Lucia Joyce – Eine Geschichte die eigentlich nicht erzählt...

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1 Künstlerisches Wort Feature Redaktion: Renate Jurzik Regie: Grace Yoon Regie-Assistenz: Dörte Fiedler Sprecher: Stella Maria Adorf Martin Engler Boris Jacoby Stefan Kaminski Bettina Kurth Leslie Malton Joachim Schönfeld Produktion RBB/SWR/DLF/ORF Ton: Peter Avar Susanne Bronder Produktion: RBB/SWR/DLF/ORF 2010 Länge: 54:34 Sendedatum:15.06.2010 RBB Kulturradio Künstlerisches Wort Feature Masurenallee 8-14 Copyright Dieses Manuskript ist urheberechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung des Autors nicht verwertet werden! Insbesondere darf es weder ganz noch teilweise noch in Auszügen abgeschrieben noch in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung des R B B benutzt werden. Lucia Joyce – Eine Geschichte die eigentlich nicht erzählt werden sollte von Grace Yoon

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Künstlerisches Wort Feature Redaktion: Renate Jurzik Regie: Grace Yoon Regie-Assistenz: Dörte Fiedler Sprecher: Stella Maria Adorf Martin Engler Boris Jacoby Stefan Kaminski Bettina Kurth Leslie Malton

Joachim Schönfeld Produktion RBB/SWR/DLF/ORF Ton: Peter Avar Susanne Bronder Produktion: RBB/SWR/DLF/ORF 2010 Länge: 54:34 Sendedatum:15.06.2010 RBB Kulturradio Künstlerisches Wort Feature Masurenallee 8-14

Copyright Dieses Manuskript ist urheberechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung des Autors nicht

verwertet werden! Insbesondere darf es weder ganz noch

teilweise noch in Auszügen abgeschrieben noch in

sonstiger Weise vervielfältigt werden.

Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung des R B B benutzt werden.

Lucia Joyce – Eine Geschichte die eigentlich nicht erzählt werden

sollte

von Grace Yoon

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Lucia Joyce –

Eine Geschichte, die eigentlich nicht erzählt werde n sollte

Von Grace Yoon

Musik: Bid Adieu to Girlish Days + Atmo Northampton

OT P. Mulligan:

Jemand schrieb mir aus London, die Tochter von James Joyce wäre in

Northampton begraben. Ich ging also zum Gemeinderat, die schauten in die

Akten und es stimmte. Man teilte mir die Nummer und die ungefähre Lage des

Grabes mit. Es war ein kalter, windiger Novembertag.

Erzählerin: Peter Mulligan, Organisator des “Bloomsday in Northampton

OT P. Mulligan:

Ich suchte stundenlang, aber fand es nicht. Durchnässt, müde und verärgert gab

ich auf. Am nächsten Tag ging ich wieder zur Gemeinde; diesmal fuhren sie mich

hin und zeigten mir den Grabstein. Da beschlossen wir, zu Ehren von James

Joyce’ „Ulysses“ eine jährliche Feier zu veranstalten, und zwar am „Bloomsday“,

dem 16. Juni. Jedes Jahr stehen wir am Grab von Lucia Joyce auf dem

Kingsthorpe Cemetery und denken an sie, an ihre Familie, an das Buch, das uns

so sehr inspiriert hat, und wir erzählen die Geschichte ihres Lebens.

OT Tom Kilroy: Lucia war schizophren und sie verbrachte einen Großteil ihres Lebens in einer

Anstalt im englischen Northampton.

Erzählerin: Tom Kilroy, Irischer Dramatiker

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OT Tom Kilroy:

In meinen Augen war Lucia Joyce ein Opfer. Seelisch labil, zerbrechlich und

verletzlich, und dabei zufällig die Tochter dieses außergewöhnlichen Mannes,

dieses Genies. Was mich an ihrer Geschichte interessiert, ist diese Bürde, die

das Kind dieses großen Künstlers trägt. Ein Kind, wenn es zart und verletzlich ist,

bricht sehr oft unter dieser Bürde zusammen - und das ist für mich die

Geschichte Lucias.

OT David Norris:

Joyce’ Tochter Lucia wurde in Triest geboren und nach einer Heiligen benannt,

der Schutzpatronin des Lebens und des Augenlichts.

Erzählerin: David Norris, Abgeordneter des irischen Senats und Joyce-

Performer.

OT David Norris:

Denn die Familie sprach zu Hause italienisch und so war Lucias erste Sprache

Italienisch.

Sprecher James Joyce:

Eine Blume, meiner Tochter geschenkt (James Joyce Trieste, 1913)

Zart ist die Rose, und zart sind

ihre Hände, zu schenken bereit.

Ihre Seele ist welk und blasser

als die bleiche Welle der Zeit.

Rosenzart und schön - doch zarter

in Blicken blind

verbirgst du ein dunkles Wunder,

mein bleiches Kind.

( Limes Verlag, Wiesbaden 1957)

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OT Carol Shloss: Autorin

Ich wollte über die Literatur des Tanzes schreiben. Und dieses Projekt begann

sehr dramatisch.

OT Hans Walther Gabler :

Besonders denkwürdig war da eine Sitzung in Venedig bei dem dortigen Joyce-

Symposium 1988. Bei dieser Veranstaltung saßen auf dem Podium Mary

Rachelwitz, Tochter von Ezra Pound, Michael Yeats, Sohn von William Butler

Yeats, und Stephen James Joyce, Enkel von James Joyce.

Erzählerin: Hans Walther Gabler , Literaturwissenschaftler.

