. Die Rougon-Macquart weisen einen wechselhaften Umgang mit Wissen-schaft und insgesamt einen abnehmenden Einfluss von wissenschaftlicher Romanmethode und wissenschaftlichen Erklärungsmustern auf. Aller-dings kehrt der letzte Band, Le Docteur Pascal, wiederum ganz zu diesem Thema zurück. Mit diesem abschließenden Band greift Zola sein ur-sprüngliches, wissenschaftliches Anliegen wieder auf.19 Pascal ist Erbfor-scher und nimmt sich seine Familie, die Rougon-Macquart, als Analyseob-jekt vor. Wie bei Zola erfährt das Leben Pascals durch die Liebe einer jungen Frau noch in reifen Jahren eine glückliche Wende, durch die Ver-bindung mit seiner zu Beginn noch religiösen, dann aber zunehmend den Ideen der Wissenschaft zugewandten Nichte Clotilde. Doch das Glück währt nur kurze Zeit. Pascal wird die Geburt seines Sohnes nicht mehr miterleben. Kurz nach seinem Tod werden seine gesamten Aufzeichnun-gen durch Brandstiftung vernichtet.20 Trotz allen Unglücks herrscht am Ende des Romans eine optimistische Grundstimmung. Das Leben, Lieb-lingswort des späten Zola, erscheint als die stärkste Kraft, stärker als die durch Pascal verkörperte Wissenschaft.21 Clotilde, eine perfekte Mischung aus überwundenem Glauben und vernünftigem Wissen, reflektiert im ______________________

politique, entre l’ordre du social et l’ordre de la vie. [...] l’univers de Zola s’inscrit dans celui de Darwin: tous les organismes vivants sont déterminés par leur milieu et ils sont liés entre eux dans une gigantesque lutte pour la vie.« (Alain Pagès/Owen Morgan, Guide Zola, Paris 2002, S. 56 f.)

19 »Oui, notre famille pourrait, aujourd’hui, suffire d’exemple à la science, dont l’espoir est de fixer un jour, mathématiquement, les lois des accidents nerveux et sanguins qui se déclarent dans une race, à la suite d’une première lésion organique, et qui déterminent, selon les mi-lieux, chez chacun des individus de cette race, les sentiments, les désirs, les passions, toutes les manifestations humaines, naturelles et instinctives, dont les produits prennent les noms de vertus et de vices. Et elle est aussi un document d’histoire, elle raconte le second Empi-re, du coup d’État à Sedan […].« (Zola, Le Docteur Pascal, in: Les Rougon-Macquart, hrsg. v. Armand Lanoux, Bd. 5, hrsg. v. Henri Mitterand, Paris 1967, S. 1015)

20 Rita Schober fragt sich: »À certains égards cette conclusion ›scientifique‹ [Le Docteur Pascal]met en question le ›caractère scientifique‹ de la thèse physiologiste initiale, et si l’on consi-dère la signification du roman et non la fable, on pourrait penser que la destruction des no-tes prises par Pascal tout au long de sa vie, et relatives aux cas d’hérédité dans la famille, symbolise la remise en question du caractère absolu des théories présentées au début de l’œuvre.« (»Le Docteur Pascal ou le sens de la vie«, in: Cahiers naturalistes 53 (1979), S. 53-74, hier: S. 65)

21 Vgl. folgende Stelle: »[…] elle vint ouvrir la grande armoire de chêne, pour y serrer son travail, resté sur la table. C’était dans cette armoire, si pleine autrefois des manuscrits du docteur, et vide aujourd’hui, qu’elle avait rangé la layette de l’enfant.« (Zola, Le Docteur Pas-cal, S. 1214 [Anm. 19]) Einschlägig ist auch das Romanende: »Le grand ciel bleu, que ré-jouissaient les gaietés du dimanche, était en fête. Et, dans le tiède silence, dans la paix soli-taire de la salle de travail, Clotilde souriait à l’enfant, qui tétait toujours, son petit bras en l’air, tout droit, dressé comme un drapeau d’appel à la vie.« (S. 1220)

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letzten Kapitel ihre Geschichte und kündigt dadurch die weiteren Romane Zolas an:

Puis, elle l’entendait, lui [Pascal], reprendre son credo, le progrès de la raison par la science, l’unique bienfait possible des vérités lentement acquises, à jamais, la croyance que la somme de ces vérités, augmentées toujours, doit finir par donner à l’homme un pouvoir incalculable, et la sérénité, sinon le bonheur. Tout se résumait dans la foi ardente en la vie. Comme il le disait, il fallait marcher avec la vie qui marchait toujours. […] Les enfants continueront la besogne des pères, ils ne naissent et on ne les aime que pour cela, pour cette tâche de la vie qu’on leur transmet, qu’ils transmettront à leur tour. Et il n’y avait plus, dès ce moment, que la résignation vaillante au grand labeur commun, sans la révolte du moi qui exige un bonheur à lui, absolu.22

Ab Le Docteur Pascal tritt die Figur des Wissenschaftlers vor der der lebens-spendenden Mutter in den Hintergrund. Zola spielt dadurch weniger auf den damals verkündeten »Bankrott der Wissenschaft« (la banqueroute de la science)23 als auf seinen Glauben an die natürlichen Kräfte des Lebens an. Das Neugeborene ist das Kind der noch bis vor kurzem gläubigen Mutter (Clotilde) und des Wissenschaftlers (Pascal):24 es geht nicht mehr darum, die Wissenschaft gegen die alten Mythen, seien sie metaphysischer oder religiöser Natur, auszuspielen, sondern darum, beide zu versöhnen. Was die Figur des Kindes ankündigt, wird mit der Figur des Priesters Pierre Froment in Paris, dem letzten Band der Trois Villes, vollendet,25 wie es sich sein Bruder Guillaume, der Wissenschaftler, wünscht:

Vois-tu, notre pauvre mère, notre pauvre père, eh bien! Ils continuent leur lutte douloureuse en toi. Tu étais trop jeune, tu n’as pu savoir. Moi je les ai connus si misérables, lui malheureux par elle, qui le traitait en damné, elle souffrant de lui,

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22 Zola, Le Docteur Pascal, S. 1210 (Anm. 19). Oder später: »Comme il était bon et gai, et quel amour des autres lui donnait sa passion de la vie! Lui-même peut-être n’était qu’un rêveur, car il avait fait le plus beau des rêves, cette croyance finale à un monde supérieur, quand la science aurait investi l’homme d’un pouvoir incalculable: tout accepter, tout employer au bonheur, tout savoir et tout prévoir, réduire la nature à n’être qu’une servante, vivre dans la tranquillité de l’intelligence satisfaite! En attendant, le travail voulu et réglé suffisait à la bonne santé de tous.« (S. 1212)

23 Geläufiger Ausdruck dieser Zeit (ab ca. 1890), den Paul Bourget 1883 verwendete und Brunetière in seinem Artikel »Après une visite au Vatican«, in: Revue des deux mondes 127 (1895), S. 97-118, übernahm, nachdem er 1887 schon den »Bankrott des Naturalismus« in einem Artikel angekündigt hatte. (»La banqueroute du naturalisme«, in: Revue des deux mondes[1. September 1887], S. 213-224)

24 Diesen Anspruch teilt er mit anderen Schriftstellern seines Jahrhunderts, siehe dazu: Allen Thiher, Fiction Rivals Science. The French Novel from Balzac to Proust, Columbia/London 2001. – Symbolischerweise wird das Kind, in Anlehnung an die biblische Heilsgeschichte, nur »l’enfant« genannt.

25 Zola, Paris, hrsg. v. Jacques Noiray, Paris 2002, S. 629.

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dont l’irréligion la torturait! [...] Il faudra bien que tu les réconcilies, car ils ne peuvent se réconcilier qu’en toi.26

Noch detaillierter findet diese Versöhnung bei den zahlreichen Nach-kommen Pierres, den Helden der Quatre Évangiles, statt.

In seinen späten Romanen zeugt Zolas Rückgriff auf Wissenschaft von einem optimistischeren Konzept als früher.27 Während die Rougon-Macquart ein gesellschaftskritisches Projekt darstellen, in dem die Gesell-schaft des Kaiserreichs als kranker Körper konzipiert wird, der nur durch Wissenschaft geheilt werden kann, macht sich Zola in seinem Spätwerk auf die Suche nach dem Sinn des Lebens. In den Trois Villes28 und Quatre Évangiles29 setzt sich Zola nicht nur expliziter als früher mit zeitgenössi-schen Gegebenheiten auseinander, sondern entwirft darüber hinaus Bilder einer besseren Zukunft. Diese Hinwendung zur Zukunft erklärt sich zum einen aus der Tatsache, dass sich der Zola der 1890er Jahre von der Repu-blik, in die er große Hoffnungen gesetzt hatte, enttäuscht abwendet und eine neue, positive Projektionsfläche sucht. Zum anderen trägt die zu-nehmende Vereinnahmung der Kompetenz eines Romanciers durch Jour-nalisten, Soziologen, Historiker, Politiker – kurz: durch Sozial- und Hu-manwissenschaftler –, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Berufsgruppen konstituieren, zu einer Umorientierung Zolas bei.30

Diese utopische Wende geht mit einer veränderten Poetik einher. Nach den Rougon-Macquart wird die Repräsentation des Wirklichen neu gewichtet. Das Primat der Objektivität ist in den Hintergrund getreten.31

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26 Ebd., S. 265. 27 Siehe auch Zolas Antwort auf die Enquête littéraire von Jules Huret gegen Ende der Rougon-

Macquart (1891): »L’avenir appartiendra à celui ou à ceux qui auront saisi l’âme de la société moderne, qui, se dégageant des théories trop rigoureuses, consentiront à une acception plus logique, plus attendrie de la vie. Je crois à une peinture de la vérité plus large, plus complexe, à une ouverture plus grande sur l’humanité, à une sorte de classicisme du natura-lisme.« (Jules Huret, Enquête sur l’évolution littéraire, Paris 1999, S. 192) Siehe außerdem Scho-ber, »Le Docteur Pascal ou le sens de la vie«, S. 61 (Anm. 20): »Le Docteur Pascal se trouve exactement au point de jonction entre le passé et l’avenir.«; S. 65: »La confiance en l’avenir remplace le sombre fatalisme de l’hérédité.«

28 Lourdes, Rome, Paris (1894-1898). 29 Fécondité, Travail, Vérité und Justice (1899-1902); letzteres ist Entwurf geblieben. 30 Siehe Sapiro, »Le principe de sincérité«, S. 188 (Anm. 1). Literatur bekommt zur Zeit Zolas

eine neue Funktion als explizite und implizite Wissensquelle, und Zola rivalisiert so mit an-deren Disziplinen. Wolf Lepenies zeigt, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drei Kulturen (die wissenschaftliche, die soziologische und die literarische) mit ihren jeweiligen Kompetenzen, ihrem Wissen und ihrer Autorität zueinander in Konkurrenz treten. (Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985)

31 Laut Charle hat Zola ab L’Argent seine Romanästhetik geändert und seinem neuen sozialen Standpunkt angepasst. Nicht nur ein Milieu, sondern alle sozialen Klassen und Ideologien sind vertreten. Ein »personnage porte-parole« vertritt Zolas prophetische Visionen; vgl. »Situation de Zola«, S. 44 (Anm. 15), und »La lutte des classes en littérature«, S. 231 (Anm.

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Der späte Zola lässt seinen Erzähler Partei ergreifen, manchmal bis hin zum Didaktischen und Deklamatorischen,32 weshalb er sich den Vorwurf, seine Spätwerke seien Thesenromane, gefallen lassen muss. Zola ist Meis-ter im Nachzeichnen gesellschaftlichen Verfalls; mit seinen »Heilsroma-nen«, wie Jean Borie sie nennt,33 scheitert er aber.

Die Wissenschaft wird in dieser letzten Schöpfungsphase34 zu einem leitmotivischen Thema,35 stärker noch als in den Rougon-Macquart, und unterstützt die Zukunftsutopie.36 In den letzten Werken verschwindet jedoch der Anspruch auf einen wissenschaftlichen Roman zugunsten einer Utopie, die Intelligenz, Arbeit, Wahrheit, Fortschritt, Demokratie als posi-tive Werte setzt. Diese Werte tauchen auch in den Namen der jeweiligen Evangelien auf: Fruchtbarkeit, Arbeit, Wahrheit, Gerechtigkeit – die laizistische Religion des späten Zola.37

In der modernen Forschung findet man eine Reihe von Ausdrücken für Zolas politisches und soziales Denken nach den Rougon-Macquart. Eher positiv wird es »utopischer Sozialismus«, »Messianismus«, »Vitalismus« (im Sinne Bergsons),38 eine »Nicht-Religion«, ein »voluntaristischer utopischer ______________________

15). (In L’Argent ist es Madame Caroline, deren Vater nicht zufällig ein Savant war.) Im Spätwerk wird dieser »personnage porte-parole« sogar zum Protagonisten, wie z.B. Pierre Froment in den Drei Städten. Marc Föcking hingegen schreibt: »Je stärker das Modell der ›dégénérescence‹ akzentuiert wird, desto deutlicher kehren Elemente auktorialen Erzählens zurück.« (Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 322)

32 »Une expansion du discours d’autorité, au détriment sans doute de la dramatisation roma-nesque et de l’ambiguïté créatrice, mais au service d’une littérature de combat perpétuelle-ment relancée à la suite de l’affaire Dreyfus«, schreibt Jacques Noiray, »Présentation«, in: Actualité de Zola en l’an 2000. Actes du colloque international, hrsg. v. Mario Petrone/Giovanna Romano, Napoli 2004, S. 9-13, hier: S. 11.

33 »Romans du salut vs. romans de la nausée«, Jean Borie, Zola et les mythes, ou de la nausée au salut, Paris 1971, S. 190.

34 Zu den verschiedenen Etappen in Zolas Werk (republikanisch, sozial und Fin-de-siècle), siehe Christophe Charle, »Zola et l’histoire«, in: Zola et les historiens, hrsg. v. Michèle Sacquin, Paris 2004, S. 12-21, hier: S. 13, und Michelle Perrot, »Conclusions«, in: ebd., S. 129-134, hier: S. 131.

35 Der wissenschaftliche Typus des Savant erfährt eine relativ kontinuierliche Bewunderung. Er ist ein Arbeiter, der seinen Mitmenschen durch seine Arbeitskraft und seinen Genius helfen will. Am liebsten würde Zola ihm die Schlüssel seiner »Cité future« überlassen.

36 Über die problematische, auf der Wissenschaft basierende neue Religion Zolas siehe Eliza-beth Emery, »›La cathédrale du monde futur‹. Zola and the religion of science«, in: Excava-tio 8 (1996), S. 49-59. Problematisch ist sie wegen »his paradoxical tendency to destroy the old in favor of the new while modeling the new after the old.« (S. 49)

37 Zur »morale de la science« siehe Sophie Guermès, La religion de Zola. Naturalisme et déchristia-nisation, Paris 2003, S. 318.

38 Gegen mechanistisch-wissenschaftliche Analysen entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine vitalistische Theorie, für die das Leben eine Art geistiger Strom (flux spirituel) ist, vergleich-

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Optimismus« genannt; negativ wird die Entwicklung im Denken Zolas, insbesondere in den Vier Evangelien, als reaktionär39 und sogar als protofa-schistisch40 oder harmloser als »Überführung romantischer Denk- und Vorstellungsmuster in eine positivistische Utopie des Fin-de-Siècle«41

bezeichnet. Zu diesem Aspekt möchte ich einen Satz aus Zolas Rede an die Studenten von 1893 zitieren: »La science a-t-elle promis le bonheur? Je ne le crois pas. Elle a promis la vérité, et la question est de savoir si l’on fera jamais du bonheur avec la vérité.«42

Darüber hinaus schließe ich mich Ulrich Schulz-Buschhaus’ Bewer-tung aus dem Jahre 1977 an, der in einer Rezension bemerkt, dass Zolas Messianismus der letzten Jahre

[…] frappante Analogien zu jenen Ideologemen [aufweist], welche die antibürger-liche, »sozialistische« Komponente des Faschismus ausmachen. Damit soll mit-nichten gesagt werden, Zola sei nun als Faschist oder Präfaschist zu entlarven. Gegen solche Einseitigkeit stünden in der Tat einzelne Romane der Rougon-Macquart, allen voran Germinal, die Dreyfus-Kampagne und der Umstand, daß Zolas charakteristischer »Racismus« nicht eigentlich nationalistisch akzentuiert ist. Dennoch wirken die Analogien aufschlußreich, indem sie einen breiten, ganz und gar überparteilichen ideologischen Fundus sichtbar machen, der den Faschismus begünstigte und den jede ideologiegeschichtliche Beschreibung der faschistischen Epoche in Betracht ziehen müßte.43

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bar mit dem Bewusstsein, das sich jeglichen physikalischen Formeln entzieht. Henri Berg-sons Konzept des »élan vital« gehört zu dieser Strömung.

39 »Zola n’a pas su faire le pas qualitatif de la nature à la société. [...] il ne remarque pas que son évolutionnisme naturaliste, que sa foi optimiste en la force naturelle triomphante de la vie, laissent en réalité libre cours à toutes les forces réactionnaires hostiles à la vie.« (Scho-ber, »Le Docteur Pascal ou le sens de la vie«, S. 71 [Anm. 20]) Siehe auch Brian Nelson, »Zola and the Ideology of Messianism«, in: Orbis Litterarum 37 (1982), S. 70-82 (»capitalism with a conscience«, S. 78; »bourgeois paternalism«, S. 79). Nelson zeigt auch, wie Zolas utopische Vision einer besseren Gesellschaftsordnung durch »social equilibrium and natural harmo-ny« gekennzeichnet ist. »[...] capitalism and science, working together, are seen as capable of infinite social improvement« (S. 73), so schreibt er, »and Zola’s final vision of the ideal society corresponds to class collaboration and a rearranged bourgeois hierarchy« (S. 80).

40 Ganz besonders von Régine Lyon, die mehr von einem psychokritischen Befund bei Zola als von epochenspezifischen Tendenzen ausgeht und zwischen politischen und literari-schen Diskursen nicht unterscheidet, vgl. Zolas ›Foi nouvelle‹: Zum faschistischen Syndrom in der Literatur des Fin de Siècle, Frankfurt a.M. 1982.

41 Henri Desroches, »De l’utopisme de Ch. Fourier à une utopie de Zola«, in: Autogestion et socialisme 33 (1972), S. 3-33, zitiert nach Friedrich Wolfzettel, Rezension von R. Lyons Zolas ›Foi nouvelle‹, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 36 (1986), S. 249-254, hier: S. 253 f.

42 »Discours aux étudiants« (18. Mai 1893), in: Les Rougon-Macquart, Bd. 5, S. 1609-1616, hier: S. 1613 (Anm. 19). Siehe auch, was Pascal zu Clotilde in Le Docteur Pascal sagt: »La science n’est pas la révélation. Elle marche de son train humain, sa gloire est dans son effort même... Et puis, ce n’est pas vrai, la science n’a pas promis le bonheur.« (S. 990)

43 Ulrich Schulz-Buschhaus, »Zola, Adorno und die Geschichte der nichtkanonisierten Litera-tur. Anmerkungen zu H.-J. Neuschäfers Populärromane im 19. Jahrhundert«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 214 (1977), S. 376-388, hier: S. 388. Siehe hierzu

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Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft 201

Die Nichtrealisierbarkeit des wissenschaftlichen Projekts beschäftigte die Literaturwissenschaftler am längsten. Als bester Beweis dafür lässt sich anführen, dass Philippe Hamon in Frankreich und Joachim Küpper in Deutschland die Gestaltungsmethoden der Wirklichkeitsillusion im realis-tischen Roman seit dem 19. Jahrhundert, die Strategie des »effet de réel« (i.S. von R. Barthes), anhand der Rougon-Macquart untersucht haben.44

Relative Einigkeit herrscht in der Forschung in Bezug auf zwei Tenden-zen: 1. Zolas Projekt der Rougon-Macquart ist zwar explizit wissenschaftlich, d.h. mit maximaler Objektivität, konzipiert, beinhaltet aber einen hohen Anteil subjektiver Elemente, die seine Qualität und Originalität ausma-chen und weit über den von Zola geplanten Anteil an tempérament hinaus-gehen (persönliche Phantasmen und Obsessionen, literarische Symbole, kulturelle Mythen); 2. dieser reiche Anteil geht nach den Rougon-Macquartwegen der neu gewählten Form der Utopie verloren.

Letztendlich verwendet Zola vor allem Wortschatz, Methoden, Hypothe-sen und Ergebnisse der modernen Wissenschaften und bindet sie in die Literatur ein, ohne jedoch jemals wirklich ernsthaft mit einem Wissen-schaftler rivalisieren zu können,45 weil sich auf der Basis fiktiver Romanfi-guren nun einmal keine wissenschaftliche Fallstudie durchführen lässt. Sicherlich entwickelt Zola beeindruckende psychologische und wirtschaft-liche Gedankengänge; doch seine Theorie des experimentellen Romans

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auch Rainer Warnings Einwände in »Kompensatorische Bilder einer ›wilden Ontologie‹: Zolas Les Rougon-Macquart«, in: Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 240-268, hier: S. 249. Zola hat in seinen Artikeln über Hippolyte Taine selbst einige Einschränkungen be-züglich des Positivismus gemacht (Artikel vom 15.2.1866, Zola, »M. H. Taine, artiste«, in: Œuvres complètes, Bd. 10, hrsg. v. Henri Mitterand, Paris 1968, S. 151). Auch in Frankreich ist man sich des Problems durchaus bewusst; so sagt etwa Henri Mitterand über Travail:»La société ici rêvée est une utopie, certes, mais l’utopie d’une dictature paternaliste, dont l’idéologie paraît en fin de compte assez proche de cette révolution nationale qui inspirait les institutions de l’État français entre 1940 et 1944 et s’ornait du sigle ›Travail, Famille, Pa-trie‹.« (»La révolte et l’utopie: de Germinal à Travail«, in: Le Discours du roman, Paris 1980, S. 150-163, hier: S. 160)

44 Philippe Hamon u.a. in: Introduction à l’analyse du descriptif, Paris 1981, 1993; Le Personnel du roman. Le Système des personnages dans les Rougon-Macquart d’Émile Zola, Genève 1983, 1998; Texte et idéologie. Valeurs, hiérarchies et évaluations dans l’œuvre littéraire, Paris 1984, 1997. Joachim Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spät-aufklärung bis zu Robbe-Grillet. Ausgewählte Probleme zum Verhältnis von Poetologie und literarischer Praxis, Wiesbaden/Stuttgart 1987.

45 Am Ende der Arbeit an den Rougon-Macquart gibt Zola sogar selbst zu, dass seine experi-mentelle Romanmethode gescheitert sei: »Nous [ma génération] n’avons juré que par la science, qui nous enveloppait de toutes parts, nous avons vécu d’elle, en respirant l’air de l’époque. À cette heure, je puis même confesser que, personnellement, j’ai été un sectaire, en essayant de transporter dans le domaine des lettres la rigide méthode du savant.« (»Dis-cours aux étudiants« (18. Mai 1893), S. 1611 [Anm. 42])

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Aurélie Barjonet 202

erscheint im Rückblick wie ein überspannter Rechtfertigungsversuch.46

Zweifellos brachte der Wunsch nach einer wissenschaftlichen Kunst aber einen neuen, modernen Romantypus hervor.

2. Eine Zola-Renaissance

Trotz oder gerade wegen des sehr großen Publikumserfolgs wird Zolas Projekt in Frankreich von der Literaturkritik seiner Zeit verspottet. Wis-senschaft und Literatur scheinen zu verschieden zu sein. Wissenschaftli-che Genauigkeit auf Kunst zu übertragen, um hohe Ziele zu erreichen, wird nicht ernst genommen. In Deutschland stößt Zola sowohl auf Publi-kumszuspruch als auch auf Ablehnung innerhalb der Literaturkritik.47 Die negativen Reaktionen sind noch heftiger als in Frankreich, da im Deutsch-land der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Anschauungen des Idea-lismus fortwirken.48 Zolas Kunst wird als bloße Nachahmung der Realität im Hegelschen Sinn abgelehnt.49 Diese falsche Interpretation des Zola-______________________

46 Bestimmt resultieren seine widersprüchlichen Aussagen zu seiner Methode, wie seine gesellschaftliche Utopie, auch aus einem vergeblichen Versuch, polarisierende Tendenzen der Moderne wie Technik und Kunst, Lebenskult und Todestrieb versöhnen zu wollen. Siehe Françoise Gaillard: »Le naturalisme [...] synthétise malgré lui les deux faces indissoci-ables de la modernité: la passion du vrai et l’attirance pour l’artifice, le culte de la vie et l’irrésistible attrait pour le morbide et le faisandé.« (»Modernité de Huysmans«, in: Huys-mans, une esthétique de la décadence, hrsg. v. Robert Kopp/Christian Heck/André Guyaux, Pa-ris 1987, S. 104) und Colette Becker: »[...] l’œuvre zolienne est, à l’image de la société et de l’homme qu’elle décrit, travaillée de tensions qui s’exercent à tous ses niveaux. Elle est ten-tative de conciliation entre passé et avenir, mort et vie, Éros et Thanatos, science et tempé-rament, maîtrise et inventivité, mimesis et fiction,... quête d’un équilibre toujours impro-bable, ne serait-ce que parce que le créateur, son tempérament, sa vision, le plaisir de ra-conter une histoire et de captiver, l’emportent toujours en définitive.« (Zola. Le saut dans les étoiles, S. 229 [Anm. 6]; auf der gleichen Seite zitiert sie Gaillard, wie hier erwähnt.)

47 Als Beispiel kann Robert Schweichels Kritik aus dem Jahre 1885 in der sozialdemokrati-schen Neuen Zeit zitiert werden: »Vielleicht gelangt die Wissenschaft eines Tages dahin, ebenso die Forterbung moralischer Krankheiten und Eigenschaften nachzuweisen und die Psychologie auf die Physiologie zu gründen. So lang dies noch nicht der Fall ist, wird der Dichter derartige Behauptungen, wie Zola sie aufgestellt hat, beweisen müssen, eine An-forderung, der er um so weniger zu entsprechen vermag, als die Poesie überhaupt nichts beweisen, sondern nur Gleichnisse und Beispiele aufzustellen vermag. Das Reich der Dich-tung ist eben nur die Phantasie, mag es der Naturalist auch noch so täuschend der Wirk-lichkeit nachbilden.« (»Germinal«, in: Die Neue Zeit (1885), S. 361-370, hier: S. 363)

48 Ferner war das literarische Feld in Deutschland nicht so einheitlich wie das in Frankreich. Die deutschen Künstler waren zudem weniger autonom und mussten mehr Kompromisse mit den Institutionen, sprich der Tradition, schließen, um zu überleben; siehe Christophe Charle, Les intellectuels en Europe au XIXe siècle. Essai d’histoire comparée, Paris 1996, 2001.

49 Zu dieser Auseinandersetzung der deutschen Naturalisten mit Zolas Theorie siehe Jutta Kolkenbrock-Netz, Fabrikation, Experiment, Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitimation im Na-turalismus, Heidelberg 1981. Auch diese Arbeit ist »auf die einzelnen Verfahren der Aneig-

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schen Wissenschaftsanspruches ist typisch für die frühe deutsche Zola-Rezeption, die Zolas Ansprüche entweder zuspitzt, um sie abzulehnen, oder abschwächt, um sie in die nationale Tradition einzufügen.

Ein weiterer interessanter Zeitpunkt der Zola-Rezeption kristallisiert sich nach dem Zweiten Weltkrieg heraus, als die deutsche Wissenschaft in eine Ost-West-Rivalität gerät. In der DDR sind Zolas naturwissenschaftli-che Thesen selbstverständlich unerwünscht. Ablehnung erfahren beson-ders die Erbgesetze, die das Individuum biologisch determinieren und den Arbeiterkampf sinnlos erscheinen lassen. Doch trotz aller Vorbehalte beschäftigt man sich in der DDR intensiv mit Zola, allen voran Rita Schober, die Zolas Rougon-Macquart neu übersetzt und sich parallel dazu mit zahlreichen Publikationen als Zola-Spezialistin in der gesamtdeutschen Forschung etabliert. Zu Beginn ihrer Zola-Forschungen stehen der Autor und sein Werk unter dem Verdikt prominenter Marxisten wie Engels,50

Lafargue und Lukács.51 Um Zolas Rehabilitation bemüht, korrigiert Scho-ber Lukács’ Urteil über Zola,52 das hauptsächlich die Form betraf, durch eine inhaltliche Aufwertung und insbesondere durch eine Aufwertung der Gesellschaftskritik, wie sie 1995 in einem selbstkritischen Artikel festhält. Zolas Fehler bleibe aber immer, dass er den gesellschaftlichen, sprich marxistischen, Kausalnexus nicht verstanden habe:

Und so habe ich ihn [Zola] einseitig in der Thematisierung neuer Wirklichkeitsbe-reiche gesehen [...] kurz in der »Ausschöpfung der historischen Innovationsmög-lichkeiten des Romans im letzten Drittel des 19. Jh.« Der diesen neuen sozialen Befunden in Metaphern und Autorinterventionen jedoch als Explikationsmodell zugrunde gelegte reduktionistische Biologismus konnte indessen nur auf Unver-ständnis stoßen.53

Zu den wenigen Zola-Monographien der DDR zählt die von Günter Schmidt aus dem Jahre 1974, die sich erstaunlicherweise gerade mit Zolas ______________________

nung und Assimilierung von Wissensdiskursen in der ästhetischen Autorenrede des Natu-ralismus gerichtet«. (S. 16)

50 In dem berühmten »Balzac-Brief an Miss Harkness« rühmt Friedrich Engels Balzac und verreißt Zola. Dieser Brief bestimmte die gesamte marxistische Zola-Rezeption. (Brief vom April 1888, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur. Eine Sammlung aus ihren Schriften, hrsg. v. Michail Lifschitz, Berlin 1948, S. 103-106)

51 Siehe dazu Schober, »Editionsgeschichte«, S. 26-30 (Anm. 2). 52 In der DDR gerät Lukács ab Ende der Fünfzigerjahre wegen vermeintlicher politischer

Aktivitäten in Ungarn in Verruf. 53 Schober, »Editionsgeschichte«, S. 35 (Anm. 2). Siehe auch: »Insgesamt wurden die von

Zola aus der französischen Wissenskonfiguration der Zeit aufgenommenen vererbungs-theoretischen und physiologischen Vorgaben, seine sozialdarwinistischen Erklärungsmus-ter und seine naturphilosophischen Anschauungen in ahistorischer Weise nur in ihrer zeit-bedingten Begrenztheit, nicht aber in ihrer Novität und in ihrer Leistungsfähigkeit für die Ermöglichung eines neuen Romantypus im Riesenwerk der Rougon-Macquart gewertet.« (S. 39)

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biologischem Reduktionismus beschäftigt.54 Der Autor will »die ästheti-sche und dichterische Aufbereitung erbtheoretischer Ansichten mit dem zeitgenössischen Stand der wissenschaftlichen Erforschung der geneti-schen Abläufe«55 konfrontieren, d.h. sowohl Literatur- als auch Wissen-schaftsgeschichte betreiben. Selbstverständlich werden »die weltanschauli-chen Antriebe des literarischen Naturalismus und sein davon bestimmtes Postulat eines Bündnisses mit den Naturwissenschaften an der marxisti-schen Natur- und Gesellschaftstheorie« gemessen.56 Schmidt führt aller-dings die Irrtümer der Naturalisten auf den damaligen Stand der wissen-schaftlichen Forschung zurück. Zola trage trotzdem Schuld, weil er die Wissenschaften zwar nur oberflächlich verstanden und nicht hinterfragt, aber dennoch vulgarisiert habe. Das Verdienst des Naturalismus liege nur darin, dass die Literatur mehr Lebensnähe und Wahrhaftigkeit gewonnen habe.57 Mit seinem Urteil bestätigt Schmidt das traditionelle marxistische Verdikt:58

Vieles deutet darauf hin, daß Zola der Vererbung eine Priorität gegenüber der de-terminierenden Wirkung des Milieus zuerkannt hat. Der entscheidende Faktor für die Ausprägung des Charakters der Rougon-Macquart-Abkömmlinge ist deren erbliche Disposition, nicht das Milieu. [...] Das Milieu kann die Erbanlagen immer nur temporär verdrängen, aber nicht eliminieren.59

Ein weiterer Aspekt, den die DDR-Forschung und insbesondere Schober aufgreifen, ist Zolas ästhetische Theorie. Früh empfindet Schober den Wahrheitsbegriff Zolas als problematisch, weil er réalité (Wirklichkeitsbe-griff) mit vérité (Wahrheitsbegriff) gleichsetzt und dem Repräsentations-problem nicht ausreichend Rechnung trägt.60 Eben dieser Aspekt wurde ______________________

54 Eigentlich entstanden als eine gesellschaftswissenschaftliche Dissertation im Jahre 1970: Günter Schmidt, Die literarische Rezeption des Darwinismus: das Problem der Vererbung bei Émile Zola und im Drama des deutschen Naturalismus, Berlin 1974.

55 Ebd., S. 171. 56 Ebd., S. 8. Früh wird der Glaube der Naturalisten an biologischen Determinismus als

Ursache für ein gescheitertes Zusammenwirken mit der Arbeiterbewegung gesehen, ob-wohl sich Zola mit marxistischen Theorien beschäftigte (ebd.). Zolas Radikalisierung in der Annäherung von Literatur und Wissenschaft, die sich seit Balzac spüren lasse, führe »zu ei-nem Verlust an historischer Tiefe und geschichtsphilosophischem Gehalt.« (Ebd., S. 85) Der Verfasser lehnt sich hier deutlich an Lukács an.

57 Ebd., S. 8. 58 Siehe z.B. das von Schmidt (ebd., S. 127) zitierte Nachwort von Schober zu La Terre:

»Wieder einmal, wie schon so oft, hat Zola [...] die soziale Problematik, die er nicht bis ins letzte zu erfassen vermag, in eine biologische Gesetzmäßigkeit umgedeutet und damit nach seiner Meinung vertieft und ausgeweitet.« (Berlin 1967, S. 575 ff., hier: S. 589)

59 Schmidt, Die literarische Rezeption des Darwinismus, S. 127 (Anm. 54). 60 »Der Begriff der Kunstwahrheit im eigentlichen Sinne fehlt bei Zola. Und wiederum ist

sein terminologisches Schwanken Ausdruck dieser theoretischen Unsicherheit. [...] Glaubt doch Zola durch die gesetzte Identität zwischen Realität und Aussage über sie tatsächlich die tiefste Schicht möglicher Wahrheitserkenntnis zu erfassen. Das heißt, er verwischt den

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in Anlehnung an Schober 1971 von dem bedeutenden DDR-Wirtschafts-historiker Jürgen Kuczynski in einem Artikel über »Zola – Wissenschaft und Kunst«61 wieder aufgenommen. Kuczynski, der Zola für einen »recht blutige[n] Dilettant[en] der (Natur-)Wissenschaft«62 hält, plädiert für eine Unterscheidung von künstlerischer und wissenschaftlicher »Perzeption« und verteidigt Zola gegen Lukács, weil »Zola als erster Künstler das ver-sucht hat, was so viele Künstler jeder Art heute versuchen: Wissenschaft-liche Weltanschauung und künstlerisches Sehen der Welt zu harmonisie-ren, indem sie die künstlerische Perzeption durch die wissenschaftliche Erkenntnis kontrollieren.«63 Zolas Naturalismus sei »eine besondere, fort-schrittliche, durch die Wissenschaft gehobene Form der Darstellung der Wirklichkeit«64 und »Zolas Gedankengang« sei sogar der gleiche gewesen wie der »zahlreiche[r] Marxisten, die im sozialistischen Realismus einen durch die Wissenschaft des Marxismus ›angereicherten‹ Realismus se-hen«.65

Während sich die DDR kritisch mit Zola beschäftigt, wird ihm in der Bundesrepublik zunächst kaum Beachtung geschenkt. Nur einige biogra-phische, zusammenfassende oder eher oberflächliche Untersuchungen ohne nennenswerte Neuansätze werden publiziert. Bezeichnenderweise kauft der Winkler-Verlag erst Mitte der 1970er Jahre die Rechte der Neu-übersetzung der Rougon-Macquart, die von Schober in der DDR bereits erfolgreich aufgelegt wurde.66 Das Desinteresse an Zola, dem Intellektuel-len, dem populären Sozialautor des ausgehenden 19. Jahrhunderts, geht sicher mit der Entpolitisierung des wissenschaftlichen Feldes der Bundes-republik einher. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen nach 1968 erneuert sich auch die Literaturwissenschaft. Neue wegweisende Impulse ______________________

Balzac stets bewußten Unterschied zwischen objektiver Realität und ihrer im Kunstwerk als eines Bewußtseinsaktes [sic!] erfolgten Widerspiegelung und versucht ihre Übereinstim-mung und damit die künstlerische Wahrheit gleichsam durch ein Hineinnehmen der véritéin den Bereich der réalité selbst zu erzeugen.« (Rita Schober, »Réalité und vérité bei Balzac und Zola«, in: Beiträge zur Romanischen Philologie 1 (1961), S. 116-142, 2 (1963), S. 127-138, hier in: Nr. 2, S. 135-136) Im Sinne eines »ethischen Diskurskontinuums«, das den Rück-griff auf Termini wie ›Leben‹ und ›Wahrheit‹ historisch zu verstehen erlaubt, vergleicht Jür-gen Schwann in einem neueren Artikel Zolas realistische Kunstkonzeption mit der von Georg Büchner: »Analoge Intentionalitätsstrukturen: Büchners, Baudelaires und Zolas Teilhabe an einem ästhetischen Diskurskontinuum«, in: Euphorion 97,1 (2003), S. 73-83.

61 Jürgen Kuczynski, »Zola – Wissenschaft und Kunst«, in: ders., Gestalten und Werke (II). Soziologische Studien zur englischsprachigen und französischen Literatur, Berlin/Weimar 1971, S. 389-417.

62 Ebd., S. 394. 63 Ebd., S. 409. 64 Ebd., S. 393. 65 Ebd., S. 393. 66 Siehe dazu meinen Artikel: »Rita Schober, éditrice des Rougon-Macquart en RDA. Histoire

d’une réception (1949-1989)«, in: Cahiers Naturalistes 77 (2003), S. 265-298.

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erfährt die Zola-Forschung allerdings erst Mitte der Siebzigerjahre.67 So rehabilitiert Hans-Jörg Neuschäfer Zola 1976 mit seiner Aufwertung der Trivialliteratur als Populärautor und lobt insbesondere »Zolas mythisie-rende Beschreibungstechnik«,68 die nicht etwa ein romantisches Über-bleibsel darstelle, sondern einen »Bilderschatz einer modernen Mytholo-gie« schaffe.69 In dieser soziologisch orientierten Untersuchung wird Zo-las Wissenschaftlichkeit besonders unter dem Gesichtspunkt der Doku-mentation analysiert. Laut Neuschäfer spiegeln die »wissenschaftlichen« Recherchen, die Zola in der Vorarbeit zu seinen Romanen durchgeführt hat, ein vorstrukturiertes Weltbild wider, und »daraus resultiert [...] die erkenntniskritische Problematik des naturalistischen Romans, die Zola selbst in seiner objektivitätsgläubigen Theorie nie zum Problem geworden ist«.70 Neuschäfer hebt die Widersprüchlichkeit der positivistischen Me-thode hervor, die bis zur »Wahrheitsmanipulation« führen kann.71 In die-sem Punkt stimmt Neuschäfer mit Schober überein. Letzten Endes findet Neuschäfer, dass Zolas Romane einen Eindruck von Objektivität vermit-teln und dass die Interaktion von Wissenschaft und Dokumentation ein gelungenes Bild der gesamten Gesellschaft72 erzeugt: ______________________

67 Am Ausgangspunkt der Zola-Renaissance muss hier auch der anspruchsvolle Forschungs-bericht von Friedrich Wolfzettel zitiert werden: »Zwei Jahrzehnte Zola-Forschung«, in: Romanistisches Jahrbuch 21 (1970), S. 152-180.

68 Hans-Jörg Neuschäfer, »Kapitel V: Émile Zola und die Mythen des Industriezeitalters«, in: ders., Populärromane im 19. Jahrhundert, München 1976, S. 163-197, hier: S. 196.

69 Ebd., S. 195. »Wahrscheinlich liegt hierin sogar seine nachhaltige Leistung. Denn seine mythischen Bilder sind gerade nicht verlockend, sondern im Gegenteil aufschließend und erhellend. Sie reduzieren die moderne Welt nicht auf archetypische Muster, sondern sie machen sich umgekehrt archetypische Erfahrungsmuster zunutze, um die Bestandteile der modernen Welt und ihr Zusammenwirken dem allgemeinen Bewußtsein zugänglich zu ma-chen und ihm ihre existentielle Bedeutung überhaupt erst vor Augen zu führen.« (Ebd., S. 196-197) Von Neuschäfer siehe auch: Der Naturalismus in der Romania, Wiesbaden 1978, da-rin besonders »Die Bedingtheit der naturalistischen Poetik«, S. 36-51; »Zola: ›Germinal‹«, in: Der französische Roman. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, II, hrsg. v. Klaus Heitmann, Düs-seldorf 1975, S. 9-33; Richesses du roman populaire, hrsg. v. René Guise/Hans-Jörg Neuschä-fer, Nancy 1986, darin besonders Ursula Link-Heer, »À propos du social-darwinisme de Zola dans les Rougon-Macquart«, S. 335-351.

70 Neuschäfer, »Kapitel V: Émile Zola und die Mythen des Industriezeitalters«, S. 190 (Anm. 68).

71 Ebd. Siehe auch S. 36 in Der Naturalismus in der Romania: »Das Hauptproblem [der naturalis-tischen Poetik] liegt zweifellos im Widerspruch von objektivistischem Dokumentationsan-spruch und subjektiver Zielsetzung«. Zola gibt es eigentlich selbst zu, wenn er schreibt: »Nous mentons tous plus ou moins [...] – je crois encore que je mens pour mon compte dans le sens de la vérité. J’ai l’hypertrophie du détail vrai, le saut dans les étoiles sur le tremplin de l’observation exacte.« (Brief vom 22. März 1885 an Henry Céard, in: Correspon-dance, Bd. V, 1985, Nr. 193, S. 248-251, hier: S. 249)

72 Joseph Jurt dagegen bestreitet das in seiner Rezension: »Nul ne contestera à Zola cette intention de saisir l’ensemble de la société; celle-ci est cependant vue d’une manière méca-niste et atomiste et non pas comme un ensemble cohérent. [...] Cette vision fragmentaire

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Das Phänomen Zola besteht aber darin, daß das Dokumentarische bei ihm stets durch seine äußerst fruchtbare Vorstellungskraft, der er in seiner Theorie keinen Platz einräumte, lebendig gemacht wird, daß umgekehrt aber auch die Phantasie durch die nüchterne Arbeit der Dokumentation erst Authentizität und Glaubhaf-tigkeit erhält. [...] gleichwohl auch [liegt] bei Zola im Verhältnis von »Dichtung« und »wissenschaftlicher Dokumentation« ein von ihm selbst nicht durchschautes »Wahrheitsproblem« [...].73

Für Joachim Küpper dagegen ist Zolas Theorie mehr als problematisch. Im Gegensatz zu Neuschäfer sieht er die Zolasche Methode von vornher-ein zum Scheitern verurteilt, da es in seinen Augen weder gelingen kann, die Wirklichkeit so objektiv abzubilden, wie sie ist, noch wissenschaftliche Ansprüche auf Fiktionen zu übertragen, weil Wissenschaft und Fiktion substantiell verschieden sind. Statt Objektivität stehe bei Zola am Ende ein höchst subjektives Ergebnis:

Es ist bezeichnend für die immanente Dynamik des Konzepts einer wirklich-keitsdarstellenden Ästhetik, daß ein durchaus bedeutender Autor und scharfer Analytiker über dem Stichwort der »exakten Reproduktion des Wirklichen« die ontologischen Differenzen zwischen Fiktion und Realem vergißt und mit der Übertragung eines objektivitätssteigernden Prinzips aus dem Bereich der Wissen-schaften auf die literarischen Fiktionen die letzteren unfreiwillig resubjektiviert.74

Dass kein Autor des 19. Jahrhunderts frei »von naiven objektivistischen Illusionen«75 war, gesteht Küpper ein, aber dass eben diese »Illusion« zum Programm wird, kann er Zola nicht verzeihen.

Ein weiterer bedeutender Beitrag zur westdeutschen Zola-Forschung stammt von Hans Ulrich Gumbrecht aus dem Jahr 1978. Eindringlicher als Neuschäfer untersucht Gumbrecht Zolas wissenschaftlichen Anspruch in historischer Perspektive. Er führt Romanproduktion und naturalisti-schen Diskurs enger zusammen. Zola ist für ihn ein an eine neue Rolle der Literatur glaubender Romancier, der sich dafür eingesetzt hat, dass die Literatur wie die Wissenschaft »Motor des Erkenntnisfortschritts« sein konnte.76 Gumbrecht bestätigte mir in einem Interview, dass »das Zola-Buch deutlich eine Foucault-Idee« sei.77 Die Zola-Rezeption hat internati-______________________

s’explique par le fait que Zola conçoit la société comme un ensemble biologique suivant la conception de la médecine expérimentale [...].« (»L’image des classes sociales chez Zola. Mythes émancipateurs ou mystificateurs?«, in: Studi Francesi 25 (1981), S. 104-107, hier: S. 105)

73 Neuschäfer, Populärromane im 19. Jahrhundert, S. 167 (Anm. 68). 74 Joachim Küpper, »6. Zolas Ineinssetzung von Roman und Science und das Stagnieren der

Evolution«, in: Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans, S. 127-135, hier: S. 131 (Anm. 44).

75 Ebd., S. 135. 76 Hans Ulrich Gumbrecht, Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-

Zyklus, München 1978, S. 45. 77 Interview mit Gumbrecht in Saarbrücken am 6.6.2003.

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onal, in besonderem Maße aber in Deutschland, von der von Foucault initiierten epistemologischen Wende profitiert. Foucault hinterfragt drei Begriffe: das Wissen, die Macht und den Diskurs. Sein Diskursbegriff ermöglicht, der linguistisch-strukturalistischen Immanenz zu entkommen und eine neue historische, gesellschaftskritische, nichtmarxistische Be-trachtung des Kunstwerkes vorzunehmen. Er zeigt, dass jede Epoche durch eine Reihe von Verhältnissen und Ordnungen zwischen den Wis-senschaften und den wissenschaftlichen Diskursen gekennzeichnet ist. Diese Strukturen nennt er »Episteme«. Die Episteme entscheidet, was eine Epoche denken darf oder nicht.78 In Gumbrechts theoretisch anspruchs-vollem Werk werden Zolas Romane sehr stark nach der Wissenskonfigu-ration, der Epistemologie seiner Zeit, rekontextualisiert, an ihr gemessen und als historische Dokumente neu aufgewertet.79 Gumbrechts These lautet: Die Rougon-Macquart und Zolas Programm entsprechen der Episte-me der Epoche.80 Diese Episteme ist einerseits durch eine neue Zeiterfah-rung gekennzeichnet,81 andererseits durch »zwei scheinbar entgegenge-setzte, in Wirklichkeit aber komplementäre Haltungen«: den Positivismus und eine neue Metaphysik.82 Gumbrecht geht mit seinen Auslegungen ______________________

78 Foucault sieht drei Epistemen. Die letzte, die moderne, die im 19. Jahrhundert zustande kommt, ist mit der Entstehung neuer historischer Disziplinen verbunden. Der Mensch übernimmt von diesem Zeitpunkt an die fragwürdige Doppelrolle von Subjekt und Objekt der Wissenschaften.

79 »Die folgende Abhandlung ist als Ansatz einer Neuinterpretation des Romanwerkes von Émile Zola konzipiert, welche gerade den Abstand zwischen unseren Verstehensvorausset-zungen und jenen Modi der Welterfassung herausstellen soll, die Zola in zahlreichen Pro-grammschriften als Grundlage seiner literarischen Produktion beschrieb, und die eine Pha-se in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts repräsentieren.« (Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, S. 10 f. [Anm. 76])

80 Küpper beurteilt Gumbrechts Analyse als ausgesprochen unhistorisch (»6. Zolas Ineinsset-zung von Roman und Science«, S. 128 [Anm. 74]), da für ihn Balzacs Comédie humaine be-reits Foucaults Episteme des 19. Jahrhunderts entspricht.

81 Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, S. 13 (Anm. 76). Es handelt sich um eine neue Zeiterfahrung, welche die Dissoziation in eine synchrone und eine diachrone Dimension möglich machte.

82 Ebd., S. 15 f. Das bestätigt Irene Albers: »Diese Dichotomie von Empirie und ›Tiefenme-taphysik‹ (Foucault) wird von der positivistischen Theorie insofern verdeckt, als sie die ›wirklichen Gesetze des Seins‹ (Comte) als etwas hinstellt, das aus der Beobachtung des Sichtbaren gewonnen werden kann. Es ist genau diese Ambivalenz, die sich in Zolas Ver-such niederschlägt, den Roman zugleich als Resultat einer reinen ›Beobachtung‹ von Wirk-lichkeit und als Inszenierung eines Wissens über deterministisch gedachte Kausalzusam-menhänge zwischen Milieu und Vererbung auf der einen Seite und individuellen bzw. sozi-alen Pathologien auf der anderen Seite zu begründen.« (Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Émile Zolas, München 2002, S. 190) Peter Müller vertritt die Ansicht, dass die Zola-Spezialisten (Lukács, Schober, Schalk), die das Programm als unausgereift verurteilen, diejenigen sind, die, egal ob marxistisch oder bürgerlich, auf einem traditionell ästhetischen Standpunkt beharren (siehe »Die Bedeutung der Wissenschaft im Denken Zolas und ihr Einfluß auf die Entfaltung einer originellen Weltsicht in seinen Romanen«, in: Französische

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weiter als Neuschäfer und ist der Ansicht, dass Zola seinen Lesern »ein-gängige neue Schemata zum Verständnis ihrer Lebenswelt«83 angeboten habe. Anders gesagt bestehe »Zolas Innovationsbeitrag zur Romanent-wicklung [...] in der Umsetzung wissenschaftlicher [positivistischer] Erfah-rungsschemata des 19. Jahrhunderts in einen neuen Typ des Romans«.84

Gumbrecht bedauert, dass Zolas Spätwerk nicht mehr durch eine »mythi-sierende Beschreibung der bestehenden Gesellschaft«85 erkenntnisför-dernd wirke, sondern nur noch utopisch sei. Für Gumbrecht geht es we-niger darum, Zolas Wissenschaft – wie Michel Serres86 und Alain de Lattre es tun87 – als richtig oder falsch zu beurteilen88 oder – wie die meis-ten Zola-Spezialisten – davon zu überzeugen, dass Zola sein Programm in seinem Werk überwunden hat. Ihm liegt vielmehr daran, auf der Meta-phernebene exemplarisch zu zeigen,89 welche grundlegende Rolle das doppelte Projekt – eine Naturgeschichte und die Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich – in der Poetik gespielt hat.90 Wenn auch Zola als einer der ersten versucht hat, individuelle Verhaltensweisen so-wohl mit biologischen als auch mit sozialen Faktoren zu erklären,91 konn-te er, so Gumbrecht, nur mit Mühe diesen doppelten Determinismus vermitteln. In seinen Augen gelingen Zola bessere Metaphern auf der synchronischen Ebene (Milieu/Kultur) als auf der diachronischen Ebene (Vererbung/Natur). Anders als in der DDR, wo Zola vorgeworfen wird, den biologischen Determinismus überbewertet zu haben, neigt Zola in den Augen der westdeutschen Forschung dazu, dem sozialen Determi-nismus gegenüber dem biologischen den Vorzug zu geben. ______________________

Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 2: Von Stendhal bis Zola, hrsg. v. Peter Brockmei-er/Hermann H. Wetzel, Stuttgart 1982, S. 209-244, hier: S. 210).

83 Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, S. 91 (Anm. 76). 84 Als Kommentar zu Gumbrecht siehe Schober, »Der junge Zola«, S. 60 (Anm. 2). 85 Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, S. 100 (Anm. 76). Er übernimmt Neuschäfers

Ausdruck. 86 »Je ne dis pas que la série des Rougon-Macquart, munie de son texte réflexif, constitue un

ensemble de résultats purement scientifiques. Je dis seulement, mais c’est énorme, que les thèses, la méthode et l’épistémologie que je découvre ici sont fidèles à ce qu’il y a de meil-leur, à ce que nous jugeons le meilleur, dans les travaux dits scientifiques de ce temps.« (Michel Serres, Feux et signaux de brume. Zola, Paris 1975, S. 39 f.)

87 Alain de Lattre, Le réalisme selon Zola. Archéologie d’une intelligence, Paris 1975. 88 Für Yves Malinas sind Zolas Irrtümer über Erbgesetze Irrtümer seiner Zeit. Im Bereich

der Genetik, der Neuropsychiatrie und der Wissenschaftsphilosophie überschreitet Zola trotz seiner Prägung durch die deterministische Ideologie der Zeit immer wieder die da-mals geläufigen Konzeptionen, besonders im psychoanalytischen Bereich. (Zola et les hérédi-tés imaginaires, Paris 1985, S. 217)

89 In manchen Fällen greifen, so Gumbrecht, Zolas Metaphern den gesicherten Einsichten der Wissenschaft voraus.

90 Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, S. 80 (Anm. 76). 91 Ebd., S. 41.

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Aurélie Barjonet 210

An Foucault knüpft auch Hans-Joachim Müller an,92 dessen Anliegen es ist, die Analysen Neuschäfers und Gumbrechts zu verfeinern.93 Er setzt sich sehr intensiv mit Zolas wissenschaftlichen Theorien auseinander, ohne allerdings neue Ergebnisse zu liefern. Im Gegensatz zu Gumbrecht bestreitet Müller, dass Zolas Familiengeschichte eine Dekadenzgeschichte sei, und spürt im Zyklus einen »optimistische[n] Grundton«.94 Laut Müller entwickelt Zola gegen den Pessimismus des Fin-de-siècle einen neuen, wachsenden Optimismus, der ein »exaktes [und optimistisches] Gegenbild zum Christentum« darstellt.95 Zola unterliege dem Einfluss einer »nivellie-rende[n] Beschwichtigungsideologie [...], in welcher positivistische Wissen-schaft, mythische Spekulationen und im Spätwerk ein Sozialismus à la Fourier zu einer Synthese verschmolzen werden, die zu einem paternalisti-schen Imperialismus führt.«96 Diese heute eher unbequeme Wende bei Zola, den Übergang von Sozialdarwinismus zu Patriarchat, interpretiert Müller als konform mit der protofaschistischen Ideologie seiner Zeit – wie bereits erwähnt eine simplifizierende Auslegung.

Ohne Rückgriff auf Foucault zeigt Peter Müller 198197 und 1982,98

dass die Romantheorie und das politische Denken Zolas stark in der Wis-______________________

92 Hans-Joachim Müller, »Zola und die Epistemologie seiner Zeit«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5 (1981), S. 74-102. In seiner 1977 veröffentlichten Dissertation nimmt Müller auf einigen Seiten Bezug auf Zola: Der Roman des Realismus-Naturalismus in Frankreich. Eine erkenntnistheoretische Studie, Wiesbaden 1977, S. 22-38.

93 Er wirft ihnen vor, »nur zwei Aspekte der Episteme des 19. Jh.s in ihre Überlegungen auf[zunehmen] (›histoire‹ im Sinne der Evolution und ›organisme‹ als ›déterminisme‹) [...], aber die entscheidende Frage nach den Bedingungen des Erkennens überhaupt, also der Rolle des Subjekts beim Erkenntnisprozeß weitgehend außer acht [zu lassen].« (Müller, »Zola und die Epistemologie seiner Zeit«, S. 75 [Anm. 92])

94 Ebd. 95 Ebd., S. 91. Zu diesen Fragen siehe auch Naturalismus/Ästhetizismus, hrsg. v. Christa Bür-

ger/Peter Bürger/Jochen Schulte-Sasse, Frankfurt a.M. 1979. Christa und Peter Bürger sind wie Neuschäfer Vertreter einer soziologischen Annäherung an Literatur, aber beein-flusst von Adorno. Sie stimmen im Falle Zolas nicht mit Neuschäfer überein, siehe z.B. Christa Bürgers Rezension von Neuschäfers Buch in Kritikon litterarum 5 (1976), S. 109-113, vor allem S. 112: »Je n’accepte pas l’évaluation que N. propose des romans de Zola, dont il veut qu’ils transcendent la trivialité en la soumettant à un but critique (progressif). Au cont-raire, je tiens à signaler l’ambiguïté des romans de Zola qui se manifeste dans une irrévo-cable discordance entre un sujet (ou des motifs) critique et une forme qui empêche le lec-teur de réaliser le contenu social des romans en l’incitant à la simple identification. Au ni-veau des techniques narratives cette discordance s’exprime par la juxtaposition incohérente de documentarisme et d’une technique de description faisant preuve d’une perception ma-gique de la réalité sociale. Le mythe moderne suggéré par les romans de Zola me paraît mettre en question la fonction critique (émancipative), soutenue par N.«

96 Müller, »Zola und die Epistemologie seiner Zeit«, S. 92 (Anm. 92). 97 Peter Müller, Émile Zola, der Autor im Spannungsfeld seiner Epoche: Apologie, Gesellschaftskritik

und soziales Sendungsbewußtsein in seinem Denken und literarischen Werk, Stuttgart 1981. 98 Müller, »Die Bedeutung der Wissenschaft« (Anm. 82).

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Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft 211

senschaft seiner Zeit verankert sind. Zola ist in seinen Augen Vertreter einer neuen Technokratie, deren ideologische Position durch das Ideal der Neutralität und der Unparteilichkeit gekennzeichnet ist. Müller wider-spricht dem und beurteilt einen solchen Standpunkt als nicht haltbar, da »seine Aufrechterhaltung selbst einer ›Ideologie der Ideologiefreiheit‹ [Ha-bermas] entspringt«.99 In seiner Hypothese übergeht Müller Zolas anti-intellektuelle Haltung, die sich z.B. in der Ablehnung von Eliten äußert.100

Zur Wissenschaft bemerkt Peter Müller, dass sie für Zola »nicht in erster Linie aus der genauen Kenntnis und Übernahme wissenschaftlicher Theo-rien und Erkenntnisse ihre Bedeutung [bezieht], sondern [daß sie] dort Wichtigkeit [erlangt], wo sie ganz allgemein sein Denken über die Gesell-schaft und sein Verhältnis zu ihr beeinflußt und verändert, also auf dem Gebiet der Philosophie, der Ethik und der Moral.«101 Das bestätigt die Ausgangshypothese, dass der Wissenschaftsdrang ein Wahrheitsdrang ist.

Rainer Warning hat sicherlich eine der fruchtbarsten Foucault-Lektüren von Zola geliefert. In einem erstmals 1990 veröffentlichten Arti-kel102 versucht Warning, »Zolas ›contre-discours‹103 gegen die Wissen-schaftsdiskurse der Zeit zu profilieren«.104 Mit diesem Foucaultschen Be-griff verfeinert er die bisherigen Ergebnisse der epistemologischen Lektü-re. Warning vermutet, »daß Foucault poetische Texte grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu diskursiv organisiertem Wissen, also zur ›Ordnung des Diskurses‹ sieht, als Freiraum neben und außerhalb von Machtdispositiven.«105 Die Texte der Rougon-Macquart zeugen für Warning nicht vom Wissenschaftspathos, sondern sind im Sinne Ecos eine »epis-

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99 Ebd., S. 212. 100 Zu dem Thema siehe z.B. David Baguley, »L’anti-intellectualisme de Zola«, in: Cahiers

naturalistes 42 (1971), S. 119-129. 101 Müller, Die Bedeutung der Wissenschaft, S. 210 (Anm. 82). Aufbauend auf Gumbrecht, ohne

ihn aber zu erwähnen, sagt Müller, dass Zola »in seinen Romanen durch die gestalterische Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Erklärungsmustern, die die Wis-senschaft seiner Zeit bereitstellt, Einsichten in die Realität der französischen Gesellschaft vermitteln kann, die z.T. wesentlich von den zu dieser Zeit im Bürgertum noch vorherr-schenden Meinungen abweichen.« (S. 214)

102 Rainer Warning, »Kompensatorische Bilder einer ›wilden Ontologie‹: Zolas Les Rougon-Macquart«, in: Poetica 22 (1990), S. 355-383. Die Verweise beziehen sich auf die überarbeite-te Fassung des Artikels in Die Phantasie der Realisten (Anm. 43).

103 »Or, tout au long du XIXe siècle et jusqu’à nous encore [...] la littérature n’a existé dans son autonomie, ne s’est détachée de tout autre langage par une coupure profonde qu’en for-mant une sorte de ›contre-discours‹, et en remontant ainsi de la fonction représentative ou signifiante du langage à cet être brut oublié depuis le XVIe siècle.« (Michel Foucault, Lesmots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, S. 58)

104 Warning, »Kompensatorische Bilder«, S. 242 (Anm. 43). 105 Rainer Warning, »Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang

mit Foucault«, in: Die Phantasie der Realisten, S. 313-345, hier: S. 317 (Anm. 43).

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Aurélie Barjonet 212

temologische Metapher«,106 d.h. »strukturelle Entscheidungen eines diffu-sen theoretischen Bewußtseins, [...] imaginative Reaktionen auf bestimmte [...] Wissenskonfigurationen«.107 Übereinstimmend mit Gumbrecht und in Abgrenzung zu Müller interpretiert Warning Zolas Geschichte des Kaiser-reichs als Geschichte einer Erkrankung des sozialen Organismus.108 Meh-rere Aspekte des Werkes werden ganz neu gelesen. So wird die Familie der Rougon-Macquart mit dem Königtum verglichen,109 eine Metapher, in der Wissenschaftspathos und Imaginäres zusammenfallen. Was Warning eine »wilde Ontologie« im Foucaultschen Sinne110 nennt, ist die episteme-typische »Erfahrung des Lebens als einer dunklen, dem ordnenden Be-wußtsein sich entziehenden Macht«.111 Bei Zola bewirke diese wilde On-tologie kompensatorische »Gewalt- und Untergangsphantasmen«112 bis hin zum Tod und erscheine in sexuellen Beziehungen113 oder räumlichen Konkretisierungen. Warning zeigt, wie

[…] Zolas Transgressionsphantasie die vitalistischen Diskurse seiner Zeit [stei-gert] bis hin zu dem Punkt, da sie umschlagen in Todesphantasmagorien, deren entfesselte Bildlichkeit genau das hereinspielt, was die Wissensdiskurse selbst ausgrenzen. Zolas Gewaltphantasien sind in diesem Sinne kompensatorisch be-zogen auf die Defizite eines harmonistischen Vitalismus. Gewiß darf eine solche Perspektive nicht jene optimistische Variante des Vitalismus verstellen, die sich schon in den Rougon-Macquart bemerkbar macht und die vor allem das Spätwerk

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106 Umberto Eco, Opera aperta: forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee, Milano ²1967, S. 151-159. Im Vorwort seiner Sammlung schreibt Warning in diesem Sinne: »Natürlich ist auch der literarische Text und also auch der realistische Roman einem je historischen Wis-sen verpflichtet, aber er bildet es nicht ab, ist vielmehr immer schon imaginative Reaktion.« (»Vorwort«, in: Die Phantasie der Realisten, S. 7-8, hier: S. 8 [Anm. 43])

107 Warning, »Kompensatorische Bilder«, S. 242 (Anm. 43). 108 Ähnlich später Föcking, Pathologia litteralis (Anm. 31). 109 Einen ähnlichen, jedoch dezidierteren Vergleich der Rougon-Macquart mit den Atriden hat

Henri Mitterand in einem Vortrag an der Freien Universität Berlin mit dem Titel »Li-re/Délire Zola« am 19.6.2003 unternommen.

110 Foucault, Les Mots et les choses, S. 291 (Anm. 103). 111 Warning, »Kompensatorische Bilder«, S. 244 (Anm. 43). 112 Ebd. 113 Ruth Schüch-Halas hat in einem Artikel gezeigt, dass der Wissensdurst bei Zola die Angst

vor der Sexualität oder vor dem Tod bändigen soll, dass für Zola also im Foucaultschen Sinne »Wissen« »Können« bedeutet (»Leib und Körper: dialogue entre scientisme et fiction«, in: Excavatio 12 (1999), S. 24-29, wiederaufgenommen in L’Écriture du féminin chez Zola et dans la fiction naturaliste/Writing the Feminine in Zola and Naturalist Fiction, hrsg. v. Anna Gural-Migdal, Bern 2003, S. 381-390). Allgemein berufen sich Zola-Spezialisten, ohne explizit auf Foucault zu rekurrieren, gern auf Zolas Willen zum Wissen, wenn es darum geht, ihn in der Naturalismus-Diskussion zu verteidigen – und das schon seit Ternois, der sich als einer der ersten für das Spätwerk interessierte, vgl. Anm. 1. Siehe z.B.: Patricia Carles/Béatrice Desgranges, »Émile Zola ou le cauchemar de l’hystérie et les rêveries de l’utérus«, in: Ca-hiers naturalistes 69 (1995), S. 12-32, hier: S. 14 gegen Positionen wie die von Jean Kämpfer, Émile Zola: d’un naturalisme pervers, Paris 1989.

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Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft 213

beherrscht. Aber mit der »folie« ist hier auch das zentrale Stimulans Zolascher Imagination verschwunden.114

In Anlehnung an Deleuze115 untersucht Warning, wie Zola in die Episte-me des Vitalismus ein destruktives Moment, einen »Mortalismus«, einge-führt hat. Warning betreute auch Elke Kaisers Dissertation, die mit dem gleichen theoretischen Gerüst die deutlich foucaultorientierte Frage nach Wissen und Erzählen bei Zola116 untersuchte.

Schließlich haben neuerdings zwei Literaturwissenschaftler eine Art Wissenschaftsgeschichte durch literarische Werke geliefert. Beide beschäf-tigen sich mit Zola. Marc Föcking117 liest einige Romanstellen mit den Augen des Savant wie wissenschaftliche Studien, um die Interdependenz der beiden Diskurse zu zeigen und ihre Kontakte definieren zu können. Allerdings wirkt diese Lesart irritierend, da es sich trotz aller Zeitgebun-denheit doch um Literatur handelt.118 Frank Wanning hingegen trennt Wissenschafts- und Literaturgeschichte voneinander. Er untersucht Zolas Poetik im Vergleich zu Balzac und den Goncourt und greift das seit lan-gem bekannte Problem der unausgereiften Ästhetik Zolas auf.119 Zola habe versucht, den Widerspruch zwischen unmittelbarer Erfahrung und kohärenzbildender Abstraktion, zwischen Subjektivität und Objektivität, durch eine »wissenschaftliche Hermeneutik«120 zu überwinden. Leider bringt dieser neue Terminus die Reflexion nicht wesentlich weiter. Fö-cking analysiert die Entwicklung biologischer und medizinischer Erzähl-modelle in der französischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts. Er erklärt, sich an Warning und Kaiser zu orientieren und Wissen nicht nur als »Reservoir [...] zur Wirklichkeitsmodellierung der erzählten Welt, son-dern auch als Modell für dieses Erzählen selbst«121 zu betrachten. Die Romane Zolas misst er an zwei Diskursmodellen: am Diskurs von Lucas ______________________

114 Warning, »Kompensatorische Bilder«, S. 245 (Anm. 43). In einem Vergleich von Germinalund Travail bemerkt Henri Mitterand: »Un mythe de rédemption succède aux mythes de saccage, de sang et de mort.« (La révolte et l’utopie, S. 155 [Anm. 43])

115 Auch Lotmans Einfluss ist nicht zu leugnen. 116 Elke Kaiser, Wissen und Erzählen bei Zola: Wirklichkeitsmodellierung in den ›Rougon-Macquart‹,

Tübingen 1990. 117 Föcking, Pathologia litteralis (Anm. 31). 118 Eine ähnliche Methode hat Monika Dorothea Kautenburger ihren Arbeiten zugrunde

gelegt: Vom ›roman expérimental‹ zum ›roman psychologique‹, Frankfurt a.M. 2003. Um die Inter-dependenz von roman expérimental und roman psychologique und letzten Endes eine literaturge-schichtliche Entwicklung aufzuzeigen, analysiert sie »medizinische« Passagen ausgewählter Romane und überprüft sie auf ihre Richtigkeit.

119 Frank Wanning, »Zur wissenschaftlichen Hermeneutik der ›fantaisie du vrai‹: Émile Zola«, in: Gedankenexperimente. Wissenschaft und Roman im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1999, S. 238-270.

