Ludwig Seyfarth - Nora Schattauer · Ludwig Seyfarth Fleck und Raster Überlegungen zur Verbindung...

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Ludwig Seyfarth Fleck und Raster Überlegungen zur Verbindung des scheinbar Gegensätzlichen bei Nora Schattauer Wer das erste Mal auf die Kunst Nora Schattauers stößt, wird vielleicht vermuten, Aqua- relle vor Augen zu haben. Dünnflüssige Farbe scheint sich teilweise auf dem Papier verteilt zu haben und von ihm aufgesogen worden zu sein. Aquarellieren, das Malen mit Wasserfarbe, ist prädestiniert für die Wiedergabe von Amor - phem, Flüssigem und insbesondere Wasser, am prominentesten wohl bei Will iam Turner. Die fließende Farbe stellt nicht nur Flüssiges dar, sondern verkörpert es. Wie Aquarelle nehmen Schattauers Bilder, die man auch als Bildexperimente bezeichnen könnte, eine Art Zwischenstellung zwischen Zeichnung und Malerei ein. Doch verwendet sie nicht klassische Wasserfarben, sondern experimentiert mit minerali - schen Salzen und anderen chemischen Substanzen, deren Verhalten, auch zueinander, sie erforscht und die sie mit einer Pipette sorgfältig auf das Papier aufträgt. Nora Schattauer selbs t spricht dabei von gelenktem Zufall. Ich möchte zunächst der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis ihr Vorgehen zu einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition steht, die mehr oder weniger kontingente, amorphe Formen als "Transformator ästhetische r Erfahrung" nutzt. 1 In seiner naturalis historia berichtet Plinius d. Ä., wie dem griechischen Maler Protogenes die Darstellung eines Hundes vortrefflich gelang, bis er an der Darstellung des Schaums an der Schnauze verzweifelte. Nach zahlreichen missglüc kten Versuchen warf er aus Wut den Schwamm, mit dem er bereits aufgetragene Farbe weggewischt hatte, direkt auf diese Stelle. Der Fleck, den das Aufklatschen des Schwammes hinterließ, sah dann überraschender Weise so aus, als ob der Schleim des Hundes dire kt seine Spur hinterlassen hätte. Die Darstellung einer flüssigen Substanz durch eine flüssige Substanz ist auf visueller Ebene etwas Vergleichbares wie der onomatopoetische, lautmalerische Gebrauch der Sprache. Ein Fleck kann einen Fleck darstellen, aber auch als Ausgangspunkt für vielfältige Assozia - tionen dienen, die in ihn hineingesehen werden. Berühmt ist die Empfehlung von Leonardo da Vinci, die Betrachtung von Flecken als Inspi - ration für die künstlerische Einbildungskraft zu nutzen, systematisiert im 18. Jahrhundert durch den englischen Landschaftsmaler Alexander Cozens. Bei seiner ‚Blot' - Methode lässt Cozens "den tintengefüllten Pinsel halb bewusst, halb unbewusst, ohne lange zu stocken, über das Papier laufen, bis er meint, die Fläche des Blatt es angemessen struktu - riert zu haben." 2 Das geht weit über Leonardos Ansatz hinaus, denn bei diesem "handelt es sich um Zufallswahrnehmungen, die die künstlerische Wahrnehmung anregen können, bei Cozens dagegen ist (...) von gelenktem Zufall zu sprechen ( ...) entwirft sich der Künst - ler seine abstrakten, der Assoziation offenen Strukturen selbst ..." 3 Das ‚Blotten' ist in gewisser Weise das Entwurfsstadium eines Bildes, das sich aber deutlich von der mit dem Stift gezeichneten Skizze unterscheidet, welch e die Umrisse und Lage der Dinge grob festlegt. Cozens beschreibt dies selbst 1785 /86 in seinem Traktat "New Method of Assisting the Invention in Drawing Original Compositions of Landscape": "Skizzieren in geläufiger Weise bedeutet, Ideen vom Verstand auf Papier oder auf Leinwand zu transformieren, und zwar in Umrissform in ausgesprochen dünner Linie. Einen ‚blot' zu machen, bedeutet dagegen, Flecken und Formen mit Tinte aufs Papier zu

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Ludwig Seyfarth Fleck und Raster Überlegungen zur Verbindung des scheinbar Gegensätzlichen bei Nora Schattauer

Wer das erste Mal auf die Kunst Nora Schattauers stößt, wird vielleicht vermuten, Aqua- relle vor Augen

zu haben. Dünnflüssige Farbe scheint sich teilweise auf dem Papier verteilt zu haben und von ihm

aufgesogen worden zu sein.

Aquarellieren, das Malen mit Wasserfarbe, ist prädestiniert für die Wiedergabe von Amor- phem,

Flüssigem und insbesondere Wasser, am prominentesten wohl bei William Turner. Die fließende Farbe

stellt nicht nur Flüssiges dar, sondern verkörpert es.

Wie Aquarelle nehmen Schattauers Bilder, die man auch als Bildexperimente bezeichnen könnte, eine Art

Zwischenstellung zwischen Zeichnung und Malerei ein.