Stephen James Joyce hat aggressiv verkündigt, an seiner Tante solle sich nach

ihrem Tode nun niemand mehr vergreifen. Die Briefe, die er von ihr besitze, habe

er entweder schon oder wolle er noch vernichten

OT Carol Shloss:

Das war eine große Überraschung für uns alle. Stephen wusste aber nicht, dass

ich von Venedig aus direkt nach Paris kommen würde, um über Lucias Tanz zu

forschen.

Erzählerin: Carol Shloss, Literaturwissenschaftlerin in Stanford

Eine Biographie wollte ich damals nicht schreiben. Ich wollte nur über die

Beziehung von Joyce’ Dichtkunst zu Tanz, Bewegung und Gestik nachdenken,

und ich hatte eine Liste der Tanz-Ensembles, mit denen Lucia trainiert hatte. Zu

meinem größten Erstaunen gab es alle möglichen Dokumente über Lucia als

Tänzerin in Paris. Das war dann der Anfang. Sie hatte mit sehr berühmten und

innovativen Avantgarde-Truppen in Paris auf der Bühne gestanden! Ich rief

Stephen Joyce an, der in Paris lebt, und er versuchte zu rechtfertigen, warum er

all diese Dokumente vernichtet hatte, und dass er auch Samuel Beckett gebeten

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habe, alle seine Briefe an Lucia zu vernichten. Das ginge niemanden etwas an.

Aber ich sagte nein, sie war eine Tänzerin, warum haben Sie solche Bedenken.

Egal, was ich sagte, er hielt an seiner Idee fest, und ich an meiner. Ich dachte,

da ist doch eine Geschichte verborgen, denn jeder schubst Lucia einfach weg,

möchte nichts mit ihr, der Schizophrenen, nichts zu tun haben. Fest steht aber,

dass sie, ganz gleich was ihr später widerfuhr, erst einmal dieses exzessive

Leben hier in Paris geführt hat. Es war eine große Überraschung für mich, ihre

Karte zu finden! Ja, Lucia Joyce hatte eine Visitenkarte, auf der stand: Übungen

zur Körperkultur. Da gab es also ein Rätsel zu lösen.

OT David Norris:

Lucia hatte ein gewisses künstlerisches Talent. Sie machte ein kleine Karriere

als moderne Tänzerin in Paris und sie gewann einen Wettbewerb, oder hätte ihn

gewinnen sollen, wurde dann Zweite, aber das Publikum war begeistert. Sie

tanzte diesen eindrucksvollen Fischtanz, als Fisch in ein schimmerndes Kostüm

der 20er Jahre gekleidet, und das Publikum rief: „Wir wollen die Irin!“

Musik: Loves Old Sweet Song - Lucia

Once in the dear dead days beyond recall. When on the world the mists began to

fall. Out of the dreams that rose in happy throng. Low to our hearts love sung an

old sweet song. And in the dusk where fell the firelight gleam. Softly it wove itself

into our dream…

OT Carol Shloss:

Ich entdeckte, dass sie die Geliebte von Alexander Calder gewesen ist und auch

die von Samuel Beckett. Im Trinity College fand ich Briefe über Lucia, die Beckett

an seine Freunde geschrieben hatte.

In den 30er Jahren fingen dann ihre psychischen Probleme an. Richard Ellmann

sagt einfach, sie fing an, alle Zeichen einer Geisteskrankheit zu zeigen. Aber in

Wirklichkeit war die Geschichte viel komplizierter: Von ihren Tänzer-Freunden

erfuhr man, dass sie ihr Elternhaus verlassen wollte. Sie mochte es nicht, dass

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alle Aufmerksamkeit immer nur ihrem Vater galt. Sie wollte unabhängig sein,

wollte eine eigene Wohnung haben, für ihre Generation war das recht kühn. Aber

die sonst so avantgardistischen Joyces sagten nein, sie wollten eine bürgerliche

Tochter. ..Es gab ständig Reibungen, auch zwischen ihr und ihrer Mutter.

Atmo Friedhof bei Lucias Grabstein…

OT Peter Mulligan:

Lucia wurde 1907 geboren. Die Familie zog mehrmals in Europa hin und her, um

Armut und Krieg zu entgehen. Im Alter von 7 Jahren hatte Lucia bereits fünfmal

ihren Wohnsitz gewechselt, mit 13 hatte sie bereits in drei Ländern gelebt, und

vier Sprachen kennen gelernt: Deutsch, Französisch, Italienisch und den Triester

Dialekt. Die Familie zog fast einhundert Mal zwischen Triest und Paris hin und

her. Als Lucia 15 war, schloss sie sich einer Tanz-Truppe an und begann eine

Ausbildung in modernem Tanz. Nach sieben Jahren Training - sie war 22 - hielt

sie körperlich nicht mehr durch und musste aufgeben.

Montage: Schritte + Garten + Musik

OT Carol Shloss:

Sie bekam nicht den Rückhalt oder das Verständnis, das andere Familien jungen

Frauen gaben wie zum Beispiel Virginia Woolfs Familie. Virginia Woolf wurde

viele Male in die Klinik eingewiesen, aber ihre Familie sagte nie: Sie ist verrückt!,

sondern: Sie hat ‚schwierige Phasen’, und sobald es ihr besser ging, kam sie

wieder nach Hause und wurde mit offenen Armen empfangen. Im Fall von Lucia

machten es die Umstände leichter, sie zu ächten, sie wegzuschicken. Lucia

wollen wir loswerden, sie ist laut und macht Ärger.