120 Ebd., S. 252 f. 121 Föcking, Pathologia litteralis, S. 314 (Anm. 31).

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über hérédité und vor allem am Diskurs Morels über dégénérescence.122 Auch Föcking führt Zolas Irrtümer in diesem Bereich auf die Wissenschaften der Zeit zurück.123 Im Unterschied zu Warnings kompensatorischen Bil-dern sieht Föcking Zolas Rückgriff auf das auktoriale Erzählen als Akt, epistemologische Schwäche zu kompensieren.

Der wissenschaftliche Aspekt bei Zola hat in der deutschen Zola-Rezeption einen besonderen Stellenwert. Während Zola vom idealisti-schen Deutschland des 19. Jahrhunderts wegen seiner angeblichen Wis-senschaftlichkeit, die man für einen künstlerischen Rückfall in bloße Nachahmung hielt, zurückgewiesen wurde, erlebte er gerade unter diesem Aspekt in der westdeutschen Forschung der Siebzigerjahre eine Renais-sance. Langsam versteht die Forschung, dass die Wissenschaft, insbeson-dere in den Rougon-Macquart, mit der Fiktion und nicht etwa gegen sie arbeitet. Denn weder die wissenschaftliche Dokumentation noch der wis-senschaftliche Diskurs behindern Zolas Phantasie, sondern beleben sie ganz im Gegenteil. Die Renaissance in der BRD beginnt mit Neuschäfer, der die »Wissenschaftlichkeit« Zolas bezogen auf die Wirklichkeitsdarstel-lung problematisiert und den Wahrheitsgehalt im Sinne Schobers prüft. Der erste Foucault-Ansatz in Deutschland stammt von Gumbrecht, ge-folgt von H. J. Müller. Warning124 und Kaiser ergänzen in den 1990er Jahren die epistemologische Lektüre durch eine diskursanalytische, immer noch mit Foucault, aber auch mit Eco. Die Literatur wird als ein besonde-rer Diskurs hervorgehoben, der teils direkt, teils indirekt die Wissenschaft seiner Zeit widerspiegelt (vgl. Fiktion als »contre-discours« im Sinne Fou-caults, als »epistemologische Metapher« im Sinne Ecos, als »bestimmte Inszenierungen einer gegebenen Episteme« im Sinne Warnings).125 Die neuesten epistemologischen Lesarten weisen meines Erachtens leider einen Rückschritt auf, weil sie Zolas Werk nicht literaturbezogen wie Warning, sondern wissenschaftsbezogen betrachten.126

Sicher stehen sich in der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskus-sion nicht mehr Zola-Befürworter und Zola-Gegner gegenüber. Das Feld ______________________

122 So ist z.B. der Stammbau der Rougon-Macquart nach zwei – bereits bei Morel untersuchten – Prinzipien modelliert: die »diachrone, kegelförmige Verbreiterung mit sich verjüngender Spitze« und die »pathologische Akkumulation« (ebd., S. 315 und 316).

123 Ebd., S. 321. 124 Es sei angemerkt, dass sowohl Neuschäfer als auch Gumbrecht und Warning Schüler von

Hans Robert Jauß sind. Jauß allerdings schätzte Zola nicht besonders. (siehe Hans-Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ›À la recherche du temps perdu‹. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, Heidelberg 1955, S. 30)

125 Warning, »Kompensatorische Bilder«, S. 242 (Anm. 43). 126 »Befunde der Wissensarchäologie [dürfen] nicht kurzschlüssig in die Interpretation literari-

scher Texte eingebracht werden«, so Warning, ebd., S. 242.

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bleibt dennoch zweigeteilt.127 Einerseits wird die Meinung vertreten, Zolas Werk sei trotz seines wissenschaftlichen Programms wertvoll. Es ist die berühmte umstrittene These der »zwei Zolas«, des Dichters auf der einen, des Theoretikers auf der anderen Seite,128 die Kuczynski oder Lepenies vertreten: »Wenn Zola als Romancier erfolgreich war, war er es trotz und nicht wegen seiner ›physiologischen‹ Theorie des Romans.«129

Auf der anderen Seite tolerieren die von Foucault beeinflussten Analy-sen130 Zolas Theorie, indem sie Theorie und Werk nicht in direkter Ab-hängigkeit voneinander sehen, sondern nur einige Konvergenzen her-vorheben131 und die Theorie als Metapher einordnen. Ausgehend von Neuschäfers und Gumbrechts Analysen zum Metaphernreichtum Zolas wird die Metapher sowohl auf der Ebene des literarischen als auch auf der des theoretischen, des »wissenschaftlichen« Diskurses immer mehr als Hauptbestandteil von Zolas Imaginärem rezipiert. Foucaults Begriff der Episteme ermöglicht eine historische Betrachtungsweise, die es erlaubt, Zolas Programm nicht mehr als Problem, sondern als Projekt einer be-stimmten Zeit zu analysieren. Diese epistemologische Wende brachte in der internationalen Forschung Ausdifferenzierungen und insbesondere

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127 Diese Richtungen fasst Föcking wie folgt zusammen: »Erst seit Ende der siebziger Jahre hat das exklusive Entweder-Oder einem Sowohl-Als auch in der Zola-Diskussion Platz gemacht, das den ›Romantiker‹ mit dem ›Szientisten‹ Zola zu versöhnen sucht.« (Rezension zu Martin Braun, Émile Zola und die Romantik – Erblast oder Erbe?, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 104 (1994), S. 299-303, hier: S. 300)

128 Eckhard Höfner schreibt dazu: »In solchen Auffassungen steckt eine wohl letztlich roman-tisch inspirierte Kunstideologie, die gerade das Nicht-Wissenschaftliche als konstitutiv für Dichtung erklärt, und ebenso eine ungenaue Lektüre der Zola’schen kunsttheoretischen Schriften.« (Literarität und Realität: Aspekte des Realismusbegriffs in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1980, S. 236; siehe seine Zola-Kapitel: S. 97-101 und 217-237)

129 Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., 1976, S. 127. Dieser Meinung ist anscheinend auch Foucault selbst: »Zola de ce point de vue [l’histoire de l’intellectuel occi-dental] est très significatif: c’est le type de l’intellectuel ›universel‹, porteur de la loi et mili-tant de l’équité, mais il leste son discours de toute une référence nosologique, évolution-niste, qu’il croit scientifique, qu’il maîtrise d’ailleurs fort mal et dont les effets politiques sur son propre discours sont très équivoques.« (»Vérité et pouvoir«, in: L’Arc 70 [1977], S. 16-26, hier: S. 24)

130 Alle von Foucault inspirierten Analysen besagen, dass Zolas Theorie der Episteme der Zeit entspricht. Versuche wie der von Martin Braun aus dem Jahre 1993, die Ambiguität Zolas zu regeln, indem Romantik mit Naturalismus versöhnt wird, stößt aufgrund dieser neuen epistemologischen Ansätze kaum noch auf Interesse: Martin Braun, Émile Zola und die Ro-mantik – Erblast oder Erbe? Studium einer komplexen Naturalismuskonzeption, Tübingen 1993. Dazu kommt das bereits erwähnte Problem, dass Zola selbst nicht zwischen réalité und véri-té unterschieden hat.

131 Dafür plädiert Henri Mitterand, »Une archéologie mentale: Le Roman expérimental et La Fortune des Rougon«, in: Le Discours du roman, Paris 1980, S. 164-185, hier: S. 165 (erstmals veröffentlicht in Revue de l’Université d’Ottawa, 1978).

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eine neue Terminologie mit sich, die es erlaubt, die Beziehung von Wis-senschaft und Imaginärem bei Zola besser zu beschreiben.132

Will man schließlich wie Gérard Dessons in seinem in diesem Band veröffentlichten Beitrag133 das poetische Wissen als désavoir definieren oder es, wie andere Autoren in diesem Band, als dissidentes, alternatives Wissen auffassen,134 dann muss das originelle Verfahren betrachtet wer-den, wodurch Zolas wissenschaftliches Wissen in der Kritik erst aus sei-nem Werk »désu« (ent-wusst), sprich »délu« (ent-lesen)135 wurde, um dann als konstitutives, im übertragenen Sinne dissidentes Wissen zurückzukehren.

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132 Hier einige Beispiele: »la science nourrit d’abord les fantasmes« (Philippe Dufour, Le réalisme, Paris 1998, S. 133); »le discours scientifique est heureusement subverti par le fan-tasme et la mythologie« (Colette Becker/Gina Gourdin-Servenière/Véronique Lavielle, »Science«, in: Dictionnaire d’Émile Zola, Paris 1993, S. 388-390, hier: S. 389) oder: »Zola ne demande pas tout à la science, et il ne faut pas chercher chez lui que la science; il faut sur-tout y chercher l’art, l’art qui se sert de la science comme prétexte« (Kelly Basilio, »Zola et la Science: une esthétique et une poétique«, in: Émile Zola Centenary Colloquium 1893-1993 (London, 23-25 September 1993), hrsg. v. Patrick Pollard, Institut Français du Royaume-Uni & Birkbeck College 1993, S. 135-141, hier: S. 139).

133 Siehe oben, S. 53-64. 134 Ähnlichkeiten hierzu weist Dubois’ These der intuitiven Rolle von Wissen in der Fiktion

auf, wie er sie am Beispiel von Zolas soziologischem Anspruch formuliert hat. Zusätzlich zu oder gar trotz der Rolle, zu der Zola sich bekennt, vertritt Dubois die Ansicht, dass »der Roman mehr weiß als sein Autor, dass das gespendete Wissen sich sowohl offenbart als auch sich versteckt«. (»Cela revient à dire que le roman en sait plus que son auteur, que le savoir qu’il dispense est tout ensemble apparent et caché [...].« [Jacques Dubois, »Zola et les sciences humaines«, in: Excavatio 19, 1-2 (2004), S. 171-184, hier: S. 174])

135 Bezeichnenderweise wurde das große Zola-Kolloquium anlässlich seines 100. Todestages Lire/Dé-lire Zola genannt; vgl. die daraus resultierende Publikation: Lire/Dé-lire Zola, hrsg. v. Jean-Pierre Leduc-Adine/Henri Mitterand, Paris 2004.

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IV. Evolutionstheorie und Wissen vom Ding. Das frühe 20. Jahrhundert in den USA und

Deutschland

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HEIKE SCHÄFER

Choosing to Evolve: Evolutionary Theory, Pragmatism, and Modernist American Poetry

For anyone interested in the dynamics of exchange between the natural sciences and literature, the reception of Darwinism proves a treasure-trove. Darwinism instigated a paradigm shift not only in the natural sci-ences but has exerted a tremendous influence on the literary imagination since it began to migrate from its scientific habitat to other cultural areas. For the past 150 years, evolutionary theory has been claimed and rejected in the context of such diverse cultural projects as naturalism, Social Dar-winism, pragmatism, creationism, and posthumanism. In the United States it continues to this day to be the subject of heated debates and legal bat-tles. Many Americans still prefer creationist beliefs to Darwinian theory.

This essay traces some of the multifaceted philosophical and literary responses to evolutionary theory. It explores how American writers in the late nineteenth and first half of the twentieth century responded to Dar-win’s model of evolutionary change. My argument unfolds in the three stages indicated by the title of my paper: First, I outline which cultural and religious significance Darwin’s contemporaries attributed to evolutionary theory. I briefly consider how naturalist and natural history writers at the turn of the century reacted to the dissolution of pre-Darwinian certainties, before I examine, in a second step, the pragmatist appropriation of Dar-winism by the American philosopher John Dewey. Dewey drew on evolu-tionary logic to argue that such different cultures of knowledge and ex-pression as science, philosophy, and literature share a common purpose – they advance the development of human potential by expanding our ca-pacity for reciprocal interactions with one another and our environment. To help us negotiate the demands of the situations we encounter, Dewey reasoned, our different ways of understanding have to converge in an experiential mode of knowledge which is at the same time specific, provi-sional, and relational. Such an integrative form of knowledge, he insisted, would offer us the best possibility for individual development and help to transform American society into a participatory democracy. Dewey’s ex-periential concept of scientific inquiry and aesthetic expression, then, pro-

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vides the framework for my analysis of modernist poetry in the third part of this essay. I read the poetry of Wallace Stevens and William Carlos Williams through the lens of pragmatist evolutionary thinking to bring the processual and relational logic of their poems into focus. The poems fore-ground processes of perception and signification to explore how different modes of seeing and saying affect our capacity to participate in the world. Asking which relevance literary expression holds for our ceaseless en-gagement with environing forces, the poems bear out Dewey’s conviction that a fusion of the literary and scientific imagination carries the potential for cultural innovation. “Only imaginative vision,” Dewey reminds us in Art as Experience, “elicits the possibilities that are interwoven within the texture of the actual” (p. 345).

The Reception of Darwinism in the United States

To put the twentieth-century responses of the pragmatists and modernists into historical perspective, I begin with a brief sketch of the reception of Darwinism in the United States. When Charles Darwin published On the Origin of Species in 1859 and The Descent of Man in 1871, he offered a scien-tific theory that profoundly changed the way people thought not only about nature but about themselves and their place in the world. Darwin offered a systematic explanation of how life forms had evolved and con-tinued to develop. He argued that speciation, the development of life into distinct species of increasingly complex organisms, had occurred and con-tinued to occur and that the principle controlling these transformations was natural selection.1 According to Darwin, life developed through adap-tation and variation towards more complexity. As he summarized his claim in the last sentence of The Origin of Species, “whilst this planet has gone cycling on according to the fixed law of gravity, from so simple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been, and are being, evolved” (p. 463).

Darwin’s assertion sounds rather innocuous. Why would such a sta-tement cause major cultural debates? One reason why Darwin’s theory scandalized the Victorian public was that it clashed with the Christian account of creation and the study of natural history in the tradition of

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1 The argument for natural selection runs roughly like this: more organisms exist than can survive. In trying to ensure their survival, the organisms adapt to circumstance. In the process of this adaptation random variations arise. These variations, if they prove to have survival value, are passed on to ensure the flourishing of the next generation.

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natural theology.2 Whereas earlier scientists, such as William Paley or Louis Agassiz, had studied the natural world in order to reveal its divine origin and order, Darwin claimed that evolution occurred independently of a divine groundplan. Rather than set out to prove that the world was created once and for all by God, given and unchanging, Darwin suggested that variation happened randomly and that evolutionary change had no predetermined telos. When he broadened his argument in The Descent of Man and integrated humans into a unified system, into a single tree of life, his theory hit too close to home (cf. Moore).

For Darwin’s nineteenth-century readers, evolutionary thought caused anxieties about the origin, character, and destiny of humanity. If the world was not created and permanently structured by God and if humans did not enjoy a privileged position in a Great Chain of Being, then who was in charge and what was the fate of humans? People were afraid that the natu-ral world, once severed from its sacred foundation, was amoral, arbitrary, and cruel (Mighetto, p. 35). Since Darwinism demoted humans to being part of a changing natural order, it posed a challenge not only to religious belief systems but also put pressure on secular conceptions of subjectivity, history, and culture. If people shared common ancestors with simians, they might share other characteristics too. Darwin’s contemporaries feared that people would turn out to be brutes driven by base desires and mate-rial needs rather than benign morals or enlightened ideals, or that they were doomed to fall prey to the impersonal and indifferent forces of their natural or social environments. For Darwin’s early readers, his evolution-ary model left little room for the belief in either salvation or the autonomy of a free-willing mind.

As literature is apt to do, it contributed and responded to this cultural upheaval. It took up the anxieties readily afloat in dominant culture and examined the implications of the new world view. A well-known case in point is the emergence of literary naturalism in Europe in the 1880s and in the United States in the 1890s. The fictional worlds of the naturalists are populated by characters that are determined by instinct, desire, and larger natural or cultural forces. In works like Stephen Crane’s Maggie: A Girl of the Streets (1893), Theodore Dreiser’s Sister Carrie (1901), or Frank Norris’s McTeague (1899), the social environment, heredity, desire, or fate exert forces that cancel out the human capacity for self-determination and voli-tion (cf. Howard).

While the naturalists frequently depicted human protagonists that seem overdetermined, sometimes to the point of resembling degraded ______________________

2 I am grateful to Suzanne Clark at the University of Oregon, Eugene, who is currently working on a book about “the natural history of modernism,” for first pointing out to me the scientific context and cultural ramifications of Darwin’s theory.

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animals, the authors of natural history writing took just the opposite cour-se and reimagined nature as a stable moral universe. They projected on the natural world Christian values and Victorian social norms. Hence we find texts like Ernest Thompson Seton’s The Natural History of the Ten Com-mandments (1907), which argues that animal behavior is governed by bibli-cal law, or William Long’s School of the Woods (1903). In this collection of stories, Long describes animals that educate their offspring in “interesting little wild kindergardens” and that act so nobly and wisely that they instill in human observers a desire “for some measure of their freedom, their strength of play, their joyfulness” (p. 18). The stories highlight coopera-tion and knowledge rather than competition and instincts (cf. Mighetto, p. 40). Not surprisingly, the soothing portraits of animal intelligence and morality were immensely popular.

Yet in order to assuage fears about nature as an immoral and threaten-ing force, the tales had to be passed off as scientifically accurate accounts. When the authors claimed factual veracity, the very first American debate on the scientific standards of popular science writing erupted. This so-called nature faker debate was a matter of great public interest during the years 1903 to 1907. It involved such illustrious figures as John Burroughs, Jack London, and the president, Theodore Roosevelt, who demanded a ban on “deliberate or reckless untruth” in natural history writing (qtd. in Lutts, p. 130).

While the nature faker debate never rekindled, the underlying question – to which extent the scientific, the religious, the moral, and the aesthetic imagination may complement, augment, restrain, or invalidate one another – has continued to linger. Especially the unease about the religious impli-cations of Darwinism has persisted in certain segments of American soci-ety. Because evolutionary theory posits a world of continuous but random change without a first or final cause, it is felt to rupture orthodox Chris-tian belief and to induce a sense of existential uncertainty. Hence a major-ity of Americans continue to dismiss Darwinian evolutionary theory. In a recent nationwide poll, 45 percent of the respondents agreed that “God created human beings pretty much in their present form at one time within the last 10,000 years or so.”3 Another 37 percent of the interview-ees opted for the assertion that evolution happens with God guiding the process. This compromise, which is compatible with the Vatican’s posi-tion, aptly has been characterized by John Dewey as an argument for “de-sign on the installment plan” (“Influence,” p. 12). Only 12 percent of the participants accepted the notion of evolutionary processes without qualifi-______________________

3 The Gallup poll was conducted in February 2001. The figures have remained almost con-stant in the last two decades as comparisons with earlier surveys show (“Gallup Poll,” “Was Darwin Wrong?”).

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cation. The rejection of evolutionary theory is sufficiently widespread among Americans to inform educational policies. In response to the pro-tests of creationists and ‘intelligent design’ advocates, several States have considered either withdrawing evolution as a subject from the scientific curriculum of their high schools or adding material on creationism.4 In a recent survey the science standards of nineteen States regarding the teach-ing of evolution were classified as unsatisfactory, useless, or even disgrace-ful (“Science Standards”).

In sum, evolutionary theory has been and continues to be embattled in American culture because it provides a scientific basis for arguments in favor of flexibility and change rather than essences and fixed design. Whether we listen to the arguments of the current creationists, ponder the fears of Darwin’s contemporaries, visit the deterministic universes of the naturalists, or read the sentimentalized portraits of animal morality by the nature fakers, we find a common source of anxiety – the notion that we inhabit a world in flux, without final cause but shot thorough with contin-gency. The idea that we do not occupy a privileged position in this world but are subject to environmental influences and the evolutionary proc-esses of adaptation, variation, and selection, is perceived as a threat.

Yet this is only one way of responding to evolutionary theory. From our current postmodern perspective, it seems hardly surprising that other thinkers and writers would turn to Darwinism and regard its nonteleologi-cal model of a world in change as holding a liberatory promise. A case in point is the pragmatist appropriation of Darwinian evolutionary theory by John Dewey, who was born the very year On the Origin of Species was pub-lished.

Dewey’s Pragmatist Appropriation of Evolutionary Theory

Dewey’s pragmatist response to Darwinism is highly relevant in our con-text because Dewey applied the paradigm of evolutionary change to all fields of his philosophical inquiry – to questions of knowledge, ethics, politics, and aesthetics. Rather than think of science, philosophy, and the

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4 While the proponents of ‘intelligent design’ posit an intelligent cause behind the diversity of life, they differ from creationists in that they do not identify this cause with God. A prominent advocate of ‘intelligent design’ is the current president of the United States, George W. Bush. His recent suggestion that ‘intelligent design’ be taught in high schools alongside evolutionary theory caused a minor stir in American publications. Bush’s Science Adviser, John Marburger, was quick to point out that the president had merely meant to suggest that the controversy about evolution should be taught (“More on President Bush’s Remarks”).

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arts as generating incompatible kinds of knowledge, Dewey insisted on the convergence of their ways of understanding and describing the world. Hence his work offers us a sustained reflection on how the scientific, philosophical, and literary imagination may meet.

As a philosopher Dewey was primarily interested in the challenge that Darwinism posed as a “mode of thinking” to established ideas and meth-ods of inquiry (“Influence,” p. 2). For Dewey, the major achievements of evolutionary theory were its foregrounding of change and interactive processes unfolding in specific contexts and its refutation of stasis, es-sences, and “atomistic individualism” (“Philosophy and Democracy,” p. 52). He sums up the cultural significance of Darwin’s work in his essay The Influence of Darwinism on Philosophy (1909), which he wrote in honor of the 50th anniversary of the publication of On the Origin of Species:

In laying hands upon the sacred ark of absolute permanency, in treating the forms that had been regarded as types of fixity and perfection as originating and passing away, the “Origin of Species” introduced a mode of thinking that in the end was bound to transform the logic of knowledge, and hence the treatment of morals, politics, and religion. (“Influence,” p. 1-2)

In the wake of evolutionary theory, Dewey maintains, philosophy has the responsibility to cease “inquiry after absolute origins and absolute finalities in order to explore specific values and the specific conditions that gener-ate them” (“Influence,” p. 13).

Dewey uses Darwinism, in other words, to lend scientific authority to his call for a general reorientation of philosophy in the direction of prag-matism. For what is at the core of pragmatism if not the inquiry of “spe-cific values and the specific conditions that generate them”? Pragmatism, after all, is mainly concerned with the concrete consequences that specific assumptions have within particular situations. From a pragmatist perspec-tive, ideas are valuable insofar as they inform and direct our actions, and it is only after we have acted, in hindsight, that we can assess their value. Hence thinking processes are seen to function primarily to solve prob-lems,5 and knowledge serves as our “partial and incomplete” guide vis-à-vis “a future which cannot be known, but only speculated about and re-solved upon” (Dewey, “Philosophy and Democracy,” p. 48). Put another way, instead of asking whether something is true in principle, pragmatists inquire which decisions and actions our knowledge inspires. “What new responsibilities does this knowledge impose? To what new adventures ______________________

5 This idea has re-entered the life sciences. Cognitive psychologists argue that our mind works not in the abstract but functions in the context of specific tasks. They maintain that our consciousness consists of specialized modules or “highly domain-specific cognitive mechanisms” that help us, for instance, to recognize faces or traverse spaces (Boyd, p. 7, 9).

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does it invite?” (“Philosophy and Democracy,” p. 47). In conceiving in-formation and ideas as tools that help us navigate specific situations, that allow us to conjecture which behavior or attitude may yield the most be-neficial results under the current albeit already changing conditions, De-wey stresses the pragmatic and the provisional, the relational and the transformative character of knowledge.

For Dewey, our contacts with the world around us – the changes that we initiate and live through as we interact with our surroundings – form the matrix of our thoughts. Rather than think of the intellect as an inde-pendent agent that acts in isolation from our ongoing corporeal engage-ment with specific situations, Dewey envisions cognition as an experiential process. “Mind is primarily a verb,” he quips in Art as Experience to em-phasize that consciousness is not an autonomous entity, as the noun would suggest, but a power and agency that unfolds in response to envi-roning forces (p. 263). Taking up Darwin’s argument that life forms en-sure their survival and flourishing by adapting to circumstance, Dewey describes cognitive processes as adaptive responses to changing situations and settings. We gain knowledge experientially, he asserts, as we strive to align ourselves with a world that accommodates yet also resists us.

All deliberate action of mind is in a way an experiment with the world to see what it will stand for, what it will promote and what frustrate. The world is tolerant and fairly hospitable. It permits and even encourages all sorts of experiments. But in the long run some are more welcomed and assimilated than others. (“Philoso-phy and Democracy,” p. 48-49)

The shift in focus from the permanent to the provisional, from essence to process, from the general and abstract to the specific and situated, from thought to experience represents for Dewey not merely an epistemological position. Instead, it signals an attitude that possesses distinct social and political implications. As Dewey points out, to solve any problem at hand, we need to pay attention to the concrete and muster the courage to test ceaselessly whether our ideas help us to respond adequately to the situa-tions we encounter or whether the world defies us and we need to try a different course of action. In the wake of evolutionary theory, Dewey insists, our commitment needs to shift

[…] from an intelligence that shaped things once and for all to the particular in-telligences which things are even now shaping; [it] shifts from an ultimate goal of good to the direct increments of justice and happiness that intelligent administra-tion of existent conditions may beget and that present carelessness or stupidity will destroy or forego. (“Influence,” p. 15)

For Dewey, the search for absolutes indicates a desire to sidestep one’s responsibility. It signals an attempt to shift the burden of problem solving to the “shoulders of the transcendent cause” and thus to evade being held

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accountable for one’s decisions and actions (“Influence,” p. 17). By con-trast, to think of meaning as particular and conditional, as created within specific contexts and as grounded in individual experiences is to accept one’s responsibility. It is an attitude that enhances one’s ability to act pur-posefully and reciprocally.

Dewey promotes a pragmatist turn not only for the sake of rejuvenat-ing philosophy as an academic discipline, then. Rather, he seeks to ad-vance a larger cultural and political project – the restructuring of American society into a participatory democracy. What Darwin’s first critics and today’s creationists perceive as a horror, Dewey presents as the precondi-tion of both individual liberty and egalitarian social relations. For him a world that always remains incomplete, “a universe in which there is real uncertainty and contingency, a world which is not all in, and never will be” offers the possibility for fullest participation (“Philosophy and De-mocracy,” p. 50). If we view the world as given and unchanging, Dewey reasons, we severely delimit our possibility to contribute in meaningful ways to its order. But if we envision the world as continually emerging and evolving, we open up opportunities to participate in this ceaseless becom-ing, to direct change and to be transformed in the exchange.

In arguing for the formation of a genuinely democratic American so-ciety from a pragmatist position steeped in Darwinian thought, Dewey has to tackle the difficult task of employing evolutionary logic without trans-lating cultural dynamics and politics back into biology. “Nature has no end, no aim, no purpose,” he announces in Ethics and Physical Science(1887). “There is change only, not advance towards a goal.”6 Although Dewey is concerned with the ways in which biological necessities inform cultural practices and enable individual and collective development, he stresses that the adaptive responses of humans differ from those of other animals in that they have become conscious and intentional. In his essay Evolution and Ethics (1898), he points out: “That which was unconscious adaptation and survival in the animal […] is with man conscious delibera-tion and experimentation” (qtd. in Westbrook, p. 70). Unlike the Social Darwinists, Dewey does not view humans, social groups, or political enti-ties as organisms that evolve under consistent natural laws. He does not believe in a kind of cultural or social heredity and a corresponding natural hierarchy of fitness among humans. He is not interested in presenting democracy as superior to other cultural or political systems because of an innate evolutionary trajectory.

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6 Qtd. in Westbrook, p. 32. Dewey wrote this essay at a time when he still was highly critical of attempts to apply evolutionary thinking to the social realm. For a thorough account of Dewey’s intellectual development, see Westbrook.

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When Dewey argues for the democratization of American culture on the basis of the philosophical implications of Darwinism, he gauges the relative merit of different forms of social and political organization in terms of their capacity to foster the flourishing of individual lives. He privileges democracy because he envisions it as the social environment that most fully allows people to experiment on the level of personal and embodied experience with different modes of individual development and communal interaction. In Creative Democracy – The Task Before Us (1939), he defines democracy accordingly as “the belief in the ability of human ex-perience to generate the aims and methods by which further experience will grow in ordered richness” (p. 229). Dewey appraises democracy as an ongoing social process that facilitates the constructive and cooperative unfolding of human potential. He is interested in democracy as an evolv-ing “mode of associated living, of conjoint communicated experience” rather than as a form of government whose laws and institutions remain extraneous to the concerns and experiential processes of daily life (Democ-racy and Education, p. 93). The aim of democracy, he asserts, is the “crea-tion of a freer and more humane experience in which all share and to which all contribute” (“Creative Democracy,” p. 230).

For Dewey one form of cultural practice that significantly enriches the quality of democracy as an individual and collective “way of life” (“Crea-tive Democracy,” p. 226) is aesthetic experience. Because art offers a de-liberately focused and intensified form of experience, it may sharpen our awareness of the processes through which we continually and often rou-tinely adjust to the world around us. Dewey elaborates the argument in Art as Experience, his work most specifically concerned with aesthetics:

Tangled scenes of life are made more intelligible in esthetic experience: not, how-ever, as reflection and science render things more intelligible by reduction to con-ceptual form, but by presenting their meanings as the matter of a clarified, coher-ent, and intensified or “impassioned” experience. (Art as Experience, p. 290)

According to Dewey, art provides a medium in which to reflect on previ-ous experiences and to explore yet unrealized options. In expanding the range of our imagination, emotions, and actions, aesthetic experience may augment our individual lives and facilitate the extension of our intersub-jective relations. Since it allows us “to share vividly and deeply in mean-ings to which we had been dumb,” it may help us overcome “barriers that divide human beings, which are impermeable in ordinary association” (Art as Experience, p. 244). While Dewey attributes this egalitarian impulse to all art forms, he considers it particularly pertinent for the cultural work that literature can perform due to its language-based communicative character (p. 244).

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Applying evolutionary logic to the field of aesthetics, Dewey describes the production and reception of art, including the writing and reading of literary texts, as concentrated forms of experience that help us to continu-ally readjust ourselves to our social and biophysical environments. Since aesthetic experience allows us to experiment with and to reflect on the processes through which we enter, absorb, and transform shifting situa-tions, it deepens our engagement with the internal and external realities we generate and encounter. To the degree that art enhances our experiential knowledge of the world, Dewey contends, it helps us “to meet the impact of surrounding forces, to meet so as to endure and to persist, to extend or expand through undergoing the very forces that, apart from its response, are indifferent and hostile” (Art as Experience, p. 212).

To summarize, Dewey uses evolutionary thinking to redefine in prag-matist and democratic terms the personal and communal functions of science, philosophy, and the arts. For Dewey these different fields of in-quiry, experience, and expression can be equally “useful in the ultimate degree” if they contribute “directly and liberally to an expanding and en-riched life” (Art as Experience, p. 27). Convinced that the drifting apart of increasingly specialized ways of knowing interferes with the democratic rebuilding of American society and the development of human potential at large, Dewey calls for an intensified exchange between science, philoso-phy, and aesthetics. In Reconstruction in Philosophy (1920), he asserts: “Surely there is no more significant question before the world than this question of the possibility and method of reconciliation of the attitudes of practical science and contemplative esthetic appreciation” (p. 109). Dewey’s work can be read, then, as an effort to create a synthesis of different forms of knowledge. By integrating evolutionary, pragmatist, democratic, and aes-thetic thinking, Dewey’s writing promotes and exemplifies the possibility that diverse modes of knowledge and signification can converge in cultur-ally innovative and productive ways.

Modernist Poetry and Pragmatist Evolutionary Thinking

How did the poets contemporaneous with Dewey respond to the new ways of seeing and knowing engendered by evolutionary thought and its assimilation into pragmatist philosophy? Does the poetry of such promi-nent writers as Robinson Jeffers, Wallace Stevens, or William Carlos Wil-liams answer at all to Dewey’s pragmatist contention that aesthetic experi-ence is grounded in adaptive experiential strategies that seek to re-establish a temporary equilibrium between self and world? These are, of course, fairly large questions to ask and there can be no single answer to

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them. Since these poets differ markedly in their thematic orientation and stylistic preferences, a cross-sampling of their work will allow us to ex-plore several different ways in which poetry may converse with science and philosophy.

To begin with the example of Jeffers: although he was a contemporary of Stevens and Williams, he did not share their modernist sensibilities. He saw humanity, to quote a series of metaphors from his famous poem Roan Stallion (1925), as “the mould to break away from, the crust to break through, the coal to break into fire, / The atom to be split” (Selected Poems,p. 24). Accordingly, he cultivated an attitude and style he called inhuman-ism. The term signals that Jeffers routinely foregrounds the description of the natural world in his poems and that he often explicitly devalues human forms of life and intelligence to defy anthropocentric preconceptions. We find a characteristic expression of this attitude in the poem Vulture (1954). In this poem, the speaker finds himself circled by a vulture. Appreciating the majesty of the bird of prey, he muses that although he does not wish to die yet, to be devoured by the vulture would be a good way to go. The poem culminates in the last lines: “What a sublime end of one’s body, what an enskyment; / What a life after death” (Selected Poems, p. 107). The inversion of Christian and humanist values in these concluding lines is obvious. Jeffers’s neologism “enskyment” substitutes for the Christian belief in a heavenly hereafter the speaker’s desire to be consumed by the scavenger so as to become literally a part of the bird. This celebratory portrait of the food chain and of transformative natural processes suggests that Jeffers feels very much at home in a Darwinian cosmos. The world he depicts is thoroughly secularized, it is governed by impersonal forces of growth and decay, and the assimilation of humans into the nonhuman gives rise to hope rather than despair.

While the poetry of Jeffers accords well with a Darwinian understand-ing of humanity’s position in a natural order of changing life forms, his ‘inhumanism’ results at times, unlike Dewey’s adaptation of evolutionary thinking, in a renunciation of distinctly human traits. It is an attitude that threatens to disengage the speakers (and implied readers) of Jeffers’s po-ems from social interaction. Closer to Dewey’s conception of poetry as a medium that expands rather than restricts our engagement with the cul-tural worlds we inhabit is the work of modernist writers who foreground the processes of human intellection and poetic expression. The concern of modernist poets with the processes of seeing, thinking, and signifying agrees with Dewey’s contention that the aim and object of inquiry have to change in light of Darwin’s theory because it can be no longer the task of scientists, philosophers, or poets to observe the world attentively in search of a fixed design. In an opaque and changing rather than transparent and

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stable world, the processes of exploration and explication have to move to the center of attention.

A poet who frequently addresses the dynamics of observation and signification is Wallace Stevens. Many of his poems explore how we make sense of the world. An example is his poem Thirteen Ways of Looking at a Blackbird (1923). In this poem, Stevens offers us in thirteen stanzas, just as the title promises, thirteen different conceptualizations of blackbirds. Each stanza adds to the preceding one another way of perceiving the birds. Stanza eight and nine, for instance, read as follows (Collected Poetry,p. 75-76):

VIII I know noble accents And lucid, inescapable rhythms; But I know, too, That the blackbird is involved In what I know.

IX When the blackbird flew out of sight, It marked the edge Of one of many circles.

The two stanzas exemplify the poem’s focus. It is a meditation on the relation between knowledge, experience, imagination, and expression.

By contrasting the different ways of looking at the blackbirds, Stevens explores the capacity of the human mind to generate meaning through the observation and interpretation of the natural world. Rather than create a unified image of the bird, as Jeffers’s poem does, Stevens’s poem privi-leges neither one particular way of looking nor one particular interpreta-tion of the blackbird’s qualities or significance. His thirteen variations on the theme seem to lend credence to Dewey’s pragmatist contention that “All deliberate action of mind is in a way an experiment with the world to see what it will stand for, what it will promote and what frustrate” (“Phi-losophy and Democracy,” p. 48-49). Yet while Stevens’s speaker and the figures in the poem creatively engage with the birds by positing analogies, thinking up metaphors, or reacting emotionally to the birds with fear or gladness, these diverse explorations do not coalesce into a single coherent experience. The consummatory quality that Dewey describes as character-istic of aesthetic works (Art as Experience, p. 137-39) is absent from this poem because of its enumerative rather than cumulative structure. Argua-bly, the poem in its entirety may effect such a unified aesthetic experience in the reader, but this possibility can only be speculated upon.

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Still, Stevens presents human experience and signification as an ongo-ing process that occurs in exchange with both a cultural matrix – as we find in the allusion to prosody in stanza eight – and in reaction to the biophysical world. Perception, experience, and knowledge may be subjec-tive and transient in character, yet to create meaning at all, the speaker needs to engage with his environment. Although the poem is not con-cerned with actual birds in themselves, it neither seeks to deny that they exist and matter outside human thought and language. “When the black-bird flew out of sight, / It marked the edge / Of one of many circles” (Collected Poetry, p. 76). I read this stanza as suggesting that the blackbird exists within and without the speaker’s readings of it. When the bird flies out of the speaker’s perceptual field, it does not cease to matter. Instead, it enters or forms another circle, which indicates that there are other realities besides the ones represented here; there are more than thirteen ways of looking at and relating to a blackbird – not to mention the various possi-ble modes of being a blackbird. The circle image suggests that there are other fields of existence whose meaning does not revolve around or ema-nate from the speaker. Again, the poem’s concern with the provisional and relational character of knowledge speaks to Dewey’s considerations. For Dewey, such a stance has not only an epistemological but also an ethical dimension. It means that “every existence deserving the name of existence has something unique and irreplaceable about it, that it does not exist to illustrate a principle, to realize a universal or to embody a kind or class” (“Philosophy and Democracy,” p. 52).

Another poet who would agree with a positive appraisal of specific, processual, and experiential forms of knowledge is William Carlos Wil-liams. In many of his earlier poems Williams links precise descriptions of natural objects to reflections on processes of perception and signification. His poetry shares with Dewey’s work the conviction that both quotidian experiences and their intensified aesthetic renderings grow out of our ongoing exchanges with the world around us. His poems suggest that we create meaning and art by undergoing experiential processes that originate in our encounter with forces which invite yet resist us, and that our under-standing of ourselves and the world builds as we try to synchronize these forces with our own ways of being. An exemplary poem in this respect is The Wind Increases (1930).

In this poem we find a speaker confront a wind-swept spring land-scape that displays signs of first vegetation but still is mostly barren. The first stanza reads (Collected Poems I, p. 339):

The harried earth is swept The trees

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the tulip’s bright tips sidle and toss—

The stanza emphasizes both the singularity and movement of the phe-nomena that have caught the speaker’s attention. The linebreaks isolate the plants from the ground and from one another while the typographical arrangement of the words mimics the plants’ movement. The irregular placement and the gaps between the words imitate the spaces between the trees and the flowers that the wind moves through.

The parallel between the organization of the observed natural scene and the layout of the poem is significant because the wind assails not only the landscape and its vegetation but also troubles the speaker. In its free blown movement and sound, the wind makes him question what a poet is. “Good Christ,” he asks in exasperation, “what is / a poet – if any / ex-ists?” In the center of the poem we find his answer (Collected Poems I,p. 339):

a man whose words will bite their way home—being actual having the form of motion

The formal resemblance of this stanza to the first one is obvious. Again the arrangement of the words on the page singles out different entities and enacts motion. Yet what moves through and reveals the order of things here is not the wind but poetic expression. Articulation is portrayed as an aggressive yet nourishing act. The poet devours the world as he speaks it, yet the process also transforms him. It is an interaction with a resisting but also accommodating world which returns him from doubt to a firm basis – home. This foundation remains transient or processual, however, since it consists of movement.

Read in our context, the poem seems to enact the dynamics of aes-thetic experience that Dewey described. It presents poetic expression as a relational process into which the speaker enters not as a self-contained agent but as a communicating agency, as “a factor absorbed in what is produced” (Art as Experience, p. 250). It offers him a way to negotiate op-posing environmental forces and to ground himself in a world in flux. For the poem continues and ends this way (Collected Poems I, p. 339):

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At each twigtip

new

upon the tortured body of thought

gripping

the ground

a way to the last leaftip

Again, the stanza dramatizes motion. In this case it is a movement that rushes from the outermost point of the tree – the end of the branches where the leaves will bud, each a novelty, a single new beginning – to the ground, before it leaps back “to the last leaftip,” to the end of things. Literal and metaphoric readings of the natural world blend as the action of the tree, tapping the earth for energy to grow new leaves, and the struggle of the poet for expression overlap. By singling out words and grouping lines together, by combining irregular indentation and enjambment, the poem is arranged in typographical patterns that suggest similarities be-tween the natural forces the speaker observes and the creative processes he undergoes. In its last movement the poem as an object even begins to resemble a tree. Its lines are now clearly spaced apart, suggesting the shape of barren branches.

In its staging of the speaker’s search for adequate expression vis-à-vis the wind-swept landscape, the design of Williams’s The Wind Increases cre-ates an effect similar to the multi-perspectivism of Stevens’s Thirteen Ways of Looking at a Blackbird. By foregrounding the processes of perception and signification, the poems do rather than say, perform rather than state. They generate a knowledge of the world that is grounded in the transformative exchanges between experiencing subjects and their environing worlds. Locating “the appropriate objects and organs of knowledge in the mutual interactions of changing things” (Dewey, “Influence,” p. 6), they follow a processual and relational logic – a mode of thinking that Dewey identified as one of the most significant legacies of evolutionary theory.

Conclusion

My reading of the dialogue between evolutionary theory, pragmatism, and varied literary genres attests to the vitality of the exchange between the

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natural sciences, philosophy, and literature. It is a conversation that is characterized by a multiplicity of interrelations rather than by a unified approach or style. As the different cultures of knowledge and expression intersect, they often aim to complement and augment one another. We have seen this dynamic at work in the emergence of naturalism, in De-wey’s pragmatist appropriation of evolutionary theory, in Jeffers’s devel-opment of an ‘inhumanist’ poetics, and in the assimilation of both evolu-tionary and pragmatist thinking into pro-cess-oriented modernist aesthetics. If space had allowed, this paper also could have discussed the pertinence that the literary quality of Darwin’s argumentation in On the Origin of Species had for the intense and sustained public response to his theory (cf. Beer). At times the different forms of discourse also interact, however, to challenge and invalidate rather than to refine and expand one another. This holds true for both the relations between larger cultural fields like science and literature, as exemplified by the response of the nature fakers to Darwinism, and for the relations between their subfields, as demonstrated by the conflicting reactions of the naturalists and the nature fakers to evolutionary theory. Still, whether the scientific, philoso-phical, and literary imaginations converge or remain incompatible, the exchange often advances the development of the distinct cultures. The nature faker debate, for instance, introduced new standards of scientific accuracy to the nature writing tradition.

It remains a tricky critical endeavor, however, to analyze the reciprocal influences between science and literature. Since their interrelations fre-quently are part of larger developments, they are often submerged and hard to identify. In this essay, for instance, I certainly do not seek to argue that modernism emerged as a direct response to Darwinism. I am con-tending, however, that evolutionary and pragmatist thinking significantly contributed to the formation of American literary modernism. There is a remarkable confluence between Dewey’s experiential concept of knowl-edge and aesthetics and the processual poetics of Stevens and Williams. Poems like Thirteen Ways of Looking at a Blackbird and The Wind Increasesrealize Dewey’s idea that our knowledge and subjectivity are best concep-tualized in relational and processual terms because they develop through our continual interaction with our social and natural environments.

If we read modernist poetry in light of pragmatist evolutionary thought, we arrive at an understanding of literature as a medium that al-lows us to enact, reflect on, and experiment with our habitual ways of perception and signification. Literary works render palpable the processes through which we experience the world, because in them, as Dewey pro-poses, the subject and object of knowledge and expression are thoroughly integrated (Art as Experience, p. 277). The moments in which we are “both

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most alive and most composed and concentrated,” Dewey points out, “are those of fullest intercourse with the environment.” Hence, he continues, “Art would not amplify experience if it withdrew the self into the self nor would the experience that results from such retirement be expressive” (Art as Experience, p. 103). The resounding of pragmatist evolutionary thought in modernist poetry invites us to ask which relevance scientific and literary modes of inquiry and expression carry for our lived experi-ence. Do they sharpen our awareness of the processes through which we continually participate in our cultural and biophysical environments? Do they increase our capacity to interact with others, to direct change, and to align ourselves with the situations we encounter? Do they encourage us to explore yet unrealized possibilities?

The varied reverberations of Darwinism in American literature and philosophy also exemplify that scientific discourse acquires divergent meanings as it enters different cultural contexts. Although scientific theo-ries may describe biological processes that happen independently of our choices, such as evolution, our readings of these theories are informed by our cultural preferences and practices. Depending on our previous experi-ence and knowledge, we may reject a certain theory or adopt it as an en-abling model. In this sense, the pragmatists and modernists under consid-eration ‘chose’ to evolve. In their work the notion of an unfinished, continually emerging world signals not deficiency and uncertainty but opens up the possibility of deliberate action and full literary expression. The intersecting scientific, philosophical, and literary conversations that make up the American reception of Darwinism suggest, then, that a cul-turally innovative potential inheres in the resonances and tensions be-tween our different modes of knowledge and signification. To realize this possibility, however, remains optional. As William Carlos Williams re-minds us in his poem The Dance (Collected Poems II, p. 407):

there are always two,

yourself and the other, the point of your shoe setting the pace, if you break away and run the dance is over

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UWE C. STEINER

Widerstand im Gegenstand. Das literarische Wissen vom Ding am Beispiel Franz Kafkas

1.

Die Frage nach dem Wissen der Literatur erlebt derzeit eine augenfällige Konjunktur. Dafür mag eine gewisse Auslaugung eines bis vor kurzem inflationären Paradigmas mitverantwortlich zeichnen: am Universalsuffix ›Kultur‹ hat man in den letzten Jahrzehnten ein vielleicht zu großes, bis in die Studiengangs- und Moduldenominationen hineinreichendes Behagen empfunden. Wenn man um nur ein Jahrhundert zurückschaut, kann die heutige Kulturfreude nur verwundern. Freuds einschlägige Schrift vom Unbehagen in der Kultur (1930) liefert ja nur einen späten Beitrag zu einer Debatte, in der Georg Simmels These von der Tragödie der Kultur und noch sein diesbezüglicher Kontrahent Ernst Cassirer prominent figurier-ten.1 Das allgemeine Wohlgefallen konnte sich wohl nur verbreiten vor dem Hintergrund eines immaterialisierten bzw. eines in ›Semiosen‹, ›Prak-tiken‹ und ›Performanzen‹ aufgelösten Kulturbegriffs – Begriffe, denen zudem ein nicht unproblematischer moralischer Bonus zuerkannt wurde.

Das Unbehagen an der Kultur war so im Kulturdiskurs nicht mehr zu artikulieren. Gleichwohl existiert, wie bei jedem Leitbegriff, ein Negativie-rungsbedarf. Man benötigt, um mit Luhmann und Gotthard Günther zu sprechen, einen Rejektionswert. So musste sich das Unbehagen einen anderen Schauplatz suchen. Meine Vermutung lautet, dass es u.a. in den Diskursen wiederkehrt, wie sie gegenwärtig der Dingwelt, der Sphäre der Objekte gelten. In den verbreiteten, zumal in den populären Debatten über Nanotechnologie, Robotik, Radio Frequency Identification,2 über Bio- und Anthropotechniken erneuern sich nicht allein die geläufigen ______________________

1 Vgl. Georg Simmel, »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, in: Kulturphilosophie, hrsg. v. Ralf Konersmann, Leipzig 1996, S. 25-57, hier: S. 49; Ernst Cassirer, »Die ›Tragödie der Kultur‹«, ebd., S. 107-139. Vgl. auch Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, hrsg. v. Ralf Konersmann, Leipzig 2001.

2 Vgl. Das Internet der Dinge. Ubiquitous Computing und RFID in der Praxis. Visionen, Technologien, Anwendungen, Handlungsanleitungen, hrsg. v. Edgar Fleisch, Berlin 2005.

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technikkritischen und technikenthusiastischen Topoi und die Irritation über das Machbare und das Angerichtete. Vielmehr nimmt auch der un-bedarfte Zeitgenosse die Herausforderung unserer geläufigen Begriffe von Dinglichkeit und Objektivität wahr. In der Frage nach dem unheimlich gewordenen Ding ist zugleich die nach dem semantischen Fundament, nach dem Wirklichkeitsbegriff, ja, eine implizite Selbstbeschreibung einer Kultur aufgeworfen.

Literatur kann hier ein spezifisches Wissen reklamieren. Es gibt in der gesellschaftlichen Moderne spätestens seit dem Zusammenbruch der klas-sischen Metaphysik, also der Wissenschaft von Gott, Welt, Seele und allen Dingen überhaupt, kein spezifisches Wissen vom Ding als solchem. Das »Dingschema«3 (Luhmann) als ontologisches Universal und als absolute Metapher der Weltvertrautheit verliert seine Plausibilität. Die Frage, wie ›das Ding‹ nunmehr den Gegenstand der alltäglichen Erfahrung mit der Ordnung des Seins vermitteln kann, avanciert nun zum Problem der Lite-ratur. Denn ›das Ding‹ als solches steht nun quer zu den Disziplinen. Phi-losophen begreifen es als Noumenon, die Physik löst es in Extensionen, Stoß- und Fallgesetze, die Ökonomie in Waren und Zahlungen auf. Wie-derum andere Unterscheidungen werden im Recht getroffen. Gleichwohl gibt es Dinge, und paradoxerweise gerade auch dann immer mehr Dinge, wenn man wie noch vor wenigen Jahren befindet, wir träten ins Zeitalter der »Entdinglichung« ein.4 ›Dinge‹ – damit sollen im Folgenden Artefakte bezeichnet werden. Paradoxerweise weiß man genau in dem Moment über ›das Ding‹ als solches immer weniger, in dem es sich anschickt, die Positi-on eines Akteurs im soziokulturellen Prozess zu erwerben. Es gibt also, wenn ich dramatisch zuspitzen darf, eine Dingvergessenheit. Und um der abzuhelfen, bietet es sich an, das Wissen der Literatur zu befragen. Das Wissen nämlich um jene historische und noch längst nicht begriffene Entwicklung, in der sich die Dinge ihres Objektstatus entledigen und qua-si Subjektstatus – den Status einer Quasi-Subjektivität – erlangen.

Die folgende Fallstudie möchte auf so viele vielleicht allzu große Scheine etwas Kleingeld herausgeben.

______________________

3 Vgl. die systemtheoretische Unterscheidung zwischen Sozial-, Sach- und Zeitdimension als den drei ineinander verfugten Dimensionen des Sinnes. Niklas Luhmann, Soziale Systeme,Frankfurt a.M. 1984, S. 92 ff., hier insbesondere S. 113 f. und auch S. 98 ff.: Das system-theoretische Konzept von Sinn will ausdrücklich das alteuropäische ›Dingschema‹ als Uni-versal der Weltbeschreibung beerben. Das Dingschema beruhte seinerseits auf der Unter-scheidung von res corporales und res incorporales.

4 Vgl. z.B. Vilém Flusser, »Auf dem Weg zum Unding«, in: ders., Medienkultur, hrsg. v. Stefan Bollmann, Frankfurt a.M. 1997, S. 185-189.

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Widerstand im Gegenstand 239

2.

Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.

Franz Kafka, Von den Gleichnissen

An einem Montag, einen Tag nach dem denkwürdigen 12.7.1914, isst Franz Kafka im Garten des Berliner Hotels »Askanischer Hof« zu Abend. Dort, in einem engen, heißen und lauten Zimmer, hatten tags zuvor Felice Bauer, ihre Schwester Erna und Grete Bloch »Gerichtshof« über ihn gehalten (T 658).5 Das Urteil, seine Folge, die Auflösung der Verlobung und auch die literarischen Konsequenzen sind bekannt. Kafka wird sich aus der Depression, aus der »Unfähigkeit zu denken, zu beobachten, fest-zustellen, (sich) zu erinnern, zu reden, mitzuerleben«, aus der drohenden Versteinerung in die Arbeit retten (T 663) und die ersten Kapitel des Pro-ceß-Romans verfassen.

Womöglich muss auch jenes Abendessen im Garten zu den biogra-phischen Katalysatoren des romanesken Gerichtshofs gezählt werden. Schließlich widmet ihm Kafka eine sorgfältige, aus der Distanz von zwei Wochen erinnerte und am 27.7.1914 ins Tagebuch eingetragene Beschrei-bung. Nicht minder als die – ungleich berühmtere – vorangegangene pflegt sie eine hyperrealistische, detailfixierte Optik. Sie lässt die auf den Leib gerückten Dinge und Umstände wie in Großaufnahme sichtbar wer-den.

Kafka schickt sich an, ein Gericht mit der Bezeichnung »Reis à la Trautmannsdorf und einen Pfirsich« zu verzehren. Auf einmal scheint sich, hier beim Abendessen, dem tragisch intimen Tribunal vom Vortag ein zweites, diesmal öffentliches anzuschließen. Und zwar in einer Gestalt, die, bei allem tragischen Ernst, an eine Farce denken lässt. Kafka nämlich hat an jenem Abend zum einen mit der Frucht auf seinem Teller zu kämp-fen. Und zum anderen damit, dass sein Kampf mit dem widerspenstigen Objekt am Nebentisch registriert wird:

Ein Weintrinker beobachtet mich wie ich den kleinen unreifen Pfirsich mit dem Messer zu zerschneiden versuche. Es gelingt nicht. Aus Scham lasse ich unter den

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5 Zitate aus Franz Kafkas Texten werden im Folgenden nach der von Jürgen Born, Gerhard Neumann u.a. herausgegebenen Kritischen Ausgabe der Schriften, Tagebücher und Briefe zitiert und direkt im Text nachgewiesen unter der Verwendung der nachstehend aufgeführten, jeweils von der Seitenzahl gefolgten Siglen: B1 – Briefe 1900-1912, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1999. D – Drucke zu Lebzeiten, hrsg. v. Wolf Kittler/Hans-Gerd Koch/Gerhard Neumann, Frankfurt a.M. 1994. P – Der Proceß, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M. 1990. S – Das Schloß, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M. 1982. T – Ta-gebücher, hrsg. v. Hans-Gerd Koch/Michael Müller/Malcolm Pasley, Frankfurt a.M. 1990. V – Der Verschollene, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M. 1983.

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Blicken des Alten vom Pfirsich überhaupt ab und durchblättere 10mal die »flie-genden Blätter«. (T 661; Hervorh. U. St.)

Es handelt sich hier um die Beschreibung eines Kampfes an doppelter Front, eines Kampfes in der Sach- und eines Kampfes in der Sozialdi-mension. Man erkennt eine für Kafka repräsentative Bewegung: Das Sub-jekt nimmt wahr, dass es in seiner leiblichen, materiellen und vor allem hantierenden Verlegenheit, dass es im Streit mit dem Objekt befindlich wahrgenommen wird. Es flüchtet in die Schrift. Hier zunächst in die (fin-gierte) Lektüre einer Zeitung. Später dann ins Schreiben der vorliegenden Aufzeichnung. Die Aufzeichnung, dank der diese Scham den, der sie emp-fand, überleben konnte, lässt einen förmlich zuschauen, wie die unnach-giebige Frucht im gar nicht paradiesischen Garten zwischen Messer und Gabel hinwegflutscht, und wie der Herr am Nebentisch sich schadenfroh das Lachen verkneift.

Ein Kampf mit dem Objekt, und ein Kampf der Blicke und Beobach-tungen also, wie ihn ein Loriot sich nicht tückischer hätte ausdenken kön-nen. Und er ist noch längst nicht ausgestanden. Nach dem Moment der Sammlung, und nachdem der Repräsentant der väterlichen Autorität dreist zu starren nicht ablässt, stellt sich Kafka dem Konflikt. »Ich warte, ob er sich nicht doch abwenden wird. Endlich nehme ich alle Kraft zusammen und beiße ihm zu Trotz in den ganz saftlosen teueren Pfirsich.« (T 661; Hervorh. U. St.) Alle Mühe scheint erforderlich, um in der intersubjekti-ven Fehde ums Gesicht, und zumal im Ringen mit einem Ding bestehen zu können. Der von Kafka nur umspielte Reim stellt sich auch sachlich nicht ein: der Pfirsich lohnt die aufgewendete Kraft nicht durch eine Ge-gengabe an Saft. Die substantielle Schwäche des Dings straft das Verspre-chen seiner symbolischen Überformung Lügen: der Preis scheint nicht ›reell‹, ihm entspricht kein realer Gegenwert.

Wie problemlos interagiert hingegen der große Herr in der Laube ne-benan mit der Objektwelt, und wie wenig Mühe scheint ihm die Mitwelt zu bereiten: er, »der sich um nichts kümmert, als um den Braten, den er sorgfältig aussucht und um den Wein im Eiskübel. Endlich zündet er sich eine große Zigarre an, ich beobachte ihn über meine ›Fliegenden Blätter‹ hinweg.« (T 661) Kafka sieht sich förmlich umzingelt: Der Vegetarier und Abstinenzler wird den Fleisch- und Alkoholkonsum am Nebentisch nicht ohne inneres Widerstreben zur Kenntnis genommen haben. Niemand würde zudem ausschließen wollen, dass dieser Autor im Verzehr von realem Fleisch und Wein die symbolische Komponente des christlichen Abendmahlssakramentes zumindest mitbedacht und bewusst mit der Pa-radies- und Sündenfallszenerie kontaminiert wissen wollte. Denn welche tragikomische Fallhöhe tut sich hier in Gestalt einer Paronomasie auf! Statt Brot und Wein verzehrt die bedrohliche Vaterfigur eben Braten und

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Wein – symbolische Substitute des vom Fleisch abgefallenen Sohnes, dessen vergeblichen Kampf mit der saftlosen Frucht vom Baume der Erkenntnis sie genüsslich und schadenfroh zu registrieren scheint.

Kafka rettet sich in die Beobachtung. Er verbirgt seinen investigativen Blick hinter dem Schrift-Ding Zeitung und verrät zugleich ein quasi mi-metisches Begehren: So wie der große Herr müsste er, der ewige Sohn, müsste man überhaupt mit der Objekt- und mit der Mitwelt zurechtkom-men können.

Vermutlich noch am selben Abend besteigt Kafka den Zug. Seinem nach wie vor auf die dinglichen Aspekte der Realität fixierten, detailver-sessenen Blick fällt ein »Schwede in Hemdärmeln« auf, sowie ein »starke[s] Mädchen mit vielen silbernen Armreifen«. Wiederum, und noch auf der-selben Seite, charakterisieren sich Menschen durch ihre Accessoires. In Lübeck, auf dem Weg zur Ostsee, übernachtet er in dem »schreckliche[n] Hotel Schützenhaus«. Abermals springen ihm dingliche Dissonanzen ins Auge. So etwa die »überfüllte[n] Wände«. Und zumal die »schmutzige Wäsche unter dem Leintuch«, ein Motiv, das im Proceß-Roman wiederkeh-ren wird (T 661).

3.

Diese gedrängte Tagebuchaufzeichnung Kafkas ist bislang, so weit ich sehe, einigermaßen unbeachtet geblieben. Obwohl sie, noch einmal gesagt, den Gerichtshof der ungleich berühmteren, unmittelbar vorangegangenen fortsetzt. Es ergibt nämlich, wie immer bei Kafka, seinen guten Sinn, wenn sich das empirische Geschehen als eine eigentümliche Travestie der Sündenfallgeschichte darstellt. Analog zur Auflehnung des Geschöpfs gegen den Schöpfer registriert Kafkas Aufzeichnung die Unbotmäßigkeit eines Objekts wider das (vermeintliche) Subjekt. Und zwar als gänzlich empirisches Geschehen: Kafka beschreibt die agonale Struktur nicht etwa nur der Sozialdimension, der Rivalität der Blicke und Beobachtungen. Zur elementaren Dimension einer Wirklichkeit, in der sich subjektive und intersubjektive Verhältnisse, in der sich das Selbst und die Anderen in der Reziprozität des Beobachtens und des Beobachtetwerdens dynamisch konfigurieren, gehört der Bezug auf die Dinge, gehört die Intervention der Dinge.6 – Die Berührungen, Verschränkungen und Verschmelzungen zwischen menschlicher und dinglicher Sphäre, die hier, im Falle des Es-sens, bis zur Inkorporation gehen, bilden ein obsessives Thema der Litera-tur Kafkas. ______________________

6 Vgl. Anm. 3.

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Das tückische Objekt auf Kafkas Teller figuriert als reale Metonymie des Gerichts, das über ihn gehalten wurde. Zwischen den Verlobten Franz und Felice stand ja nicht zuletzt die Sphäre der Dinge: Wie lange hatte man in Möbel- und Wäschegeschäften potentielle Einrichtungsgegenstän-de für eine künftige gemeinsame Wohnung besichtigt, und wie heftig war man darüber in einen nicht zu schlichtenden Streit geraten. Fräulein Bauer wollte die repräsentative bürgerliche Wohnung mit wuchtig dekorativem Mobiliar, etwa mit, welch Horror für den Junggesellen, ausladendem Ehe-bett. Kafka hingegen war Anhänger der Deutschen Werkstätten, deren an den Maximen der Lebensreformbewegung orientiertes schlichtes und funktionales Design seiner Braut bloß ärmlich vorkam.7 Im Tagebuch vom Januar 1915 berichtet Kafka denn auch vom ersten Wiedersehen nach der traumatischen Entlobung: Felice wolle »stumpf gegen alle stum-men Bitten« nach wie vor »das Mittelmaß, die behagliche Wohnung«, und er, Kafka, könne »nichts richtigstellen, als sie von der ›persönlichen‹ Note (es läßt sich nicht anders als knarrend aussprechen) der Wohnungseinrich-tung spricht.« (T 722) Vermöge der Dinge, der Objekte, geschieht etwas zwischen den Subjekten, das sich nicht in Kommunikation übersetzen lässt.

Insbesondere im Umgang mit widerständiger Gegenständlichkeit scheint es mitunter, als käme dem Ding der Status eines Akteurs zu. Das widerspricht der metaphysischen Tradition: Als äußere Einzelobjekte ge-hören Dinge einer anderen ontologischen Ordnung an als ihrer selbst bewusste Subjekte. Das widerspricht dem transzendentalen Denken, das Dinge als konstituierte, und Subjekte konstituierend begreift. Das wider-spricht einer langen Tradition sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung, in der Gesellschaft fast ausschließlich als eine Gesellschaft von Menschen gedacht wurde, und Handlungen, als Grundelement von Gesellschaft, zumeist auf menschliche Akteure, gelegentlich auch auf Systeme bzw. Kommunikationen zugerechnet wurden. Erst seit kurzem verbreitet sich die Einsicht, dass sich »Dinge nur schwer als das Andere des Sozialen fassen lassen«.8 Die Frage, inwiefern Dinge an der Konstitution sozialer Situation mitwirken, ja ob ihnen womöglich gar die Fähigkeit zu handeln zugesprochen werden muss, wird z.B. von Hans Linde, Bernward Joerges, Bruno Latour, Wolfgang Eßbach u.a. ernsthaft erwogen.9

______________________

7 Vgl. Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a.M. 2002, S. 490. 8 Bernward Joerges, Technik. Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie, Frankfurt a.M.

1996, S. 8. 9 Vgl. z.B. Hans Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen, Tübingen 1972; Joerges, Technik

(Anm. 8); Bruno Latour, Wir sind niemals modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropolo-gie, Frankfurt a.M. 1998; Wolfgang Eßbach, »In Gesellschaft der Dinge«, in: Landschaft, Ge-schlecht, Artefakte. Zur Soziologie naturaler und artifizieller Alteritäten, hrsg. v. Wolfgang Eßbach

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Literatur hingegen weiß um den Status der Dinge als kultureller Ak-teure. Sie hat immer schon von agierenden oder sprechenden Dingen gehandelt, von Dingen, die schlafende Lieder beherbergen oder sprachlo-se Epiphanien provozieren. Sie konstatiert nicht selten, dass sich Artefakte ähnlich wider ihre Erbauer zu wenden vermögen, wie sonst in der theolo-gischen Tradition Geschöpfe gegen ihre Schöpfer. Wer die Frage nach dem Ding, gar nach der Handlungsmächtigkeit von Dingen aufwirft, tut gut daran, Literatur zu befragen.

4.

Vergleichbare Szenen spielen sich denn auch mannigfach in Leben und Werk Franz Kafkas ab. Eine noch frühere Aufzeichnung sieht Kafka diesmal in der glücklicheren Position des Beobachters, und nicht in der des Involvierten. Sie sieht ihn als Augenzeugen eines weiteren Kampfes zwischen Mensch und Ding. Im Jahre 1911, unter dem Datum des 11. September, verzeichnet das Tagebuch der Reise nach Paris eine einschlä-gig bedeutsame Episode. Kafka wird zum Zeugen eines Verkehrsunfalls. Ein Tricycle – also ein mit Muskelkraft betriebenes dreirädriges Fahrrad zum Lastentransport – kollidiert mit einem Automobil. In diesem Streit- und Rechtsfall par excellence verschränken sich wiederum Sach- und Sozial-dimension auf hochgradig agonale Weise:

Der Bäckergehilfe, der auf diesem der Firma ---- gehörigen Wagen bisher voll-ständig sorglos mit jenem den Dreirädern eigentümlichen schwerfälligen Schwanken dahingefahren ist, steigt ab, trifft den Automobilisten, der ebenfalls absteigt und macht ihm Vorwürfe, die durch den Respekt vor einem Automobil-besitzer gedämpft und durch die Furcht vor seinem Chef angefeuert werden. (T 1012)

Eine exemplarische Situation der konfliktuellen Begegnung zwischen Mensch und Ding findet hier einen Beobachter, der die Fachkompetenz des Juristen mit technischem Wissen und dem phänomenologisch-physiognomischen Detailblick des Erzählers vereint. Kafka hatte schon 1909 Dispens von seinen Bürostunden erhalten und sich an der Techni-schen Hochschule Prag über den Stand der »mechanischen Technologie« unterrichten lassen. So konnte er die Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt schon kurz darauf über die gerade eingeführte private Automobilversiche-

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u.a., Würzburg 2004, S. 7-24; Susanne Fohler, Techniktheorien. Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen, München 2003.

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rung unterrichten.10 Wir sehen den Gehilfen denn auch nicht nur von avancierter Technik, sondern auch durch den im Ding repräsentierten, besser: materialisierten Status eingeschüchtert. Und wir können im Verlauf der Aufzeichnung verfolgen, welche sozialintegrative Kraft diese Kollision der Apparate entfaltet: denn nicht nur die Kombattanten versuchen den Hergang des Unfalls und die Frage der Schuld zu klären; auch hier dürfen sich die Zuschauer ins Geschehen einmischen. Sie, die »schon über den Preis der Reparatur beraten« (T 1014), dürfen in dieser dingvermittelten,dingzentrierten Streit- und Rechtssache ebensowenig fehlen wie später beim Abendessen im »Askanischen Hof«, wie später im Proceß-Roman, in dem etwa die Verhaftung Josef K.s vom Fenster des Nachbarhauses aus von einer alten Frau und einem »noch viel ältern Greis« aufmerksam beo-bachtet wird (P 15; vgl. P 24).

5.

Das menschliche Verhältnis bzw. Missverhältnis zu einer tückisch sich gebärdenden Objektivität zählt zu den elementaren Gattungsmerkmalen des Slapstick.11 Slapstick bezeichnet ja ein Geschehen, das nicht eigentlich lustig ist, dafür aber komisch. Keinem Leser Kafkas entgehen die slap-stickhaften Züge in den großen Romanen. Wer erinnert sich nicht, zum Beispiel, an die »Säulen von großen aufeinander gestapelten Aktenbün-deln« in der Kanzlei des Schloss-Beamten Sordini, die »immerfort« und unter großem »Krachen« zusammenstürzen (S 106)? Kafkas Leidenschaft für das Kino ist bekannt und seit Hanns Zischlers Untersuchung auch detailliert erforscht.12 Die Tradition, auf die der Slapstick schon zu Kafkas Zeit zurückblickt, beschränkt sich freilich keinesfalls auf die Kinemato-graphie. Sie ist vielmehr maßgeblich literarisch geprägt. Zerstörerische Objekte wie Desdemonas Taschentuch oder Woyzecks Messer, das hat Volker Klotz in seinem Buch über die Dinge als Antagonisten auf der Bühne gezeigt, begegnen zumeist im ernsten, während die Dinge im heite-ren Schauspiel vorwiegend Konfusionen auslösen: zerbrochne Krüge,

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10 Das Dokument ist unter dem Titel Einbeziehung der privaten Automobilbetriebe in die Versiche-rungspflicht in den Amtlichen Schriften enthalten. Vgl. Klaus Wagenbach, »Kafkas Fabri-ken«, in: Marbacher Magazin 100 (2002), S. 3-40, hier: S. 14.

