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Leseprobe aus: László F. Földényi Schicksallosigkeit Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Leseprobe aus:

László F. Földényi

Schicksallosigkeit

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Absurd . Alltag . Anführungszeichen . Anpassung. Antisemitismus . Atonalität . Auschwitz . Bank .Beichte . Bericht . Berufshumanist . Beständigkeit. Bildung . Bildungsroman . Blick . Blitz . Du . Dü-rer . Durchbruch . Ein bisschen . Erleuchtung .Erlöser (Erlösung) . Ermunterung . Ersetzbarkeit. Ertrinkender . Fahrrad . Falle . Film . Fokus . For-mulierbarkeit . Freiheit . Fussballplatz . Gegen-wart . Gesicht . Glück . Gnade . Goethe . Gott . Grau. Güte . Hamlet . Hand . Hass . Henker . Holocaust .Hund . Ich . Ich bin, der ich bin . Identität . Irrtum. Jude . Judit . K . Katastrophe . Körper . Kollekti-vismus . Konzentrationslager . Kugelschreiber. L . Lachen . Langeweile . Leben . Letzten Endes .Liebe . Literatur . Márai . Mysterium . Name . Natür-lich . Nein . Nichts . Ohrstöpsel . Optische Falle .Peitsche . Pflaumen . Privatleben . Ratio . Religion. Schicksal . Schizophrenie . Schlachtbeil . Schrei-ben (Schrift) . Schritt . Selbstverleugnung . Sisy-phos . Sozusagen (Sogenannt) . Spiegel . Sprache. Spur . Stacheldraht . Stein . Stinkbombe . Sträf-ling . Sünde (Schuld) . Totalität . Tragödie . Tran-szendenz . Traum . Tutzing . Überlebender . Vater. Verbrennen . Vor sich hin pfeifen . Waage . Wei-mar . Wer erzählt? . Wissen . Wolkengrab . Zeugnis(Zeugnis Geben) . Zoll (Zöllner)

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VORWORT

Dieses Buch ist keine Monographie und keine Biographie, keineStudie und auch keine Sammlung lose verbundener Essays. Viel-mehr ein Wörterbuch. Die für das Werk charakteristischen Be-gri¶e, in alphabetische Reihenfolge gebracht. Charakteristisch?Eine ganze Reihe sind solche, ja. Aber es gibt auch welche, diees weniger sind. Und es ·nden sich Begri¶e, die überhaupt nichtals maßgebend bezeichnet werden können. Sie wurden trotzdemnicht ausgelassen. Umgekehrt ließen sich auch solche aufzählen,die fehlen. «Angst» und «Erinnerung», «Tod» und «Fiasko»,«Selbstmord», «Erfolg»: Wem würden sie in Zusammenhangmit Imre Kertész nicht sofort einfallen. Es ist o¶enkundig, daßsie für sein Œuvre charakteristischer sind als etwa «Hund»,«Waage», «Hamlet» oder «Schlachtbeil». Meine Wahl ·el den-noch auf die letzteren. Natürlich geistern hinter ihnen, das bestrei-te ich nicht, auch die weggelassenen Begri¶e. Wie das auch umge-kehrt der Fall wäre. Ich habe mich trotzdem für sie entschiedenund auf die ersteren verzichtet. Meine Entscheidung hing nichtvon der Häu·gkeit ihres Vorkommens ab. Und auch nicht davon,welche Rolle sie dabei gespielt haben, daß sich Kertész’ Œuvreinnerhalb kurzer Zeit kanonisieren konnte. Mich haben weder dieStatistik noch Gesichtspunkte einer «objektiven» Beurteilunggeleitet. Vielmehr die Suche nach einer Erklärung dafür, waruman diesem oder jenem Punkt des Werks eine plötzliche Spannungentsteht, wodurch sich eine Szene verdichtet, warum dieser oderjener Gedankengang unvermutet die eingeschlagene Spur ratio-naler Argumentation verläßt und auf eine Ebene überwechselt,auf der – um eines von Kertész’ Lieblingswörtern zu gebrauchen –die Nähe des Mysteriums spürbar wird. Zahlreiche solche Punktelassen sich in seinem Werk ·nden. Zudem wandeln sie sich nochständig. Ich habe es ausprobiert: Wenn ich einen Roman oderEssay von neuem las, kristallisierten sich die erwähnten Punkteund Spannungsquellen an Stellen heraus, wo sie mir vorher nicht

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10 Vorwort

aufgefallen waren. Dadurch modi·zierten sich jedoch auch dieStellenwerte, die ich mir früher notiert haºe. Ja, sie verblaßten garoder ·elen ganz weg. Schließlich setzte sich als Ergebnis mehre-rer Anläufe ein «Minenfeld» zusammen, das sich für mich auchim weiteren als relativ stabil erwiesen hat. Diese «Minen», dieseKnoten und Zentren von Verdichtungspunkten – über sie hat sichdie Struktur dieses Wörterbuchs herausgebildet, die Zahl und dieReihe seiner Begri¶e.