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Erzählerin:

Sylvia Beach, die Verlegerin des Ulysses, wollte Joyces fünfzigsten Geburtstag

gebührend feiern und plante eine Party.

Der Tod seines Vaters und die Sorgen um Lucia, die weitere Anzeichen von

psychischer Instabilität erkennen ließ, veranlassten Joyce jedoch

die geplante Party abzusagen.

Seine Freunde kamen schließlich überein in der Wohnung von Eugene und

Maria Jolas ein ruhiges Abendessen an seinem Geburtstag zu veranstalten,

doch am Nachmittag vor der Feier wurde Lucia, die in einer depressiven Phase

war, plötzlich ungewöhnlich aggressiv. Sie beschuldigte ihre Mutter, sich in ihre

Beziehung zu Beckett einzumischen und warf schließlich mit einem Stuhl nach

ihr. Aus diesem Grund brachte Giorgio Lucia noch am selben Nachmittag in die

Heilanstalt „maison de santé“, das Abendessen fand trotzdem wie geplant statt,

allerdings in einer ziemlich gedrückten Stimmung.

(James Joyce / R. Ellmann / Suhrkamp Verlag)

Am 3.Juli 1932 schmuggelte Joyce Lucia und ihre Pflegerin aus der Klinik. Sie

nahmen den Zug nach Feldkirch. Dort ließ er sie in der Obhut von Maria Jolas.

(James Joyce / R. Ellmann / Suhrkamp Verlag / S.967)

Sprecher James Joyce

8. August 1932, Carlton Elite Hotel, Zürich

Cara figliola, vielleicht werde ich schließlich doch nach Feldkirch kommen, es

hängt von London ab. Ich werde in einigen Tagen Geld haben. Aber falls der

Vorschuss morgen oder Mittwoch Morgen kommt, werde ich vielleicht bis

Samstag auf einen Sprung hinfahren, um Dich zu besuchen. Ich könnte dort

unten vielleicht mit Jolas arbeiten. Das ist eine gute Idee. Aber wie immer, mit

weit offenem Mund für herabregnende Münzen. Du hast einen schönen Trottel

von Vater. Es freut mich, dass Du dicker geworden bist. Du warst zu dünn. Ich

werde Dich auf alle Fälle bald wiedersehen. Viele Grüße an Mamma, ich

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umarme Euch beide. Babbo (Briefe III / R. Ellmann / Suhrkamp Verlag)

Erzählerin:

Als im Januar 1934 der Roman „Ulysses“ endlich in den USA in voller Länge als

Buch erschien, klingelte das Telefon im Hause Joyce unaufhörlich, Freunde und

Bekannte riefen an, um ihm zu gratulieren.

Lucia, aufgebracht über den Lärm, den der Ruhm ihres Vaters verursachte,

schnitt daraufhin die Telefonleitung durch. Sie wurde repariert, aber Lucia schnitt

sie wieder durch. (James Joyce / Richard Ellmann / Suhrkamp Verlag E. S.678-9)

Auf einer Geburtstagsparty am 2.Februar 1934 begann sie auf Nora

einzuschlagen, die Familie wies Lucia daraufhin erneut in das Sanatorium Forels

in Nyon ein. (James Joyce / Richard Ellmann / S.982)

Sprecher James Joyce

Mai 1934

Cara figliola, Ich habe Dir nicht schon eher geschrieben, weil ich dachte, es wäre

besser, Dich da unten in Frieden zu lassen. Aber Dr. Humbert hat uns

geschrieben. Wir hören mit Freuden, dass Dir Nyon gefällt. Ich hoffe, die “bise”

ist zu dieser Jahreszeit nicht allzu aktiv. Zeichenstunden kannst Du zwei- oder

dreimal die Woche nehmen. Das berühmte Buch soll Ende dieses Monats in

Holland erscheinen, wie der Verleger sagt. Bitte grüß Dr. Forel von mir. Dr.

Humbert werde ich morgen schreiben. Mutter möchte dringend, dass Du

zunimmst. Schreib, wenn Du irgendetwas brauchst. Also leb wohl, vergnüg dich

und ruhe Dich aus. Wir umarmen Dich. Babbo (James Joyce /Richard Ellmann /

Suhrkamp Verlag)

OT David Norris:

Und dann begann sie als Illustratorin zu arbeiten, als Künstlerin und Joyce bat all

seine Freunde um Unterstützung. Er drängte sie, für eine Sonderausgabe mit

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Auszügen aus „Finnegans Wake“ zu spenden, die Lucia illustriert hatte, indem

sie die Initialen nach Art des „Book of Kells“ ausschmückte.

Und sie war begabt. Aber wieder gab sie auf, immer war sie die Tochter des

großen Schriftstellers James Joyce. Ihrem Bruder Giorgio ging es genauso. Ich

höre ihn noch sagen: „Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, in

einen Saal voller amerikanischer Wissenschaftler zu kommen und festzustellen,

dass jeder einzelne das Privatleben deiner Eltern genauer kennt als du selbst.“

Ein ziemlich entsetzlicher Gedanke! Giorgio versuchte, diesem Einfluss zu

entkommen, indem er nach Amerika ging und beim Radio arbeitete; er hatte eine

wunderschöne Bass-Bariton-Stimme. Aber das Talent der Kinder wurde im

gewissen Sinn im Keim erstickt. Nie konnten sie die Größe des Vaters erreichen.