11 Georg Seeßlen, Klassiker der Filmkomik. Geschichte und Mythologie des komischen Films, Reinbek 1982, verzichtet leider auf eine historische Situierung der beiden filmischen »Grundmuster« des Komischen, nämlich des »Widerstands des Objektes« und der »Verwandlung des Ob-jekts« (S. 29 f.).

12 Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, Reinbek 1996.

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Widerstand im Gegenstand 245

Perücken oder in Akten gewickelte Würste.13 In der Schicksalstragödie agieren, laut Benjamin, die Requisiten auf nicht minder fatale Weise als im barocken Trauerspiel.14 Im Drama des Botho Strauß treten sprechende Säulen auf, spielen Waschmaschinen, Gegensprechanlagen, Bilder oder auch mal ein Sandwich episodisch maßgebliche Rollen.15 Der Kontrabaß,und nicht der monologisierende Mensch, der ihn spielt, ist das eigentliche Subjekt von Patrick Süskinds so betiteltem Stück. Von den gängigen Gat-tungstheorien des Dramas hingegen, insbesondere wenn sie eine erschöp-fende Beschreibung des Theaters als Zeichensystem zu liefern verspre-chen, werden die Dinge als Akteure auf der Bühne zumeist übersehen. Sie werden allenfalls verschämt als Requisiten abklassifiziert.16

Es gibt also ein literarisches Wissen vom Ding, das (noch) kein wis-senschaftliches bzw. literaturwissenschaftliches ist. Das erhärtet ein Blick auf die epische Tradition. Ich beziehe mich hauptsächlich17 auf jenen Traditionsstrang, der sich mindestens zu Laurence Sterne und Jean Paul rückverfolgen lässt und der 1878 kulminiert, als der gewesene Hegelianer Friedrich Theodor Vischer seinen bis in die 1920er Jahre eminent erfolg-reichen Roman Auch Einer veröffentlicht. Vischers Roman hat die Formel von der »Tücke des Objekts« geprägt und populär gemacht: sein misan-thropischer Protagonist entwirft ein gnostisch inspiriertes, mythologisches System der Widerständigkeit der Dinge. Verlegte Brillen, sich verheddern-de Hemdknöpfe, verschwundene Dokumente, zerbrechliches Geschirr, naturgemäß mit der Butterseite nach unten zu Boden fallende Brote und dergleichen – alle diese gewöhnlichen Dinge, glaubt die Titelfigur, sind von bösartigen Dämonen beseelt. Sie zetteln den Aufstand des unteren Stockwerks, der Welt der Materie und der bedeutungslosen Kleinigkeiten,

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13 Volker Klotz, Gegenstand als Gegenspieler. Widersacher auf der Bühne: Dinge, Briefe, aber auch Barbiere, Wien 2000, S. 267.

14 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 311 f.

15 Vgl. Thomas Hürlimann, »Der Dichter meiner Generation«, in: Unüberwindliche Nähe. Texte über Botho Strauß, hrsg. v. Thomas Oberender, Berlin 2004, S. 84-86, hier: S. 84 f.

16 Vgl. z.B. Bernhard Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse, Stuttgart 41994, S. 21 u.ö.; Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 41998, S. 151 ff.; Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 51988; Andreas Mahler, »Aspekte des Dramas«, in: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, hrsg. v. Helmut Bra-ckert/Jörn Stückrath, Reinbek 1995, S. 71-85. Sie alle haben wenig bis gar nichts über die Dinge auf der Theaterbühne zu sagen.

17 Dabei denke ich hier weniger an die Inanspruchnahme symbolischer Dinge und hand-lungsmotivierender Requisiten in der Novellistik, die sich in der Regel mehr am Symboli-schen als am Dinglichen interessiert zeigt. Zu Paul Heyses berühmtem ›Falken‹, der in jede Novelle gehöre, vgl. Winfried Freund, Novelle, Stuttgart 1998, S. 34 f.

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gegen das obere an: gegen all die hehren menschlichen Zwecksetzungen in Staat, Recht, Religion, Kunst und Kultur.18

Vischer war Zeitgenosse von Wilhelm Busch.19 Seine ebenso humo-ristische wie ernste, bei aller Verschrobenheit beinah massentaugliche metaphysische Mystifizierung der nachmalig ›Slapstick‹ genannten Prob-lematik konnte nachhaltige Erfolge verbuchen. Verleiht sie doch einer tiefgreifenden, mit der Umwälzung der materiellen Kultur einhergehenden Verunsicherung der symbolischen Kultur Ausdruck, die im 19. Jahrhun-dert einsetzt und sich im 20. noch verstärkt. Technologische Evolution und Industrialisierung vermehren die Alltagsobjekte in nie zuvor gekann-tem Ausmaß und erschweren oder verunmöglichen gar das Bewusstsein der kulturellen Zusammenhänge.20 Die Utensilien werden als Antagonis-ten nicht nur auf der Bühne, sondern als heimliche Protagonisten des kulturellen Prozesses überhaupt wahrgenommen. Pünktlich zur Jahrhun-dertwende diagnostiziert Georg Simmel in der Philosophie des Geldes eine peinliche Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Kultur:

[…] die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Ver-kehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst – sind unsäg-lich kultiviert; aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Stän-den, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zu-rückgegangen.

So weit, »daß die Maschine so viel geistvoller geworden (sei) als der Arbei-ter.«21

Kafkas eingangs analysierte Tagebuchnotiz entsteht am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Dieser zeitigt historische Ohnmachtserfahrungen, de-ren Quintessenz Hugo von Hofmannsthal 1921 in einem Die Ironie der Dinge und also einschlägig betitelten Essay zu benennen versucht: Der Krieg habe dem Gattungssubjekt Mensch sein »tausendfach verhäkeltes Verhältnis zur Welt«22 drastisch vor Augen geführt. Hofmannsthals Be-funde sind denjenigen Kafkas benachbart: in der »Ironie des Werkzeuges gegen die Hand, die das Werkzeug zu führen glaubt«, betreten exempla-risch die Objekte als Akteure die Bühne der historischen Realität, auf der

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18 Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer. Roman (1878), Stuttgart u.a. 41889. 19 Zur Tücke des Objekts bei Wilhelm Busch vgl. Volker Klotz, »Was gibts bei Wilhelm

Busch zu lachen?«, in: Die boshafte Heiterkeit des Wilhelm Busch, hrsg. v. Michael Vogt, Biele-feld 1988, S. 11-49. Peter Nusser danke ich für den Hinweis.

20 Wolfgang Ruppert, »Einführung«, in: ders., Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt a.M. 1993.

21 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, hrsg. v. D. P. Frisby/K. C. Köhnke, Frankfurt a.M. 1989 (Gesamtausgabe, Bd. 6), S. 617 ff., hier: S. 620 f.

22 Hugo von Hofmannsthal, »Drei kleine Betrachtungen«, in: ders., Gesammelte Werke, Reden und Aufsätze II, Frankfurt a.M. 1979, S. 138.

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Widerstand im Gegenstand 247

nicht immer auszumachen ist, welches Genre, Tragödie oder Farce, gerade gegeben wird.23

Als Martin Heidegger 1927 Sein und Zeit veröffentlicht, konkurriert er eingestandenermaßen mit den kulturwissenschaftlichen Bestrebungen, wie sie gerade in Anthropologie, Ethnologie und zumal in Cassirers Philoso-phie der symbolischen Formen die Aufmerksamkeit der wissenschaftli-chen Öffentlichkeit erheischen. In der berühmten Zeug-Analyse legt er denn auch eine phänomenologische Systematisierung der tückischen Ob-jekte vor – und fährt zugleich einen fundamentalontologischen Frontalan-griff gegen die metaphysische Tradition. Noch unser Alltagsgebrauch vom unschuldigen Wort ›Ding‹ sei allzusehr von untauglichen Kategorien wie Objektivität und Substantialität belastet. Heidegger ersetzt daher das Wort ›Ding‹ durch den Ausdruck ›Zeug‹. Und ›Zeug‹ gelangt erst dann in den Fokus der Aufmerksamkeit, wenn sich seine zuvor unthematisch in den Verrichtungen des Alltags verborgene Dienlichkeit gestört erweist: das unzuhandene Gerät fällt aus dem Modus der Zuhandenheit in den der bloßen Vorhandenheit; Zeug erweist sich als auffällig, aufdringlich, ja aufsässig. So lauten Heideggers phänomenologisch gemeinte Kategorien, deren rhetorischer Mehrwert nicht nicht auffallen kann: Der Personifika-tion der Dinge entspricht historisch ihr Rang als kultureller Akteur.24

Die Marbacher Ausstellung über »Kafkas Fabriken« hat 2002 ein-drucksvoll vor Augen geführt, mit welchem Grad an Engagement der Beamte der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt die arbeitsweltlich bri-sante Tücke der Objekte wahrgenommen und z.B. der menschenver-stümmelnden Unzuhandenheit von Hobelmaschinen durch eine eigens entworfene Sicherheitshobelwelle abgeholfen hat.25 Schon von Berufs wegen war Kafka mit den neuesten Maschinen und Fertigungstechniken vertraut. Er kannte das Licht der Textilmaschinenhallen, den Lärm der Sägewerke und den Staub der Steinbrüche, er wusste um Löhne, Berufs-krankheiten und Arbeitsunfälle. »Was ich zu tun habe!«, schreibt Kafka in diesem Zusammenhang einmal an Max Brod:

In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen […] wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst. Und man be-kommt Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den Porzellanfabriken,

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23 Ebd., S. 139. 24 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151984, §§ 15-18. 25 Marbacher Magazin 100 (2002): Kafkas Fabriken, bearb. v. Hans-Gerd Koch/Klaus Wagen-

bach.

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die unaufhörlich mit Türmen von Geschirr sich auf die Treppen werfen. (B1 108)26

6.

Immer wieder figurieren in Kafkas Werk die Dinge als objektive Metony-mien der Kafkaschen Problematik schlechthin: Sie repräsentieren ausweg-loses Verstricktsein in gesetzförmig verlaufende Sachverhalte, Prozesse, Rechts- und Strafsachen. »Nicht wir kamen hier als Familie in Betracht, sondern nur die Sache und wir nur der Sache wegen, in die wir uns ver-flochten hatten«, rechtfertigt Olga, im Schloß-Roman, K. gegenüber die Ächtung der eigenen Familie. Die Sache, die Streitsache, in die man sich verstrickt hatte, ja, »die Peinlichkeit der Sache«, wie es eigens heißt, ist ursächlich an ein Ding geknüpft. Und zwar an Amalias harsche Zurück-weisung jenes verhängnisvollen obszönen Briefs, in dem der Schloss-Beamte Sortini sexuelle Dienstleistungen Amalias befohlen hatte. Sofort hatte die Dorfgemeinschaft die Sippe geächtet, obwohl sie von jenem Brief, dem Intrigen- und Verwicklungsrequisit par excellence,27 nicht mehr als seine dingliche Komponente gesehen hatte, die Papierfetzen in der Hand des Boten (S 329, 328). Schlussendlich nimmt das Urteil der Dorf-leute wahrnehmbare Realität in einem Ding an: Leute, die die Hütte der Ausgestoßenen betreten, rümpfen, laut Olga, »die Nase über ganz belang-lose Dinge, etwa darüber daß die kleine Öllampe dort über dem Tisch hing. Wo sollte sie denn anders hängen, als über dem Tisch, ihnen aber erscheint es unerträglich.« (S 329)

Bei Kafka verwickeln sich also Menschen und Dinge derart in Streit- und Rechtssachen, dass beide Seiten wechselseitig die Position des Ak-teurs und die des Re-Akteurs einzunehmen scheinen. Die Ausdrücke ›Ding‹ oder ›Sache‹ standen ursprünglich für das Streitobjekt eines Rechts-handels.28 Reus, der Angeklagte, kommt von res, und la chose leitet sich her von causa. Von Mauthner über Heidegger, der im Wort ›Ding‹ das germa-nische ›thing‹ mithört, das den Kreis für die Volks- und Gerichtsversamm-lung und dann, metonymisch verschoben, die Rechtssache, den Streitfall meint, bis hin zur französischen Wissenschaftsphilosophie bei Michel

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26 Vgl. Klaus Wagenbach, »Kafkas Fabriken«, in: Marbacher Magazin, S. 3-40 (Anm. 25). 27 Vgl. Klotz, Gegenstand als Gegenspieler (Anm. 13). 28 Vgl. u.a. Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen

Mundart, 4 Bde, Leipzig 1793 ff., Bd. 1, S. 1496 ff., s.v. »Ding«; Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, Leipzig 1923 ff., Bd. 1, S. 295.

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Widerstand im Gegenstand 249

Serres oder Bruno Latour29 reichen die Bemühungen, die Erfahrungen, die die Moderne mit der Dinglichkeit macht, agonal oder gar forensisch-judikativ zu beschreiben.30

Wenn Menschen und Dinge füreinander wechselseitig Subjekte oder Objekte sein können und wenn diese Kafkasche Problematik, wie ich anzudeuten versucht habe, reichen Widerhall findet in der zeitgenössi-schen und in der gegenwärtigen kulturellen Selbstreflexion, hat das Kon-sequenzen, die ich abschließend diskutieren möchte. Immer noch, oder mehr denn je, figuriert die Bezeichnung ›Ding‹ als Ausdruck einer ontolo-gischen Verlegenheit. Und sie markiert eine Verlegenheit der Kulturwis-senschaften.31 Und zwar seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert, als Stein-thal und Lazarus den Gegenstand der Kulturwissenschaft im »objektiven Geist« bestimmten,32 und seit im 20. Jahrhundert die angloamerikanischen cultural studies ihr Interesse an »material culture« folgenreich mit einem im Anschluss an Weber, Geertz und andere symbolisch bzw. performativ orientierten Kulturbegriff konfrontiert hatten.33 Seither kann man wissen, dass sich Artefakte, Apparate und Utensilien einerseits nicht auf Objekti-vität und noch weniger auf die bloße Materialität, auf die res extensa redu-zieren lassen. Andererseits aber sträuben sie sich hart und hartnäckig da-______________________

29 Vgl. Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Bd. 41, Frankfurt a.M. 1984; Michel Serres, Statues, Paris 1987, S. 111, 294; Latour, Wir sind nie modern gewesen,S. 113 (Anm. 9); ders., Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005; Making Things Public. Atmospheres of Democracy, hrsg. v. Bruno Latour/Peter Weibel, Karlsruhe/Cambridge (Mass.) 2005.

30 In der Terminologie des New Historicism würde man vielleicht sagen, die dinglichen Sach-verhalte würden ›ausgehandelt‹. Das verweist zumindest darauf, dass die Verfassung der uns umgebenden alltäglichen Objekte nicht unabhängig von ihrem ökonomischen Status gedacht werden kann.

31 Kunibert Bering, »Grundlagen der Vermittlung kultureller Kompetenz«, in: Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe C, Forschungsberichte, Bd. 7: Medienwissenschaft, hrsg. v. Friedrich Knilli/Rainer Matzker/Siegfried Zielinski, Frankfurt a.M. 2002, S. 13-31, hier: S. 13: »Kultur materialisiert sich in bedeutungsgeladenen Artefakten und Objekten [...]. Zugleich geht mit der Verleihung von Bedeutung ein Prozess der Symbolisierung einher.«

32 Vgl. Gerhart von Graevenitz, »Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung«, in: DVjs 1 (1999), S. 94-115, hier: S. 97.

33 Vgl. Ansgar Nünning, »Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis: Grundriß, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft«, in: Literaturwissen-schaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, hrsg. v. Ansgar Nünning, Trier 1995, S. 173-198, hier: S. 179. Dasselbe Problem stellt sich, wenn man die Unterscheidung Zivilisation vs. Kultur nichtnormativ formuliert und unter Zivilisation die »Gesamtheit al-ler menschlichen Lebensäußerungen« begreift, den Menschen dabei als Subjekt der Zivili-sation nahelegt, und unter Kultur die Gesamtheit der Lebensäußerungen versteht, die eine symbolische Komponente haben. So Reiner Wild, »Literaturgeschichte – Kulturgeschichte – Zivilisationsgeschichte«, in: Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ›Theoriedebatte‹, hrsg. v. Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt, Stuttgart 1992, S. 349-363.

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gegen, sich in Performanzen auflösen zu lassen. Dinge sind immer mehr als ihre kulturelle Überformung durch Zwecke, Nebenzwecke, Bedeutun-gen und Konnotationen. Zwar begreift mancher Artefakte als verkörperte Information und glaubt im Begriff der Information gar den Substanzen-dualismus überwunden.34 Wer aber das Ding als bloßen ›sozialen Text‹ beschreibt, unterschlägt, dass die materiellen Artefakte nie allein Resultate kultureller Codierungen sind. Man unterschlägt den spezifischen Wider-stand im Gegenstand, der jede Performanz immer auch scheitern lassen kann. Dinge definieren sich, anders gesagt, durch mögliche Performanzre-sistenz. Dinge sind kulturelle Konstruktionen, ohne Zweifel. Aber zugleich definieren sie sich durch eine potentiell bedrohliche Äußerlich-keit. Kultur definiert sich, indem sie materielle Äußerlichkeiten codiert, d.h. mit Bedeutung anreichert. Aber ebensosehr müssen wir gewahr sein, dass kulturelle Prozesse materiell gesteuert werden können.

Ich möchte an einen geläufigen Begriff anschließen, um das Problem Kafkas und das Problem der Kulturwissenschaften, das Problem des Ob-jekts als Subjekt, des Dings als heimlicher und illegitimer Akteur in einer zunehmend undurchschaubaren Lebenswelt zu diskutieren, das Problem der Entitäten oder Prozesse, die weder Subjekt noch Objekt, Agens noch Reagens, res cogitans noch res extensa, Kultur noch Natur, Kultur noch Zivi-lisation, sondern von allem etwas und nichts ›ganz‹ sind. Es handelt sich um den Begriff des ›Hybrids‹.

Der Begriff hat mindestens einen Nachteil: Er ist modisch. Vielleicht auch schon altmodisch. Und er ist mittlerweile recht vieldeutig. Auch darum soll er hier beileibe keine Antwort suggerieren, sondern eine Frage formulieren. Daher möchte ich den Begriff einschränken und unter ihm, mit Latour und Serres, das Problem der so genannten »Quasi-Objekte« zu fassen versuchen. Es geht um die Erfahrung von Dingen, die unzweifel-haft »unser Werk« sind, aber nicht »unser Tun«. »Wir besitzen Hunderte von Mythen, die erzählen, wie das Subjekt (oder das Kollektiv oder die Intersubjektivität [...]) das Objekt konstruiert [...]«, schreibt Latour. »Wir haben jedoch nichts, um uns den anderen Aspekt der Geschichte zu er-zählen: wie das Objekt das Subjekt schafft.«35

In mindestens einer Hinsicht muss man Latour hier widersprechen. Wir mögen keine entsprechenden Mythen besitzen. Aber wir haben Lite-ratur. Und von daher besitzt der Begriff des Hybrids denn doch einen

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34 Vgl. Peter Sloterdijk, »Domestikation des Seins. Die Verdeutlichung der Lichtung«, in: ders., Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt a.M. 2001, S. 142-234, insb. S. 216 f.; Mihalyi Cskiszentmihalyi/Eugene Rochberg-Halton, Der Sinn der Dinge. Das Selbst und die Symbole des Wohnbereichs, München/Weinheim 1989.

35 Latour, Wir sind niemals modern gewesen, S. 69, S. 111 f. (Anm. 9).

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Vorteil: Er kann sich in der Sache auf Kafka selbst berufen.36 Immer wie-der nämlich handeln Kafkas Texte von performativen und materiellen Assoziationen zwischen Mensch und Ding. Einer der frühesten publizier-ten Texte Kafkas, das Zeitungsfeuilleton Die Aeroplane in Brescia, liefert 1909/1910 nicht nur die erste Beschreibung eines Flugzeugs in der deut-schen Literatur. Er nimmt zudem eine so unaufdringliche wie tiefenschar-fe Wahrnehmung der hybriden Verschränkung zwischen apparativem und menschlichem Akteur vor: »Nun aber kommt der Apparat«, das Ding also als Subjekt! – »mit dem Blériot [einen Monat zuvor als Erster] den Kanal überflogen hat; keiner hat es gesagt, alle wissen es. Eine lange Pause und Blériot ist in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper über den Flügeln, seine Beine stecken tief als Teil der Maschinerie.« (D 408)37 Und wer erinnerte sich hier nicht an den Saal der Telefone aus dem Verscholle-nen, an das Kommissions- und Speditionsgeschäft von Karl Roßmanns Onkel, in dem sich Technik, Medientechnik und die soziale Disziplinie-rung durch Arbeit zu einem albtraumhaften Mega-Apparat konfigurieren? Hier, im Saal der Telefone, sieht man »im sprühenden elektrischen Licht einen Angestellten, gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer, und nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten un-menschlich gleichmäßig und rasch.« (V 66)

Ich komme zum Schluss. Es gibt bekanntlich einen Text, von dem man nicht schweigen darf, wenn man von Hybridität und Dinglichkeit bei Kafka spricht: Die Sorge des Hausvaters. Odradek, das Wesen, das wie aus dem Nähkästchen gehüpft aussieht, nämlich »zunächst [...] wie eine flache sternartige Zwirnspule« (D 282), und das vermöge einer merkwürdigen stäbchenförmigen Konstruktion stehen, ja laufen, und zwar nicht atmen, aber sprechen und lachen kann; Odradek ist ein hybrides, ein zwitterhaftes Gebilde, das sich unseren geläufigen ontologischen und semantischen Kategorien entzieht. Schon sein Name scheint ein Hybrid, eine Mischung aus deutschen und tschechischen Morphemen; mal erscheint es als Neut-rum, mal tritt er als Maskulinum auf; als materielles, wenn auch zweckfrei-es unbeseeltes Gebilde kann es gar sprechen. Weder ganz Ding noch Mensch, beschämt die seltsame Existenzform Odradek den Hausvater, den sie überleben und dem sie sich ähnlich entziehen wird wie der saftlose ______________________

36 Und etwa auch auf den Kafka-Zeitgenossen Walter Benjamin: »Wie alle Dinge in einem unaufhaltsamen Prozeß der Vermischung und Verunreinigung um ihren Wesensausdruck kommen und sich Zweideutiges an die Stelle des Eigentlichen setzt.« (»Einbahnstraße«, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 100 [Anm. 14].)

37 Vgl. Peter Demetz, Die Flugschau von Brescia. Kafka, d’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen, Wien 2002.

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Pfirsich dem Zugriff Franz Kafkas. Und womöglich erst recht dem Zugriff des Interpreten. Es würde mehr als einen weiteren Aufsatz erfor-dern, Kafkas kleinen großen Text im Lichte der Ding-Problematik auch nur annähernd auszudeuten. Wer ihn verstünde, der sähe in vielerlei Hin-sicht, und zuvorderst in der Ding- und der Hybrid-Problematik, klarer.

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V. Zwischen Franquismus, Avantgarde und Postmoderne. Literatur und Wissenschaft in

Spanien vor und nach der Transición

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WERNER HELMICH

Der wissenschaftliche Diskurs in Martín-Santos’ Tiempo de silencio

Tiempo de silencio, 1962 in einer von der Zensur verstümmelten Ausgabe erstmals veröffentlicht, seit der 16. Auflage von 1980 wieder in seiner ursprünglichen Fassung zugänglich, ist der einzige Roman, den der damals erst 38-jährige Autor, der zwei Jahre später bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, noch selbst abschließen konnte.1 Er ist gleich bei seinem Erscheinen von den zeitgenössischen Schriftstellerkollegen und Kritikern einhellig als Diskursrevolution innerhalb der damaligen spani-schen Erzählliteratur angesehen worden, die bis dahin wesentlich einer neorealistischen Poetik verpflichtet war – natürlich unter erzwungenem Verzicht auf das zum italienischen Neorealismus gehörende antifaschisti-sche Pathos –, und hat als Katalysator für eine ganze Reihe von substan-tiellen Neuerungen im spanischen Roman der Sechzigerjahre gewirkt: Werke wie Cinco horas con Mario von Delibes oder Señas de identidad von Juan Goytisolo, beide 1966 erschienen, zeigen das unmissverständlich; Goytisolo hat sich beim radikalen Wechsel seiner eigenen Romanpoetik ausdrücklich auf das Modell Martín-Santos berufen.

Martín-Santos’ Roman, dessen Fabel noch durchaus konventionell nacherzählbar ist, zeichnet sich durch eine starke und vor allem formal sehr eigenwillige Fokalisierung der Wissenschaft, insbesondere der medi-zinischen Forschung, aus. Wenn ich hier anführe, dass der Autor nach einem Medizinstudium im Zivilberuf Leiter der Psychiatrischen Klinik von San Sebastián war und eine stattliche Reihe von psychiatrischen Fach-schriften veröffentlicht hat,2 so nicht, um damit einem naiven Bi-______________________

1 Es gibt Hinweise darauf, dass er als erster Teil einer Trilogie mit dem Titel La destrucción de la España sagrada geplant war. Ein zweites Romanfragment ist postum von José Carlos Mainer unter dem Titel Tiempo de destrucción publiziert worden (Barcelona 1975, 21983); es ist aber so weit von der hier relevanten Fragestellung entfernt, dass ich es nicht in meine Untersuchung einbezogen habe.

2 Eine Zusammenfassung der wichtigsten Daten zur Biographie und zum zeitgeschichtlichen Hintergrund findet sich bei Juan Luis Suárez Granda, Tiempo de silencio. Luis Martín-Santos,Madrid 1986, S. 1-15 passim; viele weitere Informationen im Kapitel »Contexto histórico« (S. 15-40) der Monographie von Jo Labanyi, Ironía e historia en »Tiempo de silencio«, Madrid

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Werner Helmich 256

ographismus Vorschub zu leisten, sondern um zu signalisieren, dass er von seinen Fachkenntnissen her seinem literarischen Stoff auch gewach-sen ist.

Präsent ist das Thema Wissenschaft in diesem Buch auf doppelte Wei-se: zum einen als Element der Handlung und ihrer sprachlichen Repräsen-tation, also in wirklichkeitsnachbildender oder mimetischer Funktion, zum andern als Element des Diskurses, insofern er über die mimetische Funk-tion hinausreicht in die Wirklichkeitsdeformation durch sprachliche Ver-fremdung (ostranenie). Die beiden Funktionen, deren Sprachtechniken und Ziele im Folgenden anhand von Textanalysen etwas genauer bestimmt werden sollen, implizieren jeweils eigentümliche, wenn auch nicht in allen Punkten miteinander unvereinbare Lesarten des Romans, die nach mei-nem Lektüreeindruck deutlich in der Weise hierarchisiert sind, dass die zweite die erste voraussetzt und transgrediert.

Zunächst also zur mimetischen Lesart: Der Roman, der im Jahr 1949 spielt, schildert in 63 kurzen Sequenzen, die – ähnlich wie in Rulfos Pedro Páramo – jeweils durch eine bloße Leerzeile getrennt sind, das Scheitern eines jungen Forschers, Pedro, der aus der Provinz nach Madrid gekom-men ist und dort mit einem Stipendium für ein medizinisches Institut Versuche an spontan-kanzerösen Mäusen durchführt, um herauszufinden, ob eine bestimmte Krebsart erblich oder viral bedingt ist. Bei der Beschaf-fung von Versuchstieren im Milieu des Madrider Subproletariats über seinen Gehilfen Amador gerät er in eine Abtreibungsaffäre, die die Schwangere nicht überlebt, wird daraufhin zunächst wegen Totschlagver-dachts inhaftiert, später entlastet und freigelassen, verliert aber seine An-stellung. Die inzwischen halb gegen seinen Willen eingegangene Bezie-hung mit der Enkelin seiner Zimmerwirtin endet damit, dass seine noviavon einem Messerstecher, Cartucho, umgebracht wird, weil dieser ihn aufgrund einer Angabe des Gehilfen immer noch für den Schuldigen in der Abtreibungssache hält. Pedro fährt daraufhin tief enttäuscht mit der vagen Aussicht auf einen unbedeutenden Posten als Landarzt in die Pro-vinz zurück.

Das klingt inhaltlich ganz nach einem späten Echo der realistisch-naturalistischen Poetik. Vor allem wohl über die französischen Modelle Balzac, Flaubert, Goncourt und Zola vermittelt, die für die Propagierung des Wissenschaftsparadigmas in der Literatur wohl wichtigsten Relaisstati-______________________

1985, und bei Pedro Gorrochategui Gorrochategui, »Lo biográfico en ›Tiempo de silen-cio‹«, in: Luis Martín-Santos. Actas de las IV Jornadas Internacionales de Literatura (San Sebastián, 23-26 de Abril de 1990), hrsg. v. Iñaki Beti Sáez, San Sebastián 1991, S. 85-98. Die hier auf-gelisteten Parallelen zwischen Romanhandlung und Vita des Autors schließen natürlich Deformationen und Umfunktionalisierungen nicht aus.

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Der wissenschaftliche Diskurs in Martín-Santos’ Tiempo de silencio 257

onen,3 ist das romaneske Handlungsmuster ›Alltagsgeschehen in überwie-gend einfachem Milieu mit einer Fokalisierung des Scheiterns eines Prota-gonisten in Verbindung mit der Ambivalenz der medizinischen Wissen-schaft‹ vom späten 19. Jahrhundert an auch in Spanien durchaus repräsentativ vertreten. Man denke an Valeras Roman Las ilusiones del doctor Faustino (1875), an die berühmte geglückte und doch menschlich fatale Augenoperation in Marianela von Pérez Galdós (1878) oder vor allem an Barojas spätnaturalistischen Roman El árbol de la ciencia (1911) mit seiner typischen Fin-de-siècle-Opposition ›Wissenschaft‹ vs. ›Leben‹, dessen Protagonist – ein stark forschungsorientierter junger Mediziner, der die Arbeit als Landarzt perhorresziert und nach dem Tod seiner Frau, nicht zuletzt aus Verzweiflung über den unzureichenden Stand seiner Wissen-schaft, in Resignation versinkt, hier bis zum Suizid4 – in seiner Entwick-lung eine Reihe von offensichtlich nicht bloß zufälligen Analogien mit dem von Tiempo de silencio aufweist, wie Thomas R. Franz nach Fernando Moráns erstem Hinweis im Detail gezeigt hat.5

Zu diesem Modell besteht in Tiempo de silencio auch eine explizite inter-textuelle Beziehung. Neben den Handlungsparallelismen – auch kontrasti-ven – finden sich direkte Zitate, vor allem Verweise auf den bei Baroja ausführlich erörterten Gegensatz árbol de la vida/árbol de la ciencia, etwa: »Hijoputa él y de madre soltera él, adherido al árbol de la vida por donde había brotado [...]« (S. 141)6 oder: »El ›¡Qué fácil se le entiende!‹ era muy pronunciado por aves jóvenes de rosado pico apenas alborotadoras y hasta humildes, incrédulas de su fácil vuelo hasta las ramas más bajas del árbol de la ciencia [...]« (S. 160). Die ungewöhnliche Vogelallegorie, die im

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3 Dies ist in den letzten Jahren durch die Untersuchungen von Frank Wanning (Gedankenex-perimente. Wissenschaft und Roman im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1999), Marc Fö-cking (Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen 2002) und anderen gut aufgearbeitet worden. Dabei reicht das Ideal des wissenschaftlichen Erzählens schon in Frankreich weit über das realistisch-naturalistische Modell hinaus. Noch im späteren Vorwort zum Roman Nadja, der wahrlich einer anderen Ästhetik verpflichtet ist, betont Breton: »le ton adopté pour le récit se calque sur celui de l’observation médicale« (Paris 1964, S. 6).

4 Näheres in Pere Juan y Tous, »Pío Baroja, El árbol de la ciencia«, in: Der spanische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. v. Volker Roloff/Harald Wentzlaff-Eggebert, Düsseldorf 1986, S. 270-288.

5 Thomas R. Franz, »Baroja’s ›Science‹ in Martín-Santos’ ›Time‹«, in: Hispania 66 (1983), S. 324-332.

6 Die Seitenzahlen im Text ohne weitere Quellenangabe beziehen sich auf die in der Reihe »Biblioteca Breve« erschienene 46. Auflage des Romans (Barcelona 2000). – Eine recht gu-te deutsche Übersetzung von Eugen Helmlé, die allerdings die Sprachnormabweichungen des Originals gelegentlich etwas einebnet, erschien 1991 unter dem Titel Schweigen über Mad-rid im Eichborn-Verlag, Frankfurt a.M.

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Werner Helmich 258

Text über fast zwei Seiten weitergesponnen wird, beruht offensichtlich auf dem vorgängigen Bild vom Baum der Wissenschaft.7

Je nachdem, wie man das Schlusskapitel des Romans liest – ob man die offenkundige Desillusionierung des Protagonisten Pedro oder aber seine Versicherung: »Estoy desesperado de no estar desesperado« (S. 285) und das Fehlen eines Selbstmords stärker gewichtet –, wird man die of-fensichtliche Replik auf Baroja eher als Bestätigung oder als partielle Mo-difizierung des Modells lesen, in beiden Fällen aber als Milieustudie. In der Tat ist auch über die Wissenschaftsthematik hinaus in Tiempo de silencio die Nähe zu realistischen und naturalistischen Darstellungskonventionen evident; man lese nur einmal die Beschreibung der Pension, in der Pedro wohnt, vor dem Hintergrund der Pension Vauquer in Balzacs Le Père Gori-ot. Aus dieser Sicht wäre Martín-Santos’ Roman in der zeitgenössischen spanischen Literatur etwa an die einige Jahre früher erschienenen Werke Los bravos von Fernández Santos (1955) oder El señor llega von Torrente Ballester (1957) anzuschließen, in denen in realistischer Manier medizi-nisch ausgebildete Protagonisten in einfachem Milieu agieren.

Da die medizinische Forschung ein wichtiges Handlungselement des Romans ist, ist es natürlich schon nach dieser mimetischen Lesart nicht verwunderlich, dass er in der Figurenrede des Forscherprotagonisten, aber auch im Erzähldiskurs stark mit biologisch-medizinischen, aber auch mit chemischen, mathematischen, ökonomischen und juristischen Fachtermini durchsetzt ist, die inzwischen in der Sekundärliteratur in langen Listen zusammengestellt und erläutert sind.8 So erklärt Pedro dem Polizeibeam-ten, der ihn in der Abtreibungssache verhört, seine berufliche Tätigkeit natürlich mit den in der medizinischen Forschung üblichen Begriffen, spricht also ganz geläufig von einem »metabolismo relativamente aneoro-bio«, der »norma metabólica de los ácidos desoxirribonucleicos« oder den »mitosis multipolares« (alle Zitate S. 233 f.). Es ist wohl auch noch mit der mimetischen Funktion vereinbar, dass das medizinische Fachvokabular der kanzerösen Zellentartung in der Figurenrede angesichts des zumeist niederen Milieus im Zusammenhang mit dem Wahrscheinlichkeitspostulat oft mit ausgesprochen populären Termini gemischt auftritt. In den fol-genden längeren Zitaten finden sich auch dafür genügend Beispiele, so-dass ich hier auf Belege verzichten kann. ______________________

7 Es handelt sich hier also kaum um einen »acto de imitación oculta muy bien disimulada«, wie Carlos Jerez-Farrán in seinem Aufsatz »›Ansiedad de influencia‹ versus intertextuali-dad«, in: Symposium 41 (1988), S. 119-132, hier: S. 120, formuliert.

8 Eine fast exhaustive Auflistung der wissenschaftssprachlichen und sonstigen erläuterungs-bedürftigen Vokabeln bieten Denis Boyer/Jacques Fressard (u.a.), »Notes sur Tiempo de si-lencio«, in: Les langues néo-latines 214 (1975), S. 40-91. Nützliche Ergänzungen u.a. bei Suárez Granda, Tiempo de silencio, S. 69-84 (Anm. 2), und Alfonso Rey, Construcción y sentido de »Tiem-po de silencio«, Madrid 31988, S. 139-141.

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Der wissenschaftliche Diskurs in Martín-Santos’ Tiempo de silencio 259

Um aber die Faszination zu verstehen, die dieser Roman auf die schreibenden Zeitgenossen ausgeübt hat, darf man bei dieser mimetischen Lesart nicht stehenbleiben, sondern muss gerade die zahlreichen Diskurs-elemente, die gegen die simpel wirklichkeitsnachbildende Funktion ver-stoßen, mit in die Betrachtung einbeziehen.

Das auffälligste Phänomen, das der naturalistischen Erzähltradition diametral entgegensteht, ist die Tatsache, dass in vielen Fällen Inhalt und Sprachduktus auseinanderklaffen: Dem tristen Darstellungsobjekt ent-spricht im Diskurs eine mimetisch ganz unpassend scheinende witzelnd-ornamentale Erhöhung des sprachlichen Registers, eine Stilnobilitierungbesonderer Art. Ich beschränke mich hier um meiner Fragestellung willen auf die Passagen, in denen die Wissenschaft und nicht ein anderes System symbolischer Formen wie Mythologie oder Kunst für diese Nobilitierung sorgt, wobei ich mir bewusst bin, damit die ästhetische Fülle des Romans bis zu einem gewissen Grad zu reduzieren und manche Figuren und Se-quenzen stärker in den Hintergrund treten zu lassen, als es dem Gesamt-bild entspricht.

Niederes Objekt – hoher Stil: Das ist die klassische Konstellation parodis-tischer Verfahren, zu deren Besonderheiten es ja gehört, sich nicht in der als sprachlich neutral eingebürgerten Mimesis ihres Objekts zu erschöp-fen, sondern sich von diesem durch Auswahl und Übersteigerung be-stimmter Züge gerade zu distanzieren, nach gängiger Definition zu bur-lesk-komischen Zwecken. Ob wir es hier mit Parodie in diesem Sinn zu tun haben, wird sich zeigen. Fragen wir zunächst, wie diese szientistische Nobilitierungstechnik im Einzelnen aussieht, die auf den Leser ausgespro-chen spielerisch-manieristisch wirkt und die Kritiker oft weniger an Zola und Baroja als an Góngora, Pérez de Ayala und natürlich an Joyce hat denken lassen,9 der mit seinem Ulysses bei diesem Verfahren sicher Pate gestanden hat; ich selbst fühle mich streckenweise auch an den Stil Gad-das in Quer pasticciaccio brutto de via Merulana erinnert.______________________

9 Dass Martín-Santos den Ulysses gelesen und geschätzt hat, ist unter anderem von Juan Benet in El País semanal vom 21.12.1986 bezeugt worden. In einem literarästhetischen Ex-kurs des Romans hat Martín-Santos seinem Protagonisten selbst die Empfehlung »Hay que leer el Ulysses« (S. 79) in den Mund gelegt. Die These der Joyce-imitatio ist inzwischen Ge-meingut der Kritik. Besonders genau am Text dokumentiert ist sie in Rey, Construcción, S. 5-24 (Anm. 8). Rey hat hier (S. 114-155) auf der Basis der traditionellen rhetorischen Rubri-zierung auch eine beeindruckende Auflistung der zahlreichen stilistischen Abweichungs-phänomene in diesem Roman gegeben, die verständlich macht, warum man ihn in die Nä-he ausgesprochen manieristischer, (neo)barocker oder kultistischer Werke gerückt hat. Eine stilistische Nähe zu Góngora sieht u.a. Ramón Buckley, Problemas formales en la novela española contemporánea, Barcelona 21973, S. 199 f. Zu Ayala vgl. Thomas R. Franz, »From Baroja and Ayala to Martín-Santos«, in: Crítica Hispánica 7 (1985), S. 25-35; allerdings bietet der von ihm angeführte Roman Ayalas, Troteras y danzaderas (1913), wegen seiner anderen Thematik nur wenige konkrete Anknüpfungspunkte.

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Die zweite grundlegende stilistische Eigentümlichkeit dieses Romans, die von Anfang an als ästhetisch besonders ungehörig Aufmerksamkeit erregt hat und auch für die Einschätzung von Form und Funktion des Wissenschaftsparadigmas von beträchtlicher Bedeutung ist, ist seine au-ßerordentlich große Diskursvielfalt. Von einer Sequenz zur nächsten, gele-gentlich gar innerhalb einer Sequenz wechselt die Darstellungsweise. Wir finden nebeneinander die verschiedensten Erzählverfahren:

– innere Monologe in der ersten und in der zweiten Person (die letztge-nannten, die Martín-Santos seinerseits wohl durch Butors Modification ken-nen gelernt hat, sind später bekanntlich von Juan Goytisolo, Calvino und anderen zu einer besonderen narrativen Varietät weiterentwickelt worden),

– Erzählungen in der ersten und in der dritten Person, dies wiederum so-wohl aus der Innen- wie aus der Außenperspektive mit fließenden Über-gängen und zahlreichen unentscheidbaren Passagen,

– schließlich auch fiktional-expositorische Sachprosaabschnitte, die zwar auch in herkömmlichen Romanen nicht unbekannt sind, hier aber be-trächtliches Eigengewicht erlangt haben und als besonderer Diskurs in die Erzählfiktion integriert werden.

Kompliziert wird die Sachlage noch dadurch, dass diese Darstellungs-formen mit unterschiedlicher Präzision einzelnen Aktanten zuzurechnen sind: recht genau die inneren Monologe (die aber nur bei der Figur Pedro wissenschaftsrelevant sind), mit weit geringerer Sicherheit die übrigen Formen, bei denen zudem in unterschiedlichem Maß ein auktorialer Er-zähler mitzuspielen scheint.

Dass für den Forscher-Protagonisten das Thema Wissenschaft stark im Vordergrund steht, ist nicht verwunderlich, wohl aber, dass dabei auch aus seiner Erzählsicht der halb unernst, ironisch oder spielerisch wirkende Ton von Anfang an so dominant ist. Das beginnt gleich mit der ersten Sequenz, einer Ich-Erzählung aus Pedros Innenperspektive (S. 7-15). Es geht darum, dass bei den spontan tumorbildenden Mäusen des aus Illinois importierten Stamms MNA, der nur durch Inzucht in dieser Eigenschaft erhalten werden kann, wegen Mangelernährung die Mortalität durch die Reproduktion nicht mehr ausgeglichen wird, sodass mit der Population auch Pedros Forschungen zum Erliegen gekommen sind. Durch seinen Gehilfen erfährt er, dass ein zweifelhaftes Subjekt, wegen seines Grimas-sierticks »el Muecas« genannt, einige Exemplare aus diesem Stamm ent-wendet hat, um sie in seiner Wohnbaracke, in der er mit seiner Familie unter schlimmsten Bedingungen haust, von seinen Töchtern weiterzüch-ten zu lassen und die Nachkommen später mit Gewinn wieder an den Forscher zu verkaufen.

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Der wissenschaftliche Diskurs in Martín-Santos’ Tiempo de silencio 261

Wie erscheint dieses individuelle wissenschaftliche Desaster mit seinen kriminellen Implikationen im Diskurs? Hier zwei charakteristische Passa-gen aus der ersten Sequenz:

[I] Las rubias mideluésticas mozas con proteína abundante durante el período de gestación de sus madres de origen sueco y sajón y en la posterior lactancia y esco-laridad. Aunque hermosas, insípidas pero nunca oligofrénicas, con correcta e-migración de neuroblastos hasta su asentamiento ordenado en torno al cerebro electrónico de carne y lípidos complejos, que utilizan ahora para hacer recuentos de mitosis en el palacio transparente. Así esa cepa aislada, extinguida ahora aquí por culpa de falta de vitaminas, tras haber gastado en ella los menguados créditos del Instituto. Traídos del Illinois nativo los ratones – machos y hembras – sepa-rado los sexos para evitar coitos supernumerarios no controlados. Con provoca-ción de embarazo bien reglada. En cajas acondicionadas, por avión, con abun-dante gasto de divisas. Y ahora se han acabado, se han ido muriendo a un ritmo más rápido que el de la reproducción – ¡más rápido que el de la reproducción! – y Amador ríe y dice: »Muecas tiene.« (S. 9 f.) [II] Muecas allí estará con su nueva cepa conseguida tras alta reflexión, tras cálcu-los de coeficientes, del crossing-over y determinación de mapas génicos. Tras implantación de cromómeros en glándulas salivales y reimplanto en las importan-tes por donde la vida es transmitida. Amador sabe que Muecas tiene MNA. El Il-linois importado no ha de haberse perdido del todo. Tras el transporte en cuatri-motor o talvez bimotor a reacción, con seguro especial y paga de prima y examen con certificado del servicio veterinario de fronteras de los EE.UU., ha venido luego el transporte a manos del Muecas, en una caja de huevos vacía, hasta su chabola particular, donde sus dos hijas – una de dieciséis años y otra de dieciocho – ninguna de las dos rubia, ninguna de las dos con dieta adecuada durante la gestación en vientre toledano, crían también cepas. De ahí surgirá talvez la nueva posibilidad de que el cáncer inguinal no sea inguinal sino axilar. De que no sea de estirpe ectodérmica sino mesodérmica. De que no sea sólo mortal para el ratón y para la rata, sino que casualmente inoculada durante la cría poco cuidadosa a las dos »a Toledo ortae« muchachas no rubias, que entre cuidados médicos poco hábiles y falta de una operación precoz por error diagnóstico perezcan [...]. (S. 11 f.)

Diese wissenschaftlich kompetente, besorgte bis alarmierte und doch immer wieder witzelnd-ironische Rede ist offensichtlich Pedro zuzurech-nen und wirkt in ihrer eigenwilligen Registermischung wie eine sprachliche Nachbildung seiner zwischen Depression und Sarkasmus schwankenden Gemütslage. Bemerkenswert ist bei alledem, dass dem Forscher angesichts der Situation der Sinn für Komik nicht abhanden gekommen scheint. Auffällig sind diese Passagen vor allem durch die folgenden stilistischen Besonderheiten:

– die ungewöhnliche Einfärbung aller Objekte, auch der nichtwissen-schaftlichen, durch eine forciert naturwissenschaftliche Perspektive: die Ontoge-nese der »mideluésticas mozas« – d.h. der Middle West girls, die für die Auf-zucht dieses Mäusestamms in Illinois verantwortlich waren – wird ganz im

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biologischen Stil der Mäuseentwicklung beschrieben (Text I, Zeile 1-6), das primitive Zuchtverfahren des Muecas wird als wissenschaftlich wohl-bedacht dargestellt (II, 1-4), die möglicherweise tödliche Ansteckung der Töchter aus Sorglosigkeit als seriöses wissenschaftliches Experiment (II, 10-15);

– komisch-disproportionale Kontrastparallelen: den Aufzuchtbedingungen der »rubias mozas« – genitivus subiectivus et obiectivus – werden die deutlich ungünstigeren der »muchachas no rubias« des Muecas gegenübergestellt (II, 8 f., 13 f.), dem ersten Mäusetransport im Flugzeug der zweite in der Eierschachtel (II, 5-9);

– die mimetisch unmotivierte lateinische Bezeichnung der beiden Töchter des Muecas als »a Toledo ortae« (II, 13) mit ihren humanistisch-gelehrten Konnotationen;

– eine nicht aoristische, sondern insgesamt vom Präsens geprägte Zeitper-spektive, die sich nur bis in die rezente Vergangenheit (pretérito perfecto) und in Zukunftsvermutungen auffächert;

– schließlich die zahlreichen Wiederholungen: das Erlöschen der Mäuse-population, die knappen Geldmittel, der Transport im Flugzeug, die Keimentwicklung, die Haarfarbe der Mädchen und anderes wird gleich mehrfach evoziert – ein Phänomen, das den ganzen Roman durchzieht und der Idee der Erzählökonomie diametral entgegensteht.

Lässt sich die Registermischung hier wie in einigen späteren Sequen-zen vielleicht noch durch die Innenperspektive des Forschers Pedro moti-vieren (›so geht es ihm eben durch den Kopf‹), so gerät diese Deutung spätestens dort in Schwierigkeiten, wo in der dritten Person und zumin-dest teilweise aus der Außenperspektive eines nicht-personalen Narrators erzählt wird. In Sequenz 5 (S. 29-36) erfahren wir aus der Sicht eines Er-zählers, der erkennbar mehr weiß als Pedro selbst (ob man ihn allwissend nennen darf, sei dahingestellt), wie Pedro und sein Gehilfe den zwielichti-gen Muecas in seiner chabola besuchen, um ihre stockende Forschung durch den Mäuserückkauf wieder in Schwung zu bringen. Die Sequenz beginnt folgendermaßen:

¡Oh qué felices se las prometían los dos compañeros de trabajo al iniciar su mar-cha hacia las legendarias chabolas y campos de cunicultura y ratología del Muecas! ¡Oh qué compenetrados y amigos se agitaban por entre las hordas matritenses el investigador y el mozo ajenos a toda diferencia social entre sus respectivos oríge-nes, indiferentes a toda discrepancia de cultura que intentara impedirles la con-versación, ignorantes de la extrañeza que producían entre los que apreciaban sus diferentes cataduras y atuendos! Porque a ambos les unía un proyecto común y los dos tenían el mismo interés – aunque por distintas razones – en la posible existencia de auténticos ratones descendientes de la estirpe selecta portadora he-reditaria de cánceres espontáneos desarrollados en el pliegue inguinal conducen-tes a la muerte inexorable del animal, si bien no antes de que, alcanzada la edad

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de la reproducción, nacieron de ellos múltiples animáculos de análogo aspecto al del hombre – a pesar de sus diferentes dimensiones – dotados como nuestros semejantes de hígado, páncreas, cápsulas suprarrenales y de Hiato de Winslow, los que pudieran ser sucesivo motivo de meditación científica y quizá de inespe-rados descubrimientos de las causas del supremo mal. (S. 29)

Der exaltiert euphorische ›Hochton‹, der vor allem in der ersten Hälfte des Zitats offensichtlich politisch-ideologische Diskursmodelle über die stan-desübergreifende nationale Einheit aller Spanier parodiert, zum Teil – wie vieles andere in diesem Roman – aber auch als Pastiche älterer Erzählfor-men lesbar ist (Details muss ich mir versagen), stammt hier allem An-schein nach von einem Erzähler aus der Außensicht, der indessen, wie die zweite Hälfte zeigt, mit medizinischen Sachverhalten nicht weniger ver-traut ist als Pedro.

Vom Erzähler scheint zunächst auch die anschließende distanziert-gelehrte Betrachtung über die Folgen der hohen Sonneneinstrahlung auf die Kleidung der Madrider Bevölkerung zu stammen, die aber am Ende überraschenderweise dem Protagonisten Pedro zugeschrieben wird, des-sen Gedanken der Erzähler ebenso kennt wie gleich darauf die seines Gehilfen Amador: »Esto iba meditando D. Pedro sin comunicar tales pensamientos a Amador que quizá no hubiera podido elevarse a la con-sideración de tales leyes cromático-geográficas [...]« (S. 29 f.). Es ist an dieser wie an anderen Stellen schwer entscheidbar, ob die offensichtlich ironische Stilerhöhung durch den wissenschaftlichen Diskurs letztlich dem Bewusstsein Pedros zuzurechnen ist, das der Erzähler nur referiert, ohne dies immer eigens zu betonen, oder ob dieser selbst in einer Art Mimikry der Hauptfigur sich deren Denkweise und Diktion zu eigen macht – gleichzeitig aber auch die Außensicht der übrigen Figuren, denn er be-zeichnet unseren Forscher in der Erzählhandlung der dritten Person hier und öfter als »D. Pedro«, was dieser in der Innensicht der ersten Sequenz natürlich nicht tut, wohl aber vielfach die ihn umgebenden sozial niedriger gestellten Figuren in ihren respektvollen Anreden.10 Zudem spricht der ______________________

10 Solche nur scheinbar geringfügigen Textphänomene vertragen sich schwer mit der These, die Dale F. Knickerbocker in seinem Aufsatz »Tiempo de silencio and the Narration of the Abject«, in: Anales de Literatura Española Contemporánea 19 (1994), S. 11-31, in Anlehnung an Felisa L. Heller vertritt, dass nämlich der gesamte Roman – also offenbar auch die vorlie-gende Erzählpassage der dritten Person sowie die Monologe anderer Figuren – eine Selbst-analyse Pedros sei; Pedro und der Erzähler seien einfach dieselbe Instanz. Dies mag allen-falls im Deutungsmuster des Verfassers, der mit psychoanalytischen Begriffen Kristevas und Lacans arbeitet und andere als narratologische Ziele verfolgt, vertretbar sein (obwohl auch psychologisch schwer einzusehen ist, warum ein nicht gerade als schizophren charak-terisierter Protagonist sich in der Außensicht gelegentlich mit der Anrede Don bedenken sollte), narratologisch dagegen entschieden nicht, weil sonst der Begriff der Erzählinstanz, der seine Erkenntniskraft ja der Tatsache verdankt, dass er sich auf konkrete sprachliche Phänomene stützt, dieser Bestimmungen mutwillig entkleidet und in eine grammatisch un-

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Erzähler in den folgenden Muecas-Sequenzen auch über Phänomene, bei denen Pedro zeitlich oder lokal gar nicht präsent sein kann, in einem ähn-lichen ironisch-wissenschaftlichen Stil wie in anderen Passagen dieser selbst. Gerade in vielen wissenschaftsrelevanten Erzählabschnitten in der dritten Person ist eine eindeutige Zuordnung der Rede zu einer der beiden Instanzen unmöglich.

Bis zur Karikatur gesteigert wird die ironische Rede in Sequenz 10 (S. 56-63), wenn der Erzähler mit scheinbar höchster Bewunderung die mittelalterlichen Vorstellungen des »Muecas, pozo de sapienza« (S. 60) – man beachte den gelehrten Italianismus – über die Urzeugung aus Schlamm und Wärme referiert, die ihn bei seiner Mäusezucht leiten, und die von Mäusebissen gezeichnete Tochter Florita mit komischer Emphase »mártir de la ciencia« (S. 61) nennt.

Die unmittelbar anschließende Sequenz (S. 63-70) bringt dann eine neue fachsprachliche Variante ins Spiel, indem die jämmerliche private Mäusezucht unter schlimmsten hygienischen Verhältnissen jetzt verfrem-dend mit bewusst ›falschem‹ Vokabular als florierendes Wirtschaftsunter-nehmen des »gentleman-farmer Muecasthone« (S. 65 f.) geschildert wird. Labanyi weist zu Recht darauf hin, dass auch sozial und intellektuell nied-rig gestellte Figuren in diesem wissenschaftlichen Hochton sprechen, und deutet das als Indiz dafür, dass Martín-Santos für seinen Roman die ›rea-listische‹ – ich würde zur Vermeidung von Missverständnissen eher sagen: mimetische – Auffassung, die Sprache einer Figur reflektiere deren Per-sönlichkeit, verwirft.11

Eine besondere Nähe zum wissenschaftlichen Diskurs weisen schließ-lich die ganz oder weitgehend aus der Erzählhandlung gelösten Sach- oder ______________________

differenzierte voz narrativa verwandelt würde. Die für viele Passagen des Romans charakte-ristische Unklarheit, welche Erzählinstanz jeweils spricht oder reflektiert, wird von Jo La-banyi in Kapitel IV (S. 117-161) ihres Buches von 1985 (Anm. 2), das ich für eine der sub-stantiellsten Diskursanalysen dieses Romans halte und mit dem ich mich deshalb intensiver auseinandersetze, geradezu als konstitutiv für dessen dominant ironisches Erzählverfahren angesehen. (Dass ich Alfonso Reys [Anm. 8] eher kritisches Urteil über Labanyis Mono-graphie hinsichtlich einer gewissen Neigung zu Biographismen und einer etwas plakativen Sartreschen Begrifflichkeit nachvollziehen kann, ändert nichts an meiner Einschätzung.) Elide Pittarello deutet im Aufsatz »Le forme eloquenti di Tiempo de silencio«, in: Rassegna Ibe-rística 30 (1987), S. 3-19, diese narrativen Inkohärenzen nicht unplausibel als ikonische Wiedergabe einer nicht mehr finalistisch geordneten Weltsicht: »Il mondo incongruente permette solo un sapere incoerente« (S. 7).

11 Labanyi, Ironía e historia, S. 131 (Anm. 2). Ich würde auch das Prädikat ›verwirft‹ durch ›weitgehend‹ o.ä. einschränken, da in der Figurenrede mimetische Elemente keineswegs völlig ausgeblendet werden. Mir scheint generell Martín-Santos’ Sprachauffassung und da-mit auch seine Romanästhetik weniger homogen, als es von der Kritikerin dargestellt wird, ich halte aber ihre Tendenz, in diesem Roman der ironischen Sprachverwendung über wei-te Strecken vor der mimetischen einen ästhetischen Vorrang einzuräumen, für grundsätz-lich richtig.

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Lehrprosa-Sequenzen auf, weil dort auch die typischen explikativen, de-skriptiven und argumentativen Textstrukturen wissenschaftlicher Darstel-lung, die ja gemeinhin nicht narrativ ist, nachgebildet werden. Zwei Vari-anten der wissenschaftlich-technischen Lehrprosa seien exemplarisch angeführt: ein längeres Gedankenspiel über die Anwendung einer für die Massenproduktion optimierten Arbeitsorganisation auf das großstädtische Bestattungswesen in Sequenz 36 (S. 168-174) und die Beschreibung von Pedros Zelle im Polizeigefängnis in Sequenz 45 (S. 204-208). Sie können bis zu einem gewissen Grad jeweils einer narrativen Instanz zugeordnet werden: die erste dem auktorialen Erzähler als fiktivem Beobachter der Beerdigung des Abtreibungsopfers (Pedro wohnt der Beerdigung nicht bei, sondern hat sich vor der Polizei in ein Bordell geflüchtet), die zweite eher dem Bewusstsein des inhaftierten Pedro, sind aber beide nicht erzäh-lender Natur.

Die erste dieser Passagen ist unverkennbar eine technisch-betriebswirtschaftliche Parodie. Es geht hier um den Plan, ein perfektes System zur zeit- und platzsparenden dreilagigen Vertikalbestattung für ärmere Schichten auf dem Madrider Cementerio del Este zu entwickeln. Hier nur ein kurzer Ausschnitt:

Puesto que el terreno de que se dispone (a despecho de la notable extensión del desierto periciudadano) es forzosamente limitado, mientras que el número de muertos puede considerarse prácticamente infinito ya que, a lo largo del curso ininterrumpido del tiempo, cada día con parsimonia o con generosidad aporta su carga, ha sido preciso poner a punto una técnica de aprovechamiento que, al mismo tiempo que limita la extensión de la zona putrefactora, disminuye los gastos que el erario debe dedicar a este novísimo servicio prestado a cada ciuda-dano. [...] De acuerdo con estas normas, los sepultureros del Este, en lugar de ju-guetear con calaveras o tibias haciendo bromas macabras casi siempre de dudoso gusto, dedican su actividad de un modo continuo a un trabajo normalizado y racio-nal. Mientras una de las brigadas, que podemos designar con la letra A, confecciona en la tierra rojiza unas fosas paralelepipédicas rectangulares de una profundidad aproximada de cuatro metros y de la anchura y largura que una larga experiencia ha demostrado ser la más conveniente, otra brigada que podemos designar C transpor-ta en carretillas hacia unos terrenos donde se aprovecha como relleno la parte sobrante – que viene a ser algo menos de los siete octavos del total –, al par que la brigada B se dedica al enterramiento propiamente dicho que siendo la fase más especializada del proceso merece una descripción más minuciosa. (S. 169 f.)

In diesem Projekt waltet offensichtlich höchste technische Ratio. Als Zu-geständnis an den unzuverlässigen Faktor Mensch wird später sogar der optimierte Beerdigungszeittakt noch durch einen »coeficiente corrector basado en el respeto al dolor humano de los deudos« (S. 171) flexibilisiert.

In dem zitierten Textausschnitt sind besonders viele typische Stileigen-tümlichkeiten wissenschaftlich-technischer Darstellung versammelt: eine streng funktionalistische Fachterminologie, eine standardisierte Syntax mit Funk-

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tionsverben in der dritten Person Präsens und mit zahlreichen kausalen Nebensätzen, eine betont rationale Argumentationstechnik, niveauerhö-hende schriftsprachliche AcI- und gerundio-Konstruktionen, numerische Präzision, die Orientierung der Beschreibungstechnik an geometrischen Modellen und die Einführung von Kürzeln (»que podemos designar con la letra A« etc.) zur Exemplifizierung und Abstraktion. Selbst absatzfördern-de moralisch-didaktische Erwägungen (»en lugar de juguetear con calave-ras« etc.) fehlen nicht, denn natürlich muss eine neue wissenschaftlich-technische Entwicklung auch auf dem Markt durchgesetzt werden – der Text wirkt geradezu beängstigend zeitgenössisch. In anderen Passagen dieser Beschreibung kommen dazu noch zahlreiche biologisch-medizinische Termini.

In einer eigentümlichen Metalepse, die sogar die Grenzen der Narrati-vität selbst überspringt (und daher, soweit ich sehe, bei den Erzähltheore-tikern als Phänomen gar nicht vorgesehen ist), tauchen die hier als theore-tisches Konstrukt eingeführten Arbeitsbrigaden A, B und C gegen Schluss der Sequenz in der fiktionalen Erzählhandlung auf, die sich an die Darle-gung des Projekts anschließt. Als nämlich die Beerdigung Floritas durch die Autopsieanordnung eines Richters unterbrochen werden muss, zeigen sich die eigentlich zur wissenschaftlich-technischen Projektwelt gehören-den ›Arbeiter‹ wenig erfreut über die Exhumierungstätigkeit, die verhin-dert, dass an diesem Tag die »acostrumbrada norma de eficacia« (S. 173 f.) ihres schönen tayloristischen Modells erreicht wird.

Eine andere Variante wissenschaftlicher Sachprosa bietet Sequenz 45, in der Pedros Zelle mitsamt ihrem Mobiliar in exzessiv geometrisierender und homogenisierend-aufzählender Manier beschrieben wird, wie sie als »chosisme« aus manchen nouveaux romans bekannt ist. Zur Genauigkeit der Angaben kommt hier noch die Betonung der Funktionalität des Ganzen für die Gefangenen, die euphemistisch als »huéspedes« (S. 206) bezeichnet werden, sodass zugleich ungeachtet des bedrückenden Orts der Eindruck eines politisch-technischen Werbetextes entsteht. Im unmittelbar daran anschließenden Angstmonolog des inhaftierten Pedro (S. 208-214), der zu Recht immer als besonders radikales Beispiel avantgardistischen Erzählens angesehen worden ist, spielt dagegen der wissenschaftliche Diskurs, der ihn sonst begleitet wie keine andere Figur des Romans, bezeichnenderwei-se keine Rolle mehr: Hier treten offenbar psychische Tiefenschichten zu Tage, die die Wissenschaft nicht mehr erreicht.

Welche Funktionen sollen wir all diesen sprachlichen Auffälligkeiten nun zuschreiben? Die Textbeispiele dürften gezeigt haben, dass die themati-sierten Diskursformen in den theoretischen wie in den erzählenden Ab-schnitten bei aller punktuellen Verfremdungskomik aus Tiempo de silencio

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insgesamt kein komisches oder gar heiteres Buch machen, sondern dass gerade auch im Zusammenhang mit dem Thema Wissenschaft ein sarkas-tisch-kritischer bis desillusionierter Ton vorherrscht.

Eine Zielrichtung ist mit Sicherheit die politische Satire.12 All die offen-sichtlich ironische Hochrede im Zusammenhang mit der fröhlichen spani-schen Wissenschaft, die keine sozialen Gegensätze kenne, sondern nur das gemeinsame nationale Wohl,13 wird ja offen konterkariert durch die Arm-seligkeit der sozialen und forschungspolitischen Zustände, insbesondere die Ressourcenknappheit. Am deutlichsten zeigt sich das in Sequenz 57 (S. 245-251), in der unmittelbar vor Pedros Entlassung das Hohelied der Wissenschaft ertönt:

Que la ciencia más que ninguna de las otras actividades de la humanidad ha mo-dificado la vida del hombre sobre la tierra es tenido por verdad indubitable. Que la ciencia es una palanca liberadora de las infinitas alienaciones que le impiden adecuar su existencia concreta a su esencia libre, tampoco es dudado por nadie. [...] Como un ejército aguerrido, llevando al brazo no armas destructoras no bay-onetas relampagueantes, sino microscopios, teodolitos, reglas de cálculo y pipetas capilares las falanges de la ciencia marchan así en grandes pelotones bien organi-zados. (S. 245 f.)

Satirisch wird diese Emphase, durch Sartresche Anleihen (Zeile 3 f.) und die traditionelle kriegerische Wissenschaftsmetaphorik im zweiten Teil des Zitats unterstützt, vor allem durch ihren evidenten Spanienbezug; das Wort falange hat in diesem Zusammenhang durchaus seine konkreten poli-tischen Konnotationen.

Nach einer beschönigenden Schilderung der armseligen Arbeits-bedingungen spanischer Forscher folgt als höchste Steigerung eine ironi-sche Antiphrasis spanischer Wissenschaftserfolge:

¡Cuántas patentes industriales no surgen en nuestro suelo que apresuradamente adquieren los rapaces industriales extranjeros! ¡Cuántas drogas inéditas y eficaces no vienen cada día a mejorar los medios de lucha de nuestros voluminosos hospi-tales! ¡Cuántos teóricos desarrollos de las ciencias más abstrusas, la Física, el cálculo de matrices vectoriales, la química de las macroproteínas, la balística astronáutica no son comunicados a las Academias de los países cultos para su estudio y admirada comprobación! ¡Cuántos ingeniosos prodigios de las ciencias aplicadas no sorprenden al visitante de cualquiera de nuestras Exposiciones de Inventores! (S. 247)

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12 Ich halte an diesem Urteil entgegen Befunden wie »La presentación de Pedro no es satírica, sino irónica« (Labanyi, Ironía e historia, S. 144 [Anm. 2]) fest, da ich nicht der Auffassung bin, Satire und Ironie bildeten zwingend einen Gegensatz auf gleicher begrifflicher Ebene. Labanyi vertritt eine dichotomisierende Auffassung: bei der Satire gebe es wahr oder falsch, bei der Ironie nur wahr und falsch zugleich, also Ambiguität (ebd., S. 149), sie ist aber in ihrer Begriffsverwendung gelegentlich auch weniger rigide.

13 Vgl. oben das Zitat S. 262.

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Werner Helmich 268

Die Pointe dieser Suada liegt zum einen im Spiel mit verschiedenen Sprechakten (all diese Ausrufe lassen sich syntaktisch ja auch als Fragen lesen, die implizit negativ beantwortet werden), zum andern in der Be-zeichnung gerade der besonders innovativen Naturwissenschaften als »ciencias más abstrusas«. Dieses Wissenschaftsverständnis dürfte weitge-hend das des bald danach auftretenden Forschungsdirektors sein, der sich als Verehrer deutscher Buchgelehrsamkeit präsentiert, als eleganter Kom-pilator den Abstieg in die Niederungen des Experiments verachtet und den Forscherberuf als »sacerdocio« versteht (S. 250).14 Hinter dieser Kari-katur eines hieratisch deformierten Naturwissenschaftlers steht mögli-cherweise auch eine Satire der traditionellen Hierarchie der ›zwei Kultu-ren‹, die in dieser Zeit ja allenthalben die Gemüter bewegt hat.

Sicher satirisch gegen die geringe intellektuelle Seriosität der Philoso-phie des so genannten Perspektivismus gerichtet ist die Parodie des Vor-trags eines renommierten »gran Maestro« im Cine Barceló in den Sequen-zen 32-33 (S. 151-158), der die These vertritt, die Spanier seien wegen ihres ›schlechten (west)gotischen Bluts‹ nicht für die Wissenschaft ge-schaffen (S. 153), und hinter dem sich nach einhelliger Einschätzung Or-tega y Gasset verbirgt.

Auch die Gegeninstanz wird nicht namentlich genannt, sondern er-scheint gleich auf der ersten Textseite und dann noch mehrfach nur als »hombre de la barba«, dessen Porträt an der Wand in Pedros Laboratori-um hängt und tröstlich auf ihn herniederschaut:

El retrato del hombre de la barba, frente a mí, que lo vio todo y que libró al pueblo ibero de su inferioridad nativa ante la ciencia, escrutatorio e inmóvil, pre-sidiendo la falta de cobayas. Su sonrisa comprensiva y liberadora de la inferiori-dad explica – comprende – la falta de créditos. Pueblo pobre, pueblo pobre. ¿Quién podrá nunca aspirar otra vez al galardón nórdico, a la sonrisa del alto rey, a la dignificación, al buen pasar del sabio que en la península seca espera que fructifiquen los cerebros y los ríos? (S. 7)

Dieses Porträt weist eindeutig auf Santiago Ramón y Cajal, der als einziger spanischer Mediziner im Jahr 1906 den Nobelpreis (den »galardón nórdi-co«) erhalten hatte und dessen Bild zur Entstehungszeit des Romans in der Tat als Ansporn für die Wissenschaftler in allen spanischen For-schungseinrichtungen hing. Robert C. Spires hat diese und ähnliche Stel-len in Tiempo de silencio geradezu als satirische Antwort des Autors auf die in den frühen Sechzigerjahren von der Organisation Opus Dei mit aus-drücklicher Billigung des Regimes propagierte wissenschaftlich-technische

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14 Dass er wirklich so eindeutig als Laín Entralgo entschlüsselbar sei, wie Labanyi, Ironía e historia, S. 17 (Anm. 2), meint, scheint mir nicht zwingend, zumal sie selbst die sacerdocio-Vorstellung eher aus Ortega herleitet.