Meine Auswahl ist also willkürlich. Zu meiner Entschuldigungsei gesagt, daß mir der aus der Gaºung der Monographie abgelei-tete Zwang, alles auf Biegen oder Brechen umfassend und im gan-zen zu sehen und sehen lassen zu wollen, nicht weniger willkürlicherscheint. Ebenso willkürlich erscheint mir die Methode, Stückedes Werks darau»in zu untersuchen, ob sie den Anforderungenirgendeiner gerade auserkorenen ¼eorie genügen. Der Interpreta-tionsvorgang erscheint dann objektiv und wissenscha½lich. Dochdie Wahl der ¼eorie, die der Interpret über alles andere stellt,ist von vornherein nicht objektiv – Orientierung, Moden spielendabei eine ebensolche Rolle wie Temperament, Geschmack, Hu-mor oder gerade der Mangel daran. Die Adjektive «objektiv» und«willkürlich» besagen im übrigen nicht viel. Denn in Wahrheithandelt es sich um eine nie zu Ende kommende Belagerung: eineManifestation des zutiefst menschlichen Verlangens, dem Werk nä-herzukommen, in Worte übersetzt darüber Rechenscha½ geben zukönnen, auf welche Weise ein anderer (der Autor) miºels Wortendas um¾icht, was über die Worte, über das Ausdrucksvermögenhinausgeht. Letzten Endes ist es das, was sowohl den Autor wie denInterpreten in seinen Bann zieht: den ersteren das Unsagbare, denletzteren aber die Enthüllung, wieso und wie jemand das Nicht-Formulierbare dennoch genau in Worte zu kleiden vermag. Aufdiesem Gebiet betätigen sich beide, und auch die Interpretation istdeshalb stets von Willkür begleitet. Letztlich zeigt sich immer erstnachträglich, was es eigentlich ist, um dessentwillen der Interpretseine Suche unternommen hat. Wenn er es vorher wüßte, würdeer sich vielleicht gar nicht daransetzen.

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Vorwort 11

Kertész’ Œuvre reizt von vornherein zur Erstellung eines Wör-terbuches. In der Vorbemerkung zu seiner Essaysammlung Dieexilierte Sprache schreibt er: «So wird es auch hier und da Wie-derholungen geben, Gasºexte, die aus anderen Arbeiten stammenund wie Leit motive wirken, auf die manchmal für mich selbst ge-heimnisvolle Kohärenz von größeren Zusammenhängen, Denk-,Sprech-, sogar Lebensweisen verweisend.» Es gibt Interpreten,die das mit einer «jüdischen Denkweise» erklärten: Aharon Ap-pelfeld etwa sieht eine Verwandtscha½ zwischen Kertész’ Verfah-ren und der Methode des Talmuds: «Er wir½ eine Frage auf, be-antwortet sie, kehrt später von einer anderen Seite zu ihr zurückund umkreist sie dann mit immer neuen Fragen. Und dann fügt erwiederum einen neuen Gedanken hinzu und kehrt noch einmalzum Ausgangspunkt zurück.»* Appelfeld stellt jedoch auch fest,daß Kertész die menschliche Existenz wichtiger als das Judentumist, daß es also falsch wäre, seine Essays in die talmudische Tra-dition zu zwängen. Darüber hinaus lassen sich Wiederholungenund Gasºexte nicht nur in seinen Essays ·nden, sondern auch inden belletristischen Werken, seinen Romanen und Erzählungen,ja selbst in seinen Tagebüchern. ¼emen, Motive, Gedanken wie-derholen sich, es wiederholen sich aber auch Gestaltungsweisen,Beschreibungstechniken, Schärfe- und Unschärfe-Einstellungendes erzählerischen Fokus. Und auch wenn Grund besteht, nachZeichen zu suchen, die auf eine Entwicklung hinweisen, gewinntman als Leser von Kertész’ Œuvre doch schnell den Eindruck,daß dieses Werk schon von Anfang an festgestanden hat. Kertészbaut sein Werk nicht so sehr auf (wie der von ihm im übrigenhochverehrte ¼omas Mann), sondern entfaltet es vielmehr (wieKa¿a oder Proust).