Sprecher James Joyce

15 Juni 1934 (Paris)

Cara figliola, aus Deinem letzten Brief sehe ich, dass Du große Fortschritte

gemacht hast, aber gleichzeitig ist ein trauriger Unterton darin, der uns nicht

gefällt. Warum sitzt Du immer am Fenster? Das macht sich gewiss sehr hübsch,

aber ein Mädchen, das in den Feldern spazieren geht, macht sich auch hübsch.

Schreib uns häufiger. Und vergessen wir Geldsorgen und schwarze Gedanken.

Ti abbraccio

Vater

(James Joyce / R. Ellmann / Suhrkamp Verlag)

Song Lucia : Love old sweet song :ll

Erzählerin:

Lucia verbrachte die nächsten Jahre in verschiedenen Sanatorien, sie wurde

mehrmals entlassen und immer wieder eingewiesen. Sie wurde von den

verschiedensten Ärzten, unter ihnen auch Carl Jung, behandelt

und als schizophren, neurotisch und manisch-depressiv diagnostiziert.

(James Joyce / Richard Ellmann / Suhrkamp Verlag)

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Oktober 1934 Brief aus Jungs Klinik

Sprecherin: Lucia

Mein lieber Babbo!

Ich habe dich sehr lieb. Vielen Dank für den hübschen Stift. Zürich ist doch sicher

nicht der schlimmste Ort auf der Welt? Vielleicht kannst Du eines Tages mit mir

ins Museum gehen, Vater. Ich glaube, dass Du einen Haufen Geld für mich

ausgibst. Vater, wenn Du nach Paris zurückgehen willst, wäre es schon gut,

wenn du das tätest. Liebster Babbo, ich habe ein zu schönes Leben gehabt. Ich

bin verwöhnt. Ihr müsst mir beide verzeihen. Ich hoffe, dass Du wieder

herkommst. Vater, wenn mir jemals einer gefällt, schwöre ich Dir beim Haupte

Christi, dass es nicht deshalb ist, weil ich dich nicht lieb habe. Vergiss das nicht.

Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich schreibe, Vater. In Prangins habe ich eine

Menge Künstler gesehen, besonders Frauen, die mir alle sehr hysterisch

vorkamen. Ob ich auch so werde? Nein, es wäre besser, Schuhe zu verkaufen,

wenn man das mit Schlichtheit und Wahrhaftigkeit tun kann. Übrigens weiß ich

nicht einmal, ob alles das, was ich hier schreibe, Dir irgendetwas bedeutet.

Ich hätte gern ein so ruhiges Leben, wie ich es jetzt habe, mit einem Garten und

vielleicht einem Hund, aber niemand ist jemals zufrieden, meinst Du nicht auch?

So viele Menschen haben mich und Mama beneidet, weil Du so gut bist. Es ist

schade, dass du Irland nicht gern hast, denn es ist doch ein wunderschönes

Land, wenn ich das nach den Bildern, die ich gesehen habe, und den

Geschichten, die ich gehört habe, so sagen kann. Wer weiß, was das Schicksal

für uns bereithält? Jedenfalls, trotz der Tatsache, dass das Leben heute Abend

und hier voller Licht zu sein scheint, wenn ich jemals fortgehen sollte, wäre es in

ein Land, das in gewisser Hinsicht Dir gehört, ist das nicht wahr, Babbo? Du

siehst, ich schreibe immer noch dummes Zeug.

Ich sende Euch beiden herzliche Grüße, und ich hoffe, dass Du neulich den Zug

nicht versäumt hast. Lucia (James Joyce / Richard Ellmann / Suhrkamp Verlag /

S.994-995)

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OT David Norris:

Ich war mit einer sehr interessanten Frau befreundet, die eine der ersten

Biographien über Joyce geschrieben hat. In der Schweiz interviewte sie Jung

über Lucia. Und sie zeigte mir das Protokoll, das Jung über Lucias

psychoanalytische Untersuchung angefertigt hatte. Jung sagte darin, dass Joyce

und Lucia wie zwei Menschen seien, die auf den Grund eines Flusses

zustrebten. Während Joyce dabei tauchte, ertrank Lucia. Mit anderen Worten: Er

hatte unter Kontrolle, was in unkontrollierter Form vielleicht zur Schizophrenie

führen konnte, während Lucia der Umklammerung erlag; sie stürzte hinab, rang

nach Luft und ging unter.

Musik: NUVOLETTA Song Lyrics /FW

Nuvoletta in her light dress, spun of sisteen shimmers,� was looking down

on them, leaning over the bannisters and listening all she childishly could.

… she smiled over herself like the image of the pose of the daughter of

the Emperor of Ireland� and she sighed after herself as were she born to

bride with Tristis Tristior Tristissimus…

OT David Norris:

Mitte der 30er Jahre ernannte sie sich selbst zu einer Art Gesandten von James

Joyce dem irischen Volk gegenüber Bevollmächtigten – das war eine ihrer

exzentrischen Vorstellungen –, sie tauchte plötzlich in Dublin auf und fuhr dann

nach Bray, um dort bei ihrer Cousine Bozena Schaurek zu wohnen. Sie verkroch

sich in deren Bungalow, aber sie war ein sehr eigenartiger Gast: Sie bestand

darauf, auf dem Fußboden Torfstücke anzuzünden. Sie hatten schreckliche

Angst, sie würde das Haus in Brand stecken. Dann verschwand sie für vielleicht

eine Woche und Nora Barnacle, Joyce’ Ehefrau, und ihr Onkel reisten aus

Galway an, suchten die Gegend ab und fanden sie schließlich.