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Der wissenschaftliche Diskurs in Martín-Santos’ Tiempo de silencio 269

Erneuerung Spaniens bei anhaltender innenpolitischer Unfreiheit und außenpolitischer Isolierung aufgefasst.15

Eine solche Deutung, die ich im Prinzip für plausibel halte, geht im-merhin bereits über die naturalistische Lesart hinaus, weil sie neben der Konstatierung der allgemeinen Sozialkritik auch eine Begründung für die insolente parodistische Sprachform des Romans gibt. Ich meine aber nicht, dass sich der wissenschaftliche Diskurs des Romans in einer solchen punktuellen historisch-politischen Satire erschöpft.

Es scheint mir vielmehr geradezu geboten, Tiempo de silencio zugleich als eine – durchaus nicht generell wissenschaftsfeindliche – mit ästheti-schen Mitteln in Szene gesetzte Selbstkritik der technisch instrumentalisierten Wissenschaft und ihrer verengten Rationalität zu lesen, d.h. im Licht einer ›Dialektik der Aufklärung‹. Dafür sprechen nicht nur die parodistischen Spitzen gegen den wissenschaftlichen Kategorisierungswahn und die Hy-pertrophie der Vorstellungen technischer Machbarkeit, etwa im Cementerio-Abschnitt, sondern auch einige für den Leser schwer erträgliche Textpas-sagen über die Qualen von Versuchstieren: Es gibt hier nicht nur Krebs-mäuse, sondern auch Hunde, denen Oberschenkel aus Kunststoff und Fisteln eingepflanzt werden und die darauf unablässig vor Schmerz heu-len, bis sie vom Gehilfen Amador mit einer Giftspritze getötet und seziert werden.

Und weil das wohl auch der Forscher Pedro zunehmend so empfin-det, scheint er seinem Scheitern, auf das der Romanschluss zweifellos hinausläuft, als dem biographisch unerwünschten und doch notwenigen Ende dieser Wissenschaft auch so wenig inneren Widerstand entgegenzu-setzen. Die Deutung »Von der wissenschaftlichen Ordnung zum fracaso«,wie Michael Ugarte den Handlungsverlauf des Romans zusammengefasst hat,16 ist nur dann vertretbar, wenn diese wissenschaftliche Ordnung nichteinfach positiv valorisiert wird, sondern gerade in ihren technischen As-pekten auch als partiell wahnhaftes und unmenschliches Konstrukt gese-hen wird, ob nun vom Protagonisten, vom Erzähler oder von beiden.17______________________

15 Robert C. Spires, »The Discursive Field of Tiempo de silencio«, in: Intertextual Pursuits. Literary Meditations in Modern Spanish Narrative, hrsg. v. Jeanne P. Brownlow/John W. Kronik, Le-wisburg/London 1998, S. 161-178. Die ideologischen Anleihen bei Foucault und anderen, mit denen dieser Befund vor allem gegen Schluss befrachtet wird, scheinen mir vom Text her zum Teil wenig überzeugend, die Zentralthese wird durch sie aber nicht invalidiert.

16 Michael Ugarte, »Tiempo de silencio and the Language of Displacement«, in: Modern Language Notes 96 (1981), S. 340-357. Ähnlich im Gesamtduktus, aber mit einigen bemerkenswerten semantischen Nuancen beim Zentralbegriff des fracaso, Jesús Pérez Magallón, »El proyecto acosado: El fracaso en Tiempo de silencio de Luis Martín-Santos«, in: Revista Hispánica Moderna47 (1994), S. 134-145.

17 Ansätze zu einer solchen Auffassung finden sich in Ugartes Aufsatz von 1981 durchaus (etwa S. 352 [Anm. 16]), auch wenn er zu einer ganz negativen Gesamtwertung des Ro-mans kommt – ich vermute, vor allem aufgrund der (romantheoretisch unhaltbaren)

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Werner Helmich 270

Die romanesk in Szene gesetzte Parodie der Wissenschaft ist wesentlich Parodie des Falschen in der Wissenschaft selbst, und ich vermute, die exzessive Verwendung von Wissenschaftssprache habe auch die Aufgabe, Deformationen des wissenschaftlichen Denkens abzubilden.

Pedros Äußerung »no estoy dotado« (S. 278) mag als schmerzliche Einsicht oder als indirekte Kritik an den spanischen Verhältnissen ver-standen werden, sie signalisiert aber auch das Erwachen aus einem Alb-traum, der bis dahin nur mit Ironie und Sarkasmen erträglich gemacht worden war. Es fällt auf, dass in Pedros resignativem stream-of-consciousness-Schlussmonolog, der tektonisch als Replik auf die Ich-Erzählung der ers-ten Szene zu lesen ist,18 zwar noch von Medizin und Biologie die Rede ist, aber ganz ohne die bis dahin dominante ironische Stilnobilitierung von der eintönigen Praxis als Landarzt und der Grausamkeit der Vivisektion von Fröschen.

Im Übrigen wird Pedro von allem Anfang an keineswegs als der lei-denschaftliche Forscher dargestellt, der den zweiten spanischen Nobel-preis erringen möchte, wie er in der Kritik gelegentlich erscheint,19 son-dern als eher leichtsinniger, von den Zerstreuungen des Lebens ablenk-barer und seiner wissenschaftlichen Sache wenig sicherer Stipendiat, der bald ahnt, dass er mit seinen Arbeiten in ein halbkriminelles Milieu hi-neingeraten ist, in dem auch ohne sein aktives Zutun für die Töchter des Muecas die Gefahr tödlicher Infektionen besteht, der im Gespräch offen zugibt, seine Untersuchungen seien nicht originell, da Amerikaner sie bereits vor ihm unternommen hätten (S. 148), und der sich darum zum Selbstschutz in eine distanziert-ironische Haltung rettet.

Die spielerisch-exuberante Sprachform scheint überhaupt neben der Spanien-Satire bis zu einem gewissen Grad von Pedro und wohl auch vom Erzähler geradezu als Gegengift eingesetzt worden zu sein, um das Bewusstsein all des Leidens durch die (im vorliegenden Fall: biologische und medizinische) Wissenschaft, und zwar nicht nur durch eine spanisch-zurückgebliebene, also durch Geldmittel und politischen Fortschritt heil-bare Wissenschaft,20 zu neutralisieren und so zur Sprache zu bringen, ______________________

Gleichsetzung aller Äußerungen des Protagonisten Pedro und des Erzählers mit denen des (textexternen) Autors Martín-Santos.

18 Dazu ausführlich Carmen de Zulueta, »El monólogo interior de Pedro en Tiempo de silencio«, in: Hispanic Review 45 (1977), S. 297-309.

19 So etwa bei Robert C. Spires, »La estética posmodernista de Tiempo de Silencio«, in: LuisMartín-Santos, hrsg. v. Iñaki Beti Sáez, S. 9-20 (Anm. 2), hier: S. 16; etwas anders nuanciert bei Carlos Mellizo, »De Cajal a Martín-Santos«, in: España Contemporánea 2,3 (1989), S. 61-74. Die Nobelpreisidee ist nach deutlichen Textsignalen von der ersten Sequenz an eher Selbstironie als ernsthaft angestrebtes Lebensziel Pedros.

20 Ich betone das, weil ich damit über die gängige Schlussdeutung, die vor allem auf die Kritik der schlechten franquistischen Wissenschaftspolitik abzielt – so etwa noch Gonzalo Sobe-

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Der wissenschaftliche Diskurs in Martín-Santos’ Tiempo de silencio 271

ohne in das traditionelle naturalistische Leidenspathos zu verfallen. Wenn man das noch unter dem Terminus ›Sprachspiel‹ durchgehen lässt, mag man Tiempo de silencio in der Tat als Sprachspiel bezeichnen.

Unter literarhistorischem Blickwinkel betrachtet, verhält sich der scheiternde Pedro zu dem ebenfalls scheiternden Andrés Hurtado aus Barojas Árbol de la ciencia ähnlich wie der Protagonist des Romans La co-scienza di Zeno zu seinem Vorgänger Alfonso Nitti in Italo Svevos naturalis-tischem Erstling Una vita, der wie Andrés seinem Leben ein Ende setzt. Obwohl sichtlich tiefer vom Leben getroffen als Zeno (und darum auch am Schluss deutlich depressiver), meidet Pedro doch das große naturalisti-sche Enttäuschungspathos und den Selbstmord und sucht den fracaso statt dessen in desillusioniert-ernüchterter Reflexion zu bewältigen. Das ist ästhetisch in beiden Fällen wohl die modernere Antwort. Mit ihr nimmt Martín-Santos’ Roman in der Geschichte der literarischen Wissenschafts-thematisierung eine eigenartige Übergangsposition zwischen der naturalis-tisch-pathetischen und der gelehrt-spielerischen Variante eines Borges oder Calvino ein.

Dass diese Antwort in der spezifischen Problemstellung dieses Ro-mans freilich nur ein Palliativ ist und kein Heilmittel, zeigt sich daran, dass Pedros Schlussmonolog bei aller postnaturalistischen Dämpfung mit selbstquälerischen Kastrations- und Vernichtungsphantasien durchsetzt ist. Der dort begegnende Satz »Es un tiempo de silencio« (S. 283), dem der Romantitel entnommen ist, signalisiert ja nicht etwa eine innere Beruhi-gung, sondern ist ein Erklärungsversuch für das dem Protagonisten selbst verwunderliche geringe Schmerzempfinden nach all seinen Niederlagen durch einen Vergleich mit dem Zustand der Menschheit nach einer Atombombe, die nicht durch die Wucht der Explosion, sondern durch stille Strahlung töte.21 Und auch sie ist bekanntlich ein Produkt wissen-schaftlicher Forschung.

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jano, »Destrucción y construcción en las novelas de Luis Martín-Santos«, in: Luis Martín-Santos, hrsg. v. Iñaki Beti Sáez, S. 59-83 (Anm. 2), hier: S. 66 –, hinausgehe.

21 Es sei angesichts der oben skizzierten Analogie daran erinnert, dass auch die Euphorie des durch den Kriegsausbruch 1914 angeblich von seinen Neurosen geheilten Zeno im Schlussmonolog abrupt in eine apokalyptische Phantasie mündet.

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ANKE WESSER

Fakten und Fiktion in Eduardo Mendozas Roman La ciudad de los prodigios

1. Einleitung

Literatur und Wissenschaft, zwei im Sinne Luhmanns in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft autonome Systeme, die unter-schiedliche Funktionen übernehmen und unterschiedlich codiert sind, finden in einem Werk zusammen, das im Gewand des historischen Ro-mans erscheint, sich aber nicht zweifelsfrei dieser Gattung zuordnen lässt: Eduardo Mendozas La ciudad de los prodigios. 1986, knapp elf Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur in Spanien erschienen, ist der Roman durch einen besonderen Umgang mit den beiden Systemen Literatur und Wissenschaft (bzw. Geschichtsschreibung) gekennzeichnet. Im vorliegen-den Beitrag soll auf dieses besondere Verhältnis eingegangen werden, unter besonderer Berücksichtigung des Spanien-spezifischen historischen Kontextes, der literarischen und historiographischen Traditionen, in die sich der Roman einschreibt, und der kulturgeschichtlichen Epoche der Postmoderne, deren grundlegendes Merkmal die ironische Neureflexion ist, nicht zuletzt auch die wahrer historischer Fakten.

Ganz im Sinne des für die Postmoderne charakteristischen Ludismus gelingt es Mendoza in seinem Roman, die Kluft zwischen Literatur und Geschichtsschreibung, zwischen Fiktion und Fakten, aufzuheben, indem er dem Leser in fast schon märchenhafter Manier die Lebensgeschichte des Onofre Bouvila erzählt, der als Jugendlicher mittellos aus der Provinz nach Barcelona kommt, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und der die Stadt als mächtigster Mann des Landes an Bord einer spekta-kulären aeronautischen Erfindung verlassen wird. Mendoza nutzt dabei nicht nur jede Gelegenheit, um die Erzählung mit eingestreutem histori-schen Material, etwa in Form von Zeitungsartikeln oder Statistiken, zu spicken und durch diese wie zufällig erscheinenden Einschübe eine Stadt-chronik Barcelonas aus der Zeit zwischen den beiden Weltausstellungen 1888 und 1929 zu entwerfen, sondern er porträtiert auch die spanische und europäische Geschichte über dieses Zeitfenster hinaus, wobei er sein

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Anke Wesser 274

besonderes Augenmerk auf den wissenschafts- und fortschrittsoptimisti-schen Zeitgeist des 19. Jahrhunderts richtet. Durch diesen spielerischen Umgang mit verschiedenen Diskursen aus literarischen und nicht-litera-rischen Gattungen und Disziplinen ergibt sich die für die Postmoderne typische Mehrdeutigkeit des Romans, die den Leser dazu einlädt, sich auf das verwirrende labyrinthische Spiel aus Fakten und Fiktion einzulassen.

Warum bietet sich gerade dieser Roman Mendozas für eine analytische Betrachtung im Rahmen des problematischen Verhältnisses von Literatur und Wissenschaft bzw. Geschichtsschreibung an und welche Konsequen-zen ergeben sich daraus für das grundlegende Verständnis von Geschich-te?

In Mendozas Roman liegt eine Interferenz von literarischem und wis-senschaftlichem Diskurs vor. Damit werden Elemente zweier eigentlich voneinander getrennter autonomer Systeme mit jeweils unterschiedlichen Leitdifferenzen (›schön/hässlich‹ im Falle der Literatur, ›wahr/falsch‹ im Falle der Wissenschaft) bei Mendoza spielerisch zusammengewürfelt. Doch warum wetteifert das autonome System Literatur mit dem wissen-schaftlichen Diskurs bzw. in unserem Fall mit dem historiographischen Diskurs, hat es sich doch erst seit der Ausdifferenzierung des Kunstsys-tems1 um 1800 etwa von politischer, moralischer oder religiöser Fremdbe-stimmung losgelöst und die gleiche Autonomie erlangt wie andere Funkti-onssysteme (Wirtschaft, Politik, Religion, Wissenschaft etc.)? Ich behaup-te, dass die Gründe hierfür in dem literaturhistorischen Kontext des Au-tors zu suchen sind. Der Roman erscheint 1986, knapp elf Jahre nach Francos Tod, und damit in einer Zeit, in der die spanische Literatur gar nicht anders kann, als Geschichte zu reflektieren, in einer Zeit, in der das Erzählen von Geschichte neu gelernt werden muss. Dieser Rückbezug auf historische Gegebenheiten ist im Postfranquismus deshalb so wichtig, weil während der Franco-Zeit die Leitdifferenz ›wahr/falsch‹ des Systems Wis-senschaft bzw. Geschichte ihre Gültigkeit zugunsten eines verfälschenden, selbstherrlichen und pathetischen Geschichtsverständnisses verloren hat-te, das durch die Zensurpolitik aufrecht erhalten wurde. Andererseits kommt es – nicht nur in Spanien – im Zuge der Postmoderne in Kunst und Literatur immer wieder zu einer ironischen Neureflexion von Ge-schichte, zu einer Vermischung von unterschiedlichen Diskursen und dadurch zu einer veränderten, kritischeren Rezeption von Geschichte, welche nicht weniger konstruiert erscheint als fiktionale Narrationen.

Rezeptionsästhetisch wirken sich die Anleihen beim wissenschaft-lichen, historiographischen Diskurs, wie sie in La ciudad de los prodigios vor-

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1 Vgl. Niklas Luhmann, »Die Funktion der Kunst und die Ausdifferenzierung des Kunstsys-tems«, in: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 215-301.

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Fakten und Fiktion in Eduardo Mendozas Roman La ciudad de los prodigios 275

liegen, dergestalt aus, dass der Leser oft nicht zwischen dem Wahrheits- und dem Unwahrheitsgehalt des narrativen Diskurses unterscheiden kann. Historische Fakten und literarische Fiktion vermischen sich stellenweise derart miteinander, dass die Glaubwürdigkeit des Erzählers darunter lei-det. Der Leser neigt dazu, auch explizit markierte historische Exkurse als fiktiv zu deuten.

Die poetologische Bezugnahme auf den Diskurstyp Wissenschaft, wie sie sich bei Mendoza findet, hat indes nicht nur einen zeitgenössischen Index, sondern sie steht auch in der Tradition Honoré de Balzacs und des von ihm geschaffenen Paradigmas des realistischen Romans. Mendoza orientiert sich an dem wissenschaftlichen Diskurstyp Geschichte bzw. Historiographie in ähnlicher Weise, wie Balzac sich 1842 in der Vorrede zur Comédie humaine an naturwissenschaftlichen Modellen (Cuvier, Buffon), aber auch am historischen Roman Walter Scotts orientierte, dessen Modell er auf die Darstellung zeitgenössischer Sachverhalte übertrug. Beide legi-timieren so – Mendoza freilich im Gegensatz zu Balzac in ironischer Bre-chung – ihren Anspruch, ein Sittengemälde ihrer jeweiligen Gesellschaft zu entwerfen, als wissenschaftliche Arbeit.

Meine These lautet folgendermaßen: Mendoza verwendet in dem Roman eine Doppelstrategie, die Geschichtsdarstellung grundlegend in Frage stellt. Diese Doppelstrategie funktioniert dergestalt, dass der Erzäh-ler in La ciudad de los prodigios einerseits um die Glaubwürdigkeit des zitier-ten Modells des historischen Romans bemüht ist und diese Glaubwürdig-keit durch eine Vielzahl unterschiedlicher Authentizitätssignale, etwa in Form von Zeitungsartikeln, Statistiken und Chroniken, zu untermauern versucht. Andererseits fiktionalisiert er stellenweise diese historischen Figuren und Gegebenheiten, er verleiht ihnen einen fast schon märchen-haften Charakter, verzerrt sie ironisch oder verwebt sie mit einer neuen, erfundenen Geschichte. Dabei sind die historischen Bezüge teilweise klar markiert, teilweise werden sie aber ohne Warnung des Lesers in das Ro-mangeschehen integriert, so dass dieser oft nicht zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann. Mendoza stellt durch diese Doppelstrategie die Leitdifferenz ›wahr/falsch‹ des Diskurstyps Geschichtsschreibung grundlegend in Frage, indem er Geschichte nicht objektivierend darstellt, sondern dem Leser verdeutlicht, dass es immer eine subjektive Filterung gibt in Form eines Autors, der den historiographischen Diskurs kon-struiert, ebenso wie er den narrativen fiktionalen Diskurs konstruiert. Motiviert wird dieses Offenlegen des Konstruktcharakters der Ge-schichtsdarstellung durch die spezielle Situation des Postfranquismus, in der die Literatur ihren Autonomiestatus, den sie eigentlich seit der Ausdif-ferenzierung der Kunst im 19. Jahrhundert besitzt, neu definieren muss.

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2. Die Reflexion von Geschichte in der Literatur des Postfranquismus

In der Nachkriegszeit und vor allem nach 1975, mit Beginn der transición,kann man in der spanischen Literatur eine Tendenz zur verstärkten Refle-xion von Geschichte und Gegenwart beobachten, die einerseits in der Form des Kriminalromans, andererseits in einer neuen postmodernen Variante des historischen Romans, der nueva novela histórica, verarbeitet wird: »Estas novelas renuevan el género de la novela histórica en España al presentar frente al discurso histórico el contradiscurso novelesco, frente al proceso de recuperación de la historia su parodia.«2

Einer der wichtigsten Vertreter des spanischen Kriminalromans ist Manuel Vázquez Montalbán, der seit Mitte der Siebzigerjahre mit seiner Carvalho-Serie nicht nur dem in Spanien bisher traditionslosen Genre der novela negra zu Bekanntheit und Beliebtheit verhalf, sondern darüber hinaus auch eine Chronik der transición schuf. Dies gelang ihm, indem er die Stadt Barcelona zur heimlichen Protagonistin seiner Romane machte, und vor allem, indem er deren soziale, politische und wirtschaftliche Probleme, die die Umwälzungen der postfranquistischen Zeit mit sich brachten, chrono-logisch aufzeichnete.3

Bevor wir nun zu Eduardo Mendoza und zu dessen spezifischer Form des neuen historischen Romans kommen, ist es sinnvoll darauf hinzuwei-sen, dass es sich weder bei Vázquez Montalbán noch bei Mendoza um eine »Vergangenheitsbewältigung à la española«4 handelt. Neuschäfer ver-wendet diesen Terminus zur Bezeichnung einer Tendenz im spanischen Roman der Neunzigerjahre, der es um eine Freilegung von Verdrängtem durch die Erinnerung geht, bis hin zu einer Akzeptanz der franquistischen Vergangenheit als Teil der eigenen Identität, wie beispielsweise in Antonio Muñoz Molinas El jinete polaco (1991). Der Roman, der durchaus auch als nueva novela histórica bezeichnet werden kann, beschreibt die Erinnerungs-arbeit eines in New York lebenden Protagonisten, der über eine Aufarbei-tung seiner Erinnerungen an die in der Enge seines spanischen Heimat-dorfes verbrachte Kindheit schließlich zu einer Anerkennung der eigenen Geschichte gelangt.5 Bei Vázquez Montalbán und Mendoza ist der Um-

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2 Amalia Pulgarín, »La nueva novela española y su interés por la Historia«, in: Metaficción historiográfica: La novela histórica en la narrativa hispánica posmodernista, Madrid 1995, S. 17-20, hier: S. 19.

3 Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer, »Nach 1975. Tendenzen der spanischen Gegenwartsliteratur«, in: Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart 2001, S. 389-424, hier: S. 404.

4 Ebd., S. 406 f. 5 Vgl. ebd., S. 407 f.

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Fakten und Fiktion in Eduardo Mendozas Roman La ciudad de los prodigios 277

gang mit Geschichte ein anderer. Obwohl beide Autoren in ihren Werken Geschichte reflektieren, tun sie dies auf unterschiedliche Art und Weise.

Während Vázquez Montalbán bis zu seinem Tod im Jahr 2003 eher als scharfsinniger Beobachter der spanischen Vergangenheit und Gegen-wart galt, der in verschiedenen Presseorganen als politischer Journalist und Essayist sowohl während des Spätfranquismus als auch danach immer wieder »gegen das Vergessen«6 anschrieb, sind die Romane Eduardo Men-dozas, wie z.B. sein Erstlingswerk La verdad sobre el caso Savolta, das im Schwellenjahr 1975 erschien, und La ciudad de los prodigios, durch einen ironischeren Umgang mit historischen Fakten gekennzeichnet. Charakte-ristisch für die nueva novela histórica ist der entspannte, spielerische und ironische Umgang mit historischen Wahrheiten, der sich bei Mendoza nicht mehr nur auf die Franco-Zeit beschränkt, sondern auf alle Bereiche der Geschichte, z.B. auf Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte oder Zeitgeist, ausgeweitet wird. Dabei kann man feststellen, dass dieser spezi-fisch ironische Umgang mit Geschichte eng verknüpft ist mit der faschis-tischen Vergangenheit Spaniens, die die Literaturproduktion mittels Zen-surpolitik7 kontrollierte und dafür sorgte, dass die traditionellen Werte ›Gott, Familie, Vaterland‹ in allen Medien propagiert wurden. Auch die Darstellung von historischen ›Wahrheiten‹ war von dieser Zensurpolitik betroffen; so musste die spanische Geschichte stets verherrlicht und ihre Helden makellos gezeichnet werden. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass Mendoza als einer der wichtigsten Vertreter der postfranquisti-schen Literatur und als Begründer des neuen historischen Romans Ge-schichte durch eine reflexive, achronologische, skeptische und ironische Erzählweise parodierend in Frage stellt.

Um den Bogen zu schlagen zu dem Rahmenthema ›Literatur und Wis-senschaft‹ und den systemtheoretischen Begriffen Luhmanns, gehe ich davon aus, dass sich Literatur in der Zeit nach dem Franquismus neu behaupten und ihre Autonomie wieder finden muss, war sie doch wäh-rend des Franco-Regimes heteronom, d.h. weitestgehend abhängig von Staat und Kirche bzw. der Zensur, und konnte nicht nach der ihr eigenen Leitdifferenz ›schön/hässlich‹ funktionieren bzw. das Unbeobachtbare sichtbar machen.8 Gerade in der Ausübung dieser Funktion wurde sie behindert. Man kann in einer etwas gewagten These sogar weiter gehen und behaupten, dass der Literatur durch die Zensur die Leitdifferenz der ______________________

6 Ebd., S. 405. 7 Für eine ausführliche Darstellung der Zensurpolitik während der Franco-Zeit siehe Hans-

Jörg Neuschäfer, Macht und Ohnmacht der Zensur. Literatur, Theater und Film in Spanien (1933-1976), Stuttgart 1991.

8 Zur Funktion von Kunst in der Moderne siehe Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 241 (Anm. 1).

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Wissenschaft ›wahr/falsch‹ (verstanden als dogmatisch-ideologische Be-griffe) oktroyiert wurde, da sie nach solchen Kriterien beurteilt und zen-siert wurde.

Aber zurück zu meiner Ausgangsthese, Mendoza stelle durch seine Erzählweise die Geschichtsdarstellung grundlegend in Frage. Aus dem konfliktreichen Verhältnis, das sich aus dem Bezug seines Romans auf den wissenschaftlichen Diskurs der Historiographie ergibt, resultiert, dass der Text ein Stück seiner Identität einbüßt, indem er sich auf das ihm eigent-lich fremde Gebiet der Wissenschaft begibt. Mendoza ist sich dessen durchaus bewusst und entgegnet diesem Identitätsverlust des literarischen Textes durch die ironisch-humoristische und parodierende Darstellung der Wissenschaft. Dabei parodiert er durch seine skeptische und achrono-logische Erzählweise nicht nur die Geschichtsdarstellung, wie sie im histo-rischen Roman Walter Scotts oder bei Balzac stattfindet, sondern jede Art von Geschichtskonstruktion, auch die seiner unmittelbaren Vergangen-heit.

Als weitere Beispiele für einen augenzwinkernden Rückbezug auf den Franquismus können die Ansiedlung der Handlung in Barcelona und de-ren Stilisierung zur Weltstadt sowie die anfängliche Darstellung des Prota-gonisten als Opportunist und Anarchist genannt werden, galt doch der Anarchismus als Feindbild der Diktatur; solch maßloser Individualismus verstieß gegen die traditionellen moralischen Werte, um deren Aufrecht-erhaltung das Regime so bemüht war. Bemüht war das Franco-Regime auch um den Erhalt der spanischen Einheit. Die Mythisierung Barcelonas als Weltstadt und des Protagonisten als Großkapitalist, der nur dank sei-nes katalanischen Ehrgeizes zu einem der reichsten und mächtigsten Männer des Landes wurde, kann als ironische Replik auf den franquisti-schen Wahn, alle Minderheiten zu unterdrücken, gelesen werden.

In einem Interview beschreibt Mendoza die Zensurmaßnahmen der franquistischen Regierung als »confiscation d’une certaine mémoire collec-tive«,9 als Konfiszierung oder Beschlagnahme eines bestimmten kollekti-ven Gedächtnisses. Der Begriff der mémoire collective wurde in den Zwanzi-gerjahren von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs geprägt und beschreibt Erinnerungen, die das Kollektivgedächtnis konstituieren, als Produkt sozialer und gruppenbezogener Kommunikation.10 Es ist ______________________

9 Gérard Cortanze, »Eduardo Mendoza: J’appartiens à une génération qui a voulu oublier«, in: Magazine littéraire 330 (1995), S. 32.

10 Vgl. Jan Assmann, »Die soziale Konstruktion der Vergangenheit: Maurice Halbwachs«, in: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Mün-chen 2005, S. 34-48, hier: S. 34 ff. Jan Assmann verwendet den Begriff des »kollektiven« Gedächtnisses in Anlehnung an Halbwachs als Oberbegriff für das »kommunikative« und das »kulturelle« Gedächtnis.

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eines der Hauptanliegen Mendozas, durch seinen historischen Roman nicht nur Barcelona, sondern ganz Spanien seine Geschichte zurückzuge-ben, Geschichte wieder erzählbar zu machen und somit das kollektive Gedächtnis neu anzureichern.11

Wie Susanne Schwarzbürger gezeigt hat, lassen sich am Text des Ro-mans eine Aktions- und eine Demonstrationsebene unterscheiden. Mit Letzterer, d.h. mit der Demonstration oder Darstellung von geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen, möchte ich mich im Folgenden vorwiegend beschäftigen. Natürlich sind Aktions- und Demonstrations-ebene nicht voneinander getrennt zu betrachten, da sie sich gegenseitig bedingen und stellenweise sogar miteinander verschmelzen. Wichtig ist, dass auf der Demonstrationsebene »im wesentlichen die historische Ent-wicklung Barcelonas von der Stadtgründung bis zur Vorausschau auf die Erzählgegenwart mit Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert und der época modernista« dargestellt wird, unter Miteinbezug des »gesamtspanischen, europäischen und globalen Kontextes.«12

3. Historiographie und Literatur

Nachdem wir uns mit dem spezifisch spanischen Umgang mit Geschichte beschäftigt haben, möchte ich nun das Verhältnis von Historiographie und Literatur näher betrachten. Am Anfang der abendländischen Poetik-geschichte steht die Trennung:

[...] der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mit-teilt, der andere, was geschehen könnte.13

Der Unterschied zwischen dem Historiker und dem Dichter, wie ihn Aris-toteles in seiner Poetik definiert, ist durch den jeweils unterschiedlichen Wahrheitsanspruch und Wirklichkeitsbezug erklärbar, d.h. der Historiker bemüht sich um die objektive Wiedergabe von Fakten, der Poet zielt auf die Darstellung des Möglichen (der Fiktion). Trotz dieser aristotelischen Trennung ist die neuzeitliche Geschichtsschreibung, d.h. die Darstellung von Ereignissen, Vorgängen und Personen aus der Vergangenheit, bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine Teildisziplin der Literatur, die »an rhetori-schen, stilistischen und künstlerischen Qualitäten sowie ihrem morali-

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11 Vgl. Susanne Schwarzbürger, La novela de los prodigios. Die Barcelona-Romane Eduardo Mendozas 1975-1991, Berlin 1998, S. 15.

12 Ebd., S. 141. 13 Aristoteles, Poetik, übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 29.

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schen und didaktischen Nutzen gemessen«14 wird. Erst im 19. Jahrhun-dert erfährt diese Teildisziplin eine klare Funktionsverschiebung und wird als eigenständige Wissenschaft unabhängig von der Literatur anerkannt. Seit dem Aufkommen neuerer Diskurstheorien in den Siebzigerjahren ist es wiederum üblich, auf die Gemeinsamkeiten zwischen Historiographie und Literatur hinzuweisen, vor allem aufgrund der Einsicht in den Kon-struktcharakter von historischer und fiktionaler Narration. Schließlich verwenden auch Geschichtsschreiber bei der Repräsentation historischer Gegebenheiten z.T. literarische Darstellungsmittel.15

Ein Romantypus, der den Anspruch erhebt, sowohl historische Fak-ten, d.h. authentische Personen, Ereignisse oder Schauplätze, abzubilden als auch eine spannende Erzählung zu liefern, ist der historische Roman. In ihm kommt es, trotz eigentlicher Trennung der beiden Disziplinen, zu einer Verschmelzung von Historiographie und Literatur.

Wo ist nun Eduardo Mendozas nueva novela histórica anzusiedeln in die-ser Diskussion um das Verhältnis von Literatur und Geschichte? Der aristotelischen Definition entzieht Mendoza sich jedenfalls mit seinem historischen Roman, da sich darin fiktive Elemente mit realen Elementen, die authentische historische Ereignisse belegen, vermischen. Hier sitzt er zwischen den Stühlen von Literatur und Wissenschaft. So kann man sa-gen, dass Mendoza ein Stück weit die Tradition des historischen Romans fortsetzt, wie ihn Walter Scott Anfang des 19. Jahrhunderts geprägt hat. An dieser Stelle scheint es interessant, auf die Comédie humaine hinzuwei-sen, deren Autor Balzac in dem 1842 verfassten »Avant-propos« auf den Typus des historischen Romans und auf seinen Begründer Scott hinweist. Balzac orientiert sich bei seinem Bestreben, ein möglichst umfassendes Sittenbild der französischen Gesellschaft zu entwerfen, einerseits an dem Naturwissenschaftler und Literaten Georges Buffon und an dessen Be-schreibung zoologischer Gattungen in der Histoire naturelle (1749-1804),16

andererseits orientiert er sich an Scott und dessen Form des historischen Romans. In der Menschlichen Komödie sollen die sozialen Gattungen der französischen Gesellschaft gleich den zoologischen Gattungen beschrie-ben und somit ein Sittengemälde entworfen werden, »welche[s] die Histo-riker, fixiert auf Glanz und Elend ihrer Haupt- und Staatsaktionen, meist zu schreiben vergessen«17 haben. Bei diesem schwierigen Unterfangen greift Balzac mit folgender Begründung auf Scott zurück: ______________________

14 Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 2001, S. 250 f.

15 Vgl. ebd., S. 251. 16 Vgl. Wolf Lepenies, »Der Krieg der Wissenschaften und der Literatur«, in: Gefährliche

Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1989, S. 61-80, hier: S. 65. 17 Ebd., S. 65.

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Walter Scott élevait donc à la valeur philosophique de l’histoire le roman [...]. Il y mettait l’esprit des anciens temps, il y réunissait à la fois le drame, le dialogue, le portrait, le paysage, la description; il y faisait entrer le merveilleux et le vrai, ces éléments de l’épopée, il y faisait coudoyer la poésie par la familiarité des plus humbles langages. Mais, ayant moins imaginé un système, [...] il n’avait pas songé à relier ses compositions l’une à l’autre de manière à coordonner une histoire complète, dont chaque chapitre eût été un roman et chaque roman une époque. [...] Le hasard est le plus grand romancier du monde: pour être fécond, il n’y a qu’à l’étudier. La Société française allait être l’historien, je ne devais être que le se-crétaire. [Ainsi] peut-être pouvais-je arriver à écrire l’histoire oubliée par tant d’historiens, celle des mœurs.18

Genau hier knüpft Mendoza an. So wie es Scott gelingt, durch seine histo-rischen Romane wie Rob Roy (1817) oder Ivanhoe (1819) ein Stück schotti-scher Geschichte aus verschiedenen historischen Epochen, vom Mittelal-ter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, zu skizzieren, und wie es Balzac gelingt, in Anlehnung an die naturwissenschaftliche Klassifikation von sozialen Gattungen und an die Sammlung zeitgenössischer, historischer Gegebenheiten, mit dem Vorteil, freier zu sein als der Historiker,19 ein Sittengemälde der französischen Gesellschaft zu entwerfen, gelingt es auch Mendoza, ein Bild des Zeitgeistes der época modernista zu schaffen, eine kleine Sozial- und Stadtgeschichte Barcelonas, aber auch ein Stück spanische, europäische, ja sogar Weltgeschichte, gemäß den Worten Bal-zacs:

L’histoire n’a pas pour loi, comme le roman, de tendre vers le beau idéal. L’histoire est ou devrait être ce qu’elle fut; tandis que le roman doit être le monde meil-leur [...]. Mais le roman ne serait rien si, dans cet auguste mensonge, il n’était pas vrai dans les détails.20

Mendoza beschäftigt sich in La ciudad de los prodigios einerseits mit einer historischen Periode Barcelonas, der Phase zwischen den beiden Weltaus-stellungen 1888 und 1929, andererseits ist dieser historiographische Dis-kurs aber nie von dem fiktionalen Diskurs zu unterscheiden. Einen be-sonders großen Stellenwert im historiographischen Diskurs – und deshalb auch mein Verweis auf Balzacs Sittengemälde – nimmt der Zeitgeist bzw. die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts ein. Im Roman werden nicht nur kulturspezifische Traditionen wie der Stierkampf (S. 113),21 die kulina-rischen Spezialitäten (S. 273) und die Eigenheiten der spanischen Bevölke-rung zitiert, sondern auch die Aufgeschlossenheit angesichts der techni-______________________

18 Honoré de Balzac, »Avant-propos« (1842), in: La Comédie humaine, Bd. 1: Études de mœurs. Scènes de la vie privée, hrsg. v. Marcel Bouteron, Paris 1956, S. 3-16, hier: S. 6 f.

19 Ebd., S. 11. 20 Ebd., kursiv i.T.21 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Eduardo Mendoza, La ciudad de los prodigios, Barcelona

1986 (Seitenangaben im laufenden Text in Klammern).

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schen Erfindungen und Erneuerungen des 19. Jahrhunderts, sodass der Leser im siebten Kapitel sogar eine Übersicht über die Geschichte der Flugtechnik finden kann.

Der Protagonist Onofre Bouvila, dessen Geschichte von Aufstieg und Fall auf der fiktionalen Aktionsebene angesiedelt ist, ist untrennbar mit der Stadt Barcelona verbunden, deren historiographische Darstellung überwiegend auf der Demonstrationsebene situiert ist. Barcelona wird die heimliche Protagonistin, und Bouvilas Werdegang spielt in dieser aufstre-benden, dynamischen und modernen Großstadt, in den engen Gassen des barrio gótico, auf den Ramblas, im Hafenviertel, der Ciudadela, auf dem Gelände der Weltausstellung und den unzähligen Plätzen. Barcelona wird einerseits in mythischer Überhöhung dargestellt, als märchenhaftes Faszi-nosum, andererseits wird in realistischen Exkursen auf die Stadtgeschich-te, die klimatischen und geographischen Gegebenheiten und den Zeitgeist der Stadt hingewiesen. Obzwar Bouvila keine typisierte Figur ist, anhand derer im Roman eine breite Sittenschilderung erreicht werden kann, ist er in der Rolle des Exzentrikers und als marginalisierte Figur daran beteiligt, ein Panoptikum der spanischen Gesellschaft zur Jahrhundertwende zu entwerfen. Sowohl er als auch die Stadt Barcelona werden dabei zum My-thos stilisiert. Doch obwohl Bouvila die Handlung des Romans voran-treibt und so den Anschein erweckt, die Stadt aktiv mitzugestalten, bleibt er nur ein Profiteur Barcelonas zu Zeiten des Hoch- und Indus-triekapitalismus. Bouvila stellt pars pro toto Barcelona dar, Barcelona jedoch ist an die historische Epoche des Modernismus gebunden, an den Zeit-geist des 19. Jahrhunderts. Barcelona wiederum repräsentiert pars pro totodieses »siglo de los prodigios« (S. 213), das Jahrhundert der Wunder.22

4. Postmoderne und historiographische Metafiktion

Von der Ausdifferenzierung der historiographischen Disziplin im 19. Jahrhundert und dem historischen Roman als Kompromiss zwischen Literatur und Geschichtsschreibung möchte ich nun zu der letzten Station der diachronen Betrachtung des problematischen Verhältnisses von His-toriographie und Literatur kommen, zu der Postmoderne.

In der Postmoderne werden die Unterschiede zwischen Geschichts-schreibung und Literatur durch das Aufkommen von Misch- und Hybrid-formen mit historiographischen und poetischen Elementen grundlegend in Frage gestellt.23 Aus diesem Grund ist es äußerst wichtig, in Mendozas ______________________

22 Vgl. Schwarzbürger, La novela de los prodigios, S. 218 (Anm. 11). 23 Vgl. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 251 (Anm. 14).

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Werk, nachdem es zunächst in die Tradition Scotts und Balzacs gestellt wurde, nun die postmodernen Bezüge zu erörtern, sind doch das Aufgrei-fen und die Fortführung traditioneller Elemente bei Mendoza durch einen spezifisch postmodernen, ironischen Umgang gekennzeichnet.

Als Schlüsselbegriffe postmoderner Produktionsästhetik lassen sich allgemein folgende Stichworte nennen: Primat des Spiels, Verlust des Zentrums, Mehrfachcodierung, Autoreflexivität, Fragmentarismus, Eklek-tizismus, Intertextualität, Intermedialität und Ironie, wobei Letzteres nach Umberto Eco eines der Hauptmerkmale der Postmoderne ist:

Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Aner-kennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: Mit Ironie, ohne Unschuld.24

Genau hier setzt Mendoza an, indem er die Vergangenheit, d.h. die Ge-schichte zitiert und sie neu reflektiert, anstatt sie zu negieren. Die histori-schen Wahrheiten werden durch die postmoderne Neubearbeitung spiele-risch und ironisch in Frage gestellt und bewusst in den fiktionalen Diskurs integriert. Ein solcher Umgang mit historischen Fakten ist ein spezifisch postmoderner, denn in der Postmoderne werden laut Eco Konzepte wie Universalität, Kausalbeziehungen und Vorhersehbarkeit durch neue Kon-zepte wie Ambiguität, Ungewissheit, Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit ersetzt.25

Mendozas Werk La ciudad de los prodigios spielt abwechselnd mit der historischen Wahrheit und der Fiktion, und diese narrative Struktur, die auch anderen Werken zugrunde liegt, erlaubt es, sich permanent zwischen der Chronik und der Fiktion zu bewegen und die geschichtliche Anekdote mit Übertreibungen und Erfindungen anzureichern. Diese ironische Neu-reflexion der historischen Wahrheiten und deren Vermischung mit dem fiktionalen narrativen Diskurs wird um eine Dimension erweitert, nämlich die der historiographischen Metafiktion, ein Begriff, der Ende der Achtzi-gerjahre im Zuge der Postmoderne-Diskussion von Linda Hutcheon26

geprägt wurde. Historiographische Metafiktion meint Kunstwerke, die eine »Hinwendung zu geschichtlichen Stoffen mit einem hohen Maß an metafiktionaler Rückbezüglichkeit und mit der Erörterung historiographi-scher Fragen verbinden.«27 Generell bietet der Begriff ein geeignetes Mo-dell zur Beschreibung postmoderner Fiktion, das außerdem sowohl Ge-______________________

24 Umberto Eco, Nachschrift zum Namen der Rose, übers. v. Burkhart Kroeber, München 1987, S. 78.

25 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, übers. v. Günter Memmert, Frankfurt a.M. 1973, S. 214.

26 Linda Hutcheon, A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, London 1988. 27 Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 252 (Anm. 14).

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schichte als auch Fiktion als subjektive Konstruktionen erkennbar werden lässt:

Historiographic metafiction incorporates [...] three [...] domains: that is, its theo-retical self-awareness of history and fiction as human constructs (historiographic metafiction) is made the grounds for its rethinking and reworking of the forms and contents of the past.28

Historiographie wird demnach im Roman – und so verhält es sich auch in La ciudad de los prodigios, wo traditionelle Formen des historischen Romans spielerisch aufgegriffen und zitiert werden – durch Selbstreflexion gleich-zeitig in Frage gestellt. Ein Beispiel für so eine historiographische Metafik-tion ist die Einleitung der Mata Hari-Episode, in der erzählt wird, warum der Film Quo vadis? nie in Spanien aufgeführt wurde:

Esta película, que se titulaba Quo vadis?, que constaba de cincuenta y dos rollos y cuya proyección duraba dos horas y cuarto, nunca llegó a exhibirse en España por un motivo tan raro que bien merece una digresión. (S. 284) [Dieser Film] hieß Quo vadis?, bestand aus zweiundfünfzig Rollen und dauerte zweieinviertel Stunden; er konnte in Spanien nie gezeigt werden, und zwar aus ei-nem Grund, der so merkwürdig ist, daß er einen Exkurs verdient.29

Der Erzähler selbst bezeichnet die darauf folgende Episode als Exkurs, sodass sich der Leser darauf einstellen kann, dass der Erzählstrang kurz unterbrochen wird. Was auf diese Ankündigung hin folgt, ist eine Anek-dote, die sich um die historisch authentische Figur Margaretha Zelle rankt. Der Leser kann sich über die reale Existenz dieser Frau informieren und erfährt, dass sie von 1879 bis 1917 lebte, aus den Niederlanden kam, sich Mata Hari nannte, Tänzerin war und wegen Spionageverdachts exekutiert wurde.30 All diese historisch belegbaren Fakten werden auch durch den Erzähler bestätigt, die Mata Hari-Episode wird nun aber auch um eine fiktive Abenteuergeschichte angereichert. So wird die historische Heldin Teil des fiktionalen Diskurses, ihre wahre ›Geschichte‹ wird vom Erzähler ausgeschmückt und um ein Abenteuer, in dem es um Spionage, Liebe und Betrug geht, erweitert. Doch genau genommen ist das, was von Mata Hari bekannt ist und als authentisch gilt, nämlich ihre Rolle als Tänzerin und Geheimagentin, ein reines Kunstprodukt und nicht faktisch belegt:

Mata Hari hat die Kunst des Tanzes nicht revolutioniert, und sie ist [...] in der Schlacht der Geheimdienste gar nicht beachtet worden. [...] Mata Hari ist ein My-thos, von Presse, Trivialliteratur und Film immer wieder neu ausgeschlachtet [...]31

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28 Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, S. 5 (Anm. 26), kursiv i.T. 29 Eduardo Mendoza, Die Stadt der Wunder, übers. v. Peter Schwaar, Frankfurt a.M. 1989,

S. 362. 30 Fred Kupferman, Mata Hari. Träume und Lügen, Berlin 1992, S. 7 f.31 Ebd., S. 7.

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Dieser Mythos, der der Spionin anhaftet, wird vom Erzähler aufgegriffen, durch die ironische Erzählweise des Exkurses aber gleichzeitig dekonstru-iert. Einerseits suggeriert der Erzähler dem Leser mit genauen Angaben über den Film Quo vadis? und der darauf folgenden Einführung der histo-rischen Heldin Mata Hari einen Authentizitätsanspruch, wobei er im Üb-rigen bei der Länge des Filmes übertreibt: das Original von Enrico Guaz-zoni umfasste nicht zweiundfünfzig, sondern lediglich zwölf Spulen.32

Andererseits aber entlarvt er diesen Exkurs, indem er ihn als »digresión«, also als Abschweifung markiert, selbstreflexiv als Konstruktion. Diese explizite Markierung kann auch als heimliche Rezeptionsanweisung an den Leser verstanden werden, den als historiographisch dargestellten Text in Frage zu stellen. So gelingt es Mendoza, den Gegensatz zwischen Histo-riographie und Literatur aufzuheben und Erstere zu einer prinzipiellen Offenheit zu führen, d.h. zu einem »Offenlegen der Karten beim Ge-schichte(n)-Erzählen«, indem er »das Einschreiben der Subjektivität in die Geschichte während des Erzählvorganges problematisiert [...].«33

Mendozas Narration ist fiktional, historiographisch und selbst-reflexiv. Um die unzähligen historischen Fakten und Helden, die von der Kaiserin Sissi über Rasputin bis hin zu Mata Hari reichen, realistisch zu belegen, verwendet Mendoza eine Vielzahl von realen (oder fiktiven?) Beweisen, so z.B. Leserbriefe, Ausschnitte aus Zeitungsartikeln oder Sta-tistiken, über deren Glaubwürdigkeit der Leser jedoch nicht endgültig aufgeklärt wird. Zwar haben die historiographischen Diskurse im Roman oft Abhandlungscharakter, stellenweise wird diese Eintönigkeit, die schon per se mit dem an ein Märchen erinnernden fiktionalen Diskurs kontras-tiert, durch ironisch-humorvolle Einschübe, Erfindungen und Übertrei-bungen des Erzählers aufgelockert. So werden die meisten historischen Helden nicht realistisch, sondern ironisch verzerrt dargestellt. Als Beispiel hierfür kann die Beschreibung Primo de Riveras gelten, über den Bouvilas Geschäftspartner sagt: »Primo no es sanguinario [...]; por su gusto no habrá derramamiento de sangre.« (S. 314) (»Primo ist nicht blutrünstig [...], zu seinem Vergnügen wird es kein Blutvergießen geben.«)34 Primo de Rivera, die historische Diktatorengestalt, wird durch diese Aussage ›ver-menschlicht‹, als gutmütig dargestellt und somit verzeichnet. In der Tat hatte sich General Primo de Rivera während seiner Herrschaft 1923-1930 um die Aufrechterhaltung des Bildes des gutmütigen Despoten bemüht, letztendlich eiferte er aber in seiner politischen Ideologie dem italienischen ______________________

32 Jay Robert Nash/Stanley Ralph Ross, The motion picture guide, Vol. VI, Chicago 1986, S. 2515.

33 Paul Michael Lützeler, Klio oder Kalliope?: Literatur und Geschichte: Sondierung, Analyse, Interpreta-tion, Berlin 1997, S. 130.

34 Mendoza, Die Stadt der Wunder, S. 401 (Anm. 29).

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Faschismus nach und schuf unter dem Motto Religión, patria y monarquíaeine autoritäre diktatorische Regierung, deren Spitze er 1930 nach zahlrei-chen Finanz- und Wirtschaftsskandalen verlassen musste.35

Als Musterbeispiel für den spielerischen Umgang mit historischen Er-eignissen und Personen kann die Episode über die Ermordung der Kaise-rin Sissi genannt werden (S. 146). Der Erzähler schildert zunächst das Zusammentreffen von Bouvila und seinem Gegner Joan Sicart in der Kirche von San Severo. Sicart hat eine kleine Pistole in seiner Hosenta-sche versteckt, die er fest umklammert:

Este arma era una pistola pequeña, de las que solo pueden usarse a quemarropa y efectúan un disparo solamente. [...] Otra pistola idéntica a la que ahora llevaba encima Sicart, [...] había sido regalada por el emperador Francisco José a su esposa, la emperatriz Isabel. Para no herir su susceptibilidad, porque no se regalan armas de fuego a una dama [...], los armeros, por encargo del soberano habían dado a la pistola forma de llave. [...] Sin embargo, llevaba en el bolso la pistola, tal y como el le había sugerido, la mañana infortunada del 10 de septiembre de 1898, cuando al ir a abordar un vapor en el Quai Mont Blanc de Ginebra Luigi Lucheni la asesinó. Llevaba dos días esperándola [...]. La emperatriz contaba sesenta y un años de edad cuando murió. [...] Si la emperatriz Sissi, como sus súbditos gustaban de llamarla, hubiera recurrido a la pistola que le había regalado el emperador seguramente habría podido evitar la muerte, adelantarse a su verdugo. [...] Escrutaba la penumbra e iba murmurando Scusate, signora. Pero seguramente la emperatriz se había olvidado de que llevaba una pistola en el bolso [...]: Estaba, como ella misma solía decir, cansada de la vida. Tanto me abruma el peso de la vida, había escrito poco antes a su hija, que siento a menudo un dolor físico y pienso que preferiría estar muerta. La otra mano, en cambio, la mano en la que no llevaba la pistola, la tenía Sicart bien a la vista, extendida, como para estrechar la de Bouvila. (S. 145 f.) [E]ine kleine Pistole von der Art, die man nur aus nächster Nähe brauchen kann und die bloß einen einzigen Schuß abgibt. [...] Eine gleiche Pistole, wie sie Sicart bei sich hatte, [...] hatte Kaiser Franz Joseph I. seiner Gattin, Kaiserin Elisabeth, geschenkt. Da man einer Dame keine Feuerwaffen schenkt, [...] hatten die Waf-fenschmiede auf Geheiß des Monarchen eine Pistole in Schlüsselform gefertigt, damit ihre Empfindsamkeit nicht verletzt würde. [...] Trotzdem trug sie [...] die Pistole in ihrer Handtasche – auch an dem unseligen Vormittag des 10. Septem-ber 1898, an dem Luigi Lucheni, gerade als ein Dampfschiff am Genfer Quai Mont Blanc anlegte, sie ermordete. Er hatte zwei Tage lang damit verbracht [...] auf sie zu warten. [...] Kaiserin Elisabeth war 61 Jahre alt, als sie starb. [...] Hätte Kaiserin Sissi, wie ihre Untertanen sie mit Vorliebe nannten, zu der Pistole gegrif-fen, so hätte sie wahrscheinlich ihren Tod verhindern und ihrem Henker zuvor-kommen können. [...] So spähte er in den Halbschatten und murmelte Scusate, sig-nora. Aber vermutlich hatte die Kaiserin die Pistole in ihrer Tasche vergessen [...], denn sie war, wie sie selbst zu sagen pflegte, des Lebens überdrüssig. Das Gewicht

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35 Zum geschichtlichen Hintergrund siehe Walther L. Bernecker/Horst Pietschmann, »Die Diktatur Primo de Riveras (1923-1930)«, in: Geschichte Spaniens, Köln 1997, S. 281-291.

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des Lebens bedrückt mich dermaßen, schrieb sie ihrer Tochter noch kurz zuvor, daß ich häufig einen körperlichen Schmerz verspüre und denke, ich wäre lieber tot. Die andere Hand jedoch, diejenige ohne Pistole, streckte Sicart deutlich sichtbar aus, wie um die Onofre Bouvilas zu schütteln.36

Auch hier verwendet Mendoza ein Originalzitat in Briefform als Beleg für die Wahrheit der Geschichte, außerdem vermischt er wie so oft die Akti-ons- mit der Demonstrationsebene37 und integriert den historiographi-schen Diskurs in die fiktionale Handlung. Unter dem Anschein histori-scher Akribie und Quellentreue werden die historischen Fakten verfrem-det bzw. verfälscht: Der Brief der Kaiserin an ihre Tochter Valerie wurde in Wirklichkeit sieben Jahre vor ihrem Tod und nicht unmittelbar davor verfasst,38 die Kaiserin war ein ›Ersatz‹ für den Prinzen Heinrich von Or-léans und gar nicht das geplante Opfer des Attentäters, Lucheni lauerte seinem Opfer lediglich einen Vormittag lang auf und nicht zwei Tage,39

und wahrscheinlich besaß Sissi gar keine Pistole. Letzteres ist vom Erzäh-ler vermutlich frei erfunden und dient als Bindeglied zwischen dem histo-rischen Diskurs und dem Romangeschehen, auf dessen Aktionsebene Bouvilas Gegner Joan Sicart zur Verteidigung eine Waffe in Schlüsselform trägt, die der angeblichen Waffe der Kaiserin gleicht. Ebenso wie in der Mata Hari-Episode wird die historische Heldin Sissi entmythisiert. Die vordergründigen Authentizitätssignale, wie z.B. die Zeitangaben, die realen Figuren und das Zitieren des Briefes, lösen eine bestimmte Rezeptionser-wartung aus. Der Leser erwartet von diesem als historisch gekennzeichne-ten Einschub, dass man ihn nach den Kriterien ›wahr/falsch‹ beurteilen kann, doch diese Erwartung wird wie bei fast allen historiographischen Diskursen in dem Roman nur teilweise erfüllt. Zwar gibt es historisch authentische Elemente – der Name der Heldin und der des anarchisti-schen Mörders, der Tatort, die Tatzeit, der Brief –, diese werden aber von dem Erzähler verfälscht, verzerrt und ausgeschmückt. Der Rückgriff auf den historiographischen Wahrheitsdiskurs ist bei Mendoza also immer ein ironisch-uneigentlicher.

Der nueva novela histórica und der historiographischen Metafiktion geht es nicht um die Repräsentation von Geschichte, sondern um einen reflek-tierteren Umgang mit historischen Fakten. Mendoza suggeriert seinem Leser durch die ironische Fiktionalisierung des historiographischen Dis-kurses einen kritischen, skeptischen Umgang mit institutionalisierten Wahrheiten, der eng verknüpft ist mit dem Franquismus und dem patheti-schen Geschichtsverständnis dieser Zeit. So lautete auch meine These: ______________________

36 Mendoza, Die Stadt der Wunder, S. 183 ff. (Anm. 29). 37 Vgl. Schwarzbürger, La novela de los prodigios, S. 154 (Anm. 11). 38 Vgl. Egon Caesar Conte Corti, Elisabeth. Die seltsame Frau, Salzburg 1998, S. 313. 39 Vgl. ebd., S. 343.

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Mendoza stellt Geschichtsdarstellungen generell in Frage, indem er auf eine Doppelstrategie im Umgang mit Fakten und Fiktionen rekurriert. Die Beispiele haben gezeigt, wie auf der narrativen Ebene einerseits versucht wird, durch Authentizitätssignale einen historiographischen Diskurs zu simulieren, andererseits aber auch durch Fiktionssignale und Rezeptions-anweisungen versucht wird, den historiographischen Text teilweise als falsch zu entlarven. Indem Mendoza dem Leser permanent die Kon-strukthaftigkeit sowohl des fiktionalen als auch des historiographischen Diskurses vor Augen führt, behauptet er, dass Geschichte nie objektiv, sondern stets subjektiv wiedergegeben, erzählt und konstruiert wird. Als Beleg für diese Strategie dient das Außerkraftsetzen der Beurteilungskrite-rien des wissenschaftlichen bzw. historiographischen Diskurses, d.h. der Opposition ›wahr/falsch‹. Aus rezeptionsästhetischer Sicht kann man diese Kriterien, nach denen Wissenschaft beurteilt wird, nicht auf die his-toriographischen Zitate, Belege und Exkurse im Roman anwenden, da stellenweise beide Diskurse, d.h. der fiktionale und der historiographische, miteinander interferieren und keine Unterscheidung mehr zulassen.

Dieser spielerische Umgang mit historischem Material in der nueva no-vela histórica hat auch zur Folge, dass es schwerfällt, den Roman einer be-stimmten Gattung zuzuordnen. Man könnte ihn als eine Parodie auf den historischen Roman lesen, als realistischen Roman, als Sittengemälde, aber auch als Spiegel der Gegenwart. Das Barcelona des 19. Jahrhunderts ver-weist auf das des 20. Jahrhunderts, die Geschichte wird zum Spiegel der Gegenwart. Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans Mitte der Acht-zigerjahre befand sich Barcelona in der Vorbereitung auf ein Großereignis, das die Stadt genauso wie die beiden Weltausstellungen während der época modernista grundlegend verändern sollte, die Olympischen Spiele 1992.40

So wundert es nicht, dass Mendoza in La ciudad de los prodigios neben dem ironischen Verweis auf Geschichtskonstruktionen auch einen augenzwin-kernden Gegenwartsbezug zu dem Barcelona im Olympia-Fieber herstellt, das sich fast 100 Jahre später im gleichen Erneuerungswahn befindet: »[...] la ciudad estaba en plena fiebre de renovación.« (S. 9)

Diese Analyse sollte anhand von Mendozas La ciudad de los prodigios zeigen, wie der zeitgenössische spanische Roman den wissenschaftlichen Diskurs in den fiktionalen integriert, ohne dabei die Autonomie des Systems Lite-ratur in Frage zu stellen. Vielmehr wird dem Autonomieverlust, wie er während des Franquismus stattgefunden hat, eine ironische Neureflexion ______________________

40 Obzwar Barcelona erst 1986, also im Erscheinungsjahr des Romans, den Zuschlag für die Olympischen Spiele erhielt, wurde die Idee für eine Kandidatur bereits 1981 vom damali-gen Bürgermeister Narcís Serra formuliert und wenig später von der Oficina Olímpica de Barcelona in die Tat umgesetzt.

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der Wissenschaft bzw. der Geschichtsschreibung entgegengesetzt, die darauf abzielt, den Konstruktcharakter wissenschaftlicher Diskurse durch Fiktionalisierung zu entlarven und gerade dadurch die Autonomie des Literarischen zu affirmieren.

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VI. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts in Frankreich, Italien, England und den USA

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BETÜL DILMAC

Die Vermischung von literarischem und naturwissenschaftlichem Diskurs bei

Michel Houellebecq

Der Brisanz seiner Themen und seiner romanästhetischen Innovations-leistung entsprechend kam es nach der Publikation von Michel Houelle-becqs Roman Les Particules élémentaires im Herbst 1998 zu äußerst divergen-ten Resonanzen und Wertungen sowohl auf Seiten der französischen Presse als auch auf Seiten der critique universitaire. Die Spannbreite der Re-aktionen reicht vom Lob bis zum Verriss: so fallen in der Presse die Wor-te »roman ambitieux« (Lepape 1998, zit. n. Schober 2001a: 177), aber auch »griffonnage cahoté« (Ollivier 1998: 1, zit. n. Schober 2001a: 177), in der critique universitaire spricht man einerseits vom ernst zu nehmenden »renou-veau romanesque« (Proguidis 2002: 64, zit. n. Schober 2003a: 247), ande-rerseits vom absoluten Tiefpunkt des französischen Gegenwartsromans (Salgas 2002: 103). Als Gegenstände heftiger Debatten schälten sich insbe-sondere zwei thematische Aspekte des Romans heraus: Zum einen die Analyse der »gesellschaftlichen und mentalgeschichtlichen Entwicklung Frankreichs« (Schober 2001b: 217 f.) während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die aus dieser Analyse gewonnene Diagnose eines tota-len Sitten- und Werteverfalls, zum anderen die hierfür als Lösung vorge-schlagene Abschaffung und Ersetzung des Menschen durch die gentech-nische Kreation einer neuen Spezies, die sich ohne Sexualität reproduziert. An dem zweiten Aspekt wird ersichtlich, dass bei Houellebecq im literari-schen Medium Roman in ganz zentraler Form wissenschaftliches Denken aufgegriffen wird.

Die Präsenz der Wissenschaft in Les Particules élémentaires beschränktsich nicht auf die Tatsache, dass in diesem Roman ein Forschungsprojekt imaginiert wird, auf dessen Ergebnissen am Ende die Schaffung der neuen Spezies beruht, und dass in vielfacher Weise wissenschaftliche Rede zitiert wird. Houellebecqs Roman setzt sich mit den wissenschaftlichen Gegen-ständen, von denen er handelt, auf sehr viel grundsätzlichere Weise aus-einander: auf der Ebene der Epistemologie und der Darstellungsverfah-ren. Den elementaren Prinzipien der Kopenhagener Deutung der Quan-

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tenphysik, d.h. dem Unbestimmtheitsprinzip von Werner Heisenberg und dem Komplementaritätsprinzip von Niels Bohr, kommt in diesem Zu-sammenhang eine wichtige Rolle zu. Es soll aufgezeigt werden, dass diese quantenphysikalischen Prinzipien literarisch simuliert bzw. darstellbar gemacht werden. Dies lässt den Vergleich des Erzählers mit einem Ver-suchsleiter der Quantenphysik zu. Dieser Vergleich wird sich insbesonde-re hinsichtlich der im Roman erwähnten quantenphysikalischen Theorie der consistent histories als hilfreich erweisen. In der Besprechung dieser The-orie werden zum einen die Parallelen aufgezeigt werden, die die literari-sche Arbeit des Erzählers mit der Arbeit eines Versuchsleiters aufweist. Zum anderen wird besprochen werden, welcher erzählstrategische Nutzen mit der Verwendung dieser Theorie im Roman bzw. mit der Gleichset-zung der Erinnerung an ein menschliches Leben mit einer consistent history verbunden ist.

Aus der kritisch-pessimistischen Gesellschaftssicht Houellebecqs und aus seiner in vielen Interviews bekundeten Haltung als Schriftsteller der Ge-sellschaft gegenüber ergibt sich eine gewisse »destruktiv-aktive[.] gesell-schaftliche[.] Funktionsauffassung« (Schober 2003b: 263) von Literatur. Mit dieser Funktionsauffassung verbunden ist eine Abkehr von der »funk-tionalen ›Selbstgenügsamkeit‹ ›de l’aventure d’une écriture‹« (ebd. 262) bzw. ein »Bekenntnis zur Dominanz des Inhalts gegenüber der literari-schen Form« (ebd. 263). Für Rita Schober ergibt sich damit eine Abgren-zung von der für das späte 20. Jahrhundert charakteristischen Tendenz selbstbezüglichen Schreibens (nouveau roman) und eine Anknüpfung an die realistisch-naturalistische Tradition des 19. Jahrhunderts (Balzac, Zola). Trotzdem sind nicht nur für Vertreter des nouveau roman, sondern auch für Houellebecq die klassischen Konstituenten der Narrativik, wie Figur und Geschichte, in die Krise geraten – weniger als »untaugliche Kategorien der Romanästhetik an sich, sondern wegen ihrer mimetischen Defizienz« (Schober 2003b: 264) gegenüber der gesellschaftlich veränderten Situation samt ihren mentalen und psychischen Rückwirkungen auf den einzelnen Menschen.1 Ein schlichter Rückgriff auf die klassische narrative Tradition

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1 Schober sieht hier eine Verbindung zwischen Houellebecq und Zola, der bereits zu seiner Zeit der tiefgreifenden Veränderungen gewahr wurde, die der Kapitalismus im Hinblick auf die Lebensbedingungen und die sozialen Beziehungen ausgelöst hatte: »Zola avait déjà tenu compte dans son esthétique romanesque des profondes mutations que le capitalisme dévéloppé avait déclenchées dans les conditions de vie et les rapports sociaux. L’attitude héroïque fut remplacée par la prose du calcul froid (Marx). Dans son article sur Flaubert de 1875 il avait qualifié comme caractéristique essentielle du roman moderne, outre ›la repro-duction exacte de la vie‹ (ce qui signifiait ›l’absence de tout élément romanesque‹) l’absence de héros: […].« (Schober 2002: 339 f.)

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ist von daher für Houellebecq ausgeschlossen.2 Die Schwierigkeiten eines konsistenten Figurenaufbaus, die sich für Houellebecq ergeben, sind eng mit seiner Sicht der neoliberalen Gesellschaft und der aus ihr resultieren-den Rückwirkungen auf den Menschen verbunden. Vor dem Hintergrund eines ausufernden neoliberalen Gesellschaftssystems bzw. der Unterwer-fung der Individuen in allen Lebensbereichen unter die Marktgesetzlich-keit ist es »außerordentlich schwierig geworden«, eine »kontinuierliche Lebensgeschichte einer Figur zu entwickeln« (Schober 2003b: 264). Die Lebensläufe der Menschen werden auf Grund der »durch das […] Wirt-schaftssystem geforderte[n] wachsende[n] Mobilität und mehrfache[n] Einsatzfähigkeit, sprich Mehrzweckfähigkeit der Menschen« (Schober 2003b: 265) zunehmend zusammenhang- und richtungslos – was sich in der Fiktion dann nur schwer in einer »kohärenten histoire« (ebd.) darstel-len lässt. Diese Schwierigkeiten werden von Houellebecq gelöst unter Rückgriff auf quantenphysikalische Prinzipien, die damit als methodologi-sche Prinzipien für die Literatur nutzbar gemacht werden.

Aus Houellebecqs Essaybänden ergibt sich, dass das moderne Indivi-duum in seinen Augen einer Doppelbestimmtheit unterliegt; zum einen ist es als Individuum determiniert, zum anderen lässt es sich durch die Un-terwerfung unter die historischen, sozio-ökonomischen Faktoren auch als passives Element einer historischen Bewegung begreifen. In Les Particules élémentaires stehen insbesondere der historische Prozess der Liberalisierung der Sitten und die Unterwerfung der Sexualität unter die Marktgesetzlich-keit im Vordergrund. Dass sich die Wechselbezüglichkeit von Individuum und Gesellschaft nicht nur in Houellebecqs Essaybänden thematisiert findet, sondern auch in Les Particules élémentaires aufgegriffen und narrativ umgesetzt wird, lässt sich an folgender Textstelle belegen (der Naturwis-senschaftler Michel Djerzinski fragt sich hier, ob man seinen Halbbruder Bruno Clément als ein Individuum betrachten könne):

Pouvait-on considérer Bruno comme un individu? Le pourrissement de ses orga-nes lui appartenait, c’est à titre individuel qu’il connaîtrait le déclin physique et la mort. D’un autre côté sa vision hédoniste de la vie, les champs de forces qui structuraient sa conscience et ses désirs appartenaient à l’ensemble de sa génération.De même que l’installation d’une préparation expérimentale et le choix d’un ou plusieurs observables permettent d’assigner à un système atomique un compor-

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2 Schober (2002: 339): »Il sait bien évidemment qu’il est impossible de revenir purement et simplement à la tradition réaliste du roman, avec son enchâssement de péripéties dans un flux temporel, sa construction d’une histoire cohérente et ses personnages à la Balzac emblématiques d’une époque et d’un caractère.« Vgl. auch Schober (2001b: 228): »Eine ›re-alistisch‹ intentionierte und damit Wahrheits-, zumindest Wahrscheinlichkeitscharakter für sich beanspruchende Schreibweise muß, nach dem von der Avantgarde seit dem nouveau roman verordneten Bruch mit solcher Erzähltradition, zudem veränderte Vertextungsver-fahren suchen […].«

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tement donné – tantôt corpusculaire, tantôt ondulatoire –, de même Bruno pouvait ap-paraître comme un individu, mais d’un autre point de vue il n’était que l’élément passif du déploiement d’un mouvement historique. Ses motivations, ses valeurs, ses désirs: rien de tout cela ne le distinguait, si peu que ce soit, de ses contemporains. (Houellebecq 1998 b: II/12, 178; Hervorh. B. D.)3

Dass hier im Text die Doppelbestimmtheit des Individuums thematisiert wird, sollte nicht als bloße gegenstandsbezogene Information verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um eine im Hinblick auf den Roman stark autoreflexive Textstelle, denn diese Doppelbestimmtheit findet sich in ihm auch narrativ umgesetzt. Die Lebensgeschichten der beiden Halb-brüder Michel Djerzinski und Bruno Clément (und auch die der anderen Figuren wie z.B. Annabelle), die der Roman in fraktionierten Schüben darstellt, sind nämlich vor dem Hintergrund der »gesellschaftlichen und mentalgeschichtlichen Entwicklung« (Schober 2001b: 217) Frankreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts situiert. Das heißt, es werden sowohl individuelle als auch kollektive Geschichten erzählt.