Die «geheimnisvolle Kohärenz», von der Kertész spricht,funktioniert wie eine mächtige Vision: Sie drückt jeder Verlautba-rung ihren Stempel auf, saugt alles in sich auf. Die Essays, schreibt

* Aharon Appelfeld, Káin és Ábel a kiindulóponthoz (Die Narrative von Kainund Abel), in: Múlt és Jövő 4/2002

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Kertész in der erwähnten Vorbemerkung, «versuchen sich demgleichen zu nähern wie meine erzählerischen Arbeiten: etwas Un-nahbarem». Doch die Texte jagen diesem Unnahbaren nicht nurnach, das Unnahbare verfolgt sie inzwischen auch. Jemanden, beidem es nicht in allen Verlautbarungen mitschwänge, würde dasUnnahbare gar nicht zu umzingeln suchen: Es ist das, was ihnüberhaupt zu der Annäherung veranlaßt. Es geht um Literatur:Kertész trachtet danach, miºels Worten das Unsagbare zu Wortzu bringen, so daß die Worte, die er dabei in Anspruch nimmt,selbst zum Widerhall des Unsagbaren werden. Was er sucht, istlängst in seinem Besitz. Was ist es, das Kertész als «unnahbar»bezeichnet? Die auch für ihn geheime Kohärenz – etwas, das im-mer und immer wieder zu spüren ist, ohne daß es zu fassen wäre.Es gehört zu seinem Wesen, daß es unnahbar ist – aber auch, daßdas Wissen, ein sicheres Gefühl davon, zu erlangen ist. Ein im-merwährender Spalt, auf den dennoch fest gebaut werden kann.

Dieses Wörterbuch unternimmt den Versuch, diesen Spalt aus-zumessen. Ich häºe auch eine andere Gaºung wählen können:Ich häºe meine früheren Essays über Imre Kertész relativ leichtzu einem kohärent erscheinenden Buch zusammenstellen kön-nen. Ich habe das auch versucht. Dabei geriet ich jedoch immerweiter weg von jener von Kertész erwähnten «geheimen Kohä-renz»; und so leicht mir die Arbeit erschien, so rasch wuchs dasEmp·nden dieses Mangels. Um es abzustellen, mußte ich von derentgegengesetzten Richtung einsteigen: nicht von oben, sondernvon unten mit der Bauarbeit beginnen, in der Tiefe des erwähntenSpalts, dort, wo sich nicht von vornherein ausmachen läßt, ob dasGebäude je zum Abschluß zu bringen ist. Die Kohärenz stellt sichals eine Utopie heraus, zu der erst zu gelangen ist, wenn man zu-vor zutiefst ihr Fehlen erfahren hat. Ich habe das Werk in Spliºeraufgespaltet und möchte dem Leser keinen Schlüssel geben, wiees wieder zu einem Ganzen zusammengesetzt werden könnte. Ichbiete keine Lösung für eine «de·nitive» Deutung, keinen Weg-weiser zu einer Interpretation des Werkes. Mit anderen Worten:Ich halte den Leser für erwachsen.

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Vorwort 13

«Ich lese die Philosophen nicht so sehr wegen ihrer Systeme,vielmehr wegen ihrer Nebensätze», schreibt Kertész im Galeeren-tagebuch. (Gt 183) Genauso habe auch ich mich an die Nebensätzevon Kertész gehängt; von den Nebensätzen bin ich zu dem ausWorten gebildeten Ausdruck und von diesem zu den einzelnenBegri¶en zurückgegangen. Und dabei habe ich bis zum Schlußdarauf vertraut, daß sich, wenn auch kein «System» die Einzel-begri¶e erklärt, aus den Begri¶en, aus ihrer Benutzung früheroder später doch das System selbst erschließen werde.

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Absurd 15

ABSURD

Ja, vielleicht ist das Absurdeste, daß das ersteStichwort eines aufgrund der Werke von ImreKertész zusammengestellten Wörterbuchs gera-de das Wort absurd ist.