Unglückseligerweise führte sie sich derart auf. Ich weiß, dass auch Maria Jolas,

große Schwierigkeiten damit hatte. Sie konnte leider manchmal sehr heftig

werden in ihrer Eifersucht auf ihre Mutter. Die Einzelheiten wird man niemals

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erfahren, weil die National Library dummerweise und wahrscheinlich auch illegal

Joyce’ Enkel erlaubte, die Briefe mitzunehmen.

OT James Joyce liest “Finnegans Wake”

OT David Norris:

Maria Jolas, die ja „Finnegans Wake“ veröffentlicht hat, ließ mich einmal in Paris

ein Band mit Giorgios Gesang hören, das war sehr interessant und sehr, sehr

schön. Joyce hatte das selbst vertont, mit einem schönen geheimnisvollen

Grundmotiv. Joyce war ein sehr guter Musiker. Seine Frau Nora sagte immer zu

ihm: Siehst du? Hättest du deine Karten richtig gespielt, hättest du ein zweiter

John McCormick sein können. Dieser große irische Tenor. Sie war nicht allzu

beeindruckt von Joyce als Schriftsteller. Aber sie war äußerst loyal, und nach

Joyce’ Tod verteidigte sie hartnäckig seinen Ruf, und wenn jemand sie wegen

„Ulysses“ fragte, sagte sie: Machen Sie sich keine Gedanken um „Ulysses“, das

wahre Buch ist „Finnegans Wake“. Also für eine Frau, die „Ulysses“ gar nicht

gelesen hatte, ist es unwahrscheinlich, dass sie sehr viel über „Finnegans Wake“

wusste, außer dass es Joyce unwahrscheinlich viel bedeutete. Und natürlich war

das Werk weithin unbekannt und unbeachtet. Zunächst einmal erschien es ja in

einer sehr unruhigen Zeit der europäischen Geschichte, der Zweite Weltkrieg

brach gerade aus. Und dann verschmolz Joyce darin 60 Weltsprachen, um die

phanthasmagorische Sprache des Traumes zu kreieren, die sich ständig

wandelt. Die meisten finden es völlig unmöglich zu lesen. Außerdem gibt es darin

sprachliche Eigenheiten, mit denen der gewöhnliche Leser nicht zurechtkommt.

Und obgleich Joyce diese vollständig experimentelle Sprache erschafft, klopft

doch darunter das Herz der englischen Prosodie, dieses „I am… bu…bump,

bu…bump, bu…bump … John Gilpin was a citizen / of credit and renown“ (John

Gilpin war ein Bürger hier / von Ruf und Anseh’n stark)

Wenn man dieses bemerkenswerte, anderthalb Zeilen lange Wort in Versfüße

zerlegt, entdeckt man, dass es in Wirklichkeit das erste einer Reihe von

Donnergrollen ist, das durch das gesamte „Finnegans Wake“ hallt und den

viconischen [zyklischen] Wechsel historischer Epochen ankündigt.

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The fall /sound performance from................................ D.N.

Das ist Donner, in jeder Sprache. Übrigens da war ein Klingeln an der Tür. Wie

passend! Wie sie bestimmt wissen, hatte Joyce sehr schwache Augen, und eine

Zeitlang benutzte er verschiedene Freunde, auch Samuel Beckett, um Abschnitte

aus „Finnegans Wake“ niederzuschreiben, und da waren sie einmal mitten in so

einer Sitzung und es klopfte an der Tür und Joyce sagte: Herein! Und als sie

durchlasen, was er diktiert hatte, war da Becketts „Herein“ im Text und Joyce

fragte: Woher kommt das denn? Sie kamen dann darauf, dass es dieses

Klopfen an der Tür gewesen war und Beckett wollte es schon streichen, aber

Joyce sagte: Nein, nein, es ist wunderbar, lass es drin. Denn es war ja ein Buch

über kosmische Fügung, und da war nun der Kosmos und nahm teil an der

Erschaffung des Buches durch eine Fügung.

OT Tom Kilroy:

Lucias Krankheit wurde immer heftiger, das lief parallel zum Schreiben an

“Finnegans Wake”, und es gibt in dem Buch eine Art des freien Assoziierens, die

nicht allzu weit entfernt ist von der Art des Monologs eines schizophrenen

Patienten. Dieselbe Zersplitterung, entstanden durch den Zusammenbruch von

Sprache und Ordnung; trotzdem liegt „Finnegans Wake“ eine sehr strenge

Ordnung zugrunde. Aber es ist unbestreitbar, dass Lucia in diesem Buch ein

große Präsenz hat. Da ist die Figur dieses jungen, tanzenden, jungfräulichen

Mädchens, die durch das Buch schwebt und in immer wieder neuen Gestalten

erscheint. Lucia hatte wenig Zugang dazu. Sie behauptete plötzlich, dass sie

„Finnegans Wake“ nicht verstehe, dass sie nicht folgen könne, wie auch immer.

Ich denke, dass Lucias Hoffnung, selbst Künstlerin zu werden, vollständig

aufging in der Rolle von Joyce als Künstler. Und da liegt eine Blockade vor, wie

sie auch in Lucias Liebesleben vorliegt, in ihrem Gefühlsleben, und diese

Blockaden – die künstlerische und die emotionale – sind Teil des tragischen

Schicksals, das Kind eines großen Künstlers zu sein.

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Musik: Nouvelet / FW

Oh, how it was duusk. From Vallee Maraia to Grasya plaina, dormimust

echo!�Ah dew! Ah dew! It was so duusk that the tears of night began to

fall,�first by ones and twos, then by threes and fours, at last by fives and

sixes of sevens,�for the tired ones were wecking; as we weep now with

them.�O! O! O! Par la pluie...(FW 130)

OT David Norris:

“Finnegans Wake” ist ja ein gewaltiges Buch. Es hat Abertausende von Quellen,

es ist völlig eingebettet in die europäische wie auch in die Weltkultur. (Ein

Klopfen an der Tür) Da ist James Joyce wieder.