Um eine mimetisch-effiziente Darstellung der Lebensgeschichten der einzelnen Figuren zu erreichen, wird erzähltechnisch also auf komplemen-täre Art und Weise verfahren: Die Lebensgeschichten werden eingebettet in den sozio-kulturellen geschichtlichen Hintergrund, womit zugleich auf den Einfluss und die Determinierung durch diesen hingewiesen wird. Der vom Roman polemisch diagnostizierte totale Sittenverfall wird in Gestalt des Erotomanen Bruno gewissermaßen am lebenden Objekt illustriert. Mit Brunos Lebensgeschichte wird das Bild einer Gesellschaft bzw. Menschheit heraufbeschworen, »qui s’organise en fonction de ses désirs et de ses pulsions« (Doré 2002: 77).4 Im Hinblick auf die Lebensgeschichte des frigiden, hauptsächlich auf die Wissenschaft konzentrierten Michel verhält sich dies anders:5 Während Bruno die »totale Sexualisierung des ______________________

3 Houellebecqs Roman Les Particules élémentaires wird im Folgenden ohne weitere Quellenan-gabe im Text in Klammern zitiert, wobei die römische Ziffer auf den betreffenden Roman-teil, die nach dem Schrägstrich stehende arabische Ziffer auf das betreffende Kapitel, die nach dem Komma stehende Ziffer auf die Seitenzahl verweist.

4 Bei Bruno handelt es sich in der Tat um einen Erotomanen (»L’objectif principal de sa vie avait été sexuel; […].« I/11, 63). Sowohl die Kapitel zu seiner Jugendzeit als auch jene, in denen er als Erwachsener auftritt, belegen dies. Siehe hierzu auch folgende Textstelle: »Jus-qu’au dernier instant, en particulier, il serait en quête d’un ultime moment de jouissance, d’une petite gâterie supplémentaire.« (II/4, 121).

5 Im Gegensatz zu Bruno handelt es sich bei dem im Zeichen des Supermarktes lebenden Michel um alles andere als einen Erotomanen: »Depuis des années, Michel menait une existence purement intellectuelle. Les sentiments qui constituent la vie des hommes n’étaient pas son sujet d’observation; il les connaissait mal.« (II/4, 119); »[…] les fantasmes qui avaient pu, jeune chercheur, l’assaillir au travers de connexions Minitel, […] s’étaient progressivement éteints.« (II/4, 122); »Consommateur sans caractéristiques, il accueillait cependant avec joie le retour des quinzaines italiennes dans son Monoprix de quartier.« (Ebd.). Zeugnis über seinen Wissensdrang und zugleich über die Gegensätzlichkeit der

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Daseins« verkörpert, veranschaulicht Michels Lebensgeschichte im Ge-genzug die »totale Desexualisierung des Daseins« (Niemann 1999). Seine Lebensgeschichte erzeugt also ein nahezu konträres Bild zu demjenigen, das aus Brunos Lebensgeschichte im Wechselverhältnis mit der Gesell-schaft resultiert; mit Michels Lebensgeschichte ist ein »appel à la raison« (Doré 2002: 77) verbunden; hier entsteht das Bild einer Menschheit, die vom »désir de connaissance« (Monnin 1999: 20) umgetrieben wird. Doch auch wenn mit Michel ein konträres Bild erzeugt wird, so ist er doch ge-nauso wie sein Halbbruder Bruno »l’élément passif du déploiement d’un mouvement historique« (II/12, 178). Geht man davon aus, dass die beiden konträren Halbbrüder zwei »individus symptomatiques« (I/4, 25) sind, die zwei entgegengesetzte Pole der Gesellschaft inkarnieren, so gewinnen die Brüder auf dieser Ebene Komplementarität, sprich, sie geben ein in ihren extremen Polen annähernd umfassendes Bild der Gesellschaft wieder.6

Ein komplementärer Aufbau findet sich mithin nicht allein im Hin-blick auf die einzelne Figur, die sich sowohl als Individuum wie auch als »élément passif du déploiement d’un mouvement historique« begreifen lässt, sondern auch im Hinblick auf die binäre Anlage der beiden zentralen Figuren, die gerade durch ihre Gegensätzlichkeit ein komplementäres Bild des »mouvement historique« wiederzugeben vermögen. Berücksichtigt man des Weiteren die fraktionierte Erzählweise bzw. die Montage fraktio-nierter Passagen des sozio-historischen Diskurses mit fraktionierten Pas-sagen der Lebensgeschichten der Figuren, so ergibt sich im Hinblick auf die Romanstruktur ein weiteres komplementäres Beziehungsfeld.

Diese Komplementarität ist nun im Folgenden auf ihre wissenschaftlichen Voraussetzungen und Zusammenhänge hin zu betrachten. Die in der ______________________

beiden Brüder vermag folgende Textstelle zu geben: »Début 1974, Michel se plongea dans les espaces de Hilbert; puis il s’initia à la théorie de la mesure, découvrit les intégrales de Riemann, de Lebesgue et de Stieltjes. Dans le même temps, Bruno lisait Kafka et se masturbait dans l’autorail.« (I/11, 67).

6 Vgl. in diesem Zusammenhang Laurence Dahan-Gaida (2003: 100): »Les particules élémentai-res peut être lu comme une histoire des années 1980, racontée à travers l’histoire de deux frères en qui s’incarne de manière exemplaire la misère affective et spirituelle de notre épo-que.« Die Gegensätzlichkeit der beiden Brüder betont auch Kim Doré (2002: 77): »Deux stéréotypes, en quelque sorte, à travers lesquels se dressent chacun des pôles de l’évolution telle qu’on peut la concevoir dans le roman; […].« Rita Schober sieht in der kontrastierend-komplementären Anlage der beiden Brüder ein zentrales Strukturmuster der Schreibweise Houellebecqs, das nicht nur in Les Particules élémentaires angewendet wird, sondern auch in seinen anderen Romanen; so schreibt sie: »Die figural-narrative Umsetzung der ergriffenen Gegenstände bindet Houellebecq bisher in allen drei Romanen an ein gleiches Struktur-muster: an je zwei Hauptakteure, bzw. in PLF [= Plateforme; B. D.] an zwei Figurenpaare, deren komplementäre und zugleich kontrastierende Lebensläufe die möglichen Auswir-kungen der zu durchleuchtenden gesellschaftlichen Problematik an zwei extremen Beispie-len demonstrieren.« (Schober 2003b: 271)

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zitierten Textstelle (II/12, 178) hervorgehobenen Begriffe »ondulatoire« und »corpusculaire« sollen als Ausgangspunkt genommen werden, um auf den so genannten Welle-Teilchen-Dualismus7 zu verweisen, der eine der hauptsächlichen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten der Quanten-theorie darstellt, die 1925-1927 im Rahmen der so genannten Kopenhage-ner Deutung gelöst wurden. Gemeinhin werden unter der Kopenhagener Deutung ihre beiden wesentlichen Elemente, d.h. das Heisenbergsche Unbestimmtheitsprinzip und Bohrs Komplementaritätsprinzip, begriffen. Während Bohr eine mehr »philosophische Überlegung zum Welle-Teilchen-Dualismus als – sozusagen ›äußeren‹ – Ausgangspunkt wählt[e]«, versucht Heisenberg mit seinem Unbestimmtheitsprinzip »die Theorie ›von innen her‹ zu verstehen« (Backes 2000: 59).

Das Heisenbergsche Unbestimmtheitsprinzip besagt, dass es Paare von beobachtbaren physikalischen Größen (Observablen wie Ort/Impuls oder Energie/Zeit) gibt, die man nicht gleichzeitig mit beliebig großer Genauigkeit messen kann. Seine quantitative Formulierung findet dieses Prinzip in der so genannten Heisenbergschen Unschärferelation.8 Nach dieser Unschärferelation beeinflussen sich die Genauigkeiten, mit denen ______________________

7 Unter Welle-Teilchen-Dualismus ist die Tatsache zu verstehen, dass in der mikroskopischen Welt jedes Objekt sowohl Eigenschaften einer Welle als auch solche von Teilchen aufweist. In seinem Vortrag »Über die Entwicklung unserer Anschauung über das Wesen und die Konstitution der Strahlung« auf der Salzburger Naturforscher-Tagung 1909 begründete Albert Einstein den Welle-Teilchen-Dualismus für das Licht. Hatten sich Wellentheorie und Teilchentheorie als »zwei alternative Modellvorstellungen zur physikalischen Erklärung der Lichterscheinungen« bislang »zeitweise in ausgeprägter Konkurrenz« (Schiemann 2004: 403) gegenübergestanden, so trat nun durch die so genannte Lichtquantenhypothese Ein-steins die Doppelnatur des Lichts in den Vordergrund, d.h. »an die Stelle einer Entweder-Oder-Entscheidung zwischen den beiden Alternativen Welle oder Teilchen« (Backes 2000: 25) trat nun das Mysterium des Welle-Teilchen-Dualismus. Der Welle-Teilchen-Dualismus wurde in der Folgezeit zum bestimmenden Element der weiteren physikalischen Entwick-lungen, wurde doch durch ihn die »Eindeutigkeit« physikalischer Phänomene erstmals grundsätzlich in Frage gestellt. Eine Verschärfung erfuhr der Welle-Teilchen-Dualismus durch die Forschungsarbeiten von Arthur Holly Compton 1922 und Louis-Victor de Broglie 1923, die der Lichtquantenhypothese zur endgültigen Durchsetzung verhalfen. Auf die damalige Brisanz des Welle-Teilchen-Dualismus verweist Detlef Backes (2000: 37), wenn er von ihm als von einem »fatalen Dilemma« spricht oder von einem »die vom ge-sunden Menschenverstand erfüllten Köpfe zum Rauchen bringende[n] Feuer, das seit Ein-steins Lichtquantenhypothese im Fundament des physikalischen Denkgebäudes schwelte« und 1922/23 »mit neuen Entwicklungen gefährlich auf[loderte]«. Die Forschungsfragen, die sich mit der Begründung des Welle-Teilchen-Dualismus aufdrängten, fasst er wie folgt zusammen: »Wie sollte man mit dem Welle-Teilchen-Dualismus umgehen? Was waren die physikalischen Objekte denn nun eigentlich? Welle und Teilchen zugleich, oder primär Wel-le, oder primär Teilchen, oder eigentlich nur Welle, oder eigentlich nur Teilchen?« (Backes 2000: 40; kursiv i.T.). Eine begrifflich widerspruchsfreie Beantwortung dieser Fragen gelang erst 1925-1927 im Rahmen der so genannten Kopenhagener Deutung durch Niels Bohr und Werner Heisenberg.

8 x p h/2 [ x = Ort, p = Impuls; h = Wirkungsquantum]

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zwei physikalische Größen gemessen werden können, gegenseitig: Je ge-nauer die Messung der einen vorgenommen wird (z.B. Ort oder Energie), umso ungenauer muss notwendigerweise die der anderen ausfallen (z.B. Impuls oder Zeit). Deswegen ergibt sich in der Praxis die Notwendigkeit, die Versuchsanordnung entweder nach der einen oder nach der anderen Messgröße auszurichten, wenn man für die jeweilige Messgröße eine höchstmögliche Genauigkeit erreichen will. Das Verhalten eines mikro-physikalischen Systems ist im Ergebnis demnach je nach Versuchsanord-nung als beispielsweise »tantôt ondulatoire, tantôt corpusculaire« (II/12, 178) zu kennzeichnen. Eine gleichzeitige Messung zweier Größen wäre zwar durchführbar, ginge aber auf Kosten der Genauigkeit sowohl der einen als auch der anderen Größe, sprich, eine »gleichzeitige exakte Be-stimmung des Ortes und des Impulses« beispielsweise ist »prinzipiell un-möglich« (Backes 2000: 60; kursiv i.T.). Der »Doppelnatur« mikrophysika-lischer Objekte, sprich, dem Welle-Teilchen-Dualismus wird also insoweit Rechnung getragen, als man die Versuche mit sich wechselseitig ausschlie-ßenden Messvorrichtungen anordnet. Ein logischer Widerspruch zwi-schen Teilchen- und Wellenbild (in reiner Form) kann nun nicht mehr auftreten, »da je nach Experiment entweder nur der eine oder nur der andere Aspekt zum Vorschein kommt« (Backes 2000: 65).

Aus dem Heisenbergschen Unbestimmtheitsprinzip ergibt sich außer-dem, dass jede Messung im Mikrokosmos eine Störung der zu messenden Größe darstellt.9 Die Eigenschaften des beobachteten Systems hängen also von der Beobachtung ab, woraus folgt, dass die Beobachtung als solche oder die gewonnenen Ergebnisse als solche nicht als »objektiv« im traditionellen Sinn gewertet werden können. Während der Beobachter in der klassischen Physik von außen auf die Welt sieht und eine strikte Tren-nung stattfindet zwischen Subjekt und Objekt, ist dies in der Quantenphy-sik nicht mehr möglich. Subjekt und Objekt sind hier miteinander ver-schränkt. Das Subjekt ist Teil der Beobachtung, womit die Beobachtung selbst nicht frei von Individualität bzw. Subjektivität sein kann.10 Die her-kömmliche Vorstellung von Realität wird damit unterminiert oder gilt zumindest nicht mehr im Bereich der mikroskopischen Welt.

Wie oben erläutert, ergibt sich aus dem Heisenbergschen Unbe-stimmtheitsprinzip die Notwendigkeit, einen Versuch mit sich wechselsei-tig ausschließenden Messvorrichtungen anzuordnen, wenn man für die ______________________

9 Vgl. hierzu: »Wenn wir wissen wollen, wie die Welt aussieht, müssen wir sie beobachten. Indem wir sie aber beobachten, verändern wir ihr Aussehen.« (Backes 2003: 63; kursiv i.T.)

10 Die Objektivität wird in der Quantenphysik dadurch gewahrt, dass man zum einen die Begriffe der klassischen Physik beibehält und zum anderen die Art und Weise der Objekti-vierung, d.h. die Beobachtungsbedingungen mit in Anschlag bringt (vgl. hierzu Meyer-Abich 1976b: 1093 f.).

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jeweiligen Messgrößen eine höchstmögliche Messgenauigkeit erzielen will. Der »Doppelnatur« eines mikrophysikalischen Objekts, d.h. seiner durch Wellenaspekt und Teilchenaspekt komplementären Existenz in einem einzigen Versuch gerecht zu werden, ist ausgeschlossen. In der Notwen-digkeit, mit einander ausschließenden Versuchsanordnungen zu operieren, »erblickt[e] Bohr eine allgemeine Grundregel, nämlich das Komplementari-tätsprinzip« (Backes 2000: 66; kursiv i.T.). Verdeutlicht werden kann das Komplementaritätsprinzip mit Hilfe eines Vergleichs der Naturbeschrei-bung durch die klassische Physik und der Beschreibung mikrophysikali-scher Systeme durch die Quantenphysik. Als wesentliche Elemente der klassischen Naturbeschreibung erwähnt Bohr die Vereinigung der kausa-len und der raumzeitlichen Erfassung von Vorgängen. So stellen die

[…] Gesetze der klassischen Physik […] zwischen ihren Objekten eindeutige Kausalzusammenhänge her, was bedeutet, daß sie aus dem Zustand Z0 eines phy-sikalischen Systems zum Zeitpunkt t0 für jeden anderen Zeitpunkt t1 einen ganz bestimmten Zustand Z1 des Systems voraussagen. (Backes 2000: 74)

In der Quantenphysik ist jedoch mit dem Heisenbergschen Unbestimmt-heitsprinzip die Tatsache verbunden, dass im Gegensatz zur klassischen Physik keine Voraussagen getroffen und damit auch keine Kausalzusam-menhänge hergestellt, sondern lediglich Wahrscheinlichkeiten errechnet werden können. Denn eine Voraussage ist an die Kenntnis der Bahn (= raumzeitliche Beschreibung) gebunden, die ein Teilchen beschreibt. Die Bahn wiederum ist gebunden an die genaue Kenntnis von Ort und Impuls zu einem bestimmten Zeitpunkt. Eine genaue Messung von Ort und Im-puls zugleich ist allerdings nicht möglich, wie aus dem Heisenbergschen Unbestimmtheitsprinzip hervorgeht. Da eine Vereinigung der kausalen und raumzeitlichen Erfassung von Vorgängen in der Quantenphysik nicht geleistet werden kann, muss sich die Quantentheorie, so Bohr, damit be-gnügen, »die Raum-Zeit-Darstellung und die Forderung der Kausalität, deren Vereinigung für die klassischen Theorien kennzeichnend ist, als komplementäre, aber einander ausschließende Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzufassen« (Bohr 1963: 38; kursiv i.T., zit. n. Ba-ckes 2000: 67). Die Naturbeschreibung, die in der Quantenphysik gegeben wird, heißt daher auch selbst komplementär. Den Begriff der Komple-mentarität, der quantitativ durch die Unschärferelation Heisenbergs for-muliert wird, definiert Meyer-Abich wie folgt:

[Komplementarität] heißt die Zusammengehörigkeit verschiedener Möglichkei-ten, dasselbe Objekt als verschiedenes zu erfahren. Komplementäre Erkenntnisse gehören zusammen, insofern sie Erkenntnis desselben Objekts sind; sie schließen einander jedoch aus, als sie nicht zugleich und für denselben Zeitpunkt erfolgen können. Die Struktur des Objekts, die darin zum Ausdruck kommt, daß es kom-plementär erfahren und beschrieben wird, kann mit Bohr als […] Ganzheit be-zeichnet werden. (Meyer-Abich 1976a: 933)

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Das Komplementaritätsprinzip geht weit über die speziellen Probleme der modernen Physik hinaus. Es hat eine sprachphilosophische und eine epis-temologische Dimension. Bereits Niels Bohr selbst war aufgefallen, dass die Sprache höchst ungeeignet sei, um die mikrophysikalischen Gegeben-heiten auszudrücken. Er betonte sogar, dass die »Schwierigkeiten in der Quantentheorie ›mit den Begriffen, oder vielmehr mit den Worten ver-knüpft sind, die bei der gewöhnlichen Naturbeschreibung‹, d.h. in der klassischen Physik genutzt werden« (Meyer-Abich 1967: 97), denn die

[…] physikalische Sprache bedient sich […] solcher Begriffe, die eine klare Un-terscheidung zwischen physikalischen Phänomenen und Beobachtungsmitteln voraussetzen. Anders als in der klassischen Physik, in der dem Beobachteten mit einer gewissen Berechtigung Unabhängigkeit vom Beobachtungsmittel zugestan-den wurde, ist diese Idealisierung in der Quantentheorie nicht mehr statthaft. In-sofern sind die klassischen Begriffe, deren Verwendung Bohr aufgrund ihrer Ver-ankerung in unseren gewöhnlichen Anschauungsformen für notwendig hält, der atomaren Welt nicht angemessen. Aus ebendieser Unangepaßtheit der Sprache, in der wir unsere Erfahrungen ausdrücken, an die Beschaffenheit des Mikrokosmos rühren nach Bohr die scheinbaren Widersprüche und Paradoxien der Quanten-theorie her. (Backes 2000: 66; kursiv i.T.)

Obwohl sich aber die klassischen Konzepte und Begriffe der atomaren Welt als unangepasst erwiesen, wollte Bohr auf diese in der Quantenphy-sik nicht verzichten. Denn nur durch eine Anwendung der klassischen Begriffe konnte der Quantenphysik Anschaulichkeit verliehen werden (s. Fischer 1987: 236). Des Weiteren konnte, nach Bohr, an einer Subjektivie-rung der Quantenphysik nur vorbeigesteuert werden, indem man diese Begriffe nach wie vor beibehielt. Nach Fischer sind der drohende Verlust der Anschaulichkeit und der Versuch, sie beizubehalten, der eigentliche Anlass gewesen, die Komplementarität einzuführen. Denn die Komple-mentarität schränkt die klassischen Konzepte nur ein und verwirft sie nicht völlig. Insoweit lässt sich von einer Ausweitung des konzeptionellen Rahmens sprechen, in dem die klassischen Konzepte uminterpretiert wer-den.

Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie ist prägend für Houelle-becqs Weltbild und Realitätsverständnis. So sagt er in seinem Essayband Interventions:

Le principe de complémentarité introduit par Bohr est une sorte de gestion fine de la contradiction: des points de vue complémentaires sont simultanément intro-duits sur le monde; chacun d’entre eux, pris isolément, peut être exprimé sans ambiguïté en langage clair; chacun d’entre eux, pris isolément, est faux. Leur pré-sence conjointe crée une situation nouvelle, inconfortable pour la raison; mais c’est uniquement à travers ce malaise conceptuel que nous pouvons accéder à une représentation correcte du monde. (Interventions, 36; kursiv i.T.)

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Vor dem Hintergrund des Komplementaritätsprinzips von Niels Bohr und des Heisenbergschen Unbestimmtheitsprinzips als seiner quantitati-ven Formulierung lässt sich die zitierte Textstelle zu Bruno (»Pouvait-on considérer Bruno comme un individu?«, II/12, 178) nun in einem syste-matischeren Licht betrachten. Bruno wird mit einem atomaren System verglichen, denn so wie ein atomares System je nach der Versuchsanord-nung mal Teilchen-, mal Wellenverhalten aufweist, erweist sich auch Bru-no mal als Individuum (Teilchenverhalten), mal als passives Element der Entfaltung einer historischen Bewegung (Wellenverhalten): »[…] de même Bruno pouvait apparaître comme un individu, mais d’un autre point de vue il n’était que l’élément passif du déploiement d’un mouvement histo-rique« (ebd.).

Die Vergleichsmöglichkeiten beschränken sich aber nicht auf diese Gleichsetzung von atomarem System und Bruno, sondern sie greifen wei-ter. Wie das Unbestimmtheitsprinzip Werner Heisenbergs gezeigt hat, kann der komplementären Anlage eines atomaren Systems, d.h. der unauf-löslichen und zugleich unvereinbaren Einheit Korpuskel/Welle, nur durch eine Versuchsanordnung mit sich wechselseitig ausschließenden Messvor-richtungen Rechnung getragen werden, insofern man nicht auf die genau-en Messergebnisse beider Größen verzichten will. Bildlich gesprochen, geht der Erzähler in der ›Versuchsanordnung‹ zu seinem Untersuchungs-gegenstand nicht anders vor. Denn so wie eine physikalische Versuchsan-ordnung entweder auf den Teilchen- oder Wellencharakter eines Mikroob-jekts abzielt, zielt auch die ›Versuchsanordnung‹ des Erzählers entweder auf das Teilchenverhalten seiner Figuren (Lebensgeschichten) oder auf ihren Wellencharakter (epochengeschichtliche Bilanzierung).

Hatte Niels Bohr in der Notwendigkeit des »sich gegenseitigen Aus-schließen[s] von Versuchsanordnungen […] eine allgemeine Grundregel [erblickt], nämlich das Komplementaritätsprinzip« (Backes 2000: 66; kursiv i.T.), so kann dieses Prinzip auch für die ›Versuchsanordnung‹ des Erzäh-lers geltend gemacht werden. Das heißt, dass die in den Roman fraktio-niert eingestreuten Passagen zu den Lebensgeschichten der Figuren zum einen und zur entwicklungs- und mentalitätsgeschichtlichen Evolution Frankreichs zum anderen in einem komplementären Bezug zueinander verstanden werden müssen. Dasselbe gilt für die binäre kontrastierende Figurenkonstellation des Halbbruderpaares: Die mit der jeweiligen Le-bensgeschichte der beiden Protagonisten heraufbeschworenen Bilder von Gesellschaft sind zwar gegensätzlich, aber sie ergänzen sich doch insoweit, als sie zwei komplementäre Pole der modernen Gesellschaft darstellen.11______________________

11 In einem Interview, das Houellebecq Sigrid Weigel gegeben hat, erwähnt er ausdrücklich, quantenphysikalische Erkenntnisse für seine schriftstellerische Praxis zu nutzen. So hält er zu Niels Bohrs Arbeitsweise fest: »Das ist tatsächlich eine Arbeitsweise, die ich auch in

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Die Prinzipien der Unbestimmtheit und der Komplementarität haben ihr narratives Korrelat in der Theorie der consistent histories von Robert Grif-fiths. Lässt sich die Figurenkonstellation als Applikation quantenphysikali-scher Prinzipien deuten, so gilt für die histoire insgesamt, dass das Verfah-ren des Erzählers, seine Erzählfragmente zu einer plausibel erscheinenden Geschichte zusammenzufügen, durch die Erwähnung der Theorie der consistent histories reflektiert und hinterfragt wird. Wie noch deutlicher ver-anschaulicht werden soll, wird im Rahmen dieser Theorie die Erzählform Geschichte insoweit genutzt, als einzelne an einem mikrophysikalischen System gewonnene Messergebnisse zu einer Geschichte (history) aneinan-dergereiht werden. Das literarische Verfahren der Zusammenfügung von Erzählfragmenten zu einer Geschichte findet damit seine Entsprechung in der Aneinanderreihung von Messergebnissen zu einer history, genauso wie der Erzähler sein Pendant in einem Versuchsleiter der Quantenphysik findet.

In einem ersten Schritt sei zunächst die oben erwähnte ›Versuchsan-ordnung‹ des Erzählers näher beleuchtet. Im Hinblick auf den Erzähler ist zu betonen, dass es sich bei ihm um einen Vertreter der neu erschaffenen Spezies Mensch handelt, der mit einem Rückblick aus dem Jahre 207912

sowohl die Lebensgeschichte Michel Djerzinskis13 wiedergibt als auch eine epochengeschichtliche Bilanzierung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-derts leistet. Die Motivation des Erzählers lässt sich unter anderem auf die wichtige Rolle Michel Djerzinskis zurückführen, die diesem im Hinblick auf die Entstehung der neuen Menschheit zukommt. Bei Michel Djer-zinski handelt es sich um einen besonders hellsichtigen Wegbereiter der »dritten metaphysischen Wandlung«,14 die u.a. mit der Ablösung der Menschheit und der Schaffung einer sich künstlich reproduzierenden Spezies Mensch verbunden ist. ______________________

meinem Schreiben angewendet, nachgeahmt habe.« (Weigel 2001: 17; das Interview wurde in deutscher Übersetzung veröffentlicht.)

12 Diese Zeitangabe erschließt sich aus dem Epilog, siehe Les Particules élémentaires, 315. 13 Hierauf wird im Prolog explizit hingewiesen: »Ce livre est avant tout l’histoire d’un homme,

qui vécut la plus grande partie de sa vie en Europe occidentale, durant la seconde moitié du XXe siècle.« (Prologue, 7). Für den Leser ergibt sich nach der Lektüre dieser Geschichte aber eine Diskrepanz zwischen der besonderen Akzentuierung der Lebensgeschichte Mi-chel Djerzinskis und dem tatsächlich Gelesenen; denn wenn auch die Lebensgeschichte Michel Djerzinskis tatsächlich wiedergegeben wird, so wird doch der Lebensgeschichte sei-nes Halbbruders Bruno nicht weniger Aufmerksamkeit zuteil.

14 So der Prolog: »Michel Djerzinski ne fut ni le premier, ni le principal artisan de cette troisi-ème mutation métaphysique, à bien des égards la plus radicale, qui devait ouvrir une pério-de nouvelle dans l’histoire du monde; mais en raison de certaines circonstances, tout à fait particulières, de sa vie, il en fut un des artisans les plus conscients, les plus lucides.« (Prolo-gue, 8)

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In diesem Zusammenhang soll – als auf eines der wesentlichen Cha-rakteristika der neuen Ära – auf die sich wandelnde Bewertung der Hu-manwissenschaften auf der einen Seite und der Naturwissenschaften auf der anderen Seite hingewiesen werden. Während dem Erzähler zufolge die Humanwissenschaften, und hier insbesondere die Philosophie, im späten 20. Jahrhundert nahezu schlagartig an Bedeutung verlieren, erstarkt der Einfluss der Naturwissenschaften in allen Domänen:

Le ridicule global dans lequel avaient subitement sombré, après des décennies de surestimation insensée, les travaux de Foucault, de Lacan, de Derrida et de De-leuze ne devait sur le moment laisser le champ libre à aucune pensée philosophi-que neuve, mais au contraire jeter le discrédit sur l’ensemble des intellectuels se réclamant des »sciences humaines«; la montée en puissance des scientifiques dans tous les domaines de la pensée était dès lors devenue inéluctable. (Épilogue, 314; Her-vorh. B. D.)

Dem Umstand, dass der Einfluss der Naturwissenschaften in allen Berei-chen wächst, sollte besonders Rechnung getragen werden; denn der Be-reich von Kunst bzw. Literatur ist davon nicht ausgenommen. Dass der Erzähler beim Figurenaufbau seiner Geschichte auf das Unbestimmt-heitsprinzip von Heisenberg und damit in philosophisch-erkenntnis-theoretischer Hinsicht auf das Komplementaritätsprinzip von Niels Bohr zurückgreift, wurde oben verdeutlicht. Doch nicht nur im Hinblick auf den Figurenaufbau, sondern auch im Hinblick auf die Darstellungsweise des Romans wird die methodologische Nutzung naturwissenschaftlicher Prinzipien bzw. Theorien ersichtlich. Um dies zu verdeutlichen, müssen nun die so genannten consistent histories von Robert Griffiths vorgestellt werden.15

War weder vom Unbestimmtheitsprinzip Heisenbergs noch vom Komplementaritätsprinzip Bohrs in dem oben besprochenen Textzitat zu Bruno explizit die Rede,16 so finden die consistent histories von Robert Grif-fiths in einem Gespräch zwischen Michel und Bruno im Gegenzug aus-drückliche Erwähnung. So erklärt Michel Bruno, dass die Erinnerung an ______________________

15 Zu Robert Griffiths selbst finden sich Informationen auf folgender Website: http://info.phys.cmu.edu/people/faculty/griffiths_bob (letzter Zugriff 13.4.2007). Die Theorie der consistent histories findet sich in Griffiths (2001). Dieses Werk ist auch im Inter-net als PDF-Version zugänglich unter quantum.phys.cmu.edu/CQT (letzter Zugriff 13.4.2007; zu den consistent histories siehe dort das zehnte Kapitel).

16 Diese Prinzipien finden sich zwar nicht explizit in dem Textzitat, doch von Niels Bohr und Werner Heisenberg bzw. auch von der Kopenhagener Deutung ist mehrfach an anderen Stellen des Romans die Rede. So wird die Kopenhagener Deutung recht früh bereits im zweiten Kapitel des ersten Romanteils im Rahmen eines kleinen Exkurses zur Entste-hungszeit der Quantenmechanik erwähnt: »C’est dans ce contexte exceptionnel que furent élaborés, entre 1925 et 1927, les termes essentiels de l’interprétation de Copenhague, qui invalidait dans une large mesure les catégories antérieures de l’espace, de la causalité et du temps.« (I/2, 17)

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ein menschliches Leben einer consistent history von Griffiths ähnle, und er stellt ihm das Konzept der consistent histories von Griffiths sodann vor:

Les histoires consistantes de Griffiths ont été introduites en 1984 pour relier les mesures quantiques dans des narrations vraisemblables. Une histoire de Griffiths est construite à partir d’une suite de mesures plus ou moins quelconques ayant lieu à des instants différents. Chaque mesure exprime le fait qu’une certaine quan-tité physique, éventuellement différente d’une mesure à l’autre, est comprise, à un instant donné, dans un certain domaine de valeurs. Par exemple, au temps t1, un électron a une certaine vitesse, déterminée avec une approximation dépendant du mode de mesure; au temps t2, il est situé dans un certain domaine de l’espace; au temps t3, il a une certaine valeur de spin. À partir d’un sous-ensemble de mesures on peut définir une histoire, logiquement consistante, dont on ne peut cependant pas dire qu’elle soit vraie; elle peut simplement être soutenue sans contradiction. Parmi les histoires du monde possibles dans un cadre expérimental donné, certai-nes peuvent être réécrites sous la forme normalisée de Griffiths; elles sont alors appelées histoires consistantes de Griffiths, et tout se passe comme si le monde était composé d’objets séparés, dotés de propriétés intrinsèques et stables. Cependant, le nombre d’histoires consistantes de Griffiths pouvant être réécrites à partir d’une série de mesures est en général sensiblement supérieur à un. (I/11, 65 f.; kursiv i.T.)

Die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik wurde und wird von einem Großteil der Forschung als unzulänglich betrachtet.17 Im Rahmen der Versuche, die Kopenhagener Deutung neu zu formulieren, stellen die consistent histories von Robert Griffiths eine wichtige Etappe dar (s. Omnès 1992: 341), denn sie verleihen ihr in einem bestimmten Maße die ihr abge-sprochene Konsistenz. Wie das Textzitat deutlich macht, löst sich Grif-fiths mit seinen consistent histories von der Vorstellung von einzelnen, iso-liert betrachteten Eigenschaften eines Systems, die zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils nacheinander gemessen werden. Er schlägt vor, ein mikrophysikalisches System vielmehr als eine Geschichte zu betrachten, d.h. dass die einzelnen Messergebnisse zu den verschiedenen Observablen und dem zeitlich sukzessiven Ablauf ihrer Messung entsprechend zu einer Geschichte zusammengefasst werden.18 Die Leistung von Griffiths be-steht darin, für die Forscher der Quantenphysik eine Standardformel19

bzw. ein Aussagemedium geschaffen zu haben, »qui permet de parler de tous les événements de la physique sans aucune exception« (Omnès 1994:

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17 S. hierzu Omnès (1992: 340): »[…]: the Copenhagen interpretation is incomplete, its con-sistency is very questionable, and its treatment of phenomena is much too superficial.«

18 Vgl. hierzu Omnès (1994: 270): »Au lieu de s’en tenir à des propriétés isolées qui ont lieu à un seul instant, Griffiths proposa de considérer de véritables histoires d’un système physi-que, c’est-à-dire une suite de propriétés ayant lieu à des instants successifs.«

19 t1, t2, …, tn (tk<tk+1)

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271).20 Ein weiterer Vorzug ist damit gegeben, dass Griffiths diesen histo-ries Wahrscheinlichkeiten zuordnet, die es erlauben, zwischen sinnvollen und sinnlosen histories zu unterscheiden.21 Hierzu sagt Roland Omnès:

Les probabilités sont […] simplement des nombres qu’on attribue à des événe-ments (lesquels sont, dans notre cas, des propriétés ou des histoires). Ces événe-ments forment une famille complète (ils s’excluent les uns les autres et recouvrent ensemble toutes les possibilités); les probabilités ne sont soumises qu’à trois con-ditions: ce sont des nombres positifs, elles s’ajoutent dans le cas de deux événe-ments mutuellement exclusifs (condition d’additivité) et leur somme totale est égale à 1. (Omnès 1994: 272 f.)

Doch realiter erzielt man bei dem Versuch, die einmal erstellten histories neu zu ›schreiben‹, im Allgemeinen ein Ergebnis, das deutlich höher ist als 1, so wie es auch Michel ausdrücklich betont. Daraus lässt sich schließen, dass es sich dann nur um eine wahrscheinliche history handelt und nicht um eine wahre. Dies betont Laurence Dahan-Gaida (2003: 112; kursiv i.T.):

Or la physique quantique autorise en général plus d’une histoire consistante entre deux mesures. Au sens strict, ces histoires doivent donc être considérées comme des fictions qui possèdent un certain degré de fiabilité (probabiliste) mais ne ré-pondent pas au critère de vérité, lequel exigerait l’existence d’une seule histoire entre deux mesures effectives.

Dahan-Gaida betont weiter, dass sich diese Abgrenzung von wahrschein-licher history, sprich Fiktion, und wahrer history im Epilog des Romans wiederfindet. Denn der Erzähler betont dort, dass seine Erzählung eine Fiktion sei, während es sich bei seinen folgenden Ausführungen um Fak-ten, um Geschichte im Sinne von Geschichtsschreibung handle:

Sur la vie, l’apparence physique, le caractère des personnages qui ont traversé ce récit, nous connaissons de nombreux détails; ce livre doit malgré tout être consi-

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20 Zum besseren Verständnis sei folgendes veranschaulichendes Beispiel zitiert: »Les histoires n’ont rien de mystérieux pour nous, car c’est bien par une histoire que nous décrivons une expérience de physique ou une situation rencontrée en physique. Il vaut la peine de donner un exemple de ce point important, qu’il serait d’ailleurs aisé de multiplier indéfiniment. Un physicien dit à un autre quelle est son expérience: ›Un neutron sort d’un réacteur nucléaire en traversant une ouverture pratiquée dans le blindage. Il traverse alors un cristal de silici-um; il en sort (après diffraction) avec une vitesse qui dépend de sa direction; la vitesse est alors sélectionnée en faisant passer le neutron par une étroite fenêtre; il vient ensuite frap-per un noyau dans un bloc d’uranium; le choc provoque une fission du noyau, qui se brise en plusieurs fragments; l’un d’eux est un noyau de xénon qui, finalement, entre dans la zo-ne de détection d’un compteur.‹ Cela est une histoire, que le théoricien n’a qu’à reformuler, à réécrire avec des projecteurs pour lui donner la forme standardisée de Griffiths, après avoir précisé les instants où les divers épisodes ont lieu.« (Omnès 1994: 271 f.)

21 Vgl. Omnès (1994: 272): »C’est grâce en effet aux probabilités que l’on peut s’assurer que certaines histoires sont sensées et que d’autres sont à rejeter comme dépourvues de sens, que l’on peut sélectionner alors celles qui ont un sens, et définir enfin l’équivalence logique et l’implication dans le monde quantique.«

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déré comme une fiction, une reconstitution crédible à partir de souvenirs partiels, plutôt que comme le reflet d’une vérite univoque et attestable. […] Ce qui suit, par contre, appartient à l’Histoire, […]. (Épilogue, 307; Hervorh. B. D.).

Dass dieser Kommentar des Erzählers in engem Zusammenhang mit dem Passus zu den consistent histories von Griffiths zu sehen ist, verdeutlicht insbesondere die Bezeichnung der »fiction« als »reconstitution crédible à partir de souvenirs partiels«. Denn so wie eine consistent history als eine zeit-liche Abfolge von quantenphysikalischen Messungen definiert werden kann, der »un certain degré de fiabilité« (Dahan-Gaida 2003: 112) zu-kommt, kann auch die Zusammenführung der einzelnen Erzählfragmente zu einer Geschichte als eine »reconstitution crédible à partir de souvenirs partiels« bezeichnet werden. Setzt man also den Passus mit der Frage nach der Individualität Brunos (II/12, 178) mit dem Passus zu den consistent histories von Griffiths (I/11, 65 f.) und mit den metatextuellen Kommenta-ren des Erzählers zueinander in Beziehung, so lässt sich festhalten, dass der Erzähler die Ergebnisse seiner Versuchsanordnung zu einer consistenthistory zusammengefasst hat. Würde er versuchen, seine history neu zu schreiben, würde er – da es sich um eine Fiktion handelt – ein Ergebnis erzielen, das höher ist als 1. Auf das histoire-Problem, d.h. »die von Houel-lebecq auf Grund der realen, zeitgenössischen, zerrissenen Lebensläufe ausdrücklich hervorgehobene Schwierigkeit, eine zusammenhängende Geschichte zu entwickeln« (Schober 2003b: 287), wird mit der methodo-logischen Nutzung quantenphysikalischer Prinzipien und Theorien inso-weit geantwortet, als sie eine Möglichkeit bietet, trotz dieser Schwierigkeit eine – nicht mehr wahre, sondern nur noch mögliche – Geschichte zu erzählen.

Die Textpassage zu den consistent histories von Griffiths hat bisher in der Forschungsliteratur kaum Beachtung gefunden. In diesem Zusam-menhang können nur drei Autorinnen genannt werden. Rita Schober setzt den Passus zu den consistent histories von Griffiths nicht explizit in Bezug zum Epilog, betont aber trotzdem den autoreflexiven Charakter dieses Passus, wenn sie schreibt, dass »mit dieser Erörterung […] zugleich der Wahrheitsanspruch der erzählten histoire sowohl im Sinne der vrai-semblance bestätigt, als auch diese selbst entgegen der Realismustradition auf eine mögliche Variante unter mehreren relativiert [ist]« (Schober 2003b: 288, Anm. 50). Laurence Dahan-Gaida lässt den consistent histories von Griffiths größere Beachtung zukommen. Sie stellt einen expliziten Bezug zwischen dem Passus zu den consistent histories und den metatextuel-len Äußerungen des Erzählers her. Hinter letzteren verberge sich Aristote-les’ Abgrenzung der Dichtung von der Geschichtsschreibung: »La fiction ne fait pas le récit d’événements vrais mais reconstruit ces derniers selon les modalités plus générales du possible et du vraisemblable. Cette défini-

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tion est celle d’Aristote, qui reconnaît à la fiction une puissance cognitive supérieure à celle de l’histoire […]« (Dahan-Gaida 2003: 112, kursiv i.T.). Wie bereits zitiert, betont Dahan-Gaida, dass auch die consistent histories als»fictions« betrachtet werden können, »qui possèdent un certain degré de fiabilité (probabiliste) mais ne répondent pas au critère de la vérité, lequel exigerait l’existence d’une seule histoire entre deux mesure effectives« (ebd., kursiv i.T.). Unter der Prämisse, dass sowohl die Literatur als auch die Quantenphysik bzw. die consistent histories fiktionalen Charakter haben, und unter Betonung der Tatsache, dass die Fiktion ein »opérateur de connais-sance« (ebd.) sein kann, kommt Dahan-Gaida zu dem Schluss:

La fiction, en effet, n’est pas l’exposition romancée de telle ou telle vérité mais un traitement spécifique du monde qui consiste, non pas à éluder les règles qu’exige le traitement de la vérité, mais à mettre en évidence le caractère complexe de la si-tuation, qui interdit de limiter la question de la vérité à celle du vérifiable. Dès lors, entre science et littérature, il s’agit moins d’une opposition que d’une com-plémentarité: acceptant de travailler dans l’invérifiable pour mieux répondre aux exigences de la vérité, elles jouent le jeu de la fiction pour proposer des scénarios possibles de notre devenir. (Ebd.)

Auch Kim Doré nimmt den Passus zu den consistent histories als Ausgangs-punkt, um Überlegungen allgemeiner Natur über das Verhältnis von Lite-ratur und Wissenschaft anzustellen. Sie betont zwar den autoreflexiven Charakter des Passus, wenn sie schreibt: »N’est-ce pas le propre du roman que de produire une histoire consistante à partir d’éléments qui, à défaut d’être vrais, trouvent leur référent dans la réalité?« (Doré 2002: 72; kursiv i.T.), geht auf die Rolle der consistent histories aber nicht weiter ein. Die con-sistent histories werden vielmehr als Ausgangspunkt genommen, um anhand des wissenschaftlichen Gedankenexperiments allgemeine Analogien zwi-schen Literatur und Wissenschaft zu besprechen. Da auch das Gedanken-experiment eine Form von Fiktion darstellt,22 sind die Überlegungen Do-rés jenen Dahan-Gaidas nicht unähnlich bzw. haben zumindest einen ähnlichen Ausgangspunkt, nämlich den Begriff der Fiktion und sein Po-tential als Erkenntnismedium. Doré betont, dass die Fiktion als Erkennt-nismedium sowohl für den Literaten als auch (in der Form des Gedanken-experiments) für den Wissenschaftler geltend zu machen ist, selbst wenn ihre Erkenntnisziele erheblich differieren. Als gemeinsamen Nenner hält sie fest: »Dans un cas comme dans l’autre, pourtant, il s’agit de faire appel à l’imagination pour transfigurer et renouveler notre rapport au monde, du ______________________

22 Sigrid Weigel gibt folgende Definition des wissenschaftlichen Gedankenexperiments: »Fiktion als Erkenntnismedium mit einem argumentativen Vermögen im Hinblick auf Aus-sagen über die Gesetze der Natur.« (Weigel 2004: 186) Des Weiteren betont sie, dass die Fiktion nicht nur als spezifische Ausdrucksform von Literatur und Kunst begriffen werden könne, sondern auch »zum festen Bestand wissenschaftlicher Erkenntnismedien gehört.« (Weigel 2004: 183)

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moins pour faire en sorte que ›les choses‹ se révèlent sous un autre jour.« (Doré 2002: 73)

Die Ausführungen zur Kopenhagener Deutung haben gezeigt, dass die deskriptiven Konzepte der klassischen Physik (Welle vs. Teilchen) auf mikrophysikalischer Ebene nur noch komplementär zueinander Anwen-dung finden. Die Naturbeschreibung auf mikrophysikalischer Ebene heißt dementsprechend auch selbst komplementär. Ausgehend von einer auto-reflexiven Textstelle konnte aufgezeigt werden, dass die literarische Figur im Roman Houellebecqs nicht nur einem mikrophysikalischen System gleichgesetzt wird, sondern dass sie – in der Fortführung des Vergleichs – eine Darstellung erfährt, die der eines mikrophysikalischen Objekts ent-spricht. Das heißt, dass die literarische Figur komplementär dargestellt wird. Ist dem mikrophysikalischen Objekt sowohl Teilchen- als auch Wel-lencharakter zueigen, so findet diese Doppelnatur ihre Entsprechung in der literarischen Figur: in ihrem individuellen Aspekt auf der einen und ihrem zeitgeschichtlichen Aspekt auf der anderen Seite. Wie es bei mikro-physikalischen Systemen der Fall ist, wo Kausalbeschreibung und Raum-Zeit-Darstellung nicht vereinigt werden können, werden auch im Hinblick auf die Figuren die fraktionierten Lebensgeschichten und die sozio-historischen Exkurse nicht wirklich miteinander vereinigt. Es verhält sich vielmehr so, dass die fraktionierten Lebensgeschichten gleichberechtigt neben den sozio-historischen Exkursen stehen und vice versa. Der Zu-sammenhang bzw. ihre Komplementarität wird dadurch suggeriert, dass sie textlich unmittelbar aufeinander folgen.

Die Theorie der consistent histories zeigt, wie nun im naturwissenschaftli-chen Bereich die Erzählform Geschichte verwendet wird. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Vergleich des Erzählers mit einem Versuchs-leiter und der Vergleich der einzelnen Erzählfragmente des Romans mit Messergebnissen als aussagekräftig, denn das Verfahren des Schriftstellers kann in Analogie zum Verfahren eines Versuchsleiters gesehen werden, der nach vollzogenen Messungen diese in der standardisierten Formel von Griffiths festhält. Würde er versuchen, seine history neu zu schreiben, wür-de sein Ergebnis höher als 1 sein. Dies findet sich auch im Epilog des Romans wieder, wo der fiktionale Charakter der Erzählung betont und vom Wahrheitsgehalt der historiographischen Betrachtung abgegrenzt wird. Die Darstellung von Brunos Lebensgeschichte wird teilweise durch den Erzähler geleistet, aber zum Großteil von Bruno selbst, der in die Rolle eines Ich-Erzählers schlüpft. Die Darstellung dieser Lebensge-schichte besteht also sowohl aus biographischen wie auch aus autobiogra-phischen Passagen. Die Kohärenz desjenigen Anteils der Lebensgeschich-te, der auf Brunos eigenen Erinnerungen beruht, wird explizit durch die

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consistent histories begründet. Diese Begründung erfolgt zum einen im Hin-blick auf Bruno selbst, denn Michel bestätigt ihm, dass man ihm eine con-sistent history von Griffiths zuordnen könne; zum anderen aber auch in vermittelter Form für den Leser, dem ab dem elften Kapitel des ersten Romanteils die Lebensgeschichte Brunos größtenteils durch diesen selbst erzählt wird.

Wie aufgezeigt, verweist der zitierte Passus zur Frage, ob man Bruno als Individuum betrachten könne, auf den Welle-Teilchen-Dualismus und seine 1925-1927 begrifflich widerspruchsfreie Lösung im Rahmen der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik. Auf die Kopenhagener Deu-tung wird im Roman nicht nur stillschweigend durch den erwähnten Pas-sus verwiesen, sie findet vielmehr im zweiten Kapitel des ersten Roman-teils ihre ausdrückliche Erwähnung. Dies geschieht durch einen historio-graphischen Exkurs zu den Ergebnissen Max Plancks zur Energiequante-lung (1900), die als ein möglicher Beginn für die Quantenphysik über-haupt betrachtet werden können, sowie zu der später entwickelten Ko-penhagener Deutung. Die Theorie der consistent histories (1984), die gleich-falls Erwähnung findet, lässt sich als ein weiteres Ereignis in der Wissen-schaftsgeschichte der Quantenphysik begreifen. Diese Geschichte findet sich somit in der Erwähnung entscheidender Forschungsergebnisse oder in der Erwähnung wichtiger Theorien fragmentarisch nachgezeichnet. Berücksichtigt man vor diesem Hintergrund die erwähnten Analogien, die sich zwischen dem Verfahren eines Versuchsleiters und dem Verfahren des Erzählers herstellen lassen, so lässt sich davon sprechen, dass in der fragmentarischen Nachzeichnung von Wissenschaftsgeschichte zugleich die Entstehungsgeschichte des Textes ausgedrückt wird.

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BARBARA KUHN

Was weiß die Literatur? Die Frage der Zeit in Antonio Tabucchis Si sta facendo sempre più tardi

Dass die Frage nach der Zeit eine immer offene Frage nicht nur in der Literatur ist, sondern in nahezu allen Bereichen des Wissens wie der Le-benswelt, in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen, bedarf gewiss keiner Belege oder auch nur weiterer Ausführung, befassen sich doch insbesondere Physik und Philosophie seit ihren uns bekannten Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart mit dieser Frage, aber auch Theologen und Literaturwissenschaftler ebenso wie Mystiker und Dichter, Biologen und Soziologen, Hirnforscher und Medienwissenschaftler – und viele mehr. Dass ferner gerade in den letzten Jahren die Frage zunehmend als aktuelle und drängende erlebt wird und sich insbesondere die Auseinan-dersetzungen über das ebenfalls seit Platon und Aristoteles diskutierte Verhältnis von Zeit und Augenblick häufen,1 mag unterschiedliche Grün-de haben: So wirft etwa die Erfahrung ständiger Beschleunigung in allen Dimensionen die Frage auf, ob wir möglicherweise in einer ständigen Gegenwart leben, der Zukunft und Vergangenheit nichts bedeuten, ob im Gegenteil die Gegenwart immer mehr schrumpft, weil alles sogleich zu Vergangenheit wird, wie der Soziologe Hermann Lübbe postuliert,2 oder ob, wie der Philosoph Walther Ch. Zimmerli feststellt, Zeit vor allem Zukunft ist, Gegenwart und Vergangenheit hingegen nur als Zeit zweiter Ordnung betrachtet werden können, weil sich Zeit eben durch das Flie-ßen, durch den Raum der Möglichkeit definiere, in dem alternative Zu-______________________

1 Vgl. etwa Time & the Instant. Essays in the Physics and Philosophy of Time, hrsg. v. Robin Durie, Manchester 2000; The Moment. Time and Rupture in Modern Thought, hrsg. v. Heidrun Friese, Liverpool 2001; Time, Temporality, Now. Experiencing Time and Concepts of Time in an Interdis-ciplinary Perspective, hrsg. v. Harald Atmanspacher/Eva Ruhnau, Berlin u.a. 1997. Die Frage des Augenblicks bezogen auf Literatur und Philosophie ist ferner Gegenstand in den bei-den folgenden Bänden von Karl Heinz Bohrer, Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin, Frankfurt a.M. 21997; ders., Ästhetische Negativität, Mün-chen/Wien 2002.

2 Vgl. Hermann Lübbe, »Schrumpft die Zeit? Zivilisationsdynamik und Zeitumgangsmoral: Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart«, in: Was ist Zeit? Zeit und Verantwortung in Wissen-schaft, Technik und Religion, eingel. u. hrsg. v. Kurt Weis, München 1995, S. 53-79.

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stände sich erst in einem Prozess zu Wirklichkeit verfestigen.3 Wesentli-cher Grund der Beschäftigung mit der Zeit ist aber in mindestens ebenso hohem Maß die Revolutionierung traditioneller Vorstellungen durch die als Verzeitlichung bezeichnete Veränderung in der Physik im ersten Drit-tel des 20. Jahrhunderts, die in gewisser Weise Fragen aus naturwissen-schaftlicher Perspektive bündelt, welche nicht erst seit der Relativitäts- und der Quantentheorie die Gemüter der Physiker bewegten und gleich-zeitig in Texten wie denen von Proust und Pirandello – um nur zwei von vielen möglichen Namen zu nennen – im Mittelpunkt stehen. Nicht zu-letzt führte oder verführte selbstverständlich auch die bevorstehende Jahr-tausendwende zu einer Flut von Publikationen in den Achtziger- und vor allem Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Besonders gern wird die Debatte nun interdisziplinär geführt, da, wie die verschiedenen Sammelbände oder auch Monographien fast schon als eine Art Exordial-topos formulieren, die Frage nach der Zeit alle betreffe und sich daher besonders für einen Dialog über die Grenzen hinweg oder zur Überwin-dung falscher Trennungen eigne. Als paradigmatisch hierfür kann das Vorwort in Norbert Elias’ zum Klassiker gewordenem Band Über die Zeitgelten, in dem er unter anderem schreibt:

Nicht »Mensch« und »Natur« als zwei getrennte Gegebenheiten, sondern »Men-schen in der Natur« ist die Grundvorstellung, deren man bedarf, um »Zeit« zu verstehen. So erleichtert das Bemühen darum herauszufinden, was es mit der Zeit auf sich hat, auch das Verständnis dafür, daß die Zweiteilung der Welt in die »Na-tur«, das Forschungsgebiet der Naturwissenschaften, und die menschlichen Ge-sellschaften, das Forschungsgebiet der Sozial- oder Menschenwissenschaften, ei-ne Spaltung der Welt vortäuscht, die das Kunstprodukt einer wissenschaftlichen Fehlentwicklung ist.4

An diesem Dialog hat – ebenfalls seit ihren Anfängen, seit der folgen-reichen Modellierung der Zeit in Ilias und Odyssee – auch die Literatur und speziell die Narrativik als eine Art Zeitkunst wesentlichen Anteil, wie nicht zuletzt der kurz nach der Jahrtausendwende erschienene Roman von An-tonio Tabucchi,5 einem der auch international bekanntesten zeitgenössi-schen Autoren Italiens, unterstreicht, der bereits im Titel Si sta facendo sempre più tardi seinen ›Zeitbezug‹ offen legt und so die Lektüre unter die-______________________

3 Vgl. Walther Ch. Zimmerli, »Zeit als Zukunft. Die menschliche Konstruktion der Zeit. Rhythmen und Uhren, Cyber-Medienfiktion und Technikfolgenabschätzung. Vom Han-deln im Mensch-Maschine-Tandem«, in: Was treibt die Zeit? Entwicklung und Herrschaft der Zeit in Wissenschaft, Technik und Religion, eingel. u. hrsg. v. Kurt Weis, München 1998, S. 263-290.

4 Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hrsg. v. Michael Schröter, Frank-furt a.M. 1984, S. XV.

5 Antonio Tabucchi, Si sta facendo sempre più tardi. Romanzo in forma di lettere, Milano 2001. Die Seitenzahlen werden jeweils direkt im Text unmittelbar nach dem Zitat in runden Klam-mern angegeben.

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ses ›Zeichen der Zeit‹ setzt. Wenngleich zusätzlich zahlreiche Anspielun-gen im Text selbst unter anderem auf physikalische und astronomische Theorien deuten, besteht doch das vorrangige Interesse bei der Beschäfti-gung mit dem Roman und mithin das Ziel dieses Beitrags nicht darin, naturwissenschaftliche Theorie und so genannte schöne Literatur gewis-sermaßen abzugleichen, etwa in dem Stil: Wie werden die Theorien in Literatur übertragen? Wo kann die Literatur es ›besser‹ als die Theorie, und wo hinkt sie hinter ihr nur her, ohne sie je zu erreichen? Da zentrale Fragen, die der Roman in Briefform umkreist, wie die nach der Vorstellung eines Zeitpfeils oder eines Blockuniversums (I), die Frage nach Kontinui-tät und Diskontinuität der Zeit (II) sowie die Frage, ob und wie die Ge-genwart existiert (III), zugleich Fragen sowohl der unterschiedlichsten Disziplinen als auch Fragen des alltäglichen Verständnisses der Zeit sind, ist Ziel des Beitrags vielmehr, vor dem Hintergrund der Veränderungen des Wissens und der Wissenschaften eine Lektüre des Romans vorzu-schlagen, der schon durch die Wahl der Gattung signalisiert, dass poetolo-gische Aspekte von anthropologischen und epistemologischen nicht zu trennen sind.

I. »il tempo ti sta attraversando«: Block oder Pfeil

Wenn Tabucchis Roman dem Titel Si sta facendo sempre più tardi hinzufügt: Romanzo in forma di lettere, schafft er, über das Immer-später-Werden hi-naus, durch die Gattungsbezeichnung einen zusätzlichen Zeitbezug, inso-fern der Roman in Briefform unmittelbar den Briefroman als eine Gat-tung vor allem des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts evoziert und sich zugleich durch den gewandelten Namen von ihr abhebt. Schon hier sei kurz die offensichtlichste Diskrepanz zwischen einem romanzo epistolareund diesem romanzo in forma di lettere benannt und ineins der wohl nicht allgemein bekannte Roman kurz vorgestellt. Tabucchis Text besteht aus 18 Briefen, deren erste 17 jeweils von einem männlichen Schreiber an eine weibliche Adressatin gerichtet sind, mit der das schreibende Ich einst in einer Liebesbeziehung verbunden war. Zwischen den Figuren der einzel-nen Briefe scheint in der Regel keinerlei Verbindung zu bestehen – ledig-lich bei zwei Briefen ist die von den beiden Männern Angesprochene offenbar dieselbe Frau –; was sich hingegen durch den ganzen Roman hindurchzieht und sich im Brief, der keine Antwort erheischt, manifestiert, ist die Erfahrung des bereits zurückliegenden Endes in einem doppelten Sinn: Zurückliegendes Ende ist die schmerzliche Trennung, die bald von ihr, bald von ihm ausging, aber auch die Erfahrung des Todes, insofern

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die Briefe oft wie postume Botschaften6 anmuten, da entweder die ange-sprochene Frau nicht mehr lebt oder das Ich selbst nur mehr den – in den Worten »Ich sterbe« (150)7 vorweggenommenen – Tod vor sich zu haben scheint.

Weder die Handlung also noch die Figuren sichern in diesem Roman eine Kontinuität; lediglich die konstant bleibende Ausgangssituation, »quella della coppia che si separa«, verschafft eine Art Wiedererkennungs-effekt und lenkt so das Augenmerk vom Was auf das Wie des Erzählens als »sostanza del racconto«.8 Erst der letzte Brief verschafft der Sammlung einen schwachen Zusammenhalt, indem er als Rundbrief einer nicht wei-ter spezifizierten Agentur sich an alle vorausgehenden Briefschreiber rich-tet und einen weiteren Brief einfügt: die Lettera al vento einer modernen von Theseus verlassenen Ariadne auf Naxos. Die Schreiberin des Rund-briefs, die mehrfach ihre Schwestern erwähnt, offenbart sich am Ende als eine der Parzen, die nun in einer eher an Pirandello als an den antiken Mythos gemahnenden Schlussgeste den Faden des Textes wie die Lebens-fäden der Schreiber kurzerhand abschneidet, weil es kein finale vertrauter Manier mehr geben kann. Während traditionellere Romane sich eher be-mühen zu verbergen, dass das Ende des Buches das Ende der fiktiven Existenzen bedingt, und daher diese Motivation von hinten durch vielfäl-tige Motivationen von vorne verschleiern, insistiert Tabucchis Roman statt auf der Unausweichlichkeit des Endes gerade auf dessen Kontingenz, statt auf der Suggestion einer Kongruenz darauf, dass die Uhren der Fikti-on anders gehen als die der in ihr erzählten Figuren. Nicht die erzählte Zeit bestimmt demnach, wann das Erzählen endet, sondern umgekehrt: Der in das mythologische Bild übersetzte willkürliche Schnitt dient als ausschließliche Legitimation des Endes, das zudem seine Plötzlichkeit im abschließenden »Adesso. Ora. Subito« (220) unterstreicht.

Wie ein Bündel von Fäden kommen so alle im Roman evozierten Ge-schichten zu einem gemeinsamen Schlusspunkt, doch in welchem zeitli-chen Verhältnis sie vorher zueinander stehen, bleibt völlig offen, da die ______________________

6 »È come se il suicidio fosse già avvenuto a priori, in una prefazione che non c’è. Coloro che scrivono sono dei lemuri, dei revenants, crisalidi morte, spettri […] le lettere che costoro scrivono sono una sorta di sigillo, di epitaffio«. (Antonio Tabucchi, Autobiografie altrui. Poeti-che a posteriori, Milano 2003, S. 96)

7 Es handelt sich um echovs letzte Worte, von denen Nathalie Sarraute im ersten der in L’usage de la parole versammelten kurzen Texte erzählt: »Avec ces mots bien affilés […], je devance le moment et moi-même je tranche: Ich sterbe«. (Nathalie Sarraute, L’usage de la parole, Paris 1980, S. 16)

8 So Tabucchi in der Diskussionsrunde: »Incontro con Antonio Tabucchi«, in: Gli spazi della diversità. Atti del convegno internazionale: Rinnovamento del codice narrativo in Italia dal 1945 al 1992 (Leuven – Louvain-la-Neuve – Namur – Bruxelles, 3-8 maggio 1993), Bd. II, hrsg. v. Serge Van-volsem/Franco Musarra/Bart Van den Bossche, Roma/Leuven 1995, S. 655.

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einzelnen Briefe sich nicht in eine sie alle umfassende Handlung einfügen. Sie wirken wie voneinander unabhängige Zeitinseln, deren erzählte Zeit sich über Jahre, über ein ganzes Leben bis zum gegenwärtigen Punkt erstrecken oder nur einen gemeinsamen Nachmittag am Strand umfassen kann, sodass der Roman weder die Vorstellung einer klaren Früher-Später-Abfolge weckt noch auch nur eine Aussage darüber erlaubt, ob die Zeit hier eher als Block gedacht wird, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig präsent sind, oder als Pfeil, der den Gedanken einer Veränderung, einer Entwicklung auf etwas zu impliziert; eher sugge-riert die Folge der Briefe die Existenz unterschiedlicher Zeitreihen, die Vorstellung, um mit Borges zu sprechen, »que hay muchos tiempos y que esas series de tiempos – naturalmente que los miembros de las series son anteriores, contemporáneos o posteriores entre sí – no son ni anteriores, ni posteriores, ni contemporáneas«.9 Innerhalb der Briefe hingegen wer-den eben diese beiden Konzeptionen, die etwa auch in der Physik neben-einander stehen, vielfältig thematisiert.

Einen Zeitpfeil etwa impliziert die Häufung der Passagen, in denen ein Jetzt zu einem Damals in Beziehung gesetzt und so die Rolle der eben-falls allgegenwärtigen, mit dem Aspekt der Zeit verknüpften Erinnerung unterstrichen wird. Zwar geht die Erinnerung auch in den Briefroman vertrauter Machart ein; weil dort aber die räumliche, nicht die zeitliche Ferne im Zentrum steht, erscheint die Zeit primär als Gegenwart bzw. als unmittelbar vergangene Vergangenheit,10 kommt es nicht zur Tabucchis Text prägenden Gegenüberstellung von »ora« und »allora«, die hingegen als typisches Merkmal von Autobiographien mit ihrer Doppelheit von erinnertem und erinnerndem Ich gelten kann11 und das den Brief fundie-rende Verhältnis von presenza und assenza neu definiert. Den engen Bezug von Zeit und Ich sprechen die komplementären Überlegungen im dritten und im 13. Brief aus, wenn einmal das Ich an die Zeit und »[i]l mio tras-correre attraverso di esso« (41) denkt und es ein andermal seinem früheren ______________________

9 Jorge Luis Borges, »El tiempo«, in: ders., Obras completas, Bd. IV (1975-1988), Barcelona 31996, S. 203 f.

10 Jedenfalls dann, wenn für einen Briefroman die Briefform konstitutiv ist, wie etwa in Montesquieus Lettres persanes, Rousseaus Nouvelle Héloïse oder Laclos’ Liaisons dangereuses,aber auch in Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis und vielen anderen. In diesen Texten wer-den die Briefe selbst zu Akteuren in dem Drama, das sich vor den Augen des Lesers ab-spielt, während in Texten wie Marivaux’ La vie de Marianne oder Pietro Chiaris La viaggiatricedie Briefform nur den Rahmen für eine in ihr erzählte, lang vergangene Geschichte abgibt.

11 Dieser Logik folgend bezeichnet Tabucchi die Briefe denn auch als »autobiografie altrui«: in: Tabucchi, Autobiografie altrui, S. 102 (Anm. 6).

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Ich zuruft: »il tempo ti sta attraversando, e il tuo futuro ti sta cercando, ti sta trovando, ti sta vivendo: ti ha già vissuto« (168).12

Beide Aspekte zusammengefasst finden sich wieder in einem der als Poetiche a posteriori bezeichneten Texte aus Tabucchis Essayband Autobiogra-fie altrui: »io non ho ancora ben capito se siamo noi che attraversiamo il tempo o se è il tempo che ci attraversa. Voglio dire se siamo noi che passi-amo e il tempo resta immobile o se è il tempo che passa e immobili resti-amo noi«.13 Die beiden Varianten verweisen auf unterschiedliche Mög-lichkeiten, Zeit wahrzunehmen. Wenn etwa in der klassischen Physik »die Materie […] uns die Vorstellung einer Identität der Dinge, unabhängig von der Zeit, suggeriert«, scheinen die Dinge die Zeit wie einen Block zu durchqueren; aber andererseits wird Zeit auch selbst als Bewegung wahr-genommen, wenn wir vom Lauf der Zeit, von verfließender Zeit spre-chen.14 Beide Betrachtungsweisen entsprechen dem, was traditionellerwei-se als Opposition von mentaler und physikalischer Zeit bezeichnet wird – »die Zeit als Eigenschaft oder gar als Schöpfung des menschlichen Geistes […] oder […] als […] äußere[r] Ordnungsrahmen für Ereignisse und Ob-jekte« –, wobei der Unterschied insbesondere bei der Betrachtung oder Wertung des Jetzt offensichtlich wird, insofern in der Physik »das Jetzt nur als Übergangspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft behandelt« wird, während »im mentalen Bereich […] das Jetzt selbst vorübergehend« ist.15

Was – zumindest für Nicht-Physiker – auf einen ersten Blick absurd erscheint, weil die alltägliche Zeiterfahrung der physikalischen wider-spricht, besitzt dennoch in »den Grundgesetzen der klassischen Mechanik und auch der modernen Quantenmechanik« unbestrittene Gültigkeit. Hier tritt »die Zeit als ein Parameter auf, dem keinerlei Richtungssinn inne-wohnt; die Gesetze bleiben invariant, wenn man den Zeitparameter t durch -t ersetzt«. Albert Einstein etwa, demzufolge der »Unterschied zwi-schen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft […] für […] Wissenschaft-______________________

12 In dieser Bewegung der Zukunft auf den Menschen zu klingt wiederum eine Borges’sche Vorstellung durch, derzufolge der Strom der Zeit nicht von einer fernen Vergangenheit her fließt und uns erreicht hat, sondern umgekehrt: »que el tiempo fluye desde el porvenir ha-cia el presente. Que aquel momento en el cual el futuro se vuelve pasado, es el momento que llamamos presente«. (Borges, »El tiempo«, S. 268 [Anm. 9])

13 Tabucchi, Autobiografie altrui, S. 87 (Anm. 6). Vgl. die wie ein Echo klingenden Fragen des Romans, ob wir denken oder gedacht werden (32) und ob wir suchen oder gesucht werden (41).