Der Lebenslauf des Autors, der hinter die-sen Werken steht, hat von vornherein etwasAbsurdes. Der Vierzehneinhalbjährige, der,wie der Protagonist des Romans Fiasko vonsich erzählt, «aufgrund des Zusammentref-fens maßlos blödsinniger Umstände etwa einehalbe Stunde lang Auge in Auge mit dem Laufeines feuerbereiten, auf mich gerichteten leich-ten Maschinengewehrs» stand (F 27), dieserJunge also war für den Tod bestimmt. Nach derLogik der Geschehnisse (der Geschichte) häºesich sein Schicksal damit und nicht mit der Er-langung des Nobelpreises erfüllt. Aber es kamanders. Seine Reºung verdankt sich nur zumTeil der Tatsache, daß zu dieser Zeit das Kriegs-glück umschlug und irgendwelche fürsorgen-den Krä½e ihre unergründliche Macht über ihnausbreiteten. Nein, dieser � ÜBERLEBENDEverdankt sein Entkommen in Wahrheit etwas,das unvorhersehbar und unberechenbar ist. Dasabsurd ist, jeder Erwartung widerspricht undden Menschen in gewissem Sinn dem für ihnvorgesehenen � SCHICKSAL (das heißt derSchicksallosigkeit) entreißt.

Wäre das Entkommen also ebenso eine Er-scheinungsform des Absurden wie die � TRA-GÖDIE? Kertész selbst neigt zu diesem Stand-punkt. In seiner Rede bei der Entgegennahme

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des Nobelpreises – in dem Augenblick, als sichin gewissem Sinn nicht das Schicksal, sonderndas Absurde erfüllte – warnte er seine Zuhörer(und sich selbst), aufgrund dieser Auszeichnungdem Glauben an irgendeine überirdische Ord-nung, Vorsehung oder metaphysische Gerech-tigkeit zu erliegen. Das wäre wahrha½ig Selbst-täuschung, und – schwerwiegender noch – erwürde damit endgültig die Verbindung mit denMillionen verlieren, die vernichtet wurden. De-nen, die die Gnade nicht erfahren dur½en. Nichtdie Vorsehung habe in Stockholm gewaltet, nichteine metaphysische Gerechtigkeit sich durchge-setzt, sondern die «absurde (…) Ordnung desZufalls, die mit der Willkür eines Erschießungs-kommandos über unser unmenschlichen Mäch-ten und grausamen Diktaturen ausgesetztesLeben herrscht». (Heureka!, in: ES 254)

Die Welt von Kertész’ Werken ist durchwo-ben von Erscheinungsformen der Absurdität.Dennoch muß man mit dem Wort vorsichtigumgehen. Denn es gibt möglicherweise etwas,dessen Macht noch größer ist. Vielleicht be-zeichnet «absurd» nicht genau genug, worumes geht. Denn so absurd auch alles sein mag, wasKertész’ Helden widerfährt, auch Zufälle undWidersinnigkeiten haben ihre eigene Ordnung.Es handelt sich ebensowohl um eine Weltord-nung, wie Buchenwald in seiner Art eine Welt-ordnung war. Obgleich sie auf Mord basierte, botdiese Weltordnung dennoch eine Art moralischeRichtschnur, deren Logik nie überschriºen wur-de. Das Töten konnte dort ebensogut zur Tugendwerden wie unter anderen Umständen das Nicht-Töten. (F 65) Das Absurde, auch wenn es schwer

In der Rückschau auf seinLeben: «Es gibt auch eineErfolgsgeschichte. DerSchri½steller Imre Kertész,der das und das geschrie-ben hat, hat dafür den No-belpreis bekommen. Abermeine Geschichte in derRetrospektive als Erfolgs-geschichte zu sehen, wäreeine phantastische Lüge.»(Kertész im Gespräch mitJörg Plath, in: Der Tages-spiegel, 11. Oktober 2006)