OT David Norris:

Lucia hatte die Fähigkeit, neue Worte zu kreieren, mit der Sprache zu

experimentieren, Neologismen zu erfinden, und das sprach Joyce natürlich sehr

an. Sie machte das instinktiv, was er als rigide intellektuelle Disziplin betrieb. Und

jeder, der denkt, dass „Finnegans Wake“ so etwas wie ein dadaistisches Stück

oder surrealistisches Werk ist, irrt sich gewaltig. Joyce bleibt immer der große

Klassizist. Jede Silbe von „Finnegans Wake“ wurde ausprobiert, gewichtet,

untersucht, studiert und von den Kräften des Joyce’schen Intellekts genau an der

Stelle gesetzt, wo sie die Bedeutung bekam, die er ihr zugewiesen hatte. Es ist

eins der Probleme, dass wegen all der Wortspielereien in den verschiedenen

Sprachen ungefähr acht verschiedene Handlungsstränge gleichzeitig ablaufen.

Für uns gewöhnliche Sterbliche ist es schon sehr schwer, den vollen Klang zu

bekommen, wenn wir Joyce’ Wake folgen, und das ist einer der Gründe, warum

ein Buch wie „Finnegans Wake“ am lebendigsten durch eine Aufführung wird.

Also, das war zum Teil der Einfluss von Lucia. Auch sie hatte – wegen ihrer

geistigen Verfassung – diese Fähigkeit, Risse in der Logik sowohl zu erschaffen

als auch zu verstehen. Und gerade das war Joyce’ Spezialität.

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Erzählerin:

Maria Jolas erinnerte sich, wie Joyce einmal sagte: “Die Leute reden über

meinen Einfluss auf meine Tochter, doch wie steht es mit ihrem Einfluss auf

mich?” (James Joyce/R.Elmann/ Shurkamp Verlag S. 1005)

Nuvoletta / Song Lyrics

Dann reflektiertr Nuvoletta zum letzten mal in ihrem kleinlangen Leben

und sie sammelte all ihre Myriaden schweifender Sinne in einem. Sie

annullierte all ihre Verflectungen. Sie kletterte über die Bannerstellarden;

ihr entfuhr ein kindiger wolkiger Schrei: Nuee! Nuee! Ein sachtgewind

flatterte. Sie war fort.( FW 131)

OT Carol Shloss:

Joyce erschafft Assoziationsmuster. Ich konnte also den außerordentlichen

Einfluss dieser jungen Frau auf “Finnegans Wake” erkennen, aber ich entdeckte

noch mehr. Nämlich dass das junge Mädchen dann eine junge Wolke wird.

Warum diese Assoziation? Wegen des Regens. Und der Regen, das sind

Tränen, aber er nährt auch die Erde. Wenn Sie nun die Daten nebeneinander

stellen, wenn sie sorgfältig auf die Entstehung des Textes schauen, dann sind

dies sehr traurige Stellen. Diese Stellen, wo die Tochter im wahrsten Sinne des

Wortes vom Haupttext in eine Fußnote verbannt wird, entstehen genau in der

Zeit von Lucias Krise. Er ist also ein Vater, der das Potenzial seiner jungen

Tochter erkennt und dann sieht, wie es zusammenbricht.

OT James Joyce liest:

Anna was, Livia is, Plurabelle`s to be............

OT Carol Shloss:

1939, das Jahr das überall Umsturz brachte, politisch und auch im Leben der

Familie Joyce. Als die Deutschen in Paris ein marschierten, war Lucia in einer

Nervenheilanstalt.

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Sie durchlebte die heftige Bombardierung von Paris, eine Erinnerung, die sie ihr

Leben lang verfolgte. Die Kriegserfahrung war traumatisch.

Wie für alle Institutionen gab es einen Evakuierungsplan. Der Direktor von Lucias

Krankenhaus war sehr umsichtig, er hatte für die Patienten einen Ort an der

Küste gefunden. Die übrige Familie Joyce zog nach Südfrankreich. Joyce

versuchte die ganzen letzten Jahre seines Lebens, Lucia wieder mit der Familie

zu vereinen. Es war sehr schwer, aber er war äußerst geduldig und vorsichtig.

Jeden Schritt seines Plans musste er mühselig erarbeiten.

Erzählerin:

13. August 1940, Hôtel du Commerce, S.Gérand-le-Puy, Allier, France

Sprecher James Joyce

Lieber M. Mercanton, wie Sie aus dem beiliegenden Brief ersehen, sind wir im

Begriff, um die Einreisegenehmigung in die Schweiz nachzusuchen - wir, das

heißt mein Sohn mit seinem Sohn (acht Jahre alt), ich und meine Frau und

meine Tochter. Es wäre für mich eine große Hilfe, wenn Sie mir gewisse

Informationen besorgen können. Mein Enkel würde nach unseren Plänen mit

seinem Vater nach Lausanne gehen, seine Mutter ist unglücklicherweise immer

noch unter Aufsicht. Meine Tochter ist im Augenblick in der Clinique des

Charmettes, Pornichet (L.I.), 12 km von Saint-Nazaire, bei Dr. Achille Delmas,

der sie seit fünf Jahren betreut. Ich möchte wissen, ob man sie aufnehmen und

an der Grenze abholen würde, wenn und falls sie dorthin kommt. Sie leidet seit

siebeneinhalb Jahren an Zyklothymie. Sie ist über dreiunddreißig, spricht

fließend französisch.