14 Vgl. Hans-Peter Dürr, »Wie offen ist die Zeit? Die Verantwortung für unsere Zukunft«, in: Was ist Zeit?, S. 187 u. 183 (Anm. 2).

15 Eva Ruhnau, »Zeit als Maß von Gegenwart. Von den acht Zeitbildern der Physik über eine kurze philosophische Geschichte des Jetzt zur Logistik und Zeitwahrnehmung des Ge-hirns. Oder: Wie ist Gegenwart?«, in: Was treibt die Zeit?, S. 73 u. 85 (Anm. 3).

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ler eine Illusion [ist], wenn auch eine hartnäckige«, hielt daher die »Fragen nach der Existenz einer Zeitrichtung, eines ›Pfeiles der Zeit‹«,16 für frucht-los, doch auch über die Physik hinaus existiert neben der Vermutung einer unaufhaltsam fließenden Zeit seit Augustinus als dem vielzitierten Ahn-herrn all jener, die sich mit dem Rätsel der Zeit befassen, die im elften Buch der Confessiones formulierte Vorstellung einer gleichzeitigen Präsenz aller Zeiten. So stößt in Tabucchis Roman eines der Ich auf ein Buch, das genau seine eigene Geschichte erzählt, jedoch in umgekehrter Richtung: als sei die Zeit reversibel bzw. als sei alles gleichzeitig präsent und könne in der einen oder der anderen Richtung, als »viaggio di andata« oder »viag-gio di ritorno«, durchlaufen werden, sodass das Du sich nicht an jene er-innert, »a quanti oggi piacesti, ma a coloro che devi ancora incontrare, perché è il mio ieri, e sono già passato da qui, quel libro lo sapeva, aveva già scritto il tempo che dovevo attraversare« (169). Über die Anspielung auf Leopardi und die damit verknüpfte Zeitlichkeit hinaus wird die hier als »luogo letterario« (168) bezeichnete Vision klarer, verbindet man sie mit dem beliebten Autobahnbeispiel, das die Relativität der individuellen Zei-ten veranschaulicht: Wer auf der Autobahn an einem Stau auf der Gegen-fahrbahn vorbeifährt, kann nach dem Ende des Staus, wenn er die vorbei-rasenden Autos betrachtet, einen Blick in deren Zukunft – im Stau zu stehen – tun, die zugleich die eigene Vergangenheit, das zurückliegende Wegstück ist: so wie in dem Brief das Gestern des Ich mit dem Morgen der Geliebten zusammenfällt und das Ich dank der Fiktion des Buches sich in Gedanken vor und zurück auf der Zeitachse bewegen kann, die selbst alle Zeiten umfasst oder keine, weil deren Unterscheidung nur durch den subjektiven Blick des Betrachters entsteht.

Im Gegensatz zu dieser statischen Zeit, innerhalb derer sich das Ich bewegt, steht die Vorstellung einer Zeit, die dem Ich wie Sand durch die Finger rinnt (vgl. 178 f.) oder mit dem auf Heraklit verweisenden Bild des Flusses beschrieben wird, das nicht nur für die verfließende Zeit steht, sondern auch für das ununterbrochen mit ihr vergehende Ich: »ti direi di […] fiumi che abbiamo guardato insieme pensando che essi scorressero soli, senza accorgerci che noi scorrevamo con loro« (208 f.). Wenn aber nicht nur die Dinge im Fluss sind, ist, wie der zweite Brief mit seiner insis-tierenden Wiederholung des »c’è solo il fiume« festhält, der oder die ande-re prinzipiell unerreichbar:

[…] ti mando un saluto impossibile, come chi fa vani cenni da una sponda all’altra del fiume sapendo che non ci sono sponde, davvero, credimi, non ci sono sponde, c’è solo il fiume, prima non lo sapevamo, ma c’è solo il fiume, vorrei gri-dartelo: attenta, guarda che c’è solo il fiume!, ora lo so, che idioti, ci preoccupa-

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16 Wolfgang Wild, »Wie kam die Zeit in die Welt? Der Zeitbegriff in der Physik«, in: Was ist Zeit?, S. 168 f. (Anm. 2).

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vamo tanto delle sponde e invece c’era solo il fiume. Ma è troppo tardi, a che ser-ve dirtelo? (36 f.)

Das Warten auf den anderen wird zum Paradoxon und ist nurmehr als Hypothese möglich, in der Fiktion der Schrift, deren Metonymie der Brief ist, so wie er zugleich Metapher der Unerreichbarkeit wird: »ti direi anche che ti aspetto, anche se non si aspetta chi non può tornare, perché per tornare ad essere ciò che fu dovrebbe essere ciò che fu, e questo è impos-sibile« (209). Der primäre Grund für diese Unerreichbarkeit liegt in der unterschiedlichen Wahrnehmung der eigenen Zeit gegenüber der der an-deren. Suggeriert der Blick auf den Lebens-Lauf der anderen Linearität, Einmaligkeit, erscheint die eigene Lauf-Bahn wie ein unaufhörliches Durchlaufen derselben Punkte: »la tua orbita è unica e irrepetibile, e inve-ce la mia è sincronica con se stessa, e gira e gira all’infinito« (36). Die ein-zige zugestandene Variante bei dieser Art immanenter Metempsychose (vgl. 32, 34), die das ursprünglich transzendente Bild der Seelenwanderung oder ›Wiedergeburt‹ in das Leben selbst verlagert, ist die Stelle, an der das Ich jeweils in den Kreis seiner Erinnerungen eintritt: Es kann der erste, der zweite, der letzte Tag der gemeinsamen Geschichte sein oder ein be-liebiger Abend, aber von diesem Punkt aus verläuft der »rientro nel circo-lo« unbarmherzig immer gleich: »sempre così, all’infinito. E sempre identi-co« (34).

Hier prallen die beiden physikalischen Zeitvorstellungen, der Block und der Pfeil, als unvereinbare mentale aufeinander, weil das Ich zur Er-innerung des anderen keinen Zugang hat und daher dessen vergehende Zeit als das unaufhörliche Fließen eines Flusses empfindet. Die Zeit des anderen berührt den Kreislauf der eigenen Zeit nur an einem Punkt oder bestenfalls einem Wegstück, schnellt dann aber in unerreichbare Fernen davon, weil das Ich mit seiner Entscheidung für eine »Vita Futura« im unendlichen Kreisen in den eigenen Erinnerungen befangen ist, sodass immer wieder von neuem die eigene Vergangenheit zur Gegenwart, die Gegenwart zur Zukunft wird: »le dimensioni si sono invertite, ciò che era solo ricordo è diventato presente, e ciò che davvero sono o dovrei essere, il mio presunto ora, è diventato virtuale e lo scorgo da lontano come da un cannocchiale rovesciato« (36). Obwohl die gemeinsame Geschichte, von außen betrachtet, offenbar der Vergangenheit angehört, mithin jede Potentialität sich in Faktizität verwandelt hat, befindet sich das Ich selbst durch die unaufhörliche Beobachtung seiner eigenen Zeit in einem zwar instabilen, aber sich nicht verändernden paradoxen Zustand ähnlich dem Quanten-Zeno-Effekt, einer Art gigantischem Zeitfenster oder einer Zeit-Gestalt, in der zwar kleinere Zeitfenster durchaus in einer Früher-Später-

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Relation verknüpft sind, die aber selbst als Ganzes präsent ist und aus der er als interner Beobachter nicht heraustreten kann.17

Während das Ich aufgrund dieses Zeno-Effekts »in un nonnulla« an irgendeinen Erinnerungszeitpunkt zurückkehrt und dort seine aktuelle, sich aber nie verändernde Gegenwart erlebt – »Quella sera dunque, cioè stasera per me« (33) –, nimmt es die Zeit des Du als linear, als der Logik gehorchendes Fließen wahr, in dem die Vergangenheit definitiv vergangen und die Gegenwart nur eine und eindeutig ist:

A un calcolo del tutto approssimativo, in questo mio momento in cui mi trovo, in questa rozza taverna cretese che ho raggiunto in un nonnulla per rientrare doma-ni da principio nel circolo, tu ora dovresti essere una donna quasi vecchia, come lo sarei anch’io se non avessi attraversato la fragile soglia che ho attraversato. Perché la vita (la tua, voglio dire) è logica, e avanza con la giusta scansione. E probabilmente avrai dei nipoti, che anch’essi appartengono alla scansione della vi-ta, e la tua giusta canizie, che oggi peraltro si può camuffare con un semplice ca-chet del coiffeur. E probabilmente avrai raggiunto quella pace che il tempo al quale appartieni prevede per le tappe dell’età che sono concesse agli esseri umani. […] Ma, comecché sia stato, il tempo scorre come deve scorrere: è l’ora di cena e attorno alla tavola le persone giuste vivono con te l’ora giusta nel posto giusto, perché questo è il giusto metro del tempo, della vita e della favella. (35)

Entgegen der Vorstellung einer mit Uhren und Kalendern fraglos messba-ren Zeit vergeht die Zeit nicht nur, wie seit der Relativitätstheorie allge-mein anerkannt, je nach Position und Bewegung unterschiedlich rasch oder langsam; vor allem variiert das Ergebnis der Betrachtung je nach der Entscheidung des Betrachters: Ohne Beobachtung existieren unterschied-liche Möglichkeiten gleichzeitig; je nachdem, was gemessen werden soll, jedoch kollabiert das System von seiner Überlagerung verschiedener Mög-lichkeiten in den einen faktischen Zustand,18 weil das Verhalten des Beo-bachteten in Raum und Zeit von der diesem zugeschriebenen Identität abhängt.

Entsprechend kann das Ich auch die Zeit des Du, ebenso wie seine ei-gene Zeit, nicht unabhängig vom Ich wahrnehmen; sie existiert nicht als unabhängige Realität, sondern muss – hier berühren sich Physik und Phi-losophie in der Literatur – als Beziehung des Denkens zum anderen ge-dacht werden, zu dem, was sich aufgrund der »extériorité de l’autre« nicht durch die Erfahrung assimilieren, nicht »comprendre« oder erfassen lässt, ______________________

17 Vgl. Eva Ruhnau, »Time Gestalt and the Observer. Reflections on the ›tertium datur‹ of Consciousness«, in: Conscious Experience, hrsg. v. Thomas Metzinger, Paderborn 1995, S. 180 u. 178.

18 »The measurement defines the individual process […]. The observed phenomenon does not represent an independent reality«. Eva Ruhnau, »The Deconstruction of Time and the Emergence of Temporality«, in: Time, Temporality, Now, S. 60 (Anm. 1). Vgl. ferner Ruhnau, »Time Gestalt«, S. 179 (Anm. 17).

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wie in diesem Brief die in den beiden »orbite« veranschaulichte »non-coïncidence« der beiden Zeiten, ihre grundlegende »in-adéquation«19 deut-lich macht. Inadäquat aber sind die beiden Zeiten nicht allein aufgrund von Zeit-Gestalt des Ich und Zeitpfeil des Du, und auch nicht nur auf-grund der Opposition von Zirkularität und Linearität; inadäquat sind sie vor allem, weil das Ich zwar beim Blick auf die »orbita« des Du mit »calco-lo« und »logica«, mit Wahrscheinlichkeit und rechtem Maß operieren kann, nicht jedoch beim Blick auf die eigene, für die kein Maß mehr zu gelten scheint.

II. »ti scrivo da un tempo rotto«: Dis-Kontinuitäten

Wird die Zeit des Du als der Logik gehorchendes Fließen wahrge-nommen, sodass der momentane Standpunkt in Raum und Zeit mit eini-ger Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden kann, besteht die eigene Zeit aus Bruchstücken der Erinnerung, zwischen denen das Ich wie Paolo und Francesca in ihrem Höllenkreis umherwirbelt:

Io, al contrario, ti scrivo da un tempo rotto. Tutto è in frantumi, mia Cara, i frammenti sono volati da una parte all’altra e mi è impossibile raccoglierli se non in questo circolo forzato in cui continuo a girare fino alla nausea e all’idiozia, fin-ché esso non si aprirà in un punto ignoto. (35 f.)

Die Fragmente fügen sich zu keinem Ganzen mehr, die einzelnen Augen-blicke werden in einem »nonnulla« erreicht, weil die Linie zerbrochen ist. Damit tritt neben das Bild des Flusses, das zu der paradoxen Situation führte, auf etwas zu warten, worauf man nicht warten kann, mit dem Bild des durch die Finger rinnenden Sandes ein weiteres Paradoxon: das vom unmöglichen Haufen, als der hier die eigene, aus isolierten Augenblicken bestehende Vergangenheit wahrgenommen wird, weil nicht einmal mehr die Vergangenheit sich zu einem logisch geordneten Ganzen fügt:

Ero nel buio completo, almeno per quel che riguardava il passato. Se ne era anda-to così, come sabbia fra le dita, scusa la metafora abusata, ma davvero lo capii in quel momento: perché il passato, anche lui, è fatto di momenti, e ogni momento è come un minuscolo granello che sfugge, tenerlo, in sé e per sé sarebbe facile, ma è metterlo insieme con gli altri che è impossibile. Insomma: logica, nessuna, mia Cara. (30 f.)

Die Konsequenz aus solcher Zeitwahrnehmung ist, dass sich das Ich nicht nur der Zeit der anderen, sondern sogar der eigenen Zeit gegenüber wie ______________________

19 Emmanuel Levinas, Le temps et l’autre, Paris 1983, S. 75 u. 8-10.

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verschoben wahrnimmt, sodass es den ›rechten Moment‹ verpassen muss und selbst, wie jeder Brief per definitionem, immer »fuori orario« ist:20

[…] il problema è [schreibt das Ich im Brief Sono passato a trovarti, ma non c’eri] lo sfasamento dell’orario che tutti noi abbiamo […]. L’ideale sarebbe che tutti, ma dico tutti quanti, si avesse l’età giusta al momento giusto nel punto giusto in cui ci capita di incontrarci in questo pezzettino di universo che si espande verso il nulla, perché questo faciliterebbe assai le cose. (82)

Mühen sich alle Figuren des Romans um den »faticoso aggiustamento con noi stessi che tutte le età prevedono« (35), verfehlen sie doch grundsätz-lich den rechten Moment, denn wenn die Gesetze der traditionellen Logik, das Gesetz der Identität, des Nicht-Widerspruchs und des Tertium non datur, außer Kraft gesetzt sind, ergibt die eigene Geschichte keine Ge-schichte mehr, erscheint das Ich als »Paese spesso senza storia« (179), dem nicht nur die »confini« fehlen wie dem Fluss die Ufer, sondern jegliche »punti cardinali«, die Einheit und Orientierung verschaffen und die der Roman immer wieder in eigentlicher wie in uneigentlicher Bedeutung evoziert: als verloren gegangene (16) oder als unendlich viele (150), aber auch als Versuch, dem Leben, das, wenn die Zeitlinie zerbrochen ist, als Ganzes nicht mehr in den Blick kommen kann, künstlich, in der Kunst, einen Rahmen zu geben.

Die mise en abyme des in einem Brief erzählten »racconto di un ipoteti-co spettacolo teatrale« stellt in einer fraktalen Struktur21 den fragmentari-schen Charakter eines nur aus Momenten bestehenden Lebens in einer mentalen Inszenierung vor Augen: Auf der erzählten Bühne ist ein Salon mit vier Fenstern zu erkennen, durch die vier verschiedene Schauspiele zu sehen sind, die allerdings alle vier von ein und demselben Leben handeln, dem Leben eines Mannes und einer Frau. Auch diese »punti diversi della stessa vita« sind »come punti cardinali: uno a nord, che era il passato, uno a occidente, che in quel momento Clémentine aveva scelto come il suo, uno verso quell’oriente che non avrebbe mai conosciuto, e l’ultimo a sud, che era il suo destino e che forse era la sua morte« (187). Zwar in anderen Dimensionen als in der Neurophysiologie, aber doch in gewissem Sinn ______________________

20 »[I] personaggi di questo libro hanno la sotterranea sensazione di essere in ritardo, anche su se stessi. Oppure a volte hanno la sensazione di essere stati in anticipo o di essere stati in ri-tardo, nel senso che avevano intuito ciò che stava loro succedendo: tradimenti fatti o subiti, errori e incomprensioni, solo che se ne sono accorti in ritardo. Nel senso che sul momento intuivano ma non capivano; hanno capito dopo. Insomma, sono tutte vite fuori orario. In questo libro credo che soprattutto l’amore sia fuori orario, è sempre un frutto troppo acer-bo o troppo maturo. La vita fuori orario dà un senso di vertigine, è un po’ come ruzzolare dalle scale.« (Tabucchi, Autobiografie altrui, S. 87 [Anm. 6])

21 Der Roman als Ganzes wäre das erste Viereck, das sich wie das Photoalbum aus weiteren »rettangoli di carta« (24) zusammensetzt; das erzählte Theaterstück in einem der »rettango-li« besteht wiederum aus Vierecken, den »rettangoli« der Fenster, die sich ihrerseits in wei-teren – imaginären – Vierecken fortsetzen, etc.

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vergleichbar, könnte man von Zeitfenstern sprechen, da das jeweils durch eines der Fenster Wahrgenommene trotz der Brechung durch den »salotto azzurro« als Gleichzeitiges, als eine der möglichen Gegenwarten nach Augustinus, erscheint, während die Verbindung zwischen diesen Zeitfens-tern allenfalls im Gehirn stattfindet.

In diesem Sinne steht das Fenster als den ganzen Text durchziehendes Bild für Zeit und Erinnerung,22 durch das sich unterschiedliche Zeitebe-nen ineinander schieben (vgl. 91-93), für eine ausschnitthafte, begrenzte Sicht auf das Leben, wie auch die in den letzten Brief eingefügte Lettera al vento ausführt: Ein Weiser, schreibt die moderne Ariadne, habe ihr einmal gesagt, die Menschen hätten die Fenster erfunden, weil die »vastità del reale« unbegreiflich sei und man daher die Wirklichkeit in Rechtecke ein-schließen müsse, um sie zu verstehen: »la geometria si oppone al caos«. Der Blick der Frau über das Meer offenbart ihr demgegenüber ein anderes Verständnis der Zeit:

[…] capisce che tutto ciò che pensiamo, che viviamo, che abbiamo vissuto, che immaginiamo, che desideriamo, non può essere governato dalle geometrie. E che le finestre sono solo una pavida forma di geometria degli uomini che temono lo sguardo circolare, dove tutto entra senza senso e senza rimedio […]. (219)

Weil in diesen Blick über das Meer alles eingeht, löst es beim Ich des komplementären ersten Briefs »quel panico che fa perdere i punti cardina-li« aus, sodass es sich des einzigen noch erkennbaren »punto di riferimen-to« vergewissert, des Du, an das es sich mit seinem Brief richtet: »quel sicuro punto di riferimento che mi hai sempre dato, stesa su un asciuga-mano accanto al mio« (16). Der Brief ist der letzte Versuch, im Chaos, in der »perversa entropia« des Ich Ordnung zu schaffen: »Sono forse confu-so? Ebbene, sono confuso. Ma Voi sapete, Madame, che tutto è confuso. Sto solo cercando di disporre tutto questo confuso in un ordine più o meno plausibile. E la plausibilità presuppone la falsità, magari involonta-ria« (44), so wie dem Licht Teilchen- und Wellennatur eignet, die Messung aber, mit anderen Worten, die Anordnung in einer mehr oder weniger plausiblen Ordnung, sich für Teilchen oder Welle entscheiden muss und diese Plausibilisierung mit der gleichzeitigen Verfälschung bezahlt. Ent-sprechend illustriert der Brief als Form in seiner Ausschnitthaftigkeit und seinem Perspektivismus, dass er gar nicht erst den Anspruch erhebt, das nicht existierende Ganze eines Lebens zu geben, dem selbst das ›rechte Maß‹ abhanden kam.

Der Brief wäre demnach eines jener Segmente oder Rechtecke, die versuchen, dem Chaos Einhalt zu gebieten; und nicht nur das Leben, son-______________________

22 Aber auch als »la finestra della mia testa« für die Imagination, die sich auf »orizzonti ben più larghi di quelli reali« (44) öffnet.

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dern auch die Lektüre der Briefe wäre einer jener »difficili itinerari, fatti di segmenti, che tutti noi dobbiamo percorrere semplicemente per arrivare alla nostra fine« (219). Schwierig ist dieser Weg nicht zuletzt deshalb, weil der romanzo in forma di lettere die Verknüpfung zwischen den Segmenten verweigert. Die Folge der Briefe bis hin zu der pirandellianischen Schluss-geste entspricht dem in den Briefen so häufig evozierten Mangel an Logik und erkennbarem Sinn: »tutto questo non ha logica, ma certe cose, lo sai, non seguono nessuna logica, o almeno una logica che sia comprensibile per noi che siamo sempre alla ricerca della stessa logica: causa effetto, causa effetto, causa effetto, solo per dare un senso a ciò che è privo di senso« (28); sie entspricht einer anderen, nicht dem Gesetz von Ursache und Wirkung gehorchenden Logik, weil nicht allein die Linie der Zeit zerbrochen ist, sondern »il giusto metro del tempo, della vita e della favel-la« (35) wechselseitig voneinander abhängig sind und nicht getrennt von-einander gedacht werden können: Der Brief als Fragment des Lebens ist wie die Zeit und wie die Sprache selbst »frattale«, »perché è fratta, poveri-na, è una frazione di noi che si frange come si frangono le onde sulla spi-aggia, che del vasto mare sono fra l’altro una frazione modestissima« (57); und Sprache und Leben sind wie die Zeit, »fatto di gocce, e basta una goccia in più perché il liquido si sparga per terra e si allarghi a macchia e si perda« (208).

Gibt jeder Brief und jedes Fenster immer nur den Blick auf ein Jetzt, auf eine Momentaufnahme frei, vermag erst recht die Photographie nur Bilder aus dem Fluss des Lebens auszuschneiden, nur kleine Zeitfenster zu öffnen, die das wie ein Fluss überquellende Leben nicht erfassen, wenn ihnen nicht die Erinnerung zu Hilfe kommt:

[…] prendi un album di fotografie, uno qualsiasi di una persona qualsiasi, come me, come te, come tutti. E ti accorgi che la vita è lì nei diversi segmenti che stu-pidi rettangoli di carta rinchiudono senza lasciarla uscire dai loro stretti confini. E intanto la vita è gonfia, impaziente, vuole andare al di là di quel rettangolo […]. Ma quella feroce fotografia, più severa di una governante, non lascia evadere la vera verità dai suoi pochi centimetri. La vita è prigioniera della sua rappresentazi-one: del giorno dopo ti ricordi solo tu. (24)

Auf diese Weise kann ein Photo, dank der Flut von Bildern, die es, gerade aufgrund seiner ungenügenden »rappresentazione«, im Kopf entstehen lässt, seinen Betrachter wie den Harfenspieler des neunten Briefs in einen ›Abgrund von Zeit‹, »una voragine fatta di tempo« (111), stürzen.23 Wie in einem verbalen Photoalbum durchläuft er alle Stationen seines Lebens, bis ______________________

23 Zum Beginn einer neuen Codierung von Zeit mit dem Aufkommen der Photographie, da nun Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig vor Augen stehen und alte Zeitgrenzen verwischt werden, vgl. Kurt Weis, »Zeitbild und Menschenbild: Der Mensch als Schöpfer und Opfer seiner Vorstellungen von Zeit«, in: Was ist Zeit?, S. 42 (Anm. 2).

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er wieder in seiner Gegenwart und beim Zeitungsphoto ankommt. Wenn-gleich nur das ›Wo‹ erzählbar scheint – »forse si può solo raccontare il dove, ma mai il come e il perché« (112) –, verbinden doch die Sprache und die Erinnerung die Folge diskreter Orte oder Bilder und stellen so eine Art von Kontinuität zwischen den einzelnen Segmenten her, sodass im Tertium datur der Literatur wie des Bewusstseins Kontinuität und Dis-kontinuität gleichzeitig und komplementär herrschen,24 wie die Gegen-überstellung von »momenti« und »frattempi«, von kairos und chronos, of-fensichtlich macht. Insbesondere in jenen Briefen, die ausgehend von einem Augenblick gleichsam das ganze Leben erinnern, den Kreis der Erinnerung durchlaufen, skandieren die »frattempi«, skandiert das »intan-to, gli anni passavano« geradezu die Evokation der Momente. Bis zur Beschwörung des gegenwärtigen Augenblicks, der trotz des gewussten Endes allem Vergangenen seinen Sinn verleiht, wie das in einem Brief dreimal wiederholte »ora che« vor dem abschließenden »ora, finalmente, il nostro amore potrà essere pieno e assoluto« unterstreicht (193), ist alle Zeit, sind selbst die unmittelbar zurückliegenden fünf glücklichen Jahre durch das Wechselspiel charakterisiert: »i momenti d’amore che in questi cinque anni ho vissuto con te sono stati sublimi, anche se essi erano rari, scanditi da intervalli che mi parevano lunghissimi e riservati a qualche privilegiato fine settimana« (190).

Das Verfließen der Zeit zwischen den Momenten wird als »frattempo« zu jenem leeren oder als verloren empfundenen Intervall zwischen den intensiv gelebten Gipfelpunkten, für die hier metonymisch die Augenbli-cke der Liebe, der geglückten Vereinigung stehen und in denen, frei nach Proust, der temps perdu zum temps retrouvé werden kann,25 auch wenn das Durchbohren der undurchdringlichen Granitschicht des »frattempo« ebenso Hypothese bleibt wie die stets zukünftige Lettera da scrivere, in der die Zwischenzeit zu einem Nichts würde:

[…] ti direi: guarda, quello che c’è stato in tutto questo frattempo, che sembra così impossibile da perforare come quando la trivella incontra uno strato di grani-to, ebbene tutto questo è niente, non sarà affatto un ostacolo impossibile da su-perare quando leggerai la lettera che un giorno ti scriverò […]. (209)

______________________

24 Vgl. Ruhnau, »Time Gestalt«, S. 181 (Anm. 17). 25 »[F]orse lo ritroveremo, questo tempo perduto, mio dolce amore, io lo so che lo ritrovere-

mo, perché mi è bastato vedere come eravamo ancora giovani e vigorosi e appassionati per capire che il tempo perduto a volte si ritrova soltanto in poche ore« (179). Zum »exceptio-nal moment«, dem »instant« oder »Augenblick« als einem »central theme of modern litera-ture« vgl. Karl Heinz Bohrer, »Instants of Diminishing Representation: The Problem of Temporal Modalities«, in: The Moment, S. 113 (Anm. 1). Dort auch weitere bibliographische Hinweise zum Augenblick in der Literatur.

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III. »il tempo fatto di niente«: Zeit und Jetzt

Der die Briefe wie das Leben rhythmisierende Wechsel von »frattempi« und »momenti« verweist auf das Paradoxon der Zeit, die grundlegend und nichtig zugleich ist: »il tempo è fondamentale, nella nostra storia: il tempo fatto di niente« (183). So folgt auf den ersten evozierten Moment, den unvordenklichen Beginn der Geschichte »allora, cent’anni fa«, das Verge-hen der Jahre, die in ihrer refrainartigen Wiederkehr die einzelnen Mo-mente des Wiedersehens trennen:

Poi, cominciarono a passare gli anni. Ti ricordo tre anni dopo, splendida giovane moglie con il primo frutto nel ventre […]. (184) Ti rividi giovane madre, con un marmocchio per mano e già incinta per la secon-da volta. […] E intanto gli inverni passavano, i tuoi bambini si stavano facendo grandi […]. (185) Gli anni passavano, stavano passando più per me che per te. (188) E, intanto, gli anni passavano. (189)

Die »frattempi» sind messbar wie die drei Jahre, die Zahl der Schwan-gerschaften oder die größer werdenden Kinder; ihnen kommt eine be-stimmte Spanne auf dem Zeitpfeil zu, auch wenn diese nicht immer in Zahlen angegeben wird und auch wenn sie relativ ist, wie das »più per me che per te« signalisiert; sie sind bloße »intervalli« zwischen den »momenti d’amore« als den zeitlosen Augenblicken, die wie das Jetzt in der Physik aus der Zeit gleichsam herausfallen, weil ihnen keine messbare Dauer zukommt. Anders als in der Physik jedoch ist der »instant without durati-on«26 nicht nur Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft; vielmehr zeigt gerade der Augenblick als der »significant, decisive, historic mo-ment«, dass die Zeit der einzelnen menschlichen Wesen ebenso wie die Geschichte und, mit ihr, die Sprache sich keineswegs innerhalb eines kon-tinuierlichen und chronologischen Zeitmaßes entfalten, »but in tremen-dous disruptions, leaps and breaks«.27 Denn der Augenblick negiert gerade das leere kontinuierliche Fließen der Zeit, mit anderen Worten, er negiert eine Auffassung von Zeit als leere, aus objektiven, quantifizierbaren Ein-heiten bestehende Zeitspanne, in der Vergangenheit und Zukunft klar voneinander getrennt und zugleich am Grenzpunkt des Jetzt miteinander verbunden sind.28

Der Augenblick, der das Kontinuum durchbricht, kann der ›rechte Augenblick‹ sein, der kairos, als die grundlegend andere Zeit, die ›rechte ______________________

26 Vgl. ebd., S. 118. 27 Heidrun Friese, »Introduction«, in: The Moment, S. 2 (Anm. 1). 28 Vgl. ebd., S. 2.

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Zeit‹, die eben nicht ›rechtzeitig‹ meint,29 sondern den Augenblick, der beim Schopf gepackt werden muss, soll nicht nur der bedauernde Blick zurück auf das »come allora«, »come una volta« bleiben, weil das Leben auf später verschoben wurde und nun nur die unendliche lineare Zeit vor dem Ich liegt, in der ein Augenblick den anderen verschlingt wie Kro-nos/Chronos seine Kinder:30

[…] ti scriverei che non sapevo che il tempo non aspetta, davvero non lo sapevo […] E ti direi che amo, che amo ancora, anche se i sensi sembrano stanchi, per-ché lo sono, e quel tempo che era così rapido e impaziente, ora è lunghissimo da passare in certe ore del pomeriggio, soprattutto sul fare dell’inverno, quando se ne va l’equinozio e la sera cala a tradimento e le luci che non aspettavi si accen-dono nel villaggio. (208)

Der den Zeitfluss durchbrechende Augenblick kann aber auch der zeitlose Augenblick sein, das ›Jetzt‹ oder ›Nun‹, wie es sich in der christlichen Mys-tik oder im Zeitverständnis des Buddhismus findet. Dort wird in »anderen Bewusstseinszuständen (wie in der Meditation oder im Traum) […] Zeit anders, nämlich in ihrer gegenseitigen Durchdringung oder Einheit erfah-ren. Zeit ist hier kein abstrakter Zahlenstrahl, der mit aufeinander folgen-den Ereignissen gefüllt würde, sondern der gegenwärtige Augenblick voll-kommener Wachheit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu-sammenfallen«: So wie das Ich nach all den Jahren den einen Moment erlebt, in dem »il mio tempo di ragazzo e il tempo che mi restava da vivere rifiorivano mescolati insieme« (192), den Moment, der in einer Art »zeit-ewige[r] Gegenwart« nicht statisch ist, nicht stehen bleibt, sondern – trotz des Wissens um das unwiderrufliche Ende – sich fortbewegt, alle einzel-nen Dinge und Ereignisse »in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Durchdringung«31 erscheinen lässt: »vecchio già non sono più: sono di ______________________

29 Vgl. »[…] the time that might have come, the right time, the moment as appropriate mo-ment, not the moment as just now or as present, but as the right moment, le bon moment, the moment as kairos rather than as nun […]«; »[…] the very thought of a right moment or a kairos entails some thought of a temporal dislocation or non-coincidence. The kairos is al-ways another time appearing in the present time: its own time is never that of the present, and to that extent is arguably not ›in‹ time at all«. (Geoffrey Bennington, »Is it Time?«, in: The Mo-ment, S. 17 u. 22 [Anm. 1], kursiv i.T.)

30 Vgl. Friese, »Introduction«, in: The Moment, S. 1 (Anm. 1). Chronos als Personifikation der Zeit wurde schon früh mit Kronos vermischt, da der Mythos vom seine Kinder fressenden Kronos auf die »schaffende und zerstörende Wirkung der Zeit« übertragen wurde. Vgl. Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, Bd. 1, bearb. u. hrsg. v. Konrat Zieg-ler/Walther Sontheimer, München 1979, Sp. 1166.

31 Michael von Brück, »Wo endet Zeit? Erfahrungen zeitloser Gleichzeitigkeit in der Mystik der Weltreligionen«, in: Was ist Zeit?, S. 228 (Anm. 2). Vgl. hier ferner: »Dieses ›Jetzt‹ oder ›Nun‹ bezieht einerseits alle Aspekte und Dimensionen der Selbigkeit und Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein, hier-und-jetzt, und anderseits ermöglicht es ihre volle Unterscheidung, Verschiedenheit und Differenzierung« (233). Zur Zeiterfah-rung in der christlichen Mystik vgl. S. 246-257.

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nuovo giovane. Davvero, sono giovane come trent’anni fa, quando ti de-sideravo in quelle remote vacanze d’inverno e mi era proibito farti mia« (193).

Der Augenblick wäre demnach eine jener »fessure«, die »la vita quoti-diana« gelegentlich gewährt, die sich jedoch rasch wieder schließen. Auch dem Ich in Libri mai scritti, viaggi mai fatti öffnet sich die einst gemeinsam mit der Geliebten erlebte »fessura«32 »solo ora […], dopo tanti anni« (144), im Jetzt des Briefs, den es nicht geschrieben hätte, »se non fosse così tar-di« (150). Wie im anderen Brief der Augenblick mit dem ›kleinen Tod‹ assoziiert wird, so hier mit dem großen Tod, mit dem »Ich sterbe«, das bereits mitten im Brief durchkonjugiert wurde, wie dies der kurze Text von Nathalie Sarraute andeutet, auf den der Brief anspielt (142).33 Hier allerdings bedienen sich die Figuren der neuen »parola d’ordine« gerade nicht comme il faut, sondern machen einen »uso improprio […] delle ultime parole di Cechov«: Auf das erste »ich sterbe« folgen »sterbere«, »sterbem-mo«, »sterbimento« (143), bevor am Ende des Briefes nach einer erneuten Verfremdung durch die Übersetzung ins Usbekische der eigentliche Gebrauch des Wortes das Ich einholt: »Sai cosa vuol dire? È un verbo. Vuol dire ›Ich sterbe‹, mio caro amore« (150).

Der Tod ist der »exceptional moment« par excellence, auf dem alle Brie-fe in der ein oder anderen Weise insistieren und den sie fast immer als ihren Schlusspunkt setzen: sei es explizit durch die Evokation des »ultimo momento«, jenes »istante terminale in cui ci è dato di ripercorrere all’indietro tutta la nostra vita« (36), sei es implizit durch eine kreisförmige Struktur, dank der der Schreiber am Ende des Briefes wieder an dessen Ausgangspunkt ankommt, sodass der Brief sich nicht nur als Abschieds-brief sagt, sondern selbst zur Verkörperung des »istante terminale« wird. Dass es dabei nicht um einen jenseitigen Moment geht, und nicht einmal um einen »instant with a claim to eternity« wie in Goethes »Verweile doch, du bist so schön«,34 sondern um den Tod als Endpunkt – »in quell’istante concessomi avrò appena il tempo di annaspare nell’aria come un annegato, ______________________

32 »[I]n fondo anche tu amavi le fessure fra le cose, ma poi hai scelto il pieno, e forse hai fatto bene, perché è una forma di salvezza, o comunque di accettazione di ciò che tutti siamo. Ah, que la vie est quotidienne!« (146)

33 »Et il est si démuni, privé de mots… il n’en a pas… ça ne ressemble à rien, ça ne rappelle rien de jamais raconté par personne, de jamais imaginé… c’est ça sûrement dont on dit qu’il n’y a pas de mots pour le dire… il n’y a plus de mots ici… Mais voilà que tout près, à sa portée, prêt à servir… avec cette trousse, ces instruments… voilà un mot de bonne fa-brication allemande, un mot dont ce médecin allemand se sert couramment pour constater un décès, pour l’annoncer aux parents, un verbe solide et fort: sterben… merci, je le prends, je saurai moi aussi le conjuguer correctement, je saurai m’en servir comme il faut et sagement l’appliquer à moi-même: ich sterbe«. (Sarraute, L’usage de la parole, S. 13 [Anm. 7])

34 Bohrer, »Instants of Diminishing Representation«, S. 113 (Anm. 25).

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e poi: buonanotte« (36) – und als absolutes Jetzt, wird wiederum sowohl benannt35 als auch in Körperschrift geschrieben, wenn der Blutstropfen auf dem Bürgersteig wie der oben erwähnte Tropfen der Zeit und wie das Wort am Strand gemäß dem »giusto metro del tempo, della vita e della favella« zerplatzt und verspritzt. Nur wenn das Ich sich aus dem Fenster wirft und sein Blut »come una pennellata di un pittore« auf dem Boden ausbreitet, kann das Du es entziffern, weil sich die Seele, wie das Ich zu Beginn erklärt hatte, in einem der unzähligen Blutkörperchen verbirgt, sodass nicht einmal »il computer più perfetto che si avvicina a Dio« (90) sie vor dem hypothetischen Sturz aus dem Fenster ausmachen könnte: »È lì che sarei davvero, e dove tu potresti davvero leggermi«. Stattdessen allerdings – weil nicht die Geliebte seine Seele, sondern die Polizei seine Blutgruppe entziffern würde – hinterlässt es ihr »parole«, mit denen man sich begnügen müsse, »perché tutto il resto sono parole, parole, parole…« (93).

Ebenso wird der hier evozierte Hamlet, wenn er in La maschera è stancawiederkehrt, am Ende dieses Briefs endlich »la sua vera parte« spielen, den schwarzen Schleier lüften und »il Tempo senza scampo e senza rimedio che con la falce recide la vita degli uomini« darstellen; doch auch hier ver-zichtet das Ich auf die Inszenierung und begnügt sich mit der Schrift: »il tuo dongiovanni impallidirà dal terrore, ma io non reggerò la falce, ma la piuma del mio cappello di Amleto, e con quella, come se scrivessi nell’aria, comincerò a cantare […]« (161 f.). Der am Ende der Briefe wie des Le-bens stehende Tod ist nicht auf ein Jenseits gerichtet, aber das Ende, der gesetzte Schlusspunkt ist Bedingung für beider Lesbarkeit, weil es die sich überlagernden potentiellen Zustände in den einen faktischen kollabieren lässt: Zwar folgt die Literatur – zumindest die moderne und postmoderne – ebenso wie die heutige Physik nicht mehr der Logik von »causa effetto, causa effetto, causa effetto«, sondern eher der »causalità delle strade, per-ché le strade sono un luogo ideale per la causalità che offre la vita« (170), aber mit dem »ultimo momento«, wenn der Faden abgeschnitten ist, wer-den auch hier die »giochi dell’essere« zu »forbidden games«, zu bloßer Spekulation, und gilt es stattdessen in den zerspritzten Sprach-, Zeit- und Lebensfragmenten zu lesen.

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35 Etwa wenn der »punto ignoto […] non sarà quello di un’altra vita, ma di questa« (36).

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»Sconclusione«36

Die Briefe evozieren nicht nur den Tod als das Jetzt; umgekehrt weist der Tod darauf hin, dass die Briefe selbst das Jetzt sind: Als Schrift auf dem Papier sind sie der aktuale Zustand, »quasi volgari, e grasse, con l’irrimediabile arroganza delle cose che sono«, im Unterschied zu den nie geschriebenen Worten, die »proprio come il pensiero« ihre Potentialität bewahren: »aeree, leggere, alate e imprendibili, e libere di essere non es-sendo« (146). Zwischen einem Damals und einer hypothetischen Zukunft sind die Briefe als Schrift und als Jetzt faktisch und aktual und eröffnen wie das Straßengewirr die potentiellen Zustände oder Prozesse der Lektü-re, werden aber als Aktuales auch sogleich zu Vergangenheit, zu Text als dem Gegenpol der »vive voix«:37 »Attuale: ciò che è ora e non è più subito dopo. Ciò che trascorre« (41). Folglich ist jeder Brief – jeder Text – ein »equivoco messaggero«, wie »A.T.« im Post scriptum des Romans schreibt:

La lettera è un equivoco messaggero. Tutti noi almeno una volta nella vita abbia-mo ricevuto una lettera che ci pareva provenisse da un universo immaginario, e che invece esisteva realmente nella mente di chi l’aveva scritta. E probabilmente di altrettali ne inviammo, forse senza renderci conto di entrare in uno spazio reale per noi ma fittizio per gli altri, e di cui essa lettera è inoltre il più onesto falsario, perché ci illude di varcare la distanza con la persona lontana. (224)

Die poetologische Stellungnahme weist noch einmal auf den Unterschied zwischen dem Roman in Briefform und dem Briefroman, der sich offen-bar, selbst dort, wo, wie bei Laclos, der Brief alles andere als ein »onestofalsario« ist, eben diese Fragen interessanterweise nicht gestellt hatte – und das, obwohl in der Zeit, in der ein Briefroman nicht »fuori orario« war, der Brief in der Regel lange unterwegs war und sein Schreiber keineswegs sicher sein konnte, den anderen dort anzutreffen, wo er ihn vermutet hatte. Im 18. Jahrhundert hatte die Entdeckung der Zeit, die im ausgehen-den 20. und beginnenden 21. wieder entdeckt wird,38 gerade erst einge-setzt, und erst im Laufe des folgenden Jahrhunderts fing man an, die Zeit-______________________

36 So die Überschrift über dem letzten Abschnitt des Essays »Autobiografie altrui« in Tabuc-chis gleichnamigem Buch, S. 102 (Anm. 6).

37 »E io ho capito che dovevo sostituirmi a un chirurgo toracico e aprire un petto, il mio, il Vostro, non so, ed estrarre un’essenza che desse un senso non alle aorte, ai vasi sanguigni, ai corpi cavernosi, ma a una biologia diversa, lontana dalle cellule, che fluttui in qualche al-trove dove non si devono incontrare la vita e la scrittura, la biografia e la letteratura, una sorta di iper-madeleine fatta non di parole (troppo facile), non di megahertz, non di segni (per carità), ma semplicemente di vive voix, che, in quanto tale, muore appena è detta, così come l’immagine muore non appena l’obiettivo ha scattato« (45). Zum Verzicht auf das Niederschreiben vgl. ferner: »Pare che dicesse che scrivere era una cosa che involgariva il pensiero, e che con le persone era sempre meglio parlare, e che i libri, semmai, si dovevano scrivere solo mentalmente« (186).

38 Zimmerli, »Zeit als Zukunft«, S. 275 (Anm. 3).

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dauer psychischer Prozesse zu erforschen, »da man bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts glaubte, psychische Abläufe erfolgten mit unendlicher Geschwindigkeit«. Nach den »ersten systematischen Untersuchungen« gelangte man zur »Erkenntnis, dass das ›Jetzt‹ psychologischer Erfahrung ausgedehnt ist«, und von hier zur »Definition des ›Moments‹ als kleinster subjektiver Zeiteinheit« sowie zum Erweis der Diskontinuität in der »zeit-liche[n] Organisation menschlicher Wahrnehmung«.39 Nach der Revoluti-onierung der Zeitvorstellungen durch Relativitäts- und vor allem Quan-tentheorie ist derzeit der Umschlag der potentiellen Quantenzustände, die als futurische aufgefasst werden können, in den aktualen Zustand eines der meistdiskutierten Probleme;40 das Jetzt aber scheint, wie Ruhnau schreibt, »allen Versuchen, es auf den Begriff zu bringen, zu widerstehen«, weil sich im Jetzt »eine andere Dynamik als die einfache Abfolge von Zu-ständen von Objekten« konzentriert. Dieser anderen Dynamik der Zeit nähern sich die Neurowissenschaften an, indem sie sich etwa mit der Un-gleichzeitigkeit von Dingen, die als gleichzeitige wahrgenommen werden, befassen, die Gegenwart, das ›Jetzt‹, zu definieren versuchen und die Gleichzeitigkeit vieler Zeiten beschreiben, in denen jedes Ich ebenso wie jedes Du lebt, etc. Die Beispiele für die faktische Aktualität der Fragen und für die Potentialität der möglichen Antworten ließen sich unschwer vermehren, stehen aber hier nicht im Zentrum des Interesses.

Die Frage war vielmehr: Was weiß die Literatur?, und in diesem Kon-text verblüffen nicht allein die vielen Analogien der von modernen und postmodernen Texten aufgeworfenen Fragen zu Auseinandersetzungen mit der Zeit in Neurowissenschaften, Physik und Philosophie. Verblüf-fend ist ferner, dass etwa ein Philosoph wie Richard Rorty schreibt: »Wenn es etwas Interessantes gibt, das über die Zeit gesagt werden kann, so wird es wahrscheinlich eher von einem Physiker als von einem Philo-sophen gesagt werden«,41 während Physiker wie Carl Friedrich von Weiz-säcker feststellen, dass der sehr abstrakten Quantentheorie die derzeitigen »Begriffsbildungen […] offenkundig nicht adäquat« sind, oder Eva Ruh-nau die »Bildung einer adäquaten Begrifflichkeit der Zeit« einfordert, weil das »herrschende Paradigma […] der wesentlich dynamischen Natur der Zeit unangemessen« sei. Was fehle, sei eine »Sprache für das Wie der Ge-genwart, für ihr Maß und für ihr Ausgemessenwerden«, weil die dualisti-sche Sprache, in der »die Gegenwart zu beschreiben [wäre] als Bistabilität zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Raum und Zeit«, ein täuschen-______________________

39 Ruhnau, »Zeit als Maß von Gegenwart«, S. 87 f. (Anm. 15). 40 Vgl. ebd., S. 82. 41 Zitiert nach: Volker Steenblock, Die großen Themen der Philosophie. Eine Anstiftung zum Weiter-

denken, Darmstadt 2003, S. 201.

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Was weiß die Literatur? Die Frage der Zeit in Tabucchis Si sta facendo… 333

des Bild vermittle: Gegenwart sei »dynamische Einheit von Ruhe und Bewe-gung«.42

Der Verdacht drängt sich auf, dass gerade die Literatur seit dem Be-ginn der Moderne, die sich des Augenblicks in besonderem Maße ange-nommen hat, die Sprache sein könnte, die Philosophen und Physiker in ihren je eigenen Bereichen nicht finden, weil in der Literatur, in den Brie-fen von Si sta facendo sempre più tardi etwa, die Gesetze der Identität, des Nicht-Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten nicht gelten und so die mit der Zeit verknüpften Paradoxien nicht eliminiert werden müs-sen, sondern vom Fließen und von stillstehenden Momenten, von leeren und erfüllten Augenblicken zugleich die Rede sein kann. Vor allem aber sind die Briefe selbst jener Moment, in dem nichts geschieht außer Spra-che, das Ereignis der Sprache aber Gegenwart ist und jedes Wort wie be-sagte Straßenkreuzung verschiedene Wege eröffnet.43 Möglicherweise wird allein die Literatur der paradoxen Doppelheit des Augenblicks ge-recht, der einerseits gilt als plötzliches Erscheinen, Offenbarung, Unmit-telbarkeit, als Einzigartigkeit, die jede Wiederholung ausschließt, und an-dererseits seine Wirkung nur in der Erinnerung und der Distanz entfalten kann.44 Denn wenn Schreiben bedeutet, »se livrer à la fascination de l’absence du temps«, weil es »gli altri a noi, noi agli altri, noi stessi a noi stessi« entzieht,45 kann das Schreiben und das Lesen, kann die Literatur als der archimedische Punkt gelten, von dem aus eine Sprache für die Zeit möglich wird, weil über »die Sprache hinaus […] kein Hinauskommen möglich« ist,46 allein die Literatur aber dieses Hinauskommen über die Sprache gar nicht erst erstrebt.

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42 Carl Friedrich von Weizsäcker, »Zeit als Träger der Erfahrung in der Quantentheorie. Empirische Mathematik. Ure und Anti-Ure. Wirklichkeit als Kontinuum. Quantentheorie als abstrakt mathematische Formulierung der Struktur der Zeit. Elf Schritte der Messung und Erfahrung«, in: Was treibt die Zeit?, S. 97 (Anm. 3); Ruhnau, »Zeit als Maß von Gegen-wart«, S. 74 f. u. 95 (Anm. 15).

43 Vgl. Friese, »Introduction«, in: The Moment, S. 10 (Anm. 1). 44 Vgl. ebd., S. 11. 45 Tabucchi, Autobiografie altrui, S. 91 f. (Anm. 6); vgl. Maurice Blanchot, L’espace littéraire, Paris

1955, S. 25. 46 Karl Heinz Bohrer, Ästhetische Negativität, S. 369 (Anm. 1). Zur »Möglichkeit der modernen

Literatur, den philosophischen Gedanken, den die Philosophie nicht denkt, das Ver-schwinden von mir selbst und meiner Zeit zu denken«, vgl. S. 329.

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STEFAN GLOMB

Selbstbewusstsein jenseits der Zwei Kulturen: David Lodges Roman Thinks ...

Sucht man nach strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den Prozessen, die unter dem Etikett ›Modernisierung‹ zusammengefasst werden, so scheint es naheliegend, auf die Pluralisierung bzw. funktionale Ausdifferenzierung zu verweisen.1 Dies gilt ganz sicher für die Wissensentwicklung, über die bereits Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse schreibt:

Der Umfang und der Thurmbau der Wissenschaften ist in’s Ungeheure gewach-sen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Ler-nender müde wird oder sich irgendwo festhalten und ›spezialisieren‹ lässt: so dass er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick, Niederblickkommt.2

Einen dieser Diagnose gegenläufigen Befund zeigen die gegenwärtig in den Kulturwissenschaften zu beobachtenden Bemühungen um Interdis-ziplinarität, die sich dem inter-3 bzw. transdiskursiven Charakter einer Reihe von Gegenständen verdanken. Gemeint sind solche, die sich nicht klar der Zuständigkeit einer Disziplin zuordnen, sondern die sich erst durch möglichst vielfältige Perspektivierungen adäquat fassen lassen. Zu diesen Gegenständen gehören neben der Kultur selbst, um nur einige zu nennen: Narrativität, Gedächtnis und Erinnerung, Geschlecht bzw. genderund eben auch Bewusstsein bzw. Selbstbewusstein. Narrativität etwa ist zu einer grundlegenden Kategorie kulturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden und findet außerhalb der Literaturwissenschaft Anwendung in so disparaten Feldern wie der Philosophie, Psychologie, Ethnologie, Theologie, ja auch in den Rechtswissenschaften, wenn es etwa um narra-______________________

1 Vgl. hierzu meine ausführlicheren Überlegungen in »Jenseits von Einheit und Vielheit, Autonomie und Heteronomie – Die fiktionale Erkundung ›dritter Wege‹ der Repräsentati-on und Reflexion von Modernisierungsprozessen«, in: Beyond Extremes. Repräsentation und Re-flexion von Modernisierungsprozessen im zeitgenössischen britischen Roman, hrsg. v. Stefan Glomb/Stefan Horlacher, Tübingen 2004, S. 9-52.

2 Friedrich Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«, in: Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Gior-gio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 5, München 1999, S. 132.

3 Zum Interdiskurs vgl. Jürgen Link/Ursula Link-Heer, »Diskurs/Interdiskurs und Literatur-analyse«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77 (1990), S. 88-99.

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Stefan Glomb 336

tologische Untersuchungen von Zeugenaussagen geht.4 In ihrem interdis-ziplinären Lexikon zu Gedächtnis und Erinnerung vereinigen Nicolas Pethes und Jens Ruchatz Beiträge aus vierzehn Wissensfeldern und Dis-ziplinen;5 in der von Christina von Braun und Inge Stephan herausgege-benen Einführung in die Gender-Studien sind es sogar siebzehn.6 Wird die arbeitsteilige Ausdifferenzierung also auf der einen Seite durch solche transdiskursiven Gegenstände konterkariert, so gibt es komplementär hierzu auch inter- bzw. transdiskursive Ansätze, die auf eine Vielzahl von Gegen-ständen anwendbar sind – der gegenwärtig profilierteste Ansatz dieser Art ist wohl die Systemtheorie.7

Bedenkt man nun, dass weder die schiere Vielfalt der Wissensfelder und Disziplinen noch die quer hierzu liegenden transdisziplinären Ge-genstände und Ansätze klare Grenzziehungen nahelegen, so kann es nur erstaunen, dass der notorische Zwei-Kulturen-Konflikt auch heute noch fröhliche Urständ feiert, übrigens unbekümmert darum, dass er bereits zum Mythos8 bzw. »Snow von gestern«9 erklärt worden ist.

Im Folgenden werde ich zunächst die Geschichte dieses Konflikts bis heute in groben Zügen nachzeichnen (I), in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Diskussionsstandes Lodges Roman vorstellen (II) und schließlich der Frage nachgehen, welche Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang der Literatur und den Literaturwissenschaf-ten zukommen kann (III).

______________________

4 Vgl. Ansgar Nünning, »Narrativität«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 42004, S. 483 f., und Norbert Meuter, »Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kultur-wissenschaften«, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, hrsg. v. Friedrich Jaeger/Jürgen Straub, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2004, S. 140-155.

5 Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, hrsg. v. Nicolas Pethes/Jens Ruchatz, Reinbek 2001.

6 Gender-Studien. Eine Einführung, hrsg. v. Christina von Braun/Inge Stephan, Stuttgart 2000. 7 So finden sich z.B. im Katalog der Mannheimer Universitätsbibliothek systemtheoretische

Abhandlungen aus den Bereichen Betriebswirtschaftslehre, Erziehungswissenschaft, Gen-der-Studien, Geschichte, Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Philosophie, Politolo-gie, Psychologie und (natürlich) Soziologie, womit das Spektrum der Anwendungsmöglich-keiten aber noch nicht erschöpft sein dürfte.

8 Vgl. Jürgen Mittelstraß, »Geist, Natur und die Liebe zum Dualismus. Wider den Mythos von den zwei Kulturen«, in: Glanz und Elend der zwei Kulturen. Über die Verträglichkeit der Na-tur- und Geisteswissenschaften, hrsg. v. Helmut Bachmeier/Ernst Peter Fischer, Konstanz 1991, S. 9-28.

9 Vgl. Barbara Korte/Klaus Peter Müller/Josef Schmied, Einführung in die Anglistik, Stutt-gart/Weimar 1997, S. 148.

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Selbstbewusstsein jenseits der Zwei Kulturen 337

I.

Die Demarkationslinie zwischen den Zwei Kulturen verläuft bekanntlich zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bzw. zwischen erklärenden und verstehenden, empirisch-mathematischen und hermeneutischen, no-mothetischen und idiographischen, quantitativen und qualitativen, objek-tiven und subjektiven oder schlicht harten und weichen Disziplinen – einschließlich all der hiermit einhergehenden Implikationen im Bereich der Geschlechterstereotype. Verbindet sich diese Problematik im Deutschland des 19. Jahrhunderts v.a. mit Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften in Abgrenzung zum Positivismus von Comte und Mill, so markieren im viktorianischen England die Namen Matthew Ar-nold und Thomas Henry Huxley den Beginn der Zwei-Kulturen-Kontroverse. Huxley, Großvater des Brave New World-Autors und seines Engagements für die Evolutionslehre wegen als »Darwin’s Bulldog« be-kannt, wandte sich in seinem Aufsatz Science and Culture (1890) gegen das von Matthew Arnold in Culture and Anarchy (1869) formulierte Kulturideal, mit dem Ziel, den Naturwissenschaften die ihnen gebührende Stellung gegenüber einer normativen Überhöhung der klassischen Kultur zu si-chern. Darauf wiederum antwortete Arnold, der wohl bedeutendste Lite-ratur- und Kulturkritiker der viktorianischen Zeit, in Literature and Science(1882) mit dem Hinweis auf die Huxleys Position innewohnende Gefahr einer Reduktion kultureller Werte auf Expertentum und instrumentelles Wissen. Aus heutiger Sicht ist an dieser Auseinandersetzung zweierlei interessant: Zum einen erscheint hier das Kräfteverhältnis zwischen Geis-tes- und Naturwissenschaften gegenüber unserer Zeit mit genau umge-kehrten Vorzeichen, d.h. es sind die Naturwissenschaften, die um gesell-schaftliche Anerkennung ringen; zum anderen lässt der Graben zwischen den Opponenten noch wirkliche Kommunikation zu und eine einver-nehmliche Lösung denkbar erscheinen. Überhaupt ist der viktorianische Wissenshaushalt wesentlich von einer gegenseitigen Durchlässigkeit der Diskurse geprägt, was sich besonders gut an den Inhalten der damaligen Zeitschriften ablesen lässt. Interessierte Leser konnten etwa im EdinburghReview nebeneinander Rezensionen literarischer Texte und Beiträge zu geologischen, theologischen und astronomischen Themen lesen, ohne den Eindruck zu bekommen, es hier mit völlig disparaten Wissensfeldern zu tun zu haben.10

War die viktorianische Kultur also noch durch etwas wie einen ge-meinsamen Diskurs verbunden, so zeigt sich um die Mitte des 20. Jahr-______________________

10 Vgl. Robin Gilmour, The Victorian Period. The Intellectual and Cultural Context of English Litera-ture 1830-1890, Harlow 1993, S. 7.

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Stefan Glomb 338

hunderts bereits ein deutlich anderer Befund, was sich an der Heftigkeit und Einseitigkeit ablesen lässt, mit der der Romanautor und Naturwissen-schaftler C. P. Snow und der Literaturpapst F. R. Leavis11 die Arnold-Huxley-Debatte wieder aufgreifen. Keiner der beiden Kontrahenten gibt hierbei eine besonders gute Figur ab: Während Snows Position von be-schämend naiven Vereinfachungen geprägt ist, droht die Schärfe der von Leavis ad hominem gerichteten Invektiven die Schlagkraft seiner Argumente zu mindern. Auslöser des Streits war Snows 1959 veröffentlichte Rede TheTwo Cultures and the Scientific Revolution. Snow vertritt hier die Auffassung, dass die Literaten als »natural Luddites«12, d.h. als geborene Maschinen-stürmer, dem naturwissenschaftlichen Fortschritt im Wege stünden, wo doch allein dieser es vermöge, die Geschicke der Menschheit zum Besse-ren zu wenden. Dass die hierin zum Ausdruck kommende engstirnige Hybris einer naturwissenschaftlichen Selbstglorifizierung, die den ideolo-gischen Implikationen der eigenen Position gegenüber blind ist, nicht nur die Kritik, sondern auch die Häme des Kontrahenten auf sich zog, ist nicht weiter verwunderlich. Es war denn auch ein Leichtes für Leavis, Snow nachzuweisen, dass die Postulierung einer eigenen Kultur, die nur den Naturwissenschaftlern zukäme, eine unsinnige Verengung des Kulturbe-griffs darstellt.

Anders als vielleicht zu erwarten wäre, ist der Lerneffekt dieser be-rühmt gewordenen Debatten für unsere Zeit eher zu vernachlässigen. Dies zeigen etwa die Bestseller von Dietrich Schwanitz, Bildung, und Ernst Peter Fischer, Die andere Bildung,13 dessen Autor mit seiner Konkurrenz-veröffentlichung auf die folgende, erstaunliche Feststellung in Schwanitz’ Buch reagiert: »Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht«.14 Gewichtiger und aktueller ist die gegenwärtige Auseinandersetzung um die Willensfreiheit, im Rahmen derer wieder einmal das Zwei-Kulturen-Schauspiel gegeben wird – diesmal als Auseinandersetzung zwischen Hirnforschern und Geis-teswissenschaftlern. Der Philosoph Michael Pauen formuliert die drei Fragen, um die es hier geht:

Frage 1: Wie verhalten sich die Prozesse im Gehirn und das Bewusstsein zuei-nander? (klassisches Leib-Seele-Problem); Frage 2: Kann man Bewusstsein überhaupt angemessen wissenschaftlich erklä-ren?

______________________

11 Vgl. Meinhard Winkgens, Die kulturkritische Verankerung der Literaturkritik bei F. R. Leavis,Paderborn u.a. 1988.

12 C. P. Snow, The Two Cultures, Cambridge 1993, S. 22. 13 Dietrich Schwanitz, Bildung. Alles, was man wissen muß, Frankfurt a.M. 1999; Ernst Peter

Fischer, Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, München 2001. 14 Schwanitz, Bildung, S. 482 (Anm. 13).

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Selbstbewusstsein jenseits der Zwei Kulturen 339

Frage 3: Wie wirken sich die Ergebnisse der Neurowissenschaften auf unser Selbstbild als freie, verantwortlich handelnde Subjekte aus?15

Die Diskussion nimmt ihren Ausgang von Experimenten, die der ameri-kanische Neurophysiologe Benjamin Libet bereits in den Siebzigerjahren durchführte und deren Ergebnis in dem Nachweis bestand, dass unseren bewussten Entscheidungen neuronale Aktivitäten zeitlich vorausliegen – man spricht hier von einem Bereitschaftspotential –, was von Hirnforschern so interpretiert worden ist, dass unsere Vorstellung von Willensfreiheit eine Illusion sei. Wolf Singer, neben Gerhard Roth einer der im gegenwär-tigen Streit am stärksten exponierten Wissenschaftler, erläutert dies in einem programmatischen Beitrag folgendermaßen:

Die meisten Strebungen und Motive, die uns letztlich dazu gebracht haben, etwas Bestimmtes und nicht anderes zu tun, bleiben uns verborgen. Wir nehmen oft nur das Ergebnis solcher hirninterner Abwägungsprozesse wahr, schreiben uns dies dann im Moment der Bewusstwerdung als Ergebnis unserer »freien« Ent-scheidung zu [...] und erfahren uns so als Herr über unsere Entscheidungen. [...] In Dutzenden, räumlich getrennten, aber eng miteinander vernetzten Hirnarealen werden Erregungsmuster miteinander verglichen, auf Kompatibilität geprüft und, falls sie sich widersprechen, einem kompetitiven Prozess ausgesetzt, in dem es schließlich einen Sieger geben wird. [...] Dieser distributiv angelegte Wettbe-werbsprozess kommt ohne übergeordneten Schiedsrichter aus. Er organisiert sich selbst und dauert so lange an, bis sich ein stabiler Zustand ergibt, der dann für den Beobachter erkennbar als Handlungsintention oder Handlung in Erschei-nung tritt.16

Man beachte den »Wettbewerbsprozess« – es ist interessant, wie sich der naturalistische und der ökonomistische Diskurs hier die Hand reichen.17

Das Selbstbewusstsein erscheint aus dieser Sicht als Randphänomen – man spricht bei dieser Position daher von Epiphänomenalismus, d.h. dass zwar die Existenz des Bewusstseins nicht bestritten, ihm aber jegliche Fähigkeit, etwas zu verursachen, abgesprochen wird. Während dies alles Singer zu dem Schluss kommen lässt, dass wir aufhören sollten von Frei-______________________

15 Michael Pauen, »Von Fledermäusen und der Freiheit des Willens«, in: Gehirn und Geist 1 (2002), S. 49; vgl. ders., Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung,Frankfurt a.M. 2004.

16 Wolf Singer, »Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu spre-chen«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, hrsg. v. Chris-tian Geyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 49 f. u. S. 56 f.

17 Interessanterweise bedient sich Lodges Ralph Messenger derselben Bildlichkeit, vgl. David Lodge, Thinks …, London 2001, S. 11 (die im Folgenden in Klammern gesetzten Seiten-zahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe): »[...] every phrase I utter, however frag-mentary and inconsequential it may seem, is the output of a complex interaction ... consul-tation … competition … between different parts of my brain … It’s like a bulletin, an agreed text hammered out behind closed doors after a nanosecond’s intense editorial de-bate, and then released to the speech centres of the brain for onward transmission …« (S. 58).

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heit zu sprechen, hält Jürgen Habermas dem in seiner Dankesrede zur Kyoto-Preisverleihung entgegen: »Um uns als Selbsttäuscher zu entlarven, bedarf es mehr«,18 und er stellt fest, dass die »in Aussicht gestellte wissen-schaftliche Aufklärung über die naturgesetzliche Determination unseres Handelns [...] das intuitiv verankerte und pragmatisch bewährte Selbstver-ständnis von zurechnungsfähigen Aktoren nicht ernsthaft infrage stellen [kann].«19 Auf Habermas’ Vorschlag, wie das Zwei-Kulturen-Dilemma zu überwinden sein könnte, wird in Abschnitt III zurückzukommen sein. Zunächst aber soll David Lodges 2001 erschienener Roman Thinks ... im Mittelpunkt stehen, dessen Thematisierung der Selbstbewusstseins-problematik vor dem gerade skizzierten Hintergrund hochaktuell ist.

II.

David Lodge lässt sich am ehesten als middle-brow-Autor klassifizieren, d.h. seine Texte sind weder bloße Unterhaltungsliteratur noch übertrieben anspruchsvoll. Dennoch ist gerade im Fall des vorliegenden Romans (des-sen Titel sich von den Denkblasen in Comics herleitet) der stellenweise geradezu holzschnittartige Charakter der Darstellung hilfreich, wenn es darum geht, den recht komplexen Problembereich, auf den der Text ver-weist, anschaulich werden zu lassen. Drei Bereiche sollen hierbei im Mit-telpunkt stehen: (1) die Figurencharakterisierung und die Handlung; (2) das, was man mit Wolfgang Iser das Textrepertoire nennen könnte, und schließlich (3) die Selbstthematisierung des Romans.

(1) Die Handlung lässt sich in Grundzügen schnell wiedergeben: Die Romanautorin Helen Reed (homophon mit read), deren Mann gerade an einer Blutung im Gehirn (!) gestorben ist, macht sich auf, ein akademi-sches Jahr lang creative writing zu unterrichten, und trifft den Neurobiolo-gen Philip Messenger, einen ständig in den Medien präsenten, selbstver-liebten Popularisierer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (daher auch sein telling name) und notorischen womanizer. Die fiktive Gloucester-University gibt als architektonische Allegorie der Zwei Kulturen (»Arts at one end and Sciences at the other« [S. 11]) den Schauplatz für eine Hand-lung ab, an der klar abzulesen ist, dass sie in der Art eines Gedankenexpe-riments – und der Roman ist voll von Gedankenexperimenten – wesent-lich von der Funktion bestimmt ist, exemplarisch unterschiedliche ______________________

18 Jürgen Habermas, »Um uns als Selbsttäuscher zu entlarven, bedarf es mehr«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Nov. 2004, S. 35 f., ausgearbeitete Version: »Freiheit und Determi-nismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52,6 (2004), S. 871-890, sowie in ders., ZwischenNaturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2005, S. 155-186.

