Lücken im Medikamentenmanagement geschlossen - K r a n k e n p f l e g e SBK 3/2012

3

Click here to load reader

description

Lücken im Medikamentenmanagement geschlossen - K r a n k e n p f l e g e SBK 3/2012 · brainguide Das Luzerner Wohnheim Titlis für erwachsene Menschen mit schwerer Behinderung geht innovative Wege bei der Medikamentenabgabe und erhöht damit die Abgabesicherheit. Alle Medikamente stammen aus derselben vertraglich gebundenen Apotheke und werden direkt ins Wohnheim geliefert. Ein Teil dieser Medikamente wird via einer spezialisierten Firma als verblisterter «Medifilm» bereit gestellt.

Transcript