Doch verwendet sie nicht klassische Wasserfarben, sondern experimentiert mit minerali- schen Salzen und

anderen chemischen Substanzen, deren Verhalten, auch zueinander, sie erforscht und die sie mit einer

Pipette sorgfältig auf das Papier aufträgt. Nora Schattauer selbst spricht dabei von gelenktem Zufall.

Ich möchte zunächst der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis ihr Vorgehen zu einer bis in die Antike

zurückreichenden Tradition steht, die mehr oder weniger kontingente, amorphe Formen als "Transformator

ästhetischer Erfahrung" nutzt.1 In seiner naturalis historia berichtet Plinius d. Ä., wie dem griechischen

Maler Protogenes die Darstellung eines Hundes vortrefflich gelang, bis er an der Darstellung des Schaums

an der Schnauze verzweifelte. Nach zahlreichen missglückten Versuchen warf er aus Wut den Schwamm,

mit dem er bereits aufgetragene Farbe weggewischt hatte, direkt auf diese Stelle. Der Fleck, den das

Aufklatschen des Schwammes hinterließ, sah dann überraschender Weise so aus, als ob der Schleim des

Hundes direkt seine Spur hinterlassen hätte.

Die Darstellung einer flüssigen Substanz durch eine flüssige Substanz ist auf visueller Ebene etwas

Vergleichbares wie der onomatopoetische, lautmalerische Gebrauch der Sprache. Ein Fleck kann einen

Fleck darstellen, aber auch als Ausgangspunkt für vielfältige Assozia- tionen dienen, die in ihn

hineingesehen werden.

Berühmt ist die Empfehlung von Leonardo da Vinci, die Betrachtung von Flecken als Inspi- ration für die

künstlerische Einbildungskraft zu nutzen, systematisiert im 18. Jahrhundert durch den englischen

Landschaftsmaler Alexander Cozens. Bei seiner ‚Blot'-Methode lässt Cozens "den tintengefüllten Pinsel

halb bewusst, halb unbewusst, ohne lange zu stocken, über das Papier laufen, bis er meint, die Fläche

des Blattes angemessen struktu- riert zu haben."2 Das geht weit über Leonardos Ansatz hinaus, denn bei

diesem "handelt es sich um Zufallswahrnehmungen, die die künstlerische Wahrnehmung anregen können,

bei Cozens dagegen ist (...) von gelenktem Zufall zu sprechen (...) entwirft sich der Künst- ler seine

abstrakten, der Assoziation offenen Strukturen selbst ..."3

Das ‚Blotten' ist in gewisser Weise das Entwurfsstadium eines Bildes, das sich aber deutlich von der mit

dem Stift gezeichneten Skizze unterscheidet, welche die Umrisse und Lage der Dinge grob festlegt.

Cozens beschreibt dies selbst 1785 /86 in seinem Traktat "New Method of Assisting the Invention in

Drawing Original Compositions of Landscape": "Skizzieren in geläufiger Weise bedeutet, Ideen vom

Verstand auf Papier oder auf Leinwand zu transformieren, und zwar in Umrissform in ausgesprochen

dünner Linie. Einen ‚blot' zu machen, bedeutet dagegen, Flecken und Formen mit Tinte aufs Papier zu

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bringen, wobei zufällige Formen ohne Linie produziert werden, von denen dem Verstand Ideen präsen-

tiert werden. Dies steht in Einklang mit der Natur, denn auch in der Natur sind Formen nicht durch Linien

unterschieden, sondern durch Schatten und Farbe. Skizzieren bedeutet, Ideen zu zeichnen; ‚blotting'

bedeutet, Ideen nahezu legen." 4

Wenn Werner Busch mit seiner Schlussfolgerung Recht hat, damit sei "offensichtlich das klassische

Dogma vom Vorrang der Linie vor der Farbe in Frage gestellt",5 dann scheinen Cozens'

Fleckenkompositionen auf die ungegenständliche Malerei des 20. Jahrhunderts vorauszuweisen,

insbesondere auf das Informel und den Tachismus, der ja nach dem französischen Wort für Fleck benannt

ist. Hier stehen die amorphen Formen einerseits für sich selbst, legen aber auch diverse Assoziationen

nahe.

Nora Schattauers "Fleckentechnik" lässt sich einerseits als entfernte Variante von Cozens' Verfahren

ansehen, aber unterscheidet sich grundlegend sowohl von dessen Blotting als auch von der gesamten

Fleck-Tradition. Von einem Vorrang der Farbe vor der Linie,

wie er in der Entwicklung der modernen Kunst über Turner, den Impressionismus bis hin zu Informel, Color

Field Painting oder den Schüttbildern von Hermann Nitsch eine we- sentlich Rolle spielt, kann bei Nora

Schattauers Vorgehen keine Rede sein. Hier wird der Fleck als nicht definiertes Gebilde mit seiner

Eigenstruktur, Zufälligkeit und in seinen Form-Details selbst zum Inhalt.