Sie ist von Natur aus heiter, sanftmütig und spöttisch, aber sie hat plötzlich und

ohne jeden Anlass Wutausbrüche und muss dann in die Zwangsjacke gesteckt

werden. Diese Anfälle sind jetzt selten, aber nicht voraussehbar. Bitte antworten

Sie mir so bald wie möglich (und lassen Sie mir die Prospekte der Klinik und der

Internate zuschicken).

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Vielen Dank. Herzlichst, Ihr James Joyce

(Briefe III / R. Ellmann / Suhrkamp Verlag)

Erzählerin:

23. November 1940 an Louis Gillet

Sprecher James Joyce:

Der Plan, meine Tochter zu übersiedeln, zu dessen Ausführung ich alles

angeordnet zu haben glaubte, ist also immer noch in der Schwebe. Und wir sind

es auch, oder sitzen vielmehr schon seit Monaten auf unseren Koffern....

(Briefe III / R. Ellmann / Suhrkamp Verlag)

Erzählerin:

28. November 1940, an Carla Gidion–Welcker

Sprecher James Joyce:

Ich habe heute Morgen die beiden beiliegenden Briefe erhalten. Jetzt kommt die

Einreisegenehmigung, und die Ausreisegenehmigung wird widerrufen. Ich war

zunächst so aufgebracht, dass ich den Plan, in die Schweiz zu gehen, aufgeben

wollte. Dann habe ich überlegt, dass ich hier immer nur noch machtloser werden

würde und dass ich in der Schweiz mehr für sie tun könnte. Ich habe die Irische

Gesandtschaft angerufen, und jetzt gibt mir der Gesandte ein

Empfehlungsschreiben an Mr. Sears Lester in Genf. Ich glaube, er könnte mit

Hilfe des internationalen Roten Kreuzes Entscheidendes bewirken. Schließlich ist

meine Tochter krank und an einem gefährdeten Ort. In dem Briefe, den ich Ihnen

schicke, geht es hauptsächlich um Lucia. Herzliche Grüße,

James Joyce (Briefe III / R. Ellmann / Suhrkamp Verlag)

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OT Carol Shloss:

Die Familie Joyce musste sich dazu entschließen, ohne sie in die Schweiz zu

ziehen. Und dann starb Joyce. Das hatte Auswirkungen auf alle, und nach dem,

was Lucia wusste, hatte man sie einfach aufgegeben.

Es gab für sie keine Möglichkeit zu erfahren, wie sehr ihr Vater versucht hatte,

sie zu finden und sie von dort fortzuholen. Sie war einfach verlassen. Sie erfuhr

erst aus der Zeitung und dem Radio, dass ihr Vater gestorben war.

Nora und Giorgio führten ein sicheres Leben in der Schweiz, Harriet Weaver

kümmerte sich um sie. Nach Kriegsende versuchten Nora und Giorgio aber nicht,

etwas für Lucia zu tun. Da gibt es sogar einen Brief, ich konnte es nicht glauben,

als ich ihn fand. Er ist von Giorgio an ... ich hab jetzt den Namen der Bank

vergessen … ‚Ich hoffe, Sie erwarten nicht von mir, dass ich mich um Lucia

kümmere, denn wir haben kein Geld; ich werde es nicht tun.’ Er schreibt sie

einfach ab. Und Nora unternimmt nichts. Das schien mir außerordentlich wichtig.

Ich befragte Brenda Maddox dazu, ich sagte ‚Warum haben sie sie nicht geholt

nach dem Krieg?’ Alles andere war durch die Umstände bedingt, durch die

Geschichte. Aber nun ist der Krieg vorbei, die Menschen können sich wieder frei

bewegen. Und die Joyces waren immer noch versorgt durch Harriet Weavers

Geld. Warum holten sie Lucia nicht oder versuchten wenigstens sie zu sehen?

OT Carol Shloss:

1955 verließ Lucia Frankreich auf Veranlassung von Harriet Weaver. Harriet

Weaver war klar geworden, dass Nora und Giorgio kein Interesse an Lucia

hatten. Wenn also irgendetwas für sie getan werden konnte, musste sie das tun.

Die Anstaltsleitung in Paris wollte Lucia nach Südfrankreich bringen lassen; sie

war nicht gewalttätig, gar nichts, sie wurde dort einfach nur verwahrt, erhielt auch

keine Behandlung. Harriet Weaver dachte: „Wenn ich mich also um sie kümmern

soll, dann soll sie in meiner Nähe sein. Nora wird sie ohnehin nie besuchen.“ So

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wurde Lucia 1955 nach England geflogen, so dass Harriet Weaver sie besuchen

konnte, und später deren Patentochter.

OT H.W. Gabler:

Als ich die Vorbereitungen für die große kritische Ausgabe von James Joyce

"Ullysses" in den siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten begann, habe ich

auch in der Bibliothek der Princeton-University nach Joyce Materialien gesucht.