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sein mag, sich mit seiner Existenz abzu·nden,bildet immer noch eine Art Ordnung, der sichder Einzelne irgendwie anpassen muß. Was beiKertész absurd ist, hängt meist mit der jeweiligenOrganisation der Gesellscha½ zusammen. Diegesellscha½liche Organisation ist «für den Ein-zelnen immer absurd», schreibt er (Gt 9), wor-aus logisch (und nicht absurderweise) folgt, daß«das Absurde im Altertum ebenso o¶ensichtlichgewesen sein [wird] wie heute. Das individuelleSein ist ein Traum». (ebd. 51) Das Absurde istalso die der Welt eigene Organisation. Eine tota-litäre Diktatur zum Beispiel läßt sich wegen derLiquidation des Privatlebens als Welt des Absur-den bezeichnen – was nichts daran ändert, daßihre Welt natürlich auch noch sehr real ist. DasAbsurde gehört also genauso zu den Leitbegrif-fen der Orientierung wie � GOTT oder eben dieallgemeine Relativität. (ICH 103) Oder mit Ker-tész’ Worten: «Die Philosophie des Absurden istimmer noch eine die Dinge eher ¾iehende dennihnen ins Auge schauende Philosophie. Dasist deutlich zu sehen an ihrer metaphysischenVerletztheit, an den verstummten moralischenPostulaten usw.; das Absurde ist tragisch, über-trieben tragisch. Das wirkliche Sein dagegen istvon allen verlassen, von niemandem beachtet,monologisch und langweilig. Worte der Fäulnisund des Verfalls drücken es aus.» (Gt 129)

Im Absurden steckt demnach immer nochirgendeine «Ich-Gewißheit». (L 64) Im Ab-surden läßt sich selbst noch im Mangel, in derNegativität, auf das � ICH schließen. Und wenndas Absurde schon in der Antike zu ·nden ist,was unterscheidet � AUSCHWITZ und das

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18 Absurd

Universum danach dann von dem davor? Nichtdas Absurde, sondern etwas, das noch darüberhinausgeht. Was kann das sein? Etwas, was dieRestauration des Ichs unmöglich macht. DerIch-lose Zustand ist – mit Kertész’ Worten –nicht mehr absurd, sondern katastrophal. «DerMensch der Katastrophe [hat] kein Schicksal,keine Eigenheiten, keinen Charakter. […] Esgibt für ihn keine Rückkehr zu etwas wie einemIch-Miºelpunkt, zu einer festen, unanfechtbarenIch-Gewißheit: So ist er also im wahrsten Sinndes Wortes ein Verlorener. Dieses Ich-lose Wesenist die Katastrophe.» (L 64) Diesem Menschenermangelt das Ich nicht, da er von vornhereinkeines haºe. Es war nichts da, das man ihm hät-te nehmen können, er kann sich nicht auf einenursprünglichen Zustand der Unschuld berufen –weil das, woraus all das resultiert, selbst gespalten,� SCHIZOPHREN ist. Und wer schizophren ist,sieht keinerlei Ziel – weder vor sich noch hintersich. Seit die Welt besteht, existierte immer auchdas Absurde. Die Schicksallosigkeit dagegen, derEntzug eines eigenen Schicksals, ist ein moder-nes, neuzeitliches Phänomen – ein Produkt des20. Jahrhunderts. Es ist nicht einmal mit dem At-tribut «absurd» ausreichend charakterisiert.

«Warum, warum haben Sie auf die Leicheam Boden geschossen?» Camus’ Frage im Ro-man Der Fremde erscheint als Textzitat in Proto-koll. (P, in: EF 171) Das Absurde liebt es nochzu fragen. Es richtet seine Fragen an ein unbe-grei¾iches Universum, sucht ihm eine Antwortabzutrotzen, wieder einen Sinn in das Unbe-grei¾iche zu schmuggeln. Das heißt, es gibtnoch etwas Rationales in ihm. Es lebt noch im

«Wann war das noch pas-siert? Gestern? Oder vorzwanzig Jahren? Die Zeitbereitete Steinig (Köves)*,seit er hier angekommenwar, immer ein wenigProbleme; solange er inihr lebte, schien sie ihmunendlich, doch betrachte-te er sie als Vergangenheit,so kam ihm die Zeit fastwie nichts vor, ihr Inhalthäºe womöglich sogar ineine einzige Stunde […]gepaßt […] und schließ-lich […] würde vielleichtein ganzes Menschenalterauf diese Weise vergehen,sein Leben, an das er danneinmal würde zurückden-ken können wie an etwas,das er womöglich sogarin einer einzigen Stundehäºe erledigen können,das übrige war reine Zeit-verschwendung gewesen,schwierige Lebensum-stände, Kampf – wozueigentlich?» (Fiasko 303)Wie Steinig (Köves) fragte

* Der im Ungarischenhäu·g vorkommendeName Köves, den auch derProtagonist des Romans einesSchicksallosen trägt, bedeutet«Steinig». In der deutschenAusgabe des Romans Fiasko,in dem die Stein-Metaphorikauch andere Namen betriÊ(� STEIN), ist er daher mitSteinig übersetzt. (Anm. d.Red.)