Bei den meisten Blättern liegt ein strenges regelmäßiges Raster zugrunde, das die Fläche imaginär in

einzelne Kästchen oder Blasen einteilt. Nora Schattauer nutzt das Raster gleich- sam als lockeren

Rahmen, um das Ausbreiten und sich Verbinden der Substanzen zu kontrollieren. Ein aktives Eigenleben

entwickelt die Linie auf den Bleistift- oder Kohlezeich- nungen Nora Schattauers, die teilweise m it

geschlossenen Augen entstehen. Die freie Linienführung und gleichzeitige manuelle Kontrolle des Verlaufs

ist vergleichbar mit dem Prozess des Auftragens der Farbe auf ein Blatt Papier. Linie und Farbe sind nicht

nur absolut gleichwertig, sondern werden auch nicht kategorisch unterschieden. Sowohl Linie als auch

Farbe haben einerseits einen von jeder abbildenden Funktion gelösten Eigenwert, sind aber andererseits

auch als Darstellungen lesbar. Manchmal sieht es so aus, als ob einzelne helle Formen wie Mikroben in

einer dunklen Flüssigkeit schwimmen. Meist sind die Farbkon- traste jedoch zurückgenommen, die

gedämpften Töne, die sie selbst als "Zwischenfarben" bezeichnet, differenziert abgestuft. Es handelt sich

stets um die Eigenfarbe der verwende- ten Substanzen beziehungsweise ihrer Wechselwirkungen, wobei

die Künstlerin auch spä- tere, nach Beendigung der Arbeit am Bild stattfindende Farbveränderungen

einkalkuliert.

So ist jedes Bild von Nora Schattauer auch die Dokumentation von Prozessen, deren Ver- läufe nicht

vollständig steuerbar sind. Die aufgetragene Lösung drückt etwas Fließendes, Flüssiges aus und verweist

damit auf den Zustand, den sie während des Arbeitsprozesses hatte. Das sichtbare Resultat lässt sich

auch als ein ungewöhnliches Tableau Vivant lesen. Es handelt sich um eine angehaltene Bewegung, nur

nicht einer figürlichen Szenerie,

wie beim klassischen, auch im Film eingesetzten Tableau Vivant oder Still, sondern um die eines

Prozesses, der eine Nähe zu natürlichen Wachstumsprozessen suggeriert.

Damit erhält das strenge Raster der meisten Blätter eine völlig andere Wendung als das "Grid", das

Rosalind Krauss als Modell des selbstreferenziellen, auf nichts außerhalb seiner selbst verweisenden

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modernen Bildes interpretiert hat. "Flach, geometrisch, geordnet,

ist es anti-natürlich, anti-mimetisch, anti-real. Flach, geometrisch, geordnet. So sieht Kunst aus, wenn sie

der Natur den Rücken kehrt."6

Nora Schattauers Kunst hingegen kehrt der Natur nicht den Rücken, sondern stellt gleich- sam

Versuchsanordnungen her, in denen der "pencil of nature", wie der Fotopionier William Henry Fox Talbot

es formulierte, in einer dem chemischen Prozess bei der fotografischen Belichtung und Entwicklung nicht

ganz unvergleichbaren Weise selbst zeichnet.

Letztlich kombiniert Nora Schattauer die mathematische Regelhaftigkeit des Rasters, seine Starrheit,

Endgültigkeit und Undurchlässigkeit, mit der offenen, prozessualen, assoziativen und transparenten Natur

des Flecks. Die strenge Geometrie des Rasters wird gleichsam verzogen und verflüssigt. Damit unterläuft

ihre Kunst auch andere, auf ganz unterschied- lichen Ebenen liegende Dichotomien oder Grenzen, die

immer wieder gern gezogen werden: zwischen dem Linearen und dem Malerischen, zwischen

konstruktivistischer und infor- meller Abstraktion, zwischen Darstellung und Selbstabbildung der Natur.

Nicht zuletzt erscheint ihr Vorgehen geradezu systematisch im Zwischenbereich zwischen Malerei und

Zeichnung, wobei auch Ähnlichkeiten zum fotochemischen Prozess vorhanden sind. Vielleicht sind es

doch Aquarelle, nur mit ungewohnten Substanzen hergestellt? Jeder Versuch, Nora Schattauers Kunst

begrifflich festzulegen, wird immer wieder damit konfron- tiert sein, dass etwas anderes oder das genaue

Gegenteil auch zutreffend sein könnte.

1 Friedrich Weltzien, "Von Cozens bis Kerner. Der Fleck a ls Transformator ästhetischer Erfahrung", in:

Sonderforschungsbereich 626 (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit,

Berlin 2006. http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/aufsaetze/weltzien.pdf

(Abruf 01. 04. 2013)

2 Werner Busch, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der

Moderne, München 1993, S. 346.

3 Ebd.

4 Zit. n. ebd., S. 348.

5 Ebd.

6 Rosalind E. Krauss, Raster (1978), in: dies., "Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der

Moderne", hg. von Herta Wolf, Amsterdam und Dresden 2000, S.51–66, hier S.51.