Dort lag der Nachlass oder ein Teil des Nachlasses von Silvia Beach, der

Verlegerin des "Ulysses", und darunter waren Briefe, die sie noch in den

fünfziger Jahren mit Lucia Joyce gewechselt hatte, und das war ein ganz

eigenartiges Erlebnis, denn ich stieß da auf einen ersten Brief, in dem stand der

Satz: "They tell me my father died". Und eine oder zwei Wochen später datiert

ein weiterer Brief: "They tell me my mother died." So aus ganz großer Ferne

klang diese Stimme und es waren 10 Jahre nach dem Tod ihres Vaters und es

war das Jahr des Todes ihrer Mutter und allmählich erst drang die Außenwelt

wieder zu Lucia Joyce durch, es waren wohl damals neue Psychopharmaka in

eingesetzt worden und sie nahm wieder Kontakt zur Welt auf und diese

Stimmen, die ihr vom Tod ihrer Eltern berichteten, waren das erste, was da

durchklang, gleichzeitig "they tell me, they tell me...." als ob sie auch unbeteiligt

sei an dem, was da ihren nächsten Angehörigen nun geschehen war.

OT Carol Shloss:

So lebte sie für den Rest ihres Lebens, von 1955 bis 1982, in Northampton.

Während dieser Zeit besuchten sie viele Joyce-Forscher, auch Richard Ellmann,

als er seine Joyce-Biographie schrieb.

OT Tom Kilroy:

Ich kenne jemanden, der aus irgendeinem Grund ihre Akte zu Gesicht bekam,

und da stand sehr wenig drin. Ich will eine kleine Geschichte erzählen, eine

persönliche, die sich in den 80ern in Galway ereignete. Ich war gerade als

Professor in der Universität von Galway angekommen und wurde gebeten, die

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Tafel am Barnacle House in Galway zu enthüllen. Und dieses Barnacle House

war das damalige Haus von Nora Barnacle, der Frau von James Joyce und

Mutter von Lucia. Ich sagte zu, ging hin und fing an, diese Tafel zu enthüllen und

hielt meine Rede, aber noch bevor ich anfing, kam eine Dame auf mich zu,

übergab mir einen Brief und bat mich, ihn den Bewohnern von Galway

vorzulesen. Es war ein Brief von Lucia. Ich nahm ihn und las, es war ein sehr

klarer Brief, absolut verständlich, an die Bewohner von Galway adressiert, Sie

dankt ihnen darin, dass sie diese wunderbare Sache mit dem Haus ihrer Mutter

machen, ein Ort, den sie als junge Frau geliebt habe und an den sie viele

glückliche Erinnerungen habe. Ich stand also auf, las den Brief vor und hielt

meine Rede. Und dann habe ich den Brief nie wieder gesehen. Ganz klar, den

hat mir jemand aus der Hand genommen. Die Frau, die ihn mir gab, war Jane

Lidderale, die Nichte von Harriet Weaver, der großen Mäzenin von Joyce in

London, und sie war ja Lucias Pflegerin. Und da fragte ich sie: „Wie geht es

Lucia jetzt? Wie würden Sie sie beschreiben?“ Und sie sagte: „Ja, sie ist eben

diese kleine weißhaarige höfliche englische Dame, die nachmittags den Tee

serviert.“ Denn, wissen Sie, es war eine Art Botschaft aus der Vergangenheit,

eine Botschaft der Toten, von Lucia kommend.

OT David Norris:

Lucia war im St. Andrews Hospital in Northampton, und einige Iren reisten

regelmäßig an, um sie zu besuchen. Aber ich fühlte, da war auch etwas

Abstoßendes dabei, sie gingen nur hin, um über Lucia sprechen zu können, sie

besuchten die Tochter von James Joyce in der Nervenheilanstalt. Ich wollte das

nicht tun, denn ich hatte immer das Gefühl, dass Lucias Problem zum großen

Teil eben darin bestand, dass sie die Tochter von James Joyce war.

OT Hans W.Gabler:

Ich war erstaunt zu erfahren, dass auch Samuel Beckett bis zu ihrem Tode Lucia

Joyce regelmäßig besuchte.

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OT David Norris:

Sie starb im gleichen Jahr – und Joyce liebte solche Übereinstimmungen,

besonders bei Daten oder Geburtstagen – in dem er seinen 100. Geburtstag

hatte, 1982. Und ich war mit Jane Lidderdale, ihrer Pflegerin, in Verbindung, die

mir oft schrieb, wie es Lucia ging. Sie habe sich über den Brief oder das kleine

Buch gefreut, das ich ihr geschickt hatte, und so weiter. Und ich wollte nicht

aufdringlich sein, wollte keine dramatische Geste, aber angesichts ihres

tragischen und am Ende einsamen Lebens bat ich einen Blumenhändler, eine

weiße Rose zu schicken. Und man sagte mir später, das sei die einzige Blume

auf ihrem Sarg gewesen.

OT Peter Mulligan:

Lucia ist auf dem osteuropäischen Teil des Friedhofs begraben. Eine Tschechin,

schon recht alt jetzt, erzählte uns, sie habe bei einem Besuch dort auch das

Grab von Lucia Joyce gesehen, und dass eine weiße Rose darauf gelegen habe

und daneben eine Karte. Sie habe die Karte aufgehoben. Und sie erinnerte sich

an die Worte „in liebevoller Erinnerung, Samuel Beckett“.

Aber sie war sich nicht ganz sicher. Sie dachte vielleicht, der war doch berühmt,

aber sie war auch unsicher, ob sie die Karte behalten sollte? Sie entschied dann:

sie sollte zusammen mit der Rose am Grabstein liegen. Sie legte sie also zurück,

aber die Karte wurde vom Wind fortgeweht. Das ist eine schöne Geschichte,

dass gerade Samuel Beckett in den ruhigen Stunden seines Lebens einen ganz

privaten Besuch an Lucias Grab machte, eine Rose und eine Karte dort

niederlegte, nur um später zu erfahren, dass der Wind sie weggeweht hat …