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Alltag 19

schon Pozzo in BeckeºsWarten auf Godot: «HörenSie endlich auf, mich mitIhrer verdammten Zeitverrückt zu machen! Es istunerhört! Wann! Wann!Eines Tages, genügt Ihnendas nicht? Irgendeines Ta-ges ist er stumm geworden,eines Tages bin ich blindgeworden, eines Tageswerden wir taub, einesTages wurden wir geboren,eines Tages sterben wir, amselben Tag, im selben Au-genblick, genügt Ihnen dasnicht? Sie gebären riºlingsüber dem Grabe, der Tagerglänzt einen Augenblickund dann von neuem dieNacht.» (Samuel Beckeº,Warten auf Godot, Frank-furt a. M. 2003, 203)

Bann der � FORMULIERBARKEIT . Das aber,was Kertész – manchmal mangels eines bes-seren Ausdrucks – als absurd bezeichnet, liegtjenseits jedes Sinns, der � RATIO . Es ist meta-physischer Natur, O¶enbarung dessen, was erin Kaddisch als das «demiurgische Neochaos»bezeichnet. (K 99) Die Gewißheit davon gehtjeder Erkenntnis voraus: «Ich weiß nicht, wannmir zum ersten Mal der Gedanke kam, daß ir-gendein schrecklicher Irrtum, eine teu¾ischeIronie in der Weltordnung am Werk sein muß,während du sie als geordnetes, normales Lebenerlebst.» (DK 76) Dieser Irrtum geht über allesandere hinaus. Verglichen damit ist das Absur-de Balsam in der Ho¶nungslosigkeit. In ihm istnoch eine Ho¶nung, daß dieser Irrtum vielleichtdoch zu beheben ist – nach der Durchquerungder Ho¶nungslosigkeit, gleichsam von derenanderem Ufer aus.

Ist es also möglicherweise doch nicht so ab-surd, daß dieses Wörterbuch gerade mit demStichwort «absurd» beginnt?

ALLTAG

«Erst in Zeitz bin ich dahintergekommen, daßauch die Gefangenscha½ ihren Alltag hat, ja, daßechte Gefangenscha½ im Grunde aus grauemAlltag besteht.» (RSch 151)

Kann es sein, daß umgekehrt auch der� GRAUe Alltag stets eine Art von Gefangen-scha½ ist? In der wir nämlich «Teil einer be-stimmten, mechanisch sich vollstreckenden

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20 Anführungszeichen

Dummheit geworden sind»? (P, in: EF 167)Wenn die Dinge ihren Lauf nehmen, ohne daßwir irgendwie Ein¾uß auf sie nehmen würden?Denn, wie Bandi Citrom sagt, «irgendwie wirdes schon werden, denn es ist noch nie vorge-kommen, daß es nicht irgendwie doch gewor-den wäre». (RSch 152)

Und wann herrscht keine Gefangenscha½?Wenn der Alltag zu Ende ist? Am Feiertag? Ge-schieht dann das Wunder? Kommt es dann zur� ERLEUCHTUNG? Irgendwo, wo auch immer,selbst am Ende eines � L-förmigen Ganges?

ANFÜHRUNGSZEICHEN

Ihre Aufgabe besteht – wie Ortega y Gasset esausgedrückt hat – darin, da, wo sie erscheinen,alles in Verdacht zu bringen. Zum Beispiel die«sorglosen, glücklichen Kinderjahre», an dieOnkel Lajos im Roman eines Schicksallosen GyuriKöves erinnert und die der Junge von vornher-ein nur in Anführungszeichen vernehmen kann.(RSch 26) Wie auch all das, was im ersten Ka-pitel, als die Familie zum Abschiednehmen zu-sammenkommt, diejenigen Personen sagen, dieer nicht mag. Oder mit denen er nichts anfangenkann. Und zu denen er keinen «Zugang» hat.Also alle, die so reden, als würde sie eine dickeGlasscheibe von ihm trennen. Oder ihn vonihnen.

Was sie in Anführungszeichen sagen, ist biszur letzten Silbe wahr. Nur kann der Junge ebenmit dieser Wahrheit nichts anfangen. Natürlich

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