19 Ebd., S. 871 f.

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Positionen zum Thema Bewusstsein zu verdeutlichen. Dies gilt in beson-derem Maße auch für die Charakterisierung. Während die literarisch ge-schulte Helen Reed konsequent die Perspektive der Lebenswelt vertritt und diese gegen die Kolonialisierung durch den naturwissenschaftlichen Ansatz verteidigt, repräsentiert Messenger jenen Typus des Wissenschaft-lers, für den im Grunde immer noch das Credo des logischen Empirismus bestimmend ist, die Vorstellung also, dass nur solche Aussagen als wahr bzw. sinnvoll gelten können, die auf empirischem oder analytisch-mathematischem Wege zustande gekommen sind. Dementsprechend ist Messenger davon überzeugt, dass sich sämtliche mit dem Gehirn zusam-menhängenden Probleme – einschließlich des Bewusstseins – mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln früher oder später hinreichend erklären lassen. Das Gehirn ist für ihn – ähnlich wie für Wolf Singer – ein Compu-ter, dessen Verschaltungen er zu ergründen trachtet, um die gemeinsam mit seinen Doktoranden unternommenen Versuche zur Erzeugung künst-licher Intelligenz voranzubringen. Was die Messenger-Figur aber darüber hinaus durchweg in ironischer Weise bestimmt, ist die Trennung zwischen seinen wissenschaftlichen Aktivitäten und seiner Alltagsexistenz, eine Trennung, die ihm dann zum Verhängnis wird, als er sich gegen Ende des Romans mit der Grenzsituation des eigenen Todes konfrontiert sieht. Auch wenn es ihm gelingt, dem Tod noch einmal von der Schippe zu springen – eine als potentiell tödlich diagnostizierte Krankheit erweist sich als harmlos –, hat ihm diese Erfahrung doch die Einsicht beschert, dass der Unterschied zwischen Außen- und Innenperspektive kein so ganz unerheblicher ist. Messengers Dilemma illustriert mithin die Schlagkraft des – übrigens naturwissenschaftlichen – Arguments, demzufolge die Vorstel-lung von der Funktionslosigkeit des Bewusstseins gegen alles verstößt, was über die Evolution bekannt ist.20 Schrumpft aus der Perspektive des Epiphänomenalismus das Bewusstsein zur Bedeutungslosigkeit, so gilt dasselbe für den Epiphänomenalismus, wenn man ihn aus der Perspektive der Lebenswelt betrachtet, da er keinerlei entscheidungsrelevante und handlungsleitende Folgerungen zulässt:

So prallt die Perspektive der Hirnforschung regelmäßig an jener der Lebenswelt ab. Das ist für die Bewertung der neurowissenschaftlichen Anthropologie keine Kleinigkeit. Denn selbst wenn sie zuträfe, könnten wir es nicht wissen, weil sie sich in ihrer Eigenlogik in unserem Bewusstsein nicht geltend machen kann. Die Laborperspektive, in der man sich selbst als eine unfreie Funktion autopoieti-scher Nervennetze zu denken hätte, gewinnt vor unserem inneren Auge keinerlei Anschaulichkeit, sie hat nur als Abstraktum Bestand.21

______________________

20 Vgl. Christian Geyer, »Vorwort«, in: Hirnforschung, S. 18 (Anm. 16). 21 Ebd., S. 16.

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Man bekommt bisweilen sogar den Eindruck, dass hier mit der Suggestion eines Nexus von Wissenschaftlichkeit und Kontraintuitivität gearbeitet wird, anders ausgedrückt: Erkenntnisse, so dieser Gestus, sind dann be-sonders ›wissenschaftlich‹, wenn sie deutlich von unseren lebensweltlichen Erfahrungen abweichen.

(2) Damit ist bereits der zweite Aspekt angesprochen, das Textreper-toire, jene Versatzstücke also, die literarische Texte bestimmten Weltdeu-tungsmustern entnehmen, um sie intern neu zu gruppieren und so eine neue Wirkung zu entfalten.22 Wie der Anhang des Romans dokumentiert, hat Lodge sich der Mühe einer eingehenden Recherche in Sachen Be-wusstsein unterzogen; und es ist nicht zuletzt der Kenntnisreichtum, mit dem er die hier gesammelten Informationen verarbeitet, der den Roman davor bewahrt, in ein allzu flaches Fahrwasser zu geraten. Dabei zeigt sich, dass das Bewusstsein in der Tat einer der eingangs zitierten For-schungsgegenstände ist, die quer zur akademischen Arbeitsteilung liegen, was auch Messenger feststellt: »All kinds of people have got interested in the subject lately – physicists, biologists, zoologists, neurologists, evoluti-onary psychologists, mathematicians ...«. (S. 36)

The subject is too amorphous, perhaps, overlaps with too many other disciplines to have an identity of its own … is it maths, is it philosophy, or psychology … or engineering? All those things actually, that’s what makes it so fascinating, but it’s regarded with suspicion by the scientific establishment, as a kind of mongrel sub-ject … hard to imagine a cognitive scientist ever getting a Nobel Prize … even if somebody cracked the problem of consciousness tomorrow, what prize would they give him? Physics? Chemistry? Physiology? It doesn’t fit any of these catego-ries [...]. (S. 115)

Dreh- und Angelpunkt der Kontroversen zwischen Lodges Protagonisten ist der Gegensatz zwischen einer objektiven und einer subjektiven bzw. einer quantitativen und einer qualitativen Betrachtungsweise. Der zuletzt genannte Begriff liefert auch das in der Hirnforschung in diesem Zusam-menhang verwendete Schlagwort: Es geht um ›Quale‹, engl. qualia, ge-meint sind phänomenale Qualitäten. Der als Komplementärbegriff zum Quantum eingeführte Terminus ›das Quale‹ bezeichnet die Art, wie Dinge aussehen, klingen und schmecken, wie es sich anfühlt, Schmerz zu emp-finden, und dergleichen mehr, in den Worten Messengers: »The specific quality of our subjective experiences of the world – like the smell of cof-fee, or the taste of pineapple. They’re unmistakable, but very difficult to describe. Nobody’s figured out how to account for them yet. Nobody’s proved that they actually exist.« (S. 36)23 Man muss nun kein eingefleisch-______________________

22 Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 1976, S. 115. 23 Vgl. Qualia. Ausgewählte Beiträge, hrsg. v. Heinz-Dieter Heckmann/Sven Walter, Paderborn

2001, S. 453.

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Selbstbewusstsein jenseits der Zwei Kulturen 343

ter Kritiker des begriffslogischen Denkens sein, um eine gewisse unfrei-willige Komik zu bemerken: Hier wird die Gesamtheit der Qualität menschlichen Denkens, Wahrnehmens, Erlebens und Fühlens als das, was sich einem strikt und ausschließlich quantifizierenden Zugriff entzieht, auf einen Begriff gebracht – man glaubt Nietzsche aus dem Jenseits laut lachen zu hören. Die fragwürdigen Konsequenzen, die sich aus diesem Denken ergeben, führt Lodges Roman mit einem geradezu perfiden Amüsement vor. So muss Messenger feststellen, dass sich die Operationen des Hoch-leistungsrechners, den er in seinem Kopf mit sich herumträgt, vorwiegend mit Sex und Essen beschäftigen.24 Der größte Teil seines Denkens und Handelns verdankt sich mithin Impulsen und Empfindungen, deren Cha-rakter seinem wissenschaftlichen Blick verborgen bleiben muss.

Hier nun setzt die alternative Sichtweise an, wie sie von Lodges Ro-man als ganzem sowie binnenfiktional durch Helen Reed vertreten wird. Vorwiegend mit Bezug auf die Romane von Henry James verdeutlicht die Expertin für kreatives Schreiben, dass die Literatur, und nur die Literatur, das Dilemma »[h]ow to give an objective, third-person account of a sub-jective, first-person phenomenon« (S. 42) produktiv zu nutzen versteht, wie die im Roman erläuterten Darstellungstechniken des free indirect discour-se und weitere Spielarten des literarischen stream of consciousness25 zeigen. Helen verweist auf James’ Roman The Wings of the Dove, um zu demon-strieren, dass Subjektivität und Objektivität im Kontext der Literatur keine einander ausschließenden Aspekte sind:

You see – you have Kate’s consciousness there, her thoughts, her feelings, her impatience, her hesitation about leaving or staying, her perception of her own appearance in the mirror, the nasty texture of the armchair’s upholstery, »at once slippery and sticky« – how’s that for qualia? And yet it’s all narrated in the third per-

______________________

24 »It’s rather shocking but ... if I imagine Carrie [seine Frau, S.G.] dying the first thought that comes into my head is not a picture of myself distraught and grieving, but of being free to fuck other women […]« (S. 60); »Perhaps I love the life of the body too much, women, food, wine […]« (S. 115); »I think about sex, therefore I am […]« (S. 293).

25 In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Lodge seinen Roman mit einer techni-sierten Variante derjenigen Darstellungstechnik beginnen lässt, mit der Joyce seinen Ulyssesbeendet, denn Messenger versucht sich durch das frei assoziierende Sprechen in ein Auf-nahmegerät Aufschluss über seinen eigenen Gedankenstrom zu verschaffen: »The object of this enterprise being to try and describe the structure of, or rather produce a specimen, that is to say raw data, on the basis of which one might begin to try to describe the struc-ture of, or from which one might infer the structure of ... thought.« (S. 1) Vgl. auch die fol-genden Passagen: »Of course this experiment is hopelessly artificial. Because the decision to record one’s thoughts inevitably determines or at least affects the thoughts one has …« (S. 4); »[…] it’s easy to simulate human thought when it is task-oriented, directed towards a goal, like winning a chess game or solving a mathematical problem, but how to build the randomness, the unpredictability of ordinary non-specialized thought, idle thought, how to build that into the architecture is a real problem for AI […]« (S. 8).

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son, in precise, elegant, well-formed sentences. It’s subjective and objective. (S. 43)

Nun werden diese Beispiele zwar erwartungsgemäß von Messenger ihrer Fiktionalität wegen abgetan: »If this Kate Croy were a real human being, Henry James could never presume to say how she felt about that arm-chair, unless she’d told him«, worauf Helen entgegnet: »But if Kate Croy were a real human being, your cognitive science could tell us nothing about her that we’d want to know.« (Ebd.)

Der Ball lässt sich aber noch mit einer anderen Begründung an Mes-senger zurückspielen, da schließlich die berühmt gewordenen Gedanken-experimente, denen die Hirnforschung wichtige Erkenntnisse verdankt, ebenfalls fiktiv sind.26 Sie sind dies übrigens nicht nur bis auf Weiteres, sondern grundsätzlich, da sie auf Versuchsanordnungen beruhen, die nicht real umsetzbar sind. Die beiden Gedankenexperimente, denen Lod-ge besondere Aufmerksamkeit widmet, sind charakteristischerweise sol-che, die dazu angetan sind, die Grenzen des neurobiologischen Zugriffs zu veranschaulichen. Das eine ist von dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel erdacht worden und beschäftigt sich mit der Frage: »What is it like to be a Bat?«27 Die Wahl der Fledermaus erweist sich, wie auch Lodges Messenger zugestehen muss, als »inspired choice« (S. 50), da wir es hier mit Wesen zu tun haben, deren Wahrnehmung uns Menschen beson-ders fremd erscheinen muss. Nagel nutzt dies dann auch, um zu zeigen, dass die Ansammlung noch so vieler objektiver Beobachtungen und Mes-sungen uns nicht dazu bringen wird zu verstehen, wie es ist, eine Fleder-maus zu sein.28 Ausgehend von der Unhintergehbarkeit der Differenz von Subjektivität und Objektivität stellt Nagel fest, dass es eines spezifischen, dem objektiven Blick entzogenen Standpunktes bedarf, um die Qualität des Bewusstseins angemessen zu erfassen. Kann man aber das, worum es geht, nur aus der Sicht eines subjektiven Standpunktes erfassen – so Nagel –, so bedeutet ein Mehr an Objektivität keine Annäherung, sondern eine Entfernung vom zu erfassenden Phänomen: »If the subjective character of experience is fully comprehensible only from one point of view, then any ______________________

26 Vgl. hierzu allgemein Science und Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, hrsg. v. Thomas Macho/Annette Wunschel, Frankfurt a.M. 2004.

27 Vgl. Thomas Nagel, »What is it like to be a bat?«, in: ders., Mortal Questions, Cambridge 1979, S. 165-180.

28 Vgl. ebd., S. 169: »Insofar as I can imagine this (which is not very far), it tells me only what it would be like for me to behave as a bat behaves. But that is not the question. I want to know what it is like for a bat to be bat. Yet if I try to imagine this, I am restricted to the re-sources of my own mind, and those resources are inadequate to the task. I cannot perform it either by imagining additions to my present experience or by imagining segments gradu-ally being subtracted from it, or by imagining some combination of additions, subtractions, and modifications.«

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Selbstbewusstsein jenseits der Zwei Kulturen 345

shift to greater objectivity – that is, less attachment to a specific viewpoint – does not take us nearer to the real nature of the phenomenon: it takes us farther away from it.«29

Das zweite Gedankenexperiment, »Mary, the colour scientist«, hängt hiermit unmittelbar zusammen, nur geht es hier nicht um die Innenper-spektive von Fledermäusen, sondern um die von Menschen. Lodges Mes-senger beschreibt das Szenario so:

The idea is that [Mary has] been born and raised and educated in a totally mono-chrome environment. She knows absolutely everything there is to know about colour in scientific terms – for example, the various wavelength combinations that stimulate the retina of the eye in colour recognition – but she has never actu-ally seen any colours. Notice there are no mirrors in her room, so she can’t see the pigmentation of her own face, eyes, or hair, and the rest of her body is cove-red. Then one day she’s allowed out of the room, and the first thing she sees is, say, a red rose. Does she have a totally knew experience? (S. 53)

Hieraus ergibt sich dieselbe Folgerung wie beim Fledermaus-Experiment: Beide zeigen, dass die Vorstellung eines Sprungs von quantitativem in qualitatives Wissen letztlich eine Illusion ist, oder, in den Worten ausge-rechnet desjenigen Hirnforschers, auf dessen Experimente sich die neuro-biologischen Ikonoklasten gegenwärtig immer wieder berufen, Benjamin Libet nämlich: »Die Annahme, dass die deterministische Natur der physi-kalisch beobachtbaren Welt [...] subjektive bewusste Funktionen und Er-eignisse erklären kann, ist ein spekulativer Glaube und keine wissenschaft-lich bewiesene Aussage.«30

(3) Hiermit sind wir beim dritten Punkt, nämlich der Selbstthema-tisierung von Lodges Roman, der Auslotung der Reichweite der Literatur gerade angesichts der Grenzen, die dem naturwissenschaftlichen Zugriff gesetzt sind. Helen Reed setzt die Informationen, die sie von Messenger erhalten hat, sofort didaktisch um, indem sie ihren Studierenden die Auf-gabe erteilt, die Gedankenexperimente in literarische Texte umzuschrei-ben. Hierbei orientieren sich die Studierenden an bekannten Mustern. In der schnodderigen Fäkalsprache von Martin Amis, dem schottischen Ju-gendslang von Irvine Welsh, in der Betonung multikultureller Vielfalt à la Salman Rushdie und schließlich der reduktionistischen Prosa eines Samuel Beckett erscheint das Fledermausexperiment jeweils in einer völlig ande-ren, immer aber zwangsläufig anthropomorphen Optik (vgl. S. 90 ff.). Und genau darum geht es: Die Texte illustrieren mit literarischen Mitteln Nagels Befund, wonach die Wissenschaft dort, wo es um die Phänomeno-logie eines nichtmenschlichen Bewusstseins geht, an unüberwindbareGrenzen stößt. ______________________

29 Ebd., S. 174. 30 Benjamin Libet, »Haben wir einen freien Willen?«, in: Hirnforschung, S. 285 (Anm. 16).

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Anders verhält es sich mit dem zweiten Gedankenexperiment, denn die unterschiedlichen Versionen der Geschichte von »Mary, the colour scientist« vermitteln überzeugende Einblicke in das Bewusstsein der Pro-tagonistin, die hier etwa als Fokalisierungsinstanz in der Art von Henry James’ The Turn of the Screw erscheint. Der Unterschied zu den literarisier-ten Fledermausexperimenten besteht darin, dass es im zwischenmensch-lichen Bereich nicht nur möglich, sondern für unser Leben als soziale Wesen unerlässlich ist, Hypothesen über die Bewusstseinsprozesse ande-rer Personen aufzustellen. Die Psychologie arbeitet hier mit dem Begriff ›Theorie des Bewusstseins‹ (theory of mind), wodurch eben jene Hypothe-senbildung bezeichnet wird, zu der Menschen (und nur Menschen, im Unterschied auch zu anderen Primaten) fähig sind.31 In der Philosophie wurde auf Vergleichbares schon früher hingewiesen, etwa von Wilhelm Dilthey und Edmund Husserl, die hier von einem Analogieschluss ausge-hen, der es uns erlaubt, eigene Erfahrungen zur Grundlage des Fremdver-stehens zu machen.32 Thomas Nagel kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass das Selbstbewusstsein nicht durchgängig unhintergehbar individuell, sondern in dem Sinn übersubjektiv ist, dass sich Bewusstseinszustände bis zu einem gewissen Grad typologisieren lassen:

The point of view in question is not one accessible only to a single individual. Ra-ther it is a type. It is often possible to take up a point of view other than one’s own, so the comprehension of such facts is not limited to one’s own case. There is a sense in which phenomenological facts are perfectly objective: one person can know or say of another what the quality of the other’s experience is. They are subjective, however, in the sense that even this objective ascription of experience is possible only for someone sufficiently similar to the object of ascription to be able to adopt his point of view – to understand the ascription in the first person as well as in the third, so to speak.33

Hieraus ergeben sich gewichtige Konsequenzen für den Stellenwert von literarischen Texten in der Auseinandersetzung um die Beschaffenheit des Selbstbewusstseins. Wenn qualitative Aussagen über das Selbstbewusst-sein nie einen streng objektiven, aber doch immerhin einen übersubjekti-ven Charakter haben können, und wenn uns hierfür ohnehin kein anderes Werkzeug als das der Analogiebildung zur Verfügung steht, so ist es ein aus der Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Ansatzes resultie-render Fehlschluss, wenn qualitativen Aussagen deshalb ihre Geltung bestritten wird, weil sie nicht auf quantifizierender Forschung beruhen. Und demselben Fehlschluss folgt die Behauptung, dass die Literatur des-______________________

31 Vgl. Philip G. Zimbardo/Richard J. Gerrig, Psychologie, München 162004, S. 458 f. 32 Vgl. Philosophie im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Anton Hügli/Poul Lübcke, Reinbek 1992, S. 57 f.

u. S. 104 f. 33 Nagel, Mortal Questions, S. 171 f. (Anm. 27).

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halb kein ernstzunehmendes Erkenntnismedium sein könne, weil ihre Gegenstände fiktiv seien. Hierzu schreibt Lodge, wiederum in Bezug auf Kate Croy:

There is no empirical reality against which we can check the truth of Henry Ja-mes’s account of her consciousness. It cannot be regarded as scientific knowled-ge. However, it is also true that we read novels like The Wings of the Dove because they give us a convincing sense of what the consciousness of people other than ourselves is like. We feel we have ›learned‹ something from them; we have acqui-red new information.34

Romane sind diesem Verständnis nach also besonders elaborierte Be-wusstseinstheorien: »One might suggest that the ability novelists have to create characters, characters often very different from themselves, and to give a plausible account of their consciousnesses, is a special application of Theory of Mind«.35

Hiermit hängt auch die implizite Programmatik der Form dieses Ro-mans zusammen, der die ganze Palette der literarischen Techniken zur Bewusstseinsdarstellung durchdekliniert: vom Tagebucheintrag, der Ich-Erzählsituation und dem auktorialen Gedankenbericht bis hin zum free indirect dicourse und dem Inneren Monolog. Der Umstand, dass die Erzähl-situationen von Kapitel zu Kapitel (und zum Teil innerhalb der Kapitel) wechseln, verdeutlicht zum einen die Vielfalt der Modulationen, die der Literatur bei der Darstellung von Bewusstseinsprozessen zur Verfügung stehen; zugleich wird hierdurch implizit verdeutlicht, dass es in Ermange-lung eines archimedischen Punktes, von dem aus sich die Realität in ihrem wahren Wesen zeigen könnte, erforderlich ist, einen Gegenstand wie das Selbstbewusstsein polyperspektivisch zu betrachten. In diesem Sinn, so Helen Reed,

[...] novels could be called thought experiments. You invent people, you put them in hypothetical situations, and decide how they will react. The ›proof‹ of the expe-riment is if their behaviour seems interesting, plausible, revealing about human nature. Seems to whom? To ›the reader‹ – who is not Mr Cleverdick the reviewer, or Ms Sycophant the publicist, or your fond mother, or your jealous rival, but some kind of ideal reader, shrewd, intelligent, demanding but fair, whose persona you try to adopt as you read and re-read your own work in the process of com-position. (S. 61 f.)

Die eingeschobenen Erzählungen wie auch der Roman als ganzer de-monstrieren außerdem die bereits erwähnte Notwendigkeit einer konse-quenten Einbindung der Bewusstseinsthematik in lebensweltliche Zusam-menhänge. Denn der scheinbar paradoxe Befund ist ja der, dass sich die in den Naturwissenschaften entwickelten Gedankenexperimente durchweg ______________________

34 David Lodge, Consciousness and the Novel, Harmondsworth 2003, S. 30. 35 Ebd., S. 42.

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einer Umsetzung in die Alltagswirklichkeit entziehen, wohingegen es lite-rarische Texte vermögen, Szenarien zu entwerfen, die ihren Wert für uns gerade durch ihre direkte oder indirekte Anschließbarkeit an unser eigenes Leben erhalten. Dass die Abstraktheit der naturwissenschaftlichen Ge-dankenexperimente zum Eigentor werden kann, zeigt übrigens eine der eingeschobenen Mary-Erzählungen: Die männlichen Wissenschaftler ha-ben bei ihrer Konstruktion einer Umwelt, in der die Farbe Rot nicht vor-kommen darf, an alles gedacht – nur nicht an die Menstruation (vgl. S. 164). Auf die Fragwürdigkeit der Ausblendung der lebensweltlichen Dimension als einer die naturwissenschaftliche Exaktheit vermeintlich verunreinigenden Größe weist der Roman mehrfach hin, indem er zeigt, dass hier nicht lediglich Unwesentliches weggelassen wird, sondern dass für das menschliche Leben Wesentliches gar nicht erst in den Blick gerät. Zentral hierbei ist das Phänomen der Trauer, von der Helens gegenwärti-ge Lebensphase bestimmt wird. Das im Roman Darwin zugeschriebene Zitat »Crying is a puzzler« (S. 138 f.), das zugleich den Titel für Helens nächstes Buch abgibt, verweist auf die Unmöglichkeit, dieses Phänomen naturwissenschaftlich hinreichend zu erklären. Und gänzlich problema-tisch wird Messengers Blindheit gegenüber den lebenspraktischen Konse-quenzen seines wissenschaftlichen Tuns dort, wo er eingestehen muss, dass die Förderung seiner Projekte durch das Verteidigungsministerium dazu führen könnte, dass seine Ergebnisse für ethisch und politisch frag-würdige Zwecke instrumentalisiert werden.

III.

Wenn die bisherigen Überlegungen den Befund also eher zu erhärten scheinen, dass es zwischen quantitativen und qualitativen bzw. objektiven und subjektiven Verfahren keine Vermittlung geben kann, dann stellt sich allerdings die Frage, ob der Zwei-Kulturen-Konflikt überhaupt je zu überwinden ist. Jürgen Habermas, dessen Position bereits erwähnt wurde, bezieht sich zwar nicht explizit auf diesen Konflikt, schreibt sich aber insofern in seine Geschichte ein, als er in der Auseinandersetzung mit den oben umrissenen Herausforderungen der Neurobiologie in Sachen Wil-lensfreiheit einen vielversprechenden Lösungsansatz präsentiert, der zugleich für die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die Literatur-wissenschaften im Besonderen interessante programmatische Anknüp-fungspunkte bietet. Habermas stellt zunächst die Wichtigkeit der Unter-scheidung von Ursachen und Gründen heraus. Eine auf einen naturalistischen Monismus bzw. Epiphänomenalismus verengte Perspek-tive kann immer nur Ursachen, nie aber Gründe in den Blick bekommen,

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da letztere ihren Platz nicht in naturwissenschaftlich beobacht- und vor-hersagbaren Kausalverkettungen haben. Deshalb greifen Experimente wie die von Libet durchgeführten zwangsläufig zu kurz:

Ein Design, das die Planung, Entscheidung und Ausführung einer Körperbewe-gung zeitlich eng zusammenpresst und aus jedem Kontext von weiterreichenden Zielen und begründeten Alternativen herauslöst, kann nur Artefakte erfassen, de-nen genau das fehlt, was Handlungen implizit erst zu freien Handlungen macht: der innere Zusammenhang mit Gründen.36

Habermas zeigt, dass Ursachen und Gründe in zwei verschiedenen, nicht aufeinander reduzierbaren, aber aufeinander bezogenen Sphären angesie-delt sind, nämlich den von Beobachtern und Kommunikationsteilnehmern, wes-halb man sinnvollerweise von einem Perspektivendualismus ausgehen sollte:

Da es nicht gelingt, die auf Geistiges und Physisches zugeschnittenen Sprachspie-le aufeinander zu reduzieren, drängt sich die interessante Frage auf, ob wir die Welt aus beiden Perspektiven gleichzeitig betrachten müssen, um von ihr etwas lernen zu können. Offenbar muss sich die Beobachterperspektive, auf die uns das empiristische Sprachspiel beschränkt, mit der eines Teilnehmers an kommunikati-ven und gesellschaftlichen Praktiken verschränken, um vergesellschafteten Sub-jekten wie uns den kognitiven Zugang zur Welt zu öffnen. Wir sind Beobachter und Kommunikationsteilnehmer in einer Person.37

Der Zwei-Kulturen-Konflikt wird sich also erst dann befriedigend auflö-sen lassen, wenn man die ihm paradoxerweise innewohnende Tendenz zum Monismus auf einen solchen Dualismus hin überschreitet und die »Vergesellschaftung der Kognition«38 erkennt. Hier wie generell ist für Habermas grundlegend, dass das Ichbewusstsein nicht isoliert, sondern in seiner Einbettung in Kommunikationsprozesse und kulturelle Zusam-menhänge betrachtet werden muss, sodass auch die objektive Beobach-tung der Natur nicht quasi von einem Nullpunkt der Kultur aus möglich ist.

Daraus ergeben sich auch Konsequenzen dafür, was unter Objektivi-tät überhaupt verstanden werden soll:

Die Objektivität der Welt konstituiert sich für einen Beobachter nur zugleich mit der Intersubjektivität der möglichen Verständigung über das, was er vom inner-weltlichen Geschehen kognitiv erfasst. Erst die intersubjektive Prüfung subjekti-ver Evidenzen ermöglicht die fortschreitende Objektivierung der Natur. Darum können die Verständigungsprozesse selbst nicht im Ganzen auf die Objektseite gebracht, also nicht vollständig als innerweltlich determiniertes Geschehen be-schrieben und auf diese Weise objektivierend »eingeholt« werden.39

______________________

36 Habermas, »Freiheit und Determinismus«, S. 873 f. (Anm. 18). 37 Ebd., S. 882. 38 Ebd., S. 886 f. 39 Ebd., S. 883.

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Kurzgefasst heißt das: »Ohne Intersubjektivität des Verstehens keine Ob-jektivität des Wissens«.40 Von hier aus wird auch die Möglichkeit einer Überwindung des Leib-Seele-Problems, also der die gegenwärtigen Ausei-nandersetzungen wesentlich bestimmenden Frage, wie sich die Prozesse im Gehirn und das Bewusstsein zueinander verhalten, sichtbar. Denn Verzahnung von Objektivität und Intersubjektivität heißt auch Folgendes: »Ohne die reorganisierende ›Anbindung‹ des subjektiven Geistes und sei-nes natürlichen Substrats, des Gehirns, an einen objektiven Geist, das heißt an symbolisch gespeichertes kollektives Wissen, fehlen propositiona-le Einstellungen zu einer auf Distanz gebrachten Welt«.41 Sieht man, com-puterbildlich ausgedrückt, das Gehirn als hardware und die Kultur als soft-ware, so scheint »so etwas wie die ›Programmierung‹ des Gehirns durch kulturelle Überlieferungen und gesellschaftliche Praktiken und damit auch eine Interaktion von Geist und Natur«42 nahe zu liegen.

Günter Abel, der in drei aufeinander aufbauenden Studien43 eine all-gemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie entworfen hat, stellt im letzten, zeitgleich mit Habermas’ Aufsatz erschienenen Band Überlegun-gen an, die sich in wesentlichen Teilen mit denen von Habermas decken. Wie dieser stellt Abel in seiner Reflexion über die verschiedenen Formen des Wissens – von denen das (natur)wissenschaftliche nur eine darstellt – die Verschränkung von »Kognition, Kommunikation und Kooperation ([die], wie man es nennen könnte, KKK-Triangulation)«44 heraus. Abels Sichtweise ähnelt Habermas’ Perspektivendualismus darin, dass auch er zwei inkommensurable, aber dennoch nicht voneinander zu trennende Bereiche unterscheidet: einerseits die vor allem in den Natur- und Tech-nikwissenschaften angesiedelte kausale Analyse45 und andererseits die sinn-bezogene Interpretation. Von letzterer erwarten wir uns »die Einordnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Theorien und Forschungsprogrammen in den Kontext eines Weltbildes einer Zeit. Dies verlangt sinnbezogene Deutung und Interpretation, die nicht schon durch die kausale Analyse

______________________

40 Ebd., S. 885. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Günter Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativis-

mus, Frankfurt a.M. 1995; ders., Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a.M. 1999; ders., Zei-chen der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2004.

44 Abel, Zeichen der Wirklichkeit, S. 319 (Anm. 43). 45 Ebd., S. 396: »Entscheidend sind in diesem Bereich Prozeduren wie: das Zerlegen in Teile;

der rekonstruktive Aufbau aus diesen Teilen; die Einordnung der auftretenden Fälle als Fälle von Gesetzen, möglichst von Naturgesetzen; die Vorhersage von Wirkungen aus ge-gebenen Ursachen; eine quantitative Analyse; die möglichst genaue Darstellung der Prozes-se mit Hilfe der Numerik.«

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bzw. kausale Geschichte der materialen Prozesse geliefert ist«.46 Wie Ha-bermas betont auch Abel die Bedeutung der Unterscheidung von Ursa-chen und Gründen und zeigt mit Blick auf die unter dem Schlagwort ›GenEthik‹ gegenwärtig diskutierten Probleme, dass dort, wo es um Gründe geht, d.h. in der Reflexion und öffentlichen Diskussion über diese Themen, andere Prozeduren greifen als in den empirisch-mathematischen Wissenschaften. Dies legt zugleich interessante Rückschlüsse auf die Rolle der Geisteswissenschaften nahe:

Im Unterschied zum Bereich naturwissenschaftlicher Verfahren und Erklärungen sind die Entwicklungen im Bereich der öffentlichen Sinn-Interpretation nach Art nicht-deterministischer, nicht-gesetzesartiger und nicht kalkülmäßiger und in die-sem Sinne ›freier‹ Fortsetzungen unter weltbild-abhängigen und lebensweltlichen Bedingungen der Überlieferung und der Erzeugung von Sinn zu verstehen. [...] In diesem Zusammenhang mit Recht darauf hinzuweisen, dass doch einige der Wis-senschaften, insbesondere die Geisteswissenschaften, nicht durch das Paradigma der ›kausalen Erklärung‹, sondern durch das der Sinn-Interpretation gekenn-zeichnet sind, heißt die Aufmerksamkeit auf die wichtige Rolle der Geistes-wissenschaften hinsichtlich des Verhältnisses von ›Wissenschaft und Öffentlich-keit‹ zu lenken (– auch wenn die Geisteswissenschaften diese Rolle bislang nicht in dem erforderlichen Maße übernehmen bzw. noch nicht übernommen ha-ben).47

Gerade angesichts des abschließenden Monitums soll nun der Frage nach-gegangen werden, was die Literaturwissenschaft im Kontext der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften zu der angesichts der gegenwärtigen Verfasst-heit unserer Kultur besonders virulenten Aufgabe der sinnbezogenen Interpretation beitragen kann.48

Hier liegt es nahe, an den Anfang der vorliegenden Überlegungen an-zuknüpfen: Wenn es zutrifft, dass die Aufsplitterung des Wissens in eine unüberschaubare Vielzahl disparater Inseln gegenwärtig dadurch konter-kariert wird, dass transdiskursive Gegenstände und Verfahren ins Zent-rum der Aufmerksamkeit rücken, so lassen sich vor diesem Hintergrund die Funktion(en) und der Wert der Literatur für unseren gegenwärtigen Wissenshaushalt in hierfür unmittelbar relevanter Weise bestimmen. So hat sich an den Ausführungen zu Lodges Roman gezeigt, dass literarische Texte mit Wissensformen operieren und Erfahrungsangebote machen, die ______________________

46 Ebd., S. 396.47 Ebd., S. 397 f. 48 Dass dies notwendig ist, verdeutlicht auch Lodges Roman: In ihrer Gastrede anlässlich des

Abschlusses eines Neurobiologenkongresses verleiht Helen Reed ihrer Verwunderung Ausdruck: »There has [...] been very little reference made to literature in the proceedings. This I find surprising, because literature is a written record of human consciousness, ar-guably the richest we have.« (S. 316) In dieser Hinsicht ist die von Geyer veröffentlichte Debatte zu Hirnforschung und Willensfreiheit geradezu vorbildlich, da sich hier unter den insgesamt dreißig Beiträgern immerhin zwei Literaturwissenschaftler finden.

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– etwa dort, wo es etwa um die qualitativen Aspekte des Bewusstseins geht – in Bereiche vordringen können, die einem naturwissenschaftlichen Zugriff verborgen bleiben müssen. So verstanden komplementiert Litera-tur durch die ihr eigenen Darstellungsmöglichkeiten anders gelagerte He-rangehensweisen und trägt so zu einem umfassenderen Bild bei. Überdies vermag es die Literatur auch, die Notwendigkeit einer gleichberechtigten Existenz von unterschiedlichen, da mit gänzlich verschiedenen Erkennt-nisinteressen und -gegenständen verbundenen Ansätzen zu verdeutlichen. Literarische Texte wie Lodges Roman können dementsprechend auch ungerechtfertigte Grenzüberschreitungen, wie das von einzelnen Neuro-biologen beanspruchte Welterklärungsmonopol, wohlbegründet kritisie-ren.

In diesem Zusammenhang ist der Umstand von zentraler Bedeutung, dass nicht nur die eingangs angesprochenen Gegenstände und Verfahren, sondern eben auch die Literatur (und hier insbesondere der Roman) inter- bzw. transdiskursiv verfasst ist. Wie etwa Link/Link-Heer gezeigt haben,49

ist Literatur nicht nur ein Spezialdiskurs neben anderen, sondern zugleich eine Art institutionalisierter Interdiskurs, in dem sich eine Vielzahl der unterschiedlichsten Spezialdiskurse durchdringen kann. Dabei ist es vor allem die den Roman kennzeichnende »›Formlosigkeit‹ und die damit ver-bundene Elastizität in der Assimilation fremden Materials«,50 die der von Abel angesprochenen, gegenüber wissenschaftlichen Verfahren freieren Art der Auseinandersetzung in der öffentlichen, auf sinnbezogene Interpreta-tion ausgerichteten Sphäre besonders angemessen erscheint. Gerade weil die Literatur nicht auf bestimmte Gegenstände, Erkenntnisinteressen und Verfahren festgelegt ist, verfügt sie über ein reflexives Potential, das sich wesentlich einem – wie Uwe C. Steiner treffend formuliert – »möglichst umfangreichen Bestand an Möglichkeiten zur Koppelung von Kommuni-kationssequenzen«51 verdankt. Indem sie Räume der Reflexion52 eröffnet, die jenseits spezialdiskursiver Zweckrationalismen und Machbarkeitskal-küle angesiedelt sind, vermag die Literatur einem Orientierungsbedürfnis entgegenzukommen, das auf die »Gewinnung von Bewertungsmaßstäben und daraus folgenden Handlungsvorschlägen für die sich infolge immer raffinierterer Technologien rasch verändernde gesellschaftliche Wirklich-

______________________

49 Vgl. Link/Link-Heer, »Diskurs/Interdiskurs«, S. 93 (Anm. 3). 50 Winfried Fluck, Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans

1790-1900, Frankfurt a.M. 1997, S. 18. 51 Uwe C. Steiner, »Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion bean-

spruchen? Eine Bestandsaufnahme«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71,1 (1997), S. 31.

52 Vgl. Dagmar de Sauvage, Krise der Philosophie im Zeitalter wissenschaftlich-technischer Rationalität,Reinbek 2002, S. 112; sowie Verf., »Jenseits von Einheit und Vielheit«, S. 46 ff. (Anm. 1).

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keit«53 gerichtet ist. Hieran wird auch deutlich, dass die Funktionen und der Wert der Literatur sich nicht über eine bloße Abspiegelung einer wie auch immer verstandenen ›Realität‹ bestimmen lassen. Vielmehr wirkt Literatur auch auf die Lebenswelt bzw. die Sphäre der öffentlichen Kom-munikation zurück, auf die sie sich darstellend bezieht: »something hap-pens to objects, beliefs, and practices when they are represented, re-imagined, and performed in literary texts, something often unpredictable and disturbing«.54 Ähnliches formuliert Jürgen Habermas: »Die ästhetische Erfahrung erneuert [...] nicht nur die Interpretationen der Bedürfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen; sie greift gleichzeitig in die kogniti-ven Deutungen und die normativen Erwartungen ein und verändert die Art, wie alle diese Momente aufeinander verweisen«.55 Gerade auch als »Ex-perimentierfeld zur Exploration eines so noch nicht Gegebenen« kann »Fiktion als ein Überschreiten der Wirklichkeit bzw. des Realen angesehen werden [...], durch das es möglich wird, in probeweiser, von unmittelbaren Handlungskonsequenzen entlasteter Form Gedanken, Gefühlen, Phanta-sien und Erfahrungen Gestalt zu geben, die ansonsten nicht gegenstands- und kulturfähig wären«.56 Nicht nur die Literatur selbst, sondern auch die Literaturwissenschaft als (neben anderem) Metaebene der Reflexion über die Verbindung der Literatur mit anderen Diskursen kann daher einen nicht durch reduktionistische Wirklichkeitsillusionen getrübten Blick auf die Kontingenz der Realitätsentwürfe und die Relativität der Diskurse schär-fen und somit Wesentliches zu der von Habermas und Abel hervorgeho-benen Verzahnung des Bereichs der Ursachen mit dem der Gründe bei-tragen.

»Selbstbewusstsein jenseits der Zwei Kulturen« heißt dann zweierlei. Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand ›Selbstbewusstsein‹ (im Sinne von engl. consciousness) hat sich gezeigt, dass das Verharren in einer Zwei-Kulturen-Sackgasse den Gegenstand nur verfehlen kann und dass erst das Eingeständnis der dem jeweils eigenen Ansatz eingeschriebenen Begren-zungen zu einem angemesseneren Bild führen kann. Folgt man Habermas’ Diktum: »Ohne Intersubjektivität des Verstehens keine Objektivität des Wissens«, so kommt, wie oben gezeigt wurde, der Literatur eine konstitu-tive Bedeutung für die Eröffnung der hierfür erforderlichen Kommunika-tionsspielräume zu. Und damit hängt der zweite Aspekt des Selbstbe-wusstseins jenseits der Zwei Kulturen zusammen. Versteht man ______________________

53 de Sauvage, Krise der Philosophie, S. 153. 54 Stephen Greenblatt, »Culture«, in: Critical Terms for Literary Study, hrsg. v. Frank Lentric-

chia/Thomas McLaughlin, Chicago/London 1995, S. 231. 55 Jürgen Habermas, »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, in: Wege aus der Moderne.

Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hrsg. v. Wolfgang Welsch, Berlin 21994, S. 190. 56 Fluck, Das kulturelle Imaginäre, S. 15 (Anm. 50).

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Selbstbewusstsein diesmal im Sinne von engl. self-confidence, dann heißt dies, dass zu Debatten wie der gegenwärtig in Sachen Bewusstsein und Willens-freiheit anhängigen nicht nur die Naturwissenschaft und die Philosophie, sondern auch die Literaturwissenschaft Gewichtiges beizusteuern hat. Dass es nicht ganz einfach ist, dieser Einsicht Gehör zu verschaffen, ver-deutlicht Lodges Philip Messenger:

»Since the Enlightenment,« he said [...], »science has established itself as the only true form of knowledge. This has created a problem for rival forms – they’ve had to either take it on board, try to make themselves scientific, and run the risk of discovering that there’s no foundation to their conceptual world […] or put their heads in the sand and pretend science never happened […]«. (S. 228 f.)

Umso wichtiger ist es für die Literaturwissenschaft, sich selbstbewusst zu behaupten – jenseits apologetischer Zerknirschung oder liebedienerischer Annäherung an die naturwissenschaftlich-technisch-wirtschaftlichen Rati-onalitätsformen.

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SABINE SIELKE

Science into Narrative, or: Novelties of a Cultural Nature

It is not possible to do the work of science with-out using a language that is filled with metaphors. Richard Lewontin, The Triple Helix

The price of metaphor is eternal vigilance. Alexander Rosenbluth and Norbert Weiner, qtd. in Lewontin

In the late 1950s Thomas Pynchon was not only able to ‘describe’ the Second Law of Thermodynamics, thus calling into question C. P. Snow’s claim that not many “literary intellectuals” would be thus gifted.1 He also made thermodynamics the narrative and structural basis of his story En-tropy (1960) whose title references a concept that became Pynchon’s trademark. In fact, literature has paid little respect to the presumed boundaries between Snow’s “two cultures”. American literature, and post-modern American literature in particular, has always engaged the sciences, and cultural practices like visual and performance art not only thrive on technologies and foster interdisciplinary debates; they also cross the lines between cultural work and natural processes. Likewise, scientists explore the aesthetic dimensions of their enterprises and models, emphasize the creative and contingent nature of scientific discovery, and talk of multiple cultural practices rather than of two cultures. If the division between both nature and culture and aesthetic and scientific practices is contested, thereby opening up a comprehensive understanding of culture and cul-tural studies, how does this affect the forms and functions of (American) fiction? What attracts established novelists to scientific material? Why do scientists write novels? And in what ways does the so-called ‘return of the novel’ relate to the growing significance of scientific endeavors? Focusing on contemporary American fiction, including the work of bestselling au-thors Michael Crichton, Jeffrey Eugenides, and Richard Powers, this essay

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1 C. P. Snow, The Two Cultures: and A Second Look, Cambridge 1963, p. 14-15.

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reengages the status of literature and literary criticism within a cultural studies agenda that interfaces cultures and sciences.

Evolving apocalyptic visions of out-of-control experiments, re-conceiving gender trouble as matter of genetics, and engaging physics’ conceptions of time, these texts engage new forms of knowledge as well as (auto-)production and reproduction, interrogate novel social and eco-nomic formations, appeal to kinds of compassion hitherto unknown, and thereby circumscribe subtle shifts in the American cultural imaginary. Unlike many literary texts of the 1980s and 90s which were preoccupied with individual subject positions and group identities, their late twentieth- and early twenty-first-century literary aesthetics embodies the deep dis-comfort and the excitement of a culture in which the usual mechanisms of securing boundaries and borderlines no longer work. Accordingly, while New Critical approaches transformed literary analysis into a ‘science’ and academic discipline, literary criticism has meanwhile evolved ‘Literature and Science’ as a prominent enterprise. Rather than aiming to represent science as literature, though, I argue, contemporary American fiction aims at translating science into narrative and thereby foregrounds how some scientific endeavors are continuous with literary discourse while others, clearly resisting narrative, are not.

Worlds of Sciences and Literatures, or: What Literature Can Do That Science Can’t and Vice Versa

The debate about the relation between science and literature is as long as the history of these cultural practices. Needless to say, there is no way to account for this history here. However, a brief look at its more recent trajectory allows framing the discussion of the continuities and disconti-nuities between narrative and science as well as the continuities and dis-continuities of this very debate. In this historical framework Snow’s Cold War-argument marks merely a brief, albeit significant moment of a long discussion which provided a ‘sustainable’ frame of reference. This binary frame called for three responses primarily: the first claims that there is but one culture; the second opts for a trinity of cultures; and the third holds that cultures – whether scientific or literary – are always multiple. Most significant here are the specific assumptions about the cultural work of literature each of these responses imply.

Wolf Lepenies’s book Die drei Kulturen (1985) exemplifies the second response. Lepenies takes on Snow’s binarism to take it off into a different direction, thereby in fact taking up Snow’s own sense of “social history”

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“becoming something like a third culture.”2 Situating sociology “between a scientific orientation which has led it to ape the natural sciences and a hermeneutic attitude which has shifted the discipline towards the realm of literature,” Lepenies explores yet another binarism within the history of scientific discourses: the competition between literature and sociology as “key orientation for modern civilization” and “guide to living appropriate to industrial society.”3 While thus deconstructing Snow’s binarism, the author at the same time partly reproduces it by retaining a sense of litera-ture as an ethical (versus analytical) phenomenon situated in the realm of hermeneutics and concerned with wholes rather than parts.

By contrast, those who insist on culture’s “oneness” – a position taken in Matthew Arnold’s much-discussed response to Thomas H. Huxley4 and F. R. Leavis’s rebuttal of Snow as well as in Susan Sontag’s prophetic es-say One Culture and the New Sensibility (1965)5 and George Levine’s One Culture: Essays on Science and Literature (1997) – have resisted the increasing specialization of scientific and scholarly discourses and thus come close to the view that all cultures are multiple. Aimed at bridging the gap that sepa-rates the sciences from other cultures, both first and third response to Snow hold “that science is embedded in culture.”6 Both address the mul-tiple “ways in which sciences fit into their larger cultures,” historically, epistemologically, and philosophically.7 Much of this work refrains from making “truth claims” for literature8 and calls into question the truths projected by the natural sciences. However, those who see cultures as pluralities also privilege a “world of sciences” over both a “world of dif-ferences”9 and “the unity-of-science thesis.”10

In the course of this debate our conceptions of science and our sense of the literary have changed, due in part to the transformation of sciences, literatures, and cultures into discourses. While Arnold considered the ______________________

2 Ibid., p. 70. 3 Wolf Lepenies, Between Literature and Science: The Rise of Sociology, Cambridge 1988, p. 1. 4 In his Rede Lecture Literature and Science (1882) Matthew Arnold famously responded to

Thomas H. Huxley’s Science and Culture (1880), insisting that “knowing the best which has been thought and uttered in the world” included both the “belles letters” and “what has been done by men as Copernicus, Galileo, Newton, Darwin.” (Laura Otis, Literature and Sci-ence in the Nineteenth Century: An Anthology, Oxford 2002, p. 8)

5 Susan Sontag, “One Culture and the New Sensibility,” in: Against Interpretation, New York 1990; One Culture: Essays in Science and Literature, ed. George Levine, Madison 1997.

6 George Levine, “Introduction,” in: One Culture, p. 3-32, here p. 25 (note 5). 7 Sandra Harding/Robert Figueroa, “Introduction,” in: Science and Other Cultures: Issues in

Philosophy of Science and Technology, ed. Sandra Harding/Robert Figueroa, New York 2003, p. 1-11, here p. 4.

8 Cf. Levine, “Introduction,” p. 13 (note 5). 9 Ibid., p. 63. 10 Ibid., p. 64.

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‘best’ of literature a safeguard for civilization we now take literature as one discourse among many others, doing its specific cultural work. On the one hand, this dedifferentiation led us to historicize and renegotiate the domi-nant realist approach to the sciences, “shattering […] myths of disinterest-edness and objectivity.”11 On the other, more recently, the truth-value of literature got reaffirmed. While we can no longer hold that literature tells truth to power, no longer can we claim, as Levine does, that literature holds no truths. Rather literature is currently more and more often recog-nized as a knowledge that is both distinct from and partly continuous with scientific insight.

However, the recent prominence of the term “knowledge production” in the current debate about science and literature attests to a certain circu-larity of the debate about one, two, three, and multiple cultures.12 The idea that literature evolves a particular knowledge is, of course, by no means novel. In fact, literary critics have always legitimized the use value of and their own preoccupation with literature by insisting on the specific poten-tial of the literary. However, Matthew Arnold and T. S. Eliot – Snow’s “archetypal figure” of the literary intellectual13 – also believed that knowl-edge of cultural value is transmitted by select literary master texts only – a discrimination that lives on in the work of Richard Rorty and Martha Nussbaum who have reinvigorated the discussion on the ethics of litera-ture at the price of reinforcing a traditional literary canon. Thus the at-tempt to realign estranged discourses, to deautomatize the disconnection between cultural and scientific registers, risks taking us back to an Ar-noldian normativity.

Such relapse of the debate is impossible, though, if we keep distin-guishing literary texts according to their forms and cultural functions rather than on the basis of their supposed quality and cultural value. This is why, in this context, it may be worthwhile to remember Susan Sontag’s take on the two cultures-debate. As early as 1964 Sontag mapped the ways in which our sense of literature and culture was transforming as we moved from a formalist conception of the arts, informed by the norms of mod-ernist aesthetics, to what she considered the “new sensibility” emerging with 1960s pop art and new media.14 This new sensibility in turn trans-______________________

11 Ibid., p. 17. Cf. Claus Emmeche, “Simulating Life: Postmodern Science,” in: The Garden in the Machine: The Emerging Science of Artificial Life, Princeton 1991, p. 156-166.

12 The term “knowledge production” is by no means new, though. See, for example, Fritz Machlup, The Production and Distribution of Knowledge in the United States, Princeton 1962, a publication which underlines the increasing significance of the term in the so-called infor-mation society and economy.

13 Snow, The Two Cultures, p. 4 (note 1). 14 As Sontag engaged in the two-cultures debate, Snow’s argument was highly significant in

the early debates on postmodernism; cf. Klaus Milich, “Der Streit um ‘die zwei Kulturen’:

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formed literature and, engaging the new media, parts of American fiction underwent a fundamental facelift. More recently, authors like Don De-Lillo, Michael Chabon, and Mark Z. Danielewski, among many others, have taken on the challenges of contemporary visual cultures and interro-gate, in their novels, science and its new technologies, exposing their aspi-rations, potential, and limitations. These inquiries amount to more than “media competition,” though.15 Foregrounding what novels can do that other media can’t16 fictional texts such as Chabon’s Amazing Adventures of Kavalier and Clay (2000) or Danielewski’s House of Leaves (2000) have also managed to reaffirm the continuing significance of print cultures. More important, though, postmodernist cultural practices, including literature, suggest that after having redefined science as discursive, it may be worth our while to attend to the intermedial processes that allow distinct dis-courses to cross-over.

Recalling Sontag’s notion of “one culture” made up of different, yet interdependent media therefore also reminds us that all cultural discourses – be they literary or scientific – are mediations. Neither science nor litera-ture nor sociology presents us life, the world, ‘reality’, or ‘the object’ ‘as it really is’. Nor do they present us ‘the object’ as ‘it really is not’.17 Instead they offer perceptions of the world translated into media and materiality. And while Leavis’s attack on Snow, as Levine points out, was partly “a rejection of the exclusively material orientation of science,”18 it is the very side-stepping of materiality that marks the limit of deconstructivist criti-cism and discourse analysis. A crucial question for both science and liter-ary studies therefore is how materiality translates into discourse.

“It is not possible,” writes zoologist Richard Lewontin, […] to do the work of science without using a language that is filled with meta-phors. Virtually the entire body of modern science is an attempt to explain phe-nomena that cannot be experienced directly by human beings […]. Physicists speak of ‘waves’ and ‘particles’ even though there is no medium in which those ‘waves’ move and no solidity to those ‘particles’. Biologists speak of genes as

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Charles Percy Snow und Matthew Arnold,” in: Die frühe Postmoderne: Geschichte eines europä-isch-amerikanischen Kulturkonflikts, Frankfurt a.M. 1998, p. 59-71.

15 Kirsten Dickhaut, “Intermedialität und Gedächtnis,” in: Gedächtniskonzepte der Literaturwis-senschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, ed. Astrid Erll/Ansgar Nünning, Berlin 2005, p. 203-226, here p. 208.

16 I make reference here to Seymor Chatman’s essay “What Novels Can Do That Films Can’t and Vice Versa” (1980), in: Film Theory and Criticism, ed. Gerald Mast/Marshall Cohen/Leo Bradley, New York 1992, p. 403-419.

17 “Great Moments in Lit. Crit.,” in: Voice Literary Supplement, October 1988. 18 Levine, “Introduction,” p. 11 (note 5).

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blueprints and DNA as ‘information’. Indeed, the entire body of modern science rests on Descartes’s metaphor of the world as a machine.19

Lewontin clearly exposes the limitation of traditional views of both sci-ence and literature. Just as we no longer rely on the belief that literary texts manage to synechdochally grasp a culture’s supposed ‘essence’ we no longer share what Claus Emmeche calls the “realistic intuition” that “sci-ence draws a map of reality, creating a copy, a depiction, that says some-thing about the world as it is, not just as it immediately appears, but as it essentially is.”20 Having “deconstructed […] the naïve view of biology (and of the natural sciences generally) as unmediated depiction,”21 we acknowl-edge that the “price of metaphor” – “eternal vigilance” – is being paid by all of us, regardless of whether we are scientists, literary intellectuals, or fall into some other category. At the same time Emmeche’s use of the term “depiction” also hints that in this context metaphor itself serves as a trope for distinct – verbal, visual, graphic, formulaic, iconic – forms of mediation. Accordingly, our arguments about one, two, three, or multiple cultures have to make way for analyses of ‘multi media’.

From DNA Computation to Nanotechnology:the Biosciences According to Michael Crichton

Taking a “second look” at his two cultures-argument in 1963 Snow “re-gretted” using as his “test question about scientific literacy, What do you know of the Second Law of Thermodynamics?” Instead he “put forward a branch of science which ought to be requisite in the common culture, certainly at school”: molecular biology.22 Unlike thermodynamics, Snow explains, this field “does not involve serious conceptual difficulties” and “needs very little mathematics to understand. […] What one needs most of all is a visual three-dimensional imagination, and it is a study where painters and sculptors could be instantaneously at home.”23 Snow’s change of mind was somewhat prophetic, foreseeing the increasing significance of the biosciences we witnessed at the end of the twentieth century. This rise to prominence may in part result from the fact that unlike the Second Law of Thermodynamics, which is of “universal physical significance” – “a gener-

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19 Richard C. Lewontin, The Triple Helix: Gene, Organism, and Environment, Cambridge 2000, p. 3.

20 Claus Emmeche, “Simulating Life,” p. 157 (note 11). 21 Ibid., p. 162. 22 Snow, The Two Cultures, p. 72-73 (note 1). 23 Ibid., p. 73.

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alization which covers the cosmos” – the new biosciences “deal […] only with microscopic parts of the cosmos” which nonetheless are “of impor-tance to each of us.”24 However, their cultural visibility is partly due to the fact that the biosciences can be narrativized more easily than mathematics and physics. As Sarah Franklin argues, “the power of stories about life itself and its Creation lies in their invocation of a global reach, a universal essence of humanity, a shared, primordial ontology.”25 This power, Frank-lin adds, calibrates itself both at the level of politics, truth, or liberation and as what she calls “the genetic imaginary.”26

Crichton whose novels aim at criticizing “the headlong and furious haste to commercialize genetic engineering”27 and other potentially dan-gerous uses of scientific research, has not only enhanced, but also profited immensely from the visibility of molecular biology and its commercializa-tion. At the same time Crichton’s work is crucial in this context because it has helped to evolve a “genetic imaginary” from “hard sci-fi” storylines28

that are closely proximate to actual scientific plausibility29 and meant to be both educational and ethical. Concluding on a highly conventional note, Jurassic Park (1991) at the same time undercuts the pedagogy, ethical ap-peal, and narrative potential of a highly self-reflexive, intermedial, post-modernist text that suggestively flirts with disaster.30

Both Jurassic Park and Prey (2002) voice a moral concern about the so-called scientific-industrial complex which emerges innovative technologies whose effects are “unpredictable”31 and beyond control. Both novels recontextualize “the Frankenstein tale of humanity overreaching itself”32

as after-the-fact Cold War scenarios by projecting dystopic visions of scientific experiments run awry: In Jurassic Park the multi-millionaire John Hammond, assisted by genetist Dr. Henry Wu and generous Japanese ______________________

24 Ibid., p. 74. 25 Sarah Franklin, “Life Itself: Global Nature and the Genetic Imaginary,” in: Global Nature,

Global Culture, ed. Sarah Franklin/Celia Lury/Jackie Stacy, London 2000, p. 188-222, here p. 197-198.

26 Ibid., p. 198. 27 Michael Crichton, Jurassic Park, New York 1991, p. ix.28 “Time Loops: A Talk with Paul Davies,” in: Edge 77 (31 October 2000), <www.edge.org/

documents/archive/edge77.html>, 7 February 2006. 29 While it is impossible to clone organisms from fossilized DNA which, as Crichton’s palae-

ontologist Alan Grant points out, contains no viable nucleic acid, scientists did, for in-stance, succeed in extracting palaeo-DNA from amber. Cf. Franklin, “Life Itself,” p. 210 (note 25).

30 Cf. ibid., p. 210. 31 Michael Crichton, Prey, New York 2002, p. x.32 James J. Miracky, “Replicating a Dinosaur: Authenticity Run Amok in the ‘Theme Parking’

of Michael Crichton’s Jurassic Park and Julian Barnes’s England, England,” in: Critique: Studies in Contemporary Fiction 45:2 (2004), p. 163-71, here p. 164.

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investors, establishes a dinosaur theme park on an island off the coast of Costa Rica. The “real animals” populating the park are cloned, using computerized gene sequencers, from palaeo-DNA, a genetic code ex-tracted from insects trapped in fossilized amber after feeding on dinosaur blood and repaired, where necessary, with DNA-fragments from extant and distant avian, reptilian, and amphibian species. Neither the dinosaurs in their complex ecosystem nor the humans with their individual invest-ments in the park can be kept under control, though, and the experiment turns catastrophic when female dinosaurs, programmed to be sterile, begin to reproduce, wreck the park, and escape beyond its supposedly secure borders. Likewise, in Prey a military-funded attempt to design surveillance micro-robots from nanoparticles goes dreadfully wrong when a swarm of particles is released into the Nevada desert and develops intelligent behav-ior.

Even though neither Prey nor Jurassic Park fail to get their point across, Crichton provides us with supplementary introductory sections that either precede the actual narrative, as in Prey, or are part of it, as in Jurassic Park.In the latter the author reassesses the “biotechnology revolution” insti-gated by the deciphering of DNA. Bemoaning that Watson and Crick’s “discovery” was not “selflessly extended to the greater benefit of man-kind,” but “had become a vast, multibillion-dollar commercial undertak-ing,”33 the narrator in pseudo-journalistic fashion distinguishes this revo-lution from “past scientific transformations” as being “broad-based,” producing “thoughtless or frivolous” research, and engaging in “uncon-trolled” work.34 Employing the term “control” as chapter head through-out Jurassic Park, the narrative proper ironically echoes this plea for “co-herent governmental policy”35 and highlights that, in nature as in narrative, control is hard to come by.

In an age of cloning our sense of nature, of course, is no longer what it used to be; neither is our notion of narrative. Sarah Franklin clear-headedly restates the major shift inaugurating the genomic era: “In sum, we arrive at a simple sequence: nature becomes biology becomes genetics, through which life itself becomes reprogrammable information.”36 The understanding of living organisms as “information-processing systems”37

is the very metaphor that enables Crichton’s dystopic tale of a theme park ______________________

33 Crichton, Jurassic Park, p. x (note 27). 34 Ibid., p. ix-x. 35 Ibid., p. x. 36 Franklin, “Life Itself,” p. 190 (note 25). 37 Stephanie S. Turner, “Jurassic Park Technology in the Bioinformatics Economy: How

Cloning Narratives Negotiate the Telos of DNA,” in: American Literature: A Journal of Liter-ary History, Criticism, and Bibliography 74:4 (2002), p. 887-909, here p. 887.

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inhabited by ‘animals’ whose chromosomal make-up, hormonal system and (non)reproductive behavior are programmed entirely in a laboratory. Thus Crichton’s dinosaurs are not ‘real’, not even on the level of fiction; they are metaphoric embodiments of this metaphor. More than that: “In the digital logic of the computer data-base,” writes Stephanie Turner, “the universal language of life-as-molecular carries on in a post-vital mode, self-possessed and self-perpetuating, conducting some business of its own with no apparent mediation. Jurassic Park embodies this digital molecular vision of life.”38

Jurassic Park’s supplementary introduction thus not only hints at the novel’s own complicity in the developments it bemoans. “There are no detached observers,” we can read. “Everybody has a stake [in the com-merce of biotechnology]”39 – and Crichton certainly does. By conjuring up the “commercial climate” of a ‘real world’ in need of control, the novel also, somewhat prematurely, questions the very telos of DNA its narrative is based upon, including the mistaken assumption that the cloning of di-nosaur DNA replicates the dinosaur “much as a photocopy machine re-produces an image.”40 Lewontin calls it “bad biology” to assume that an organism may be computed from the complete DNA sequence “because the organism does not compute itself from its genes.”41 He considers the computer “just a trendy form of Descartes’s metaphor of the machine. And like any metaphor,” he concludes, “it catches some aspect of the truth but leads us astray if we take it too seriously.”42 Instead he points to a growing body of evidence

[…] that demonstrates that the ontogeny of an organism is the consequence of a unique interaction between the genes it carries, the temporal sequence of external environments through which it passes during its life, and random events of mo-lecular interactions within individual cells. It is these interactions that must be in-corporated into any proper account of how an organism is formed.43

By projecting a sense of life as a spontaneous force which resists codifica-tion Jurassic Park actually undoes the paradoxical notion of DNA as both code-script and self-possessed agent. Since this force comes up with (quite literally) ‘familiar’ patterns of organization, though, Crichton’s text still shies away from affirming the full potential of the ‘genetic imaginary’ his narrative projects.

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38 Ibid., p. 899-900. 39 Crichton, Jurassic Park, p. x (note 27). 40 Turner, “Jurassic Park Technology,” p. 888 (note 37). 41 Lewontin, The Triple Helix, p. 17 (note 19). 42 Ibid., p. 38. 43 Ibid., p. 17-18.

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At the same time his novel displays a high degree of narrative ambigu-ity and intermediality. Circumscribing the end-of-the-millennium com-mercialization of genetic engineering as a “scientific gold rush,”44 the narrator initially sets the stage for a novel that appeals to a nineteenth-century realist, if not naturalist aesthetics; and in some sense the novel’s dystopic determinist drive echoes the dominant dynamics of naturalist texts. What follows, however, is a postmodernist text that – unlike its cinematic adaptation “which put […] the invisibility of cinematic produc-tion at a premium”45 – flaunts its own discursiveness. Representing in print DNA sequences, graphics, curves, algorithms, computer codes as well as statistics ‘printed’ on computer screens the text foregrounds that molecular biology is a kind of “meta-biology,” “a reductive, information-theoretical idiom,” “a new language for analysing nature.”46 How then can the text – employing the insights of recent science and chaos theory to project a dystopic simulated future – return us to “a solid sense of reality,” as James J. Miracky claims it does?47

Rather, I would suggest, Crichton’s narrative, making accessible cur-rent bioscientific research through science “tours,”48 characters’ cross-investigations, and science lessons shot-gunned into a first-person narra-tive (as in Prey), asserts a control that chaos theory deems impossible. Like Hammond’s dinosaurs which, as Wu has it, taking his cue from Henry James, are “the real thing,” yet still appear “unsatisfactory,” “unconvinc-ing,” in need of improvement49 to become, in the words of Crichton’s chaos theorist Ian Malcolm, “more natural than the real thing” and pass as entertainment,50 Crichton’s tale improves upon science and chaos theory so that they qualify as scripts for a techno-thriller with a happy end.

“[C]haos theory teaches us,” Malcolm explains, […] that straight linearity, which we have come to take for granted in everything from physics to fiction, simply does not exist. Linearity is an artificial way of viewing the world. Real life isn’t a series of interconnected events occurring one after another like beads strung on a necklace. Life is actually a series of encoun-ters in which one event may change those that follow in a wholly unpredictable, even devastating way. […] That’s a deep truth about the structure of our uni-verse. But, for some reason, we insist on behaving as if it were not true.51

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44 Crichton, Jurassic Park, p. ix (note 27). 45 Franklin, “Life Itself,” p. 200 (note 25). 46 Edward Yoxen, qtd. in: ibid., p. 189. 47 Miracky, “Replicating a Dinosaur,” p. 166 (note 32). 48 Crichton, Jurassic Park, p. 92-110 (note 27). 49 Ibid., p. 121. 50 Ibid., p. 133. 51 Ibid., p. 171.

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Dismissing analogies between life and “beads strung on a necklace”, the chaos theorist resists the common simplifications of the double helix. Interrogating our favor for linearity he also hints that the so-called central dogma of molecular biology – the unidirectional flow of “information” from DNA to RNA52 – put forth by Crick in 1958 was called into ques-tion by the discovery of reverse transcription.53 In this way, though, the text acknowledges that, first, we are offered a simplified version of chaos theory – after all, physics and fiction have long moved beyond privileging linearity; and, secondly, the novel only seems to sympathize with the in-sights of chaos theory. Nowhere do we witness, for instance, experiments with self-replicating strings of codes and computational ecologies com-mon in the field of artificial intelligence and geared to make unimagined processes emerge spontaneously.54

While Crichton’s novel toys with the fascination involved in relin-quishing control over creative processes, his text clearly resists the “let-go-and-it-will-blossom” attitude of “panic ecology.”55 Instead of imagining the unimaginable, the narrative allows for little spontaneity and follows the dystopic path mapped in its introductory passages while also setting up chaos theory – with a considerable dose of parody – as yet another meta-fictional truth-claim competing with other belief systems over the status of ultimate authority. Patterned as seven “iterations” authored by mathematician Malcolm, Jurassic Park traces the “decreation” of the world as a process that, like the two strands in the DNA-model, is anti-parallel to Genesis. Likewise Prey follows death and destruction – of companies, lives, “everything”56 – through the events of seven consecutive days.

Ironically representing chaos theory as yet another creation narrative, Crichton’s novel privileges a sense of life as a self-organizing power that resists the Second Law of Thermodynamics and triumphs over chance and indeterminacy. While Malcolm’s prophecy proves correct – due to an unforeseeable recombinance on the dinosaurs’ genes a “transsexual switch occurs” allowing the (potentially hermaphroditic) dinosaurs to repro-duce57 – this mutation not only revitalizes the very institutions that greedy ______________________

52 Cf. Franklin, “Life Itself,” p. 189 (note 25). 53 Cf. Hans-Jörg Rheinberger, “Changing Fates of Virus: Medical History, Agriculture, Mo-

lecular Biology,” in: The Body as Interface: Dialogues between the Disciplines, ed. Sabine Sielke/Elisabeth Schäfer-Wünsche, Frankfurt a.M. 2007, p. 203-218.

54 Speeding up these ‘organisms’’ mating and mutation rates, such experiments produce behavioral patterns which evolution may have taken millions of years to generate. Nigel Clark, “Panic Ecology: Nature in the Age of Superconductivity,” in: Theory, Culture & Soci-ety 14:1 (1997), p. 77-96, here p. 88.

55 Ibid., p. 92. 56 Crichton, Prey, p. 363 (note 31). 57 Clark, “Panic Ecology,” p. 77 (note 54).

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interventions into the natural order had put at risk: reproductive hetero-sexuality and the family. In this way Crichton’s narrative also (re-)-naturalizes institutions that more recently have been demolished as out-dated hetero-normative cultural constructions. This order, the novel seems to suggest, in which we are rid of bad guys such as Hammond and Wu, becomes the ‘natural way’ of viewing the world.

Crichton’s text thereby affirms, albeit ironically, Paul Rabinow’s pro-phetic vision of “a truly new type of autoproduction” emerging from the new genetics which he labels “biosociality”:

If sociobiology is culture constructed on the basis of a metaphor of nature, then in biosociality, nature will be modelled on culture understood as practice. Nature will be known and remade through technique and will finally become artificial, just as culture becomes natural. Were such a project to be brought to fruition, it would stand as the basis for overcoming the nature/culture split.58

As a result of this development, Franklin points out, the relation of cul-ture and nature not only becomes inverted, culture providing a model for, rather than succeeding nature. The increasing “isomorphism between nature and culture” also removes “the nature-culture axis from linear time.”59 Hav-ing opened – with much irony – vistas onto such realignments of culture and nature, the novel finally leaves us ‘cliff-hanging’ in a spatial and tem-poral limbo, in “a lovely country” where nobody “was going anywhere.”60

“Sing now, O Muse, of the recessive mutation of my fifth chromosome!”: Jeffrey Eugenides’s Middlesex (2002)

I was born twice: first, as a baby girl, on a remarkably smogless Detroit day in January of 1960; and then again, as a teenage boy, in an emergency room near Pe-toskey, Michigan, in August of 1974. Specialized readers may have come across me in Dr. Peter Luce’s study, “Gender Identity in 5- -Reductase Pseudoher-maphrodites,” published in the Journal of Pediatric Endocrinology in 1975. Or maybe you’ve seen my photograph in chapter sixteen of the sadly outdated Genetics and Heredity. That’s me on page 578, standing naked beside a height chart with a black box covering my eyes.61

This is how Eugenides’s much-celebrated novel Middlesex opens, a novel whose explorations of the “art/science interface” catapulted the text into

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58 Paul Rabinow, “Artificiality and Enlightenment: From Sociobiology to Biosociality,” in: The Science Studies Reader, ed. Mario Biagioli, New York 1999, p. 407-16, here p. 411.

59 Franklin, “Life Itself,” p. 195 (note 25). 60 Crichton, Jurassic Park, p. 399 (note 27). 61 Jeffrey Eugenides, Middlesex, New York 2002, p. 3.

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the review section of the renowned British Medical Journal.62 The text oscil-lates between first- and third-person narration to relate the story of Caliope Stephanides who at the advent of puberty becomes Cal, thus, like Tiresias, “was first one thing and then the other.”63 As this phrase sug-gests, Eugenides’s text interrogates binarisms without intending, though, to level, undo, or supplement them by a third term or gender. Exploring in-between positions the narrative rather complicates oppositions which, pertaining to gender identities and scientific thought alike, structure our perceptions and beliefs. In ways that are as humorous as they are “Ho-meric”64 and horrific at times the novel foregrounds how much energy is wasted in attempts to disambiguate matters and matter. Ultimately, Middle-sex opts for neither “either/or” nor “both” nor the “third” – which “was always,” we can read, “special, exalted, endowed with mystical gifts.”65 It favors one, the other, and a third “thing,” each at its own particular time. Time travel, in Eugenides’s novel, works by way of intertextuality and shifting points of view, ranging from a first-person account of life as per-ceived from the womb to an omniscient and ironically distanced third-person perspective on “evolutionary biology.”66

In the novel’s first paragraph the narrator evidently plays on the con-ventions of realist fiction and autobiography. At the same time he dis-misses verisimilitude, claiming all in all three “births” on page one. Cir-cumscribed as a third “birth” is the narrator’s growing desire, at the age of forty-one, to remember the departed kins of his “inbred family.”67 While the transformation from first to second self requires forgetting,68 the third rebirth is an act of memory practice which integrates fragments of family history, traces the “roller-coaster ride of a single gene through time” and takes off into poetic amplitudes on page two.

Sing now, O Muse, of the recessive mutation on my fifth chromosome! Sing how it bloomed two and a half centuries ago on the slopes of Mount Olympus, while the goats bleated and the olives dropped. Sing how it passed down through nine generations, gathering invisibly within the polluted pool of the Stephanides fam-ily. And sing how Providence, in the guise of a massacre, sent the gene flying again; how it blew like a seed across the sea to America, where it drifted through

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62 John Quin, “Review of Middlesex by Jeffrey Eugenides,” in: British Medical Journal, 26 Octo-ber 2002, p. 975.

63 Eugenides, Middlesex, p. 3 (note 61). 64 Ibid., p. 4. 65 Ibid., p. 495. 66 Ibid., p. 538. 67 Ibid., p. 4. 68 Ibid., p. 556.

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our industrial rains until it fell to earth in the fertile soil of my mother’s own mid-western womb. Sorry if I get a little Homeric at times. That’s genetic, too.69

Legitimizing his proneness to lyricisms as a “genetic” disposition, the narrator ironically references the fact that for some time now, as Lewontin underlines, “[e]very physical, psychic, or social ill, every perturbation of the body corporeal or politic [has been] said to be genetic.”70 Modern developmental biology, he explains, “is framed entirely in terms of genes and cell organelles,” while environment provides merely “a set of enabling conditions that allow the genes to express themselves.”71 Regaining domi-nance after a short-lived emphasis on environmental factors, this model has “powerful consequences” for the ways in which manifest variation among organisms is accounted for. “Reinforced by the observation that some human disorders result from mutation of clearly defined genes, nearly all human variation is now ascribed to genetic differences.”72 Insist-ing on the significance of “developmental noise,” of contingent processes that lead, for instance, to the formation of random connections between neurons in the course of brain development,73 Lewontin himself calls this binarism into question.

Eugenides retraces the predominance of genetic conceptions of indi-vidual development to the sense of fate and necessity that informs Greek mythology whose sense of determinism, he claims, “currently recurs in a different form. We believe in preordination by genetic make-up, we feel determined by the synapses in our brain and forget the power of our his-tories.”74 Calling his text a “novelistic genome,” determined by the inheri-tance of great traditions of storytelling in part one while appropriating the modernity of the psychological novel in part two,75 Eugenides at the same time flaunts his text’s literary determination. We are thus misled if we take his “mock epic” as simply breaching the conception of a “synaptic self”76

or interpret the initial ironies in Middlesex as suggesting that “[s]cience is our new mythology”77 and thus in dire need of deconstruction. Nor should we expect his book to offer a plea for nurture over nature. Rather ______________________

69 Ibid., p. 4. 70 Richard C. Lewontin, “Women Versus the Biologists,” in: New York Review of Books, 4 April

1994, p. 31-35, here p. 31. 71 Lewontin, The Triple Helix, p. 5 (note 19). 72 Ibid., p. 16. 73 Ibid., p. 38. 74 Eugenides, qtd. in Bert Rebhandl, “So fälscht man heute Epen,” in: Der Standard, 24 April

2004, p. 33. 75 Eugenides, qtd. in Sieglinde Geisel, “Ein Roman als Genom?,” in: Neue Zürcher Zeitung, 5

September 2003, p. 35. 76 Joseph LeDoux, Synaptic Self: How Our Brains Become Who We Are, New York 2002. 77 Levine, “Introduction,” p. 8-9 (note 5).

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Eugenides seems to amplify what Lewontin calls “developmental noise.” Caliope turns Cal exactly during that short-lived phase when the theory that “chromosomal status” can be “completely overridden by rearing”78

paved the way to fame for Dr. Luce’s Sexual Disorders and Gender Iden-tity Clinic. Hailed “the world’s leading authority on human hermaphrodi-tism,”79 Luce advises Caliope to stick to her “sex of rearing”80 and un-dergo surgery – a path that Caliope refuses to take. When friends and kins confirm that Caliope’s transformation into Cal has not affected the per-son, gender loses a large part of its supposed significance while the impor-tance of sexual difference gets reaffirmed.

Moreover, Eugenides enlarges the scope of intertextual determinacy by allowing non-literary noise to resonate throughout his text. Next to Foucault’s edition of the diary of Herculine Barbin,81 his narrative is in-debted to a research article on pseudohermaphroditism published in 1992.82 The report presents and discusses the results of a study of Do-minican men affected by a 5 -reductase deficiency (5-ARD). The latter term refers to an autosomal recessive, sex-limited condition occurring in remote, incestuous societies and resulting in the decreased ability to con-vert testosterone to the physiologically more active dihydrotestosterone (DHT). Since DHT is required for ‘normal’ masculinization of the exter-nal genitalia, genetic males with 5-ARD are born with ambiguous, severely feminized external genitalia, yet have normal male internal structures. While this research article is exclusively concerned with the physical ef-fects of a specific genetic defect (on tissue and size of the prostate, for instance), thus with an analysis of how an enzyme deficiency translates into a particular phenotype, Eugenides’s Dr. Luce claims that the physical ambivalence between internal (invisible) and external (visible) structures gets overridden by culture and nurture.83

Having its narrator metamorphose from female (external/gender) to male (internal/sex), Eugenides’s novel suggests that neither position ap-plies exclusively; instead both modes of non-identity are given their par-ticular time. The case of Cal/iope thus also rewrites the story of Hercu-line/Abel Barbin who, having lived until the age of 20 as a girl and young woman, was forced, by court order, to forget her history and change her ______________________

78 Eugenides, Middlesex, p. 474 (note 61). 79 Ibid., p. 460. 80 Ibid., p. 465. 81 Michel Foucault/Herculine Barbin, Über Hermaphrodismus, Frankfurt a.M. 1998. 82 Julianne Imperato-McGinley et al., “Prostate Visualization Studies in Males Homogygous

and Heterozygous for 5 Reductase Deficiency,” in: Journal of Clinical Endocrinology and Me-tabolism 55:4 (1992), p. 1022-26.

83 Eugenides, Middlesex, p. 411 (note 61).

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name, her clothes, her profession. What did not work for Barbin (who committed suicide) works well for Cal/iope (who is reborn as Cal). Re-combining – or splicing – scientific knowledge with Greek mythology Eugenides’s novel interrogates the spectre of “true sexual identity” and celebrates indeterminacy and “sexual ‘non-identity’.”84 The text thus inter-feres with both a biologized sense of self and a current cultural politics that downplays the impact of ‘nature’ and considers ‘sexual identity’ pri-marily a matter of performativity and style. Breathing life into a genetic mutation Middlesex ridicules both the trust in science and the naïveté per-taining to trans- or intergender identity politics which tends to downplay the many humiliations persons of ambiguous genders have to bear in the course of a lifetime. In this way the narrative also exposes the mutability of the sciences’ own perspectives and politics and as a result the change-ability of our conceptions of ‘nature’. On the basis of this proneness to metamorphosis, this resistance to determinisms, Middlesex suggests, sci-ence, myth, and subjectivity intersect.

“Of course there is no time”: Richard Powers’sThe Time of Our Singing (2002)

In his essay Democracy and Time, William E. Connolly makes reference to Sheldon Wolin’s article What Time Is It? which “contends that the homo-geneous, slow time appropriate to a democratic politics of place has been overwhelmed by several ‘zones of time’ moving at different tempos.” As “‘[e]conomy’ and ‘culture’ now move at a breakneck pace” political time, moving at the more “leisurely” pace of deliberation, has become out of sync.85 Like Connolly’s essay Richard Powers’s novel The Time of Our Sing-ing (2002)86 complicates distinctions of different “time zones” by insisting on the fact that, as Connolly has it, “[t]hinking, culture, identity, and ethics are stratified processes, involving relays and feedback loops between lay-ers of being operating at different capacities and speed.”87 Unlike Con-nolly, though, who promotes a “positive ethos of pluralism,”88 an “arts of

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84 Dorothea Dornhoff, “Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht? Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft – transgendered?” <http://www.culture.hu-berlin.de/dd/Wahres-Geschlecht.html>, 21 March 2006.

85 William E. Connolly, “Democracy and Time,” in: Neuropolitics: Thinking, Culture, Speed,Minneapolis 2002, p. 140-174, here p. 141.

86 Richard Powers, The Time of Our Singing, New York 2004. 87 Connolly, “Democracy and Time,” p. 141 (note 85). 88 Ibid., p. 142.

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the self,”89 and a sense of democracy as a state of becoming, dependent on our willingness to take paths opening up by rifts in time,90 Powers pushes no future politics. Rather, he situates his characters at the cross-roads, the folds, and forks of time that music and physics evolve as di-verse, yet intersecting, self-absorbing, yet communal cultural practices. Like Crichton, in his 1999 novel Timeline, Powers employs physics’ con-ceptions of time to make his protagonists travel across historical trajecto-ries. Whereas Crichton’s personnel gets stuck in the past, though, Pow-ers’s heroes orchestrate a colorblind space beyond time instead.

In Powers’s novel arts and sciences are not so much synchronized or analogous, but folded around one another just as past, present, and future fold into, curve back, and loop around each other in a narrative replete with flashbacks and foreshadowing. The novel which opens in “Decem-ber 1961,” ends in a return to the chance meeting of the narrator’s par-ents, Delia and David, and in-between these moments curves as far back as the 1840s91 while focusing on the 1930s to 1990s, performs a time travel in the course of which the narrative not only calls into question both traditional and revisionary notions of American history and cultural memory. Like the cognitive sciences Powers’s novel acknowledges the significance of forgetting which enables memory’s primary function: to deal with tasks in the present that may enable the future. “Memory re-quired forgetting everything, especially the hope of recall.”92

Representing conceptions of time in fiction The Time of Our Singing also foregrounds what Powers considers the common ground of the sciences and humanities – their narrativity93 – while at the same time exposing both the limits of this analogy and the arts’ particular strengths. Whereas the novel or any other narrative genre such as drama and film travels back and forth in time easily, we cannot travel across time as we travel in space. Unlike travel into the future, which due to time-stretching effects may indeed occur, journeys into the past, according to Einstein’s general the-ory of relativity, are deemed possible. So far, though, physics has not come up with scenarios more plausible than Kurt Gödel’s idea of the rotating universe, David Deutsch’s notion of multiple realities, or the conception of the wormhole.94 Books, however, as Powers writes in Gala-

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89 Ibid., p. 170. 90 Ibid., p. 170-71. 91 Powers, The Time of Our Singing, p. 72-73 (note 86). 92 Ibid., p. 549. 93 Cf. Christoph Schröder, “‘Wir spielen Schöpfer’. Richard Powers über Schattenflucht, seinen

historischen Roman aus dem Cyberspace,” in: Frankfurter Rundschau, 22 June 2002, p. 32. 94 On the possibilities of time travel see “Time Loops” (note 28).

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tea 2.2., conceive of “places we cannot get to,”95 no matter whether they theorize physics or present imagined lives. Accordingly, Powers takes the reader into time-spaces where, metaphorically speaking, the power of gravity attracts light and time becomes relative indeed. And as he interro-gates the novel’s narrative potential through conceptions of time, he also reconceptualizes the genre.

Featuring the German Jewish émigré scientist David Strom (“Da”), professor of quantum mechanics working on issues of time, Powers’s novel thus not merely opens up, on the level of histoire, a “world […] ripe with German-speaking refugees, safely abroad in their various democra-cies, busy overthrowing space and time,”96 among them Einstein who, as David Strom has it, “wants to kill the clock” which “[q]uantum needs;”97

Kurt Gödel who discovered “loopy timelike lines hiding in Einstein’s field equations;” and Hoyle, Bondi, and Gold who “hunch[ed] that new galax-ies poured through the gaps between old ones, like weeds crumbling the universe’s crumbling concrete.”98 The text also foregrounds, on the level of discourse, how fiction as a narrative genre cannot help but create “a world composed of asymmetries of pace,”99 thus conducting its own time travel experiments.

Moving along the more than 600 pages of the paperback edition of The Time of Our Singing, the reader witnesses a black-Jewish family who had Einstein over for music nights100 while themselves performing what is, throughout the book, labelled an “experiment.” The term refers more generally to the intermarriage between David Strom and Delia Daley, a woman of African American descent – a daring commitment which not only rifts Delia from her family, but eventually makes her subject to a deadly crime of racism. Most experimental, though, is the couple’s project to raise their children Jonah, Joseph, and Ruth in a space-time “beyond race,” taking a leap of faith not so much into the future, but into utopia, into a space beyond time, a space that does not simply evolve, but de-pends on the loops in time-space that both music and theoretical physics create. Singing, the mixed-race wunderkind Jonah Strom eventually “’d gotten beyond not only race,” as the narrator, his brother Joseph, tells us. “He’d gotten beyond being anything at all.”101

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95 Richard Powers, qtd. in Michael Schmitt, “Experimente am lebendigen Objekt. Der ameri-kanische Schriftsteller Richard Powers,” in: Neue Zürcher Zeitung, 14 April 2001, p. 49-50.

96 Powers, The Time of Our Singing, p. 11 (note 86). 97 Ibid., p. 89. 98 Ibid., p. 11. 99 Connolly, “Democracy and Time,” p. 141 (note 85). 100 Powers, The Time of Our Singing, p. 522 (note 86). 101 Ibid., p. 596.

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Even before Joseph was born, his mother knew that music proves that “[o]f course there is no time,” a certainty presented to us when we loop back to the past at the end of the novel. “Of course there’s nothing but standing change,” Delia insisted. “Music knows that, every time out.”102 If not for the part on music this claim comes close to the argu-ment made in The End of Time (1999) whose author Julian Barbour calls into question Einstein’s concept of space-time continuum while aiming to solve a crucial paradox of modern science, the chasm between classical and quantum physics – a paradox David Strom ponders till the very end of his life. While, according to Richard Wolfson, the problem of “how to merge general relativity and quantum physics into a consistent theory” has not been solved, even though there are hints “of how the quantum realm might influence relativity,”103 for Barbour, the unification of Einstein’s general relativity with quantum mechanics means little less than the end of time.104 As Powers’s novel capitalizes on change, it explores the end of time as a space approximate to the end of racism.105 The narrative opts for such radical positions in part because in a society as racialized as the United States “[t]here was no middle place to stand.”106 Accordingly, Jo-nah Strom “simply stopped breathing” the very moment we may think he is finally on the beat, in sync with US-American racial politics evolving around the Rodney King trial.107 Seemingly stuck in a past of classical tunes muted by Jazz or Hip-Hop, Jonah was always ahead of his time, beyond time as we know it. Accordingly, the narrator realizes: “We were our brother’s future. But he wasn’t ours.”108

For the Strom family the act of singing – not in unison, but improvi-sational, embracing different time zones by “Crazed Quotations”109 from multiple histories of music – became a way to interfere with the traditional notions of time as either a cyclical, repetitive slow motion or a teleological and linear progression.110 Singing was a way of “tearing open the fabric of ______________________

102 Ibid., p. 629. 103 Richard Wolfson, Simply Einstein: Relativity Demystified, New York 2003, p. 236.104 Cf. Julian Barbour, The End of Time: The Next Revolution in Our Understanding of the Universe,

London 1999. 105 While the 1990s may have brought about ‘the end of race’, as has been argued, the end of

racism is an altogether different matter and affords more than the deciphering of the hu-man genome.

106 Powers, The Time of Our Singing, p. 512 (note 86). 107 Ibid., p. 615. 108 Ibid., p. 615. 109 Ibid., p. 13. 110 On these conceptions of time, cf., for instance, Connolly, “Democracy and Time,” p. 143

(note 85). On memory for music, cf. John Sloboda, Exploring the Musical Mind: Cognition, Emotion, Ability, Function, Oxford 2005.

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space-time,”111 allowing for gaps, rips, forks, branchings off in what common conceptions of temporality veil as a constant movement. Singing Rossini, Handy, Gilbert and Sullivan, and Bach, “[t]hey crawled through loopy timelike holes in the evening, five lines braiding in space, each one curling back on the other, spinning in place.”112 “Singing, they were no one’s outcasts,” “they headed upriver into a sooner saner place,” engaging in a “game” that “allowed liberties,”113 fearing not “difference,” but “be-ing lost in likeness.”114

Evidently, Powers’s novel does not conduct “experiments on a living object,” testing scientific insight on its characters, as Michael Schmitt sug-gests. Nor does the author move science “from the laboratory into life.” Instead his novels underline that such distinctions do not hold, that life is the lab and vice versa. “In an up-tempo world,” Connolly claims calling on Nietzsche, “people readily become more ‘cocky’, experimental, and improvisational. That is, they become more democratic and less fixed and hierarchical” and “more alert to how ‘accidents, moods and caprice’ have already shaped them.”115 It is in this way that chance and forces of gravita-tion impact on Powers’s fiction. David Strom escaped the Nazis by twists and turns in his professional life that “[e]ven the most confirmed determi-nist must call […] caprice” and that the physicist himself accounted for as “a luck even blinder than theory.”116 Likewise he meets his future wife in what appears an inescapable pull of gravity that forces the unlikely prox-imity, during a concert on the Mall in Washington, D. C., of two people who are not meant to mix, yet who share the passion for sounds of music that transgress lines of segregation.

Accordingly, while Powers’s novel, on the one hand, projects singing as a preliminary ‘inscape’ from racism for David’s new, in many ways paradigmatically multicultural and yet ‘untimely’ American family – a space where time has ended – the text, on the other hand, frequently rephrases the atrocities of history in terms of bad science: “The shimmer of tens of thousands of bodies, humanity broken down to atoms, an electrostatic n-problem beyond any mathematics’ ability to solve, panics [David Strom] with its groundless physics.”117 In turn, arguments in science such as the “damn paradox” between quantum mechanics’ faith that “[a]ll things may

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111 Powers, The Time of Our Singing, p. 41 (note 86). 112 Ibid., p. 11. 113 Ibid., p. 13. 114 Ibid., p. 630. 115 Connolly, “Democracy and Time,” p. 157 (note 85). 116 Powers, The Time of Our Singing, p. 41 (note 86). 117 Ibid., p. 42.

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change, but time remains the same”118 and thermodynamics’ attempt “to kill the clock”119 are projected as “the dirty little secret of physics,” as “[a] big family fight in public.”120 Rewriting well-worn tropes such as the “dirty little secret”121 and multiplying kinds of kin, Powers’s text hints that the current revitalization of the family novel aims less at reaffirming the family than at renegotiating modes of proximity and belonging.122

Powers’s fiction may indeed be “unimaginable” without the impact of the “hard sciences,” as Schmitt claims. Reassessing science as a fundamen-tal dimension of our cultural imaginary and as an avant-garde cultural practice, though, Powers also takes the edges off the sciences’ supposed hardness. Yet, even though science, in The Time of Our Singing, translates into music and history and vice versa, this does not mean that it commu-nicates easily. If Snow projected populist notions of “literary intellectuals,” the literary intellectual Powers certainly pays him back. His protagonist David Strom – “professor of phantom mechanics” to his wife123 – strikes the reader as the prototypical scientist who communicates his ideas in “hostage symbols,”124 a figure “lost in scientific mumbo jumbo,”125 a “hopeless foreign man who can’t watch over anything smaller than a galaxy” and thus attracts people who willingly watch over him.126 “Who knows what the man means?” the narrator wonders,127 conceiving of his father as a story teller from “out there beyond the Crab Nebula,”128 “better than a science-crazed comic book, Astounding Stories, Forbidden Tales. He came from a stranger place, and the pictures he drew were even more fantastic.”129

Each one of the siblings learns what “the man means” in his or her own time, long after Da’s time has run out. Disconnected from her father,

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118 Ibid. p. 88. 119 Ibid., p. 89. 120 Ibid. p. 89. 121 The trope of the ‘dirty secret’ recalls the imagery slavery evolved as well as the metaphor

Crichton employs (“Hammond’s dirty little secret”) in his follow-up novel to Jurassic Park,The Lost World (1995), to project the second island, developed after Jurassic Park and its habitat had been bombed and destroyed. Cf. Turner, “Jurassic Park Technology,” p. 890 (note 37).

122 On this issue see, for instance, Heinz Ickstadt, “Geschichte als Familienepos: Tendenzen des US-amerikanischen Gegenwartsromans,” in: Die US-amerikanische Gesellschaft im Spiegel ihrer zeitgenössischen Literatur, ed. Hans-Peter Burmeister, Rehburg-Loccum 2003, p. 11-26.

123 Powers, The Time of Our Singing, p. 11 (note 86).124 Ibid., p. 291. 125 Ibid., p. 301 126 Ibid., p. 524. 127 Ibid., p. 88. 128 Ibid., p. 301. 129 Ibid., p. 11.

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Ruth felt even “more brutally orphaned” by his death-bed message130

which bluntly informed her that “there’s another wavelength everyplace you point your telescope.”131 As she repeats this phrase to her son Robert,132 she eventually comes to share the insight that time is relative and difference abounds, making life a “complex polyphony.”133 And as Jonas clips from the New York Times a feature on scientists’ explorations of “how time began,” he is certain to have received a “[m]essage from Da, from beyond the grave.”134 Neither characters nor readers need to work out the exact physics, though. It suffices to see that physics happens eve-rywhere, in the passing of time as in the emotions we live, as when “Da paces […] in a wide, close loop”135 or “particles decay, irreversibly, all over [his] face.”136

Conceiving of David Strom’s work space as a “cave”137 and thus re-engaging Plato’s parable – a trope central to Powers’s novel Plowing the Dark (2000) – the text goes beyond exposing the scientist’s sense of the real as projection and instead reassesses Plato’s trope of truth. Preoccu-pied with paradoxical conceptions of time, Powers’s physicist Strom com-plicates Plato’s sense of light and evolves paradox itself as a central figure of truth. The paradoxical insight at the heart of Powers’s novel is that in a universe governed by change and relativity the future cannot be built on originality and novelty, but requires us to engage with the past. Jonah’s music teacher Lois Helmer “was a good two decades ahead of her time” insisting on the significance of precision over warmth when it came to “Early Music”: “The sparer the line, the greater the lift. For energy was also proportionate,” the narrator explains, “to lightness squared.”138 As the best known equation – the mass-energy equivalence, e=mc² – trans-forms into narrative, physics and music become close kins indeed.

Jonah’s singing finds “the freshness of always, of almost,” we can read. “He made that vast backward step sound like a leap ahead.”139 In this way Jonah Strom is kin to Mozart whose rediscovery of Bach, according to Powers, enabled the composer to create “a new third world” from two apparently incompatible worlds: “classicism and baroque melt into a ______________________

130 Ibid., p. 567. 131 Ibid., p. 566. 132 Ibid., p. 627. 133 Ibid., p. 25. 134 Ibid., p. 615. 135 Ibid., p. 291. 136 Ibid., p. 304. 137 Ibid., p. 89. 138 Ibid., p. 25. 139 Ibid., p. 529.

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Science into Narrative, or: Novelties of a Cultural Nature 377

proto-romanticism,” Powers claims, “the future finds its space at a place where it had once been.”140 Music, for Powers, evolves from distinct cul-tural contexts while also reminding us that creation is never complete. Style, he claims, is not a mark of difference, as modernism held; “in music it is the way in which time speaks to itself.”141 Movements in style destroy in order to recreate and thus take us back to places we deemed long lost and left behind.

The same may be said of The Time of Our Singing itself. The novel steps backward into a time-space where blackness means music and whiteness means racism while at the same time recognizing the many shades in the spectrum between black and white and introducing us to figures whose color blind gaze peeps into a utopian future. Making us familiar with an African American prodigy, the novel may support Lewontin’s claim that some cultural differences are indeed natural without necessarily being genetic. “I am certain that even if I had studied the violin from the age of five,” Lewontin admits, “I could not play a Paganini caprice as Salvatore Accardo does.” Like Lewontin who insists on “the undoubted existence of random nerve connections to variation in specific characteristics like musical ability,”142 Powers’s novel celebrates randomness and chance. Like Crichton’s and Eugenides’s texts, Powers’s narrative acknowledges that just as “straight linearity” – no matter whether it exists or does not exist in either fiction or physics – randomness remains a trope, a node at which distinct discourses cross over, affirming both their kinship and the distinct knowledges they transport.

In concluding I would thus like to rephrase my initial thesis: Contempo-rary American fiction translates the media of science into written narra-tives and thereby foregrounds how some scientific models and metaphors are continuous with literary discourse while others, clearly resisting narra-tive and writing, are not. At the same time, what becomes evident in the reading of these texts is that contemporary novels are not only driven by a resistance of science to narrative and writing. The aesthetic forms they take also suggest that the so-called ‘return of the novel’ is informed by the increasing prominence of particular scientific inquiries and its models. Contemporary American literature thus calls for more radically transdisci-plinary readings while also exposing the limits of transdisciplinarity.

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140 Richard Powers, “Meer der unbegrenzten Möglichkeiten,” in: Profil, 28 November 2005, p. 143-145, here p. 145.

141 Ibid., p. 145. 142 Lewontin, The Triple Helix, p. 38 (note 19).

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Anhang

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Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Robert S. April ist praktizierender Neurologe in New York City und Assistant Professor of Neurology an der Medizinischen Fakultät der New York University. Er hat zahlreiche Aufsätze zum Zusammenhang von Medizin und Literatur, insbesondere zu Émile Zola, publiziert.

Aurélie Barjonet, geb. 1975, wurde 2007 in einem Co-tutelle-Verfahren in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universi-tät des Saarlandes und an der Université de Paris III-Sorbonne Nouvelle mit einer Arbeit zu Émile Zola promoviert. Forschungsschwerpunkte: Zola, Flaubert, zeitgenössische französische Literatur. Veröffentlichungen in diesen Bereichen, oft in deutsch-französischer Perspektive.

Gérard Dessons, geb. 1949, ist Professor für Französische Literatur an der Université de Paris VIII. Veröffentlichungen u.a.: L’odeur de la peinture(Paris 1987), Introduction à l’analyse du poème (Paris 1991), Émile Benveniste(Paris 1993), Introduction à la poétique. Approche des théories de la littérature (Pa-ris 1995), L’art et la manière (Paris 2004), Émile Benveniste, l’invention du dis-cours (Paris 2006) sowie zahlreiche Aufsätze zur französischen Literatur.

Betül Dilmac, geb. 1978, ist Lehrassistentin am Romanischen Seminar der Universität Freiburg. Magisterarbeit: Die Vermischung von literarischem und wissenschaftlichem Diskurs bei Michel Houellebecq (Mannheim 2006). Sie arbeitet derzeit an einer Dissertation zum Thema Literatur und moderne Physik.

Stefan Glomb, geb. 1963, ist akademischer Oberrat am Anglistischen Seminar der Universität Mannheim. Schwerpunkt in Forschung und Leh-re: englische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen u.a.: Erinnerung und Identität im britischen Gegenwartsdrama (Tübingen 1997); mit Stefan Horlacher (Hrsg.), Beyond Extremes. Repräsentation und Reflexion von Modernisierungsprozessen im zeitgenössischen britischen Roman (Tübingen 2004).

Werner Helmich, geb. 1941, ist Professor für Romanistische Literatur-wissenschaft an der Universität Graz. Veröffentlichungen u.a.: Die Allegorie

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Autorinnen und Autoren 382

im französischen Theater des 15. und 16. Jahrhunderts, I: Das religiöse Theater (Tü-bingen 1976), Der moderne französische Aphorismus. Innovation und Gattungsre-flexion (Tübingen 1991); als Hrsg.: Manuscrit La Vallière (Genève 1972), Moralités françaises, 3 Bde (Genève 1980), C. Rosso, La Maxime, Neuaufl. (Bologna ²2001), Poetologische Umbrüche. Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus (München 2002), U. Schulz-Buschhaus, Das Rezensionswerk (Tü-bingen 2005), U. Schulz-Buschhaus, Das Aufsatzwerk – eine digitalisierte Gesamtausgabe, http://gams.uni-graz.at/usb/ (2007); Aufsätze und Rezen-sionen zur französischen, italienischen und spanischen Literatur.

Eckhard Höfner, geb. 1944, ist Professor für Vergleichende Literaturwis-senschaft und Medienforschung an der Universität Frankfurt/Oder. Ver-öffentlichungen u.a.: Literarität und Realität. Aspekte des Realismusbegriffs in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts (Heidelberg 1980), als Hrsg.: Er-zählte Welt. Studien zur Narrativik in Frankreich, Spanien und Lateinamerika(Frankfurt a.M. 1996), Politia litteraria (Glienicke/Berlin 1998) sowie zahl-reiche Aufsätze, insbesondere zum Verhältnis von Wissenschaft und Lite-ratur bei Borges, Flaubert, Sciascia u.a.

Jochen Hörisch, geb. 1951, war von 1982 bis 1988 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Düsseldorf und ist seit 1988 Profes-sor für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mann-heim. Veröffentlichungen u.a.: Die fröhliche Wissenschaft der Poesie (Frankfurt a.M. 1976), Gott, Geld und Glück (Frankfurt a.M. 1983), Die Wut des Verste-hens. Zur Kritik der Hermeneutik (Frankfurt a.M. 1988), Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls (Frankfurt a.M. 1992), Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes (Frankfurt a.M. 1996), Theorie-Apotheke (Frankfurt a.M. 2004), Gott,Geld, Medien (Frankfurt a.M. 2004), Das Wissen der Literatur (München 2007).

Thomas Klinkert, geb. 1964, Professor für Romanistische Literaturwis-senschaft an den Universitäten Mannheim (2003 bis 2007) bzw. Freiburg (seit 2007). Veröffentlichungen u.a.: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard (Tübingen 1996), Lektüren des Todes bei Marcel Proust (Köln 1998), Einführung in die französische Literaturwissenschaft (Berlin 2000, 42008), Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Studien zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäi-schen Romantik (Freiburg 2002) sowie Aufsätze zur französischen, italieni-schen und vergleichenden Literaturwissenschaft.

Christian Kohlroß, geb. 1963, ist Oberassistent für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mannheim; seit 2006 vertritt er die Walter-

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Autorinnen und Autoren 383

Benjamin-Professur am Franz-Rosenzweig-Institut der Hebräischen Uni-versität Jerusalem. Veröffentlichungen u.a.: Theorie des modernen Naturge-dichts. Oskar Loerke, Günter Eich, Rolf Dieter Brinkmann (Würzburg 2000), Literaturtheorie und Pragmatismus oder die Frage nach den Gründen des philologi-schen Wissens (Tübingen 2007) sowie Aufsätze zu folgenden Themen: Lite-rarische Epistemologie, Literaturtheorie, Sprachphilosophie, Ästhetik, Georg Büchner, Geschichte der Lyrik.

Barbara Kuhn, geb. 1962, ist Professorin für Romanistische Literaturwis-senschaft an der Universität Konstanz. Veröffentlichungen u.a.: À la re-cherche du livre perdu. Der Roman auf der Suche nach sich selbst. Am Beispiel von Michel Butor: „La modification“ und Alain Robbe-Grillet: „La jalousie“ (Bonn 1994), Mythos und Metapher. Metamorphosen des Kirke-Mythos in der Literatur der italienischen Renaissance (München 2003), Verfehlter Dialog oder versuchter Dia-log? Zeitgenössischer Roman, Literaturwissenschaft und Erinnerungskunst. Zu Yas-mina Rezas „Une désolation“ und Antonio Tabucchis „Si sta facendo sempre più tardi“ (Konstanz 2006) sowie Aufsätze zur französischen und italienischen Literatur.

Monika Neuhofer, geb. 1972, war bis 2006 wissenschaftliche Mitarbeite-rin am Romanischen Seminar der Universität Mannheim und ist zur Zeit Lehrbeauftragte an der Universität Salzburg. Veröffentlichungen u.a.: „Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé“. Jorge Sempruns literarische Auseinander-setzung mit Buchenwald (Frankfurt a.M. 2006), Vom Zeugnis zur Fiktion. Reprä-sentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945(hrsg. zus. mit Silke Segler-Messner u. Peter Kuon, Frankfurt a.M. 2006) sowie Aufsätze zur französischen Literatur.

Heike Schäfer unterrichtet als wissenschaftliche Assistentin amerikani-sche Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Mannheim. Veröffentlichungen u.a.: Mary Austin’s Regionalism: Reflections on Gender, Genre, Geography (Charlottesville 2004), America and the Orient (Heidelberg 2006) sowie Aufsätze zur amerikanischen Literatur. Zur Zeit arbeitet sie an einer Studie zum Verhältnis von Unmittelbarkeit und Medialität in der amerikanischen Literatur seit der Romantik.

Sabine Sielke, geb. 1959, ist Professorin für Literatur- und Kulturwissen-schaft Nordamerikas und Leiterin des Nordamerikastudienprogramms, des German-Canadian Centre und des Forums Frauen- und Geschlechter-forschung der Universität Bonn. Veröffentlichungen u.a.: Reading Rape (Princeton 2002), Fashioning the Female Subject (Ann Arbor 1997) sowie die (Ko-)Editionen The Body as Interface (Heidelberg 2007), Gender Talks

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Autorinnen und Autoren 384

(Frankfurt a.M. 2006), amerikanische post:moderne (2003), Der 11. September 2001 (Frankfurt a.M. 2002), Making America (Heidelberg 2001) und Engen-dering Manhood (Amerikastudien 43,4, 1998).

Uwe C. Steiner, geb. 1963, ist Hochschuldozent für Neuere deutsche Literatur, Kultur und Medien an der Universität Mannheim. Veröffentli-chungen u.a.: Die Zeit der Schrift. Die Vergänglichkeit der Gleichnisse und die Krisen von Zeit, Schrift und Subjektivität bei Hofmannsthal und Rilke (München 1996), Verhüllungsgeschichten. Die Dichtung des Schleiers (München 2006); als Hrsg.: Edmund Husserl (München 1997; Reihe: Philosophie Jetzt!, hrsg. v. Peter Sloterdijk). Aufsätze und Vorträge zur Kulturwissenschaft, Medien-wissenschaft, zur Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (u.a. zu Goethe, Stifter, Kafka, Handke, Strauß).

Niels Werber, geb. 1965, ist Privatdozent für Deutsche Philologie und Medienwissenschaften an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen u.a.: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermes-sung der medialen Weltraumordnung (München 2007), Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation (München 2003), Raum. Wissen. Macht (Hrsg., Frankfurt a.M. 2002), Kommunikation. Medien. Macht (Hrsg., Frankfurt a.M. 1999), Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer poly-kontexturalen Literaturwissenschaft (Hrsg., Opladen 1995), Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation (Opladen 1992) sowie litera-tur-, medien- und kulturwissenschaftliche Aufsätze und Zeitungsveröf-fentlichungen.

Anke Wesser, geb. 1978, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romani-schen Seminar der Universität Mannheim. Magisterarbeit: Spielformen der Intermedialität im filmischen Werk von Pedro Almodóvar (Mannheim 2003). Zur Zeit arbeitet sie an einer Dissertation zum Thema Bild intermedial. Intermedi-ale Transformationsprozesse in Film und Literatur in Frankreich und Spanien.

Weertje Willms, geb. 1969, ist Privatdozentin für Vergleichende Literatur-wissenschaft an der TU Berlin. Veröffentlichungen u.a.: Die Suche nach Lö-sungen, die es nicht gibt. Gesellschaftlicher Diskurs und literarischer Text in Deutschland zwischen 1945 und 1970 (Würzburg 2000), Männlichkeits- und Weiblichkeitskon-strukte und Geschlechterbeziehungen in der deutschen und russischen Romantik (E.T.A. Hoffmann – Caroline Auguste Fischer, Therese Huber – Nikolaj Gogol’, Vladimir Odoevskij – Marija Žukova, Elena Gan, Karolina Pavlova) (Habilitationsschrift Berlin 2005, erscheint voraussichtlich 2009), Postsozialistische Männlichkeiten in einer globalisierten Welt (hrsg. zus. mit Sylka Scholz, Münster 2008) sowie Auf-sätze zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft.

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Personenregister

Abel, Günter: 350, 351, 353 Accardo, Salvatore: 377 Adelung, Johann Christoph: 132, 248 Adorno, Theodor W.: 58, 112, 210 Agamben, Giorgio: 119 Agassiz, Louis: 221 Agrippa d’Aubigné, Théodore: 58 Albers, Irene: 208 Albert, Hans: 143, 163 Allemann, Beda: 32 Andreasen, N. C.: 97, 104, 109 Anz, Thomas: 94, 107, 109 Apel, Karl-Otto: 163 Apollinaire, Guillaume: 61, 64 Aristoteles: 46, 54, 55, 60, 279, 307, 313 Arndt, Ernst Moritz: 121, 178 Arnold, Matthew: 14, 337, 338, 357, 358, 359 Asch, Laurie: 106, 109 Asmuth, Bernhard: 245 Assmann, Jan: 278 Augustinus: 319 Aurora, Vincent: 310 Austen, Jane: 31 Austin, John L.: 4, 53, 54 Bach, Johann Sebastian: 374, 376 Bachmeier, Helmut: 336 Backes, Detlef: 298, 299, 300, 301, 302, 310 Bacon, Francis: 143, 145 Baer, Karl Ernst von: 135, 136 Baguley, David: 211 Baille, Jean-Baptistin: 192 Balke, Friedrich: 123 Balmer, Heinrich H.: 109 Balzac, Honoré de: 1, 5, 69, 75, 76, 86, 139,

156, 171, 203, 205, 208, 213, 256, 258, 275, 278, 280, 281, 283, 294, 295

Barbey d’Aurevilly, Jules: 155 Barbin, Herculine: 369, 370 Barbour, Julian: 373 Baroja, Pío: 129, 136, 162, 163, 257, 258, 259,

271 Barthes, Roland: 201 Basilio, Kelly: 216 Bauby, J. D.: 185

Baudelaire, Charles: 58, 59, 130, 156, 163 Baumann, Kurt: 310 Becker, Colette: 193, 194, 202, 216 Beckett, Samuel: 60, 345 Bedel, Jean: 169 Beer, Gillian: 234, 235 Belinskij, Vissarion: 92, 109 Bellamy, Edward: 170 Benet, Juan: 259 Benjamin, Walter: 68, 245, 251 Bennington, Geoffrey: 328 Béranger, Pierre-Jean de: 62 Bergson, Henri: 199, 200 Bering, Kunibert: 249 Bernard, Claude: 7, 131, 134, 138, 139, 143,

144, 147, 152, 153, 154, 157, 159, 160, 161, 162, 163, 171, 172, 177, 193

Bernecker, Walther L.: 286 Bertalanffy, Ludwig von: 144 Bessière, Jean: 194 Beti Sáez, Iñaki: 256, 270, 271 Biagioli, Mario: 366 Bichat, Marie François Xavier: 130 Bioy Casares, Adolfo: 79, 80, 84 Bizub, Edward: 1 Black, D. W.: 97, 104, 109 Blumenberg, Hans: 30 Bohr, Niels: 13, 294, 298, 300, 301, 302, 304,

310 Bohrer, Karl Heinz: 313, 326, 329, 333 Bölsche, Wilhelm: 159, 164 Boltzmann, Ludwig: 131, 138 Borges, Jorge Luis: 1, 6, 12, 13, 65, 76-86, 128,

132, 164, 317, 318 Borie, Jean: 199 Born, Jürgen: 239 Börne, Ludwig: 123 Bouhours, Dominique: 57 Bourdieu, Pierre: 195 Bourget, Paul: 197 Boyd, Brian: 224, 235 Boydston, Jo Ann: 236 Boyer, Denis: 258 Brandom, Robert B.: 3, 24, 28, 30, 31

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Personenregister 386

Brandstetter, Gabriele: 1 Braun, Christina von: 336 Braun, Martin: 215 Brecht, Bertolt: 132, 142 Breton, André: 257 Brink, Lars: 73 Broch, Hermann: 128, 132 Brockmeier, Peter: 209 Brod, Max: 247 Broglie, Louis-Victor de: 298 Brown, Richard: 135 Brownlow, Jeanne P.: 269 Brück, Michael von: 328 Brunetière, Ferdinand: 197 Buber, Martin: 186 Büchler-Hauschild, Gabriele: 117 Büchner, Georg: 6, 89-95, 98, 104, 106, 107,

108, 205 Buckley, Ramón: 259 Bude, Heinz: 44 Buet, Charles: 155 Buffon, Georges: 275, 280 Bunge, Mario: 78 Bürger, Christa: 210 Bürger, Peter: 210 Burmeister, Hans-Peter: 375 Burroughs, John: 222 Busch, Wilhelm: 246 Bush, George W.: 223, 236 Butler, Judith: 112 Butler, Samuel: 78, 79 Byron, Lord: 69 Calvino, Italo: 1, 2, 12, 76, 128, 132, 260, 271 Canguilhem, Georges: 136, 139, 164 Capuana, Luigi: 163 Carles, Patricia: 212 Carlyle, Thomas: 78, 79 Carnap, Rudolf: 146 Carus, Carl Gustav: 138 Cassirer, Ernst: 10, 237, 247 Céard, Henri: 170, 206

echov, Anton: 316, 329 Celan, Paul: 32 Chabert, George: 310 Chabon, Michael: 359 Chaix d’Est-Ange, Gustave Louis: 59 Champfleury (eig. Jules François Félix

Husson): 130, 156 Charcot, Jean Martin: 178, 179, 185, 186 Charle, Christophe: 194, 195, 198, 199, 202 Charpa, Ulrich: 164 Chatman, Seymor: 359 Chiari, Pietro: 317

Clarétie, Jules: 185 Clark, Nigel: 365 Clark, Suzanne: 221 Clarus, Johann: 92 Claudel, Paul: 61 Colet, Louise: 69 Compton, Arthur Holly: 298 Comte, Auguste: 8, 131, 133, 139, 147, 150,

154, 160, 164, 167, 168, 169, 171-175, 177, 310, 337

Connolly, William E.: 370, 372, 373, 374 Corbin, Alain: 138 Cortanze Gérard: 278 Cortázar, Julio: 76 Corti, Egon Caesar: 287 Coussot, Anne: 311 Crane, Stephen: 221 Crawford, Robert: 1 Crichton, Michael: 15, 355, 360-366, 371, 375,

377 Crick, Francis: 365 Croy, Kate: 347 Cskiszentmihalyi, Mihalyi: 250 Cummings, Edward Estlin: 61 Cuvier, Georges: 69, 275 D’Annunzio, Gabriele: 67 Dahan-Gaida, Laurence: 297, 306, 307, 308,

311 Danielewski, Mark Z.: 359 Danneberg, Lutz: 1, 165 Dante Alighieri: 156, 171, 175 Danto, Arthur C.: 153, 164 Darolles, M.: 184 Darré, Walter: 119, 120, 121 Darwin, Charles: 7, 9, 10, 139, 147-153, 158,

164, 178, 195, 196, 219-227, 234, 235, 236, 348, 357

David-Sauvageot, A.: 155 Davidson, Donald: 32 Davies, Paul: 361 De Laveleye, E.: 188 Decker, Natalja: 91, 94, 109 Déjérine, Jules: 170, 178, 179 Del Giudice, Daniele: 2, 76, 128 Deleuze, Gilles: 53, 117, 118, 213, 304 Delibes, Miguel: 255 DeLillo, Don: 359 Demetz, Peter: 251 Derrida, Jacques: 44, 52, 53, 304 Descartes, René: 22, 42, 363 Desgranges, Béatrice: 212 Desroches, Henri: 200 Dessons, Gérard: 55, 216

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Personenregister 387

Deutsch, David: 371 Dewey, John: 9, 10, 219-236 Dickhaut, Kirsten: 359 Dickstein, Morris: 236 Diderot, Denis: 136, 137 Dilthey, Wilhelm: 337, 346 Dion, Robert: 311 Doré, Kim: 297, 308, 309, 311 Dornhoff, Dorothea: 370 Dostoevskij, Fedor Michailovi : 1 Dreiser, Theodore: 221 Dreyfus, Alfred: 169, 175, 178, 180, 195 Driesch, Hans: 152 Dubois, Jacques: 216 Duffin, Jacalyn: 174, 175 Dufour, Philippe: 216 Dumas, Alexandre: 183 Dürr, Hans-Peter: 318 Dürrenmatt, Friedrich: 128, 132 Eça de Queiroz, José Maria: 156 Echevarría Ferrari, Arturo: 78 Eco, Umberto: 132, 146, 160, 164, 211, 212,

214, 283 Eichendorff, Joseph von: 10 Einstein, Albert: 72, 130, 298, 318, 371, 372,

373 Elias, Norbert: 314 Eliot, T. S.: 358 Elleg rd, Alvar: 164 Elsner, Norbert: 1 Emery, Elizabeth: 36 Emmeche, Claus: 358, 360 Engdahl, Horace: 74 Engels, Eve-Marie: 165 Engels, Friedrich: 187, 188, 203 Engler, Winfried: 192, 311 Erll, Astrid: 359 Ertler, Klaus-Dieter: 67 Eßbach, Wolfgang: 10, 242 Essler, W. K.: 143 Ette, Ottmar: 78, 80, 83 Eugenides, Jeffrey: 15, 355, 366-370, 377 Eysenck, Hans-Jürgen von: 163, 164 Fernández Santos, Jesús: 258 Fichte, Johann Gottlieb: 4, 42, 44, 47 Figueroa, Robert: 357 Finke, Franz: 112 Fischer, Ernst Peter: 301, 311, 338 Fischer-Lichte, Erika: 245 Flaubert, Gustave: 1, 5, 69, 75, 76, 86, 130,

131, 156, 157, 161, 170, 256 Fleisch, Edgar: 237 Fleury, Maurice de: 170

Fluck, Winfried: 352, 353 Flusser, Vilém: 238 Föcking, Marc: 1, 69, 131, 137, 164, 199, 212,

213, 214, 215, 257 Fohler, Susanne: 243 Fontane, Theodor: 113 Foscolo, Ugo: 68, 317 Foucault, Michel: 9, 22, 92, 109, 153, 164, 207,

208, 211, 212, 214, 215, 269, 304, 369 Fourier, Charles: 8, 170, 175, 176, 177, 181,

182, 187, 210 Franco, Francisco: 274 Franklin, Sarah: 361, 362, 364, 365, 366 Franz, Thomas R.: 257, 259 Fressard, Jacques: 258 Freud, Sigmund: 10, 89, 94, 109, 185, 237 Freund, Winfried: 245 Freytag, Gustav: 7, 111-124 Frick, Werner: 1 Friese, Heidrun: 327, 328, 333 Gadamer, Hans-Georg: 58, 311 Gadda, Carlo Emilio: 259 Gaillard, Françoise: 202 Galilei, Galileo: 143, 145, 151, 357 Geertz, Clifford: 49 Geisel, Sieglinde: 368 Genette, Gérard: 78 Geoffroy Saint-Hilaire, Étienne: 69, 139 George, Stefan: 58 Gerrig, Richard J.: 346 Gethmann, C. F.: 165 Geuss, Raymond: 19 Geyer, Christian: 141, 341, 351 Gide, André: 67 Gilbert, Jean: 374 Gilmour, Robin: 337 Glomb, Stefan: 335 Gödel, Kurt: 371, 372 Goethe, Johann Wolfgang von: 1, 3, 32, 35,

36, 37, 43, 44, 76, 89 Gogol’, Nikolaj: 6, 89-93, 101, 104, 108, 109 Goncourt, Edmond und Jules: 156, 213, 256 Góngora, Luis de: 259 Gorrochategui, Pedro: 256 Gourmont, Rémy de: 155 Goytisolo, Juan: 255, 260 Graevenitz, Gerhart von: 249 Grave, Jean: 170 Greenblatt, Stephen: 353 Greiner, Ulrich: 39 Gribbin, John: 311 Griffiths, Robert: 13, 303-307, 310, 311 Grimm, Hans: 120

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Personenregister 388

Gross, David: 73 Guattari, Félix: 53, 117 Guazzoni, Enrico: 285 Guermès, Sophie: 199 Guise, René: 206 Gumbrecht, Hans Ulrich: 1, 9, 113, 207, 208,

209, 210, 211, 212, 214, 215 Günther, Gotthard: 237 Gutenberg, Johannes: 37 Habermas, Jürgen: 14, 24, 44, 146, 340, 348-

351, 353 Haeckel, Ernst: 131, 153 Haghebaert, Elisabeth: 311 Halbwachs, Maurice: 278 Hamon, Philippe: 170, 201 Händler, Ernst-Wilhelm: 16 Handy, William Christopher: 374 Harding, Sandra: 357 Hardt, Michael: 117 Harth, Helene: 1, 164 Haslam, John: 6, 91, 109 Hasselbach, Karlheinz: 107, 109 Haushofer, Karl: 117, 124 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 4, 41, 44-52,

61, 68, 128, 202 Heidegger, Martin: 11, 58, 247, 249 Heine, Heinrich: 123 Heinrich von Orléans: 287 Heisenberg, Werner: 13, 294, 298, 300, 302,

304, 310, 311 Heitmann, Klaus: 206 Heller, Felisa L.: 263 Helmholtz, Hermann von: 129, 134, 138, 148,

149, 150 Helmlé, Eugen: 257 Heraklit: 319 Herschel, John F.: 153 Hertz, Gustav: 151 Herzl, Theodor: 186 Heyse, Paul: 245 Hickman, Larry A.: 236 Hilbert, David: 297 Hildesheimer, Wolfgang: 4, 39 Hitler, Adolf: 119, 120 Hodge, Jonathan: 236 Hoffmann, E. T. A.: 89 Hofmannsthal, Hugo von: 11, 246 Höfner, Eckhard: 1, 78, 127, 128, 139, 153,

160, 164, 165, 215 Hölderlin, Friedrich: 58, 68 Hopkins, William: 149 Hörisch, Jochen: 42, 112 Houellebecq, Michel: 1, 2, 12, 13, 76, 293-312

Howard, June: 221, 236 Hügli, Anton: 346 Hugo, Victor: 61, 62 Hülk, Walburga: 195 Hull, David L.: 165 Hume, David: 144 Huntington, Samuel: 124 Huret, Jules: 198 Hürlimann, Thomas: 245 Husserl, Edmund: 346 Hutcheon, Linda: 283, 284 Huxley, Thomas Henry: 14, 337, 338, 357 Huysmans, Joris Karl: 202 Ickstadt, Heinz: 375 Imperato-McGinley, Julianne: 369 Introvigne, Massimo: 165 Irle, Gerhard: 93, 98, 103, 109 Iser, Wolfgang: 165, 342 Jacoby, Russell: 186 Jaeger, Friedrich: 336 Jahraus, Oliver: 43 Jakobson, Roman: 60 James, Henry: 343, 346, 364 Jauß, Hans Robert: 214 Jean Paul (eig. Johann Paul Friedrich Richter):

3, 37, 245 Jeffers, Robinson: 10, 228-230, 234, 236 Jelinek, Elfriede: 74, 75 Jerez-Farrán: Carlos: 258 Jitrik, Noé: 78 Joerges, Bernward: 10, 242 Joyce, James: 259, 343 Juan y Tous, Pere: 257 Juan-Navarro, Santiago: 78, 80 Jurt, Joseph: 195, 206 Kafka, Franz: 10, 11, 76, 77, 237-252, 297 Kaiser, Elke: 1, 160, 165, 213, 214 Kämpfer, Jean: 212 Kant, Immanuel: 4, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 76,

129, 130 Kapp, Ernst: 122 Kaspryk, Andrew: 109 Kästner, Ingrid: 109 Kautenburger, Monika Dorothea: 214 Keller, Gottfried: 3, 37, 38 Kimminich, Eva: 164 King, Rodney: 373 Kinnebrock, Werner: 311 Kittler, Friedrich A.: 39 Kittsteiner, Heinz Dieter: 165 Kleinschmidt, Erich: 123 Kleist, Heinrich von: 3, 4, 19-33 Klinkert, Thomas: 67, 68, 127

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Personenregister 389

Klotz, Volker: 244, 245, 246, 248 Knickerbocker, Dale F.: 263 Koch, Robert: 138 Kolkenbrock-Netz, Jutta: 202 Konersmann, Ralph: 237 Kopernikus, Nikolaus: 357 Korte, Barbara: 336 Korthals Altes, Liesbeth: 311 Kraepelin, Ernst: 91 Kraft, Victor: 146 Kristeva, Julia: 263 Kropotkine, Pierre: 170 Kuczynski, Jürgen: 9, 205, 215 Kuhn, Thomas S.: 129, 165 Kupfermann, Fred: 284 Küpper, Joachim: 9, 201, 207, 208 Kurz, Gerhard: 24 Laaths, Erwin: 120, 121 Labanyi, Jo: 255, 264, 267, 268 Lacan, Jacques: 50, 263, 304 Laclos, Choderlos de: 317, 331 Laennec, E. T. H.: 174, 175 Lafargue, Paul: 203 Laforgue, Jules: 5, 61-64 Laín Entralgo, Pedro: 268 Lakatos, Imre: 143, 146 Lamarck, Jean-Baptiste de: 130, 135, 160 Laplace, Pierre-Simon: 150, 152 Latour, Bruno: 10, 11, 242, 249, 250 Lattre, Alain de: 195, 209 Lazarus, Moritz: 249 Leavis, F. R.: 14, 338, 357, 359 Lebesgue, Henri Léon: 297 Leconte de Lisle, Charles Marie René: 156 LeDoux, Joseph: 368 Leduc-Adine, Jean-Pierre: 216 Leeker, Joachim: 311 Lehr, Thomas: 128 Leibniz, Gottfried Wilhelm: 151 Lentricchia, Frank: 353 Léonard, Jacques: 179 Leopardi, Giacomo: 68, 319 Lepape, Pierre: 293, 311 Lepenies, Wolf: 131, 164, 198, 215, 280, 356,

357 Leroy, Géraldi: 195 Levinas, Emmanuel: 322 Levine, George: 357, 358, 359, 368 Lewontin, Richard: 355, 359, 360, 363, 368,

369, 377 Libet, Benjamin: 339, 345 Linde, Hans: 10, 242 Link, Jürgen: 106, 109, 335, 352

Link-Heer, Ursula: 106, 109, 206, 335, 352 Lodge, David: 14, 335-354 Lombroso, Cesare: 140, 163 London, Jack: 222 Long, William: 222, 236 Lotman, Jurij M.: 165, 213 Lübbe, Hermann: 313 Lucas, Prosper: 134, 136, 137, 169, 178, 196,

213 Lucheni, Luigi: 287 Luhmann, Niklas: 1, 5, 44, 45, 51, 52, 65, 66,

68, 69, 72, 73, 75, 86, 111, 113, 114, 115, 237, 238, 273, 274, 277

Lukács, Georg: 203, 208 Lutts, Ralph: 222, 236 Lützeler, Paul Michael: 285 Lyell, Charles: 139, 149 Lyon, Régine: 200 Mabin, Yves: 311 Mach, Ernst: 129, 139, 148, 150, 151, 153, 165 Macherey, Pierre: 53 Machlup, Fritz: 358 Macho, Thomas: 312, 344 Madame de Staël (eig. Anne Louise Germaine

de Staël-Holstein): 68 Maguire, Robert A.: 109 Mähl, Hans Joachim: 26, 37 Mahler, Andreas: 245 Maier, W.: 96, 109 Maillard, Christine: 132, 165 Mainer, José Carlos: 255 Malinas, Yves: 209 Mallarmé, Stéphane: 4, 55, 58, 61, 63 Mann, Thomas: 1, 39, 76, 112 Manzoni, Alessandro: 76 Marat, Jean-Paul: 132 Marburger, John: 223 Marivaux, Pierre Carlet de: 317 Martín-Santos, Luis: 1, 2, 11, 255-271 Marx, Karl: 41, 123, 180, 187, 188, 203, 294 Mast, Gerald: 359 Mata Hari (eig. Margaretha Zelle): 284, 285,

287 Maupassant, Guy de: 156, 157 Mauthner, Fritz: 248 Maxwell, James Clerk: 149 McInnes, Edward: 113 Meinecke, Thomas: 112 Meinong, Alexius: 146 Mellizo, Carlos: 270 Mendel, Gregor: 137 Mendoza, Eduardo: 12, 273-289 Meuter, Norbert: 336

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Personenregister 390

Meyer-Abich, Klaus M.: 299, 300, 301, 311 Mighetto, Lisa: 221, 222, 236 Mignolo, Walter: 78 Milich, Klaus: 358 Mill, John Stuart: 144, 148, 337 Miracky, James J.: 361, 364 Mittelstraß, Jürgen: 160, 165, 336 Mitterand, Henri: 170, 181, 182, 193, 194, 201,

212, 213, 215, 216 Moldenhauer, Eva: 46 Monnin, Christian: 297, 311 Monod, Jacques: 140 Montesquieu, Baron de: 317 Moore, James R.: 221, 236 Morán, Fernando: 257 Morel, Benedict Augustin: 214 Morgan, Owen: 196 Mozart, Wolfgang Amadeus: 376 Müller, Adam: 123 Müller, Hans-Joachim: 210, 214 Müller, Heiner: 40 Müller, Jörg: 85 Müller, Klaus Peter: 336 Müller, Peter: 208, 210, 211, 212 Müller-Holthusen, T.: 93, 109 Muñoz Molina, Antonio: 12, 276 Musil, Robert: 1, 5, 76, 128, 132 Nagel, Thomas: 344, 345, 346 Narayana, Valerie: 171, 172, 173, 174 Nash, Jay Robert: 285 Negri, Antonio: 117 Nelson, Brian: 200 Neumann, Gerhard: 239 Neuschäfer, Hans-Jörg: 200, 206, 207, 209,

210, 214, 215, 276, 277 Newton, Isaac: 112, 143, 145, 149, 150, 151,

152, 357 Nida-Rümelin, Julian: 165 Niemann, Norbert: 297, 311 Nietzsche, Friedrich: 67, 159, 335, 374 Nobel, Alfred: 71 Noiray, Jacques: 199 Norris, Frank: 221 Novalis (eig. Friedrich von Hardenberg): 3, 4,

19-33, 36, 37 Nünning, Ansgar: 249, 280, 336 Nussbaum, Martha: 358 Ollivier, Éric: 293, 311 Omnès, Roland: 305, 306, 311 Ortega y Gasset, José: 268 Otis, Laura: 357 Paganini, Niccolò: 377 Pagès, Alain: 180, 196

Paley, William: 221 Pardo Bazán, Emilia: 163 Pascal, Blaise: 170 Pasteur, Claude: 138, 179 Pauen, Michael: 338, 339 Peace, R. A.: 106, 109 Peirce, Charles Sanders: 146, 147, 148, 149,

157, 163, 165 Péladan, Joséphin: 155 Pérez de Ayala, Ramón: 259 Pérez Galdós, Benito: 257 Pérez Magallón, Jesús: 269 Perrot, Michelle: 199 Pethes, Nicolas: 336 Petrone, Mario: 199 Pettenkofer, Max von: 138 Pfister, Manfred: 245 Pfrepper, Regine: 109 Piaget, Jean: 153, 165 Pichois, Claude: 59 Pietschmann, Horst: 286 Pinard, Ernest: 59 Pinel, Philippe: 6, 91 Pinto, Éveline: 191 Pirandello, Luigi: 76, 314 Pittarello, Elide: 264 Planck, Max: 310 Platon: 3, 4, 22-24, 29, 53, 54, 57, 313, 376 Plumpe, Gerhard: 72, 113 Poincaré, Henri: 147, 165 Politzer, David: 73 Ponomarjow, Leonid: 311 Popper, Karl: 146 Potvin, Charles: 155 Pouchet, Georges: 170 Powers, Richard: 15, 356, 370-377 Preston, John: 32 Prill, Ulrich: 311 Prinz, Matthias: 141 Proguidis, Lakis: 293, 311 Proust, Marcel: 10, 76, 314 Pseudo-Dionysius Areopagita: 56, 57 Pulgarín, Amalia: 276 Pulte, Helmut: 147, 148, 150, 152, 153, 165 Pursglove, Michael: 91, 92, 109 Pynchon, Thomas: 1, 355 Quin, John: 367 Quintili, Paolo: 1 Rabinow, Paul: 366 Radler, Jan: 146 Ramón y Cajal, Santiago: 268 Ramus, Petrus: 145 Rasputin, Grigorij Efimovi : 285

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Personenregister 391

Rathke, Martin: 135 Ratzel, Friedrich: 124 Rebhandl, Bert: 368 Reichardt, Ulfried: 236 Reichenbach, Hans: 143, 146 Reich-Ranicki, Marcel: 41 Renaud, Hippolyte: 8, 170, 176, 177 Renouvier, Charles: 136, 165 Rey, Alfonso: 258, 259, 264 Rheinberger, Hans-Jörg: 365 Riemann, Bernhard: 129, 130, 148 Rilke, Rainer Maria: 39 Ritter, Carl: 122 Ritter, Joachim: 311, 312 Rochberg-Halton, Eugene: 250 Rodieck, Christoph: 136, 165 Roloff, Volker: 257 Ronsard, Pierre de: 59 Roosevelt, Theodore: 222 Rorty, Richard: 24, 332, 358 Rosenbluth, Alexander: 355 Ross, Stanley Ralph: 285 Rossini, Gioacchino: 374 Roth, Gerhard: 141, 339 Rousseau, Jean-Jacques: 317 Rozerot, Jeanne: 178, 180 Ruchatz, Jens: 336 Ruhnau, Eva: 318, 321, 326, 332 Rulfo, Juan: 256 Ruppert, Wolfgang: 246 Ruse, Michael: 165 Rushdie, Salman: 345 Russell, Bertrand: 153 Ryle, Gilbert: 31 Salgas, Jean-Pierre: 293, 312 Sapiro, Gisèle: 191, 198 Sarraute, Nathalie: 316, 329 Sartre, Jean-Paul: 4, 267 Sauvage, Dagmar de: 352 Scève, Maurice: 58 Schalk, Fritz: 208 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: 4, 44, 47,

138 Schiemann, Gregor: 298, 312 Schiller, Friedrich: 3, 21, 35, 36 Schlaffer, Heinz: 77, 85 Schlegel, August Wilhelm: 112 Schlegel, Friedrich: 4, 21, 47 Schleiden, Matthias: 135 Schleiermacher, Friedrich: 41 Schmidt, Günter: 9, 203, 204 Schmidt, Siegfried J.: 72 Schmied, Josef: 336

Schmitt, Carl: 117, 118, 121, 124 Schmitt, Michael: 372, 374, 375 Schober, Rita: 9, 192, 196, 198, 200, 203, 204,

205, 208, 209, 214, 293, 294, 295, 296, 297, 307, 310, 312

Schor, Naomi: 176 Schröder, Christoph: 371 Schüch-Halas, Ruth: 212 Schulz-Buschhaus, Ulrich: 77, 200 Schwanitz, Dietrich: 127, 165, 338 Schwann, Jürgen: 135, 205 Schwarzbürger, Susanne: 279, 282, 287 Schweichel, Robert: 202 Scott, Walter: 275, 278, 280, 281, 283 Seeßlen, Georg: 244 Segre, Cesare: 128, 165 Semmelweis, Ignaz: 138 Semprún, Jorge: 136 Serres, Michel: 209, 249, 250 Seton, Ernest Thompson: 222, 236 Sexl, Roman U.: 310 Shakespeare, William: 89, 156 Shorter, Edward: 91, 94, 109 Shultz, Charles: 184 Sielke, Sabine: 365 Siemens, Werner von: 131 Simmel, Georg: 10, 11, 120, 237, 246 Singer, Wolf: 141, 339, 341 Sissi (eig. Kaiserin Elisabeth von Österreich):

285, 286 Sloboda, John: 373 Sloterdijk, Peter: 250 Smolin, Lee: 149 Snow, Charles Percy: 14, 15, 131, 336, 338,

355-360, 375 Sobejano, Gonzalo: 270 Sokrates: 175 Sontag, Susan: 15, 357, 358, 359 Speirs, Dorothy E.: 170, 176 Spencer, Herbert: 153 Spinoza, Baruch de: 47 Spires, Robert C.: 268, 269, 270 Steenblock, Volker: 332 Stegmüller, Wolfgang: 143, 146 Steiner, Rudolf: 136 Steiner, Uwe C.: 352 Steinman, Lisa M.: 236 Steinthal, Heymann: 249 Stendhal (eig. Henri Beyle): 157 Stephan, Inge: 336 Sterne, Laurence: 245 Stevens, Wallace: 10, 220, 228-231, 233, 234,

236

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Personenregister 392

Stieltjes, Thomas: 297 Stokes, George Gabriel: 152 Strauß, Botho: 245 Suárez Granda, Juan Luis: 255, 258 Sue, Eugène: 136, 183 Sullivan, Arthur: 374 Süßkind, Patrick: 245 Svevo, Italo: 1, 76, 271 Tabucchi, Antonio: 13, 313-333 Taine, Hippolyte: 169, 193, 201 Ternois, René: 178, 188, 191, 212 Thiher, Allen: 197 Thomson, William: 147, 149, 150, 152 Titzmann, Michael: 132, 165 Toro, Alfonso de: 78, 164 Torrente Ballester, Gonzalo: 258 Trakl, Georg: 58 Trunz, Erich: 43 Turner, Stephanie S.: 362, 363, 375 Tynjanov, Jurij: 128 Ugarte, Michael: 269 Vaihinger, Hans: 83, 146, 165 Valera, Juan: 257 Valéry, Paul: 85 Van Eersel, Patrick: 312 Vanderbeke, Dirk: 312 Vannucci, François: 1 Vázquez Montalbán, Manuel: 12, 276, 277 Veaux, Clotilde de: 175 Venatier, Hans: 113 Verga, Giovanni: 1, 76, 156 Verne, Jules: 168 Virchow, Rudolf: 131 Virilio, Paul: 117, 118 Vischer, Friedrich Theodor: 11, 245, 246 Vogel, Matthias: 24 Vogl, Joseph: 1 Wagenbach, Klaus: 244, 248 Wägenbaur, Thomas: 236 Wagner, Richard: 187 Wanning, Frank: 213, 257

Warhol, Andy: 41 Warning, Rainer: 9, 201, 211, 212, 213, 214 Weber, Max: 249 Wehle, Winfried: 1 Wehr, Christian: 85 Weigel, Sigrid: 302, 308, 312 Weiner, Norbert: 355 Weis, Kurt: 325 Weismann, August: 135, 170 Weizsäcker, Carl Friedrich von: 332, 333 Welsch, Wolfgang: 353 Werber, Niels: 66, 72, 111 Westbrook, Robert B.: 226, 236 Whewell, William: 132, 144, 145, 147, 148,

153 Wieland, Wolfgang: 24 Wilczek, Frank: 73 Wild, Reiner: 249 Wild, Wolfgang: 319 Williams, William Carlos: 10, 220, 228, 229,

231, 233- 236 Wilson, David B.: 152, 165 Winkgens, Meinhard: 338 Wittgenstein, Ludwig: 26 Wolf, Christa: 120 Wolfson, Richard: 373 Wolfzettel, Friedrich: 200, 206 Wolin, Sheldon: 370 Woyzeck, Johann Christian: 92 Wright, Georg Henrik von: 153, 166 Wyrsch, Jakob: 93, 109 Yoxen, Edward: 364 Zimbardo, Philip G.: 346 Zimmerli, Walther Ch.: 313, 314, 331 Zischler, Hanns: 244 Zola, Émile: 1, 5, 7, 8, 9, 69, 70, 75, 76, 86,

125, 127, 129, 131, 133-140, 143-147, 151, 153, 154, 156-163, 166, 167-189, 191-216, 259, 294

Zulueta, Carmen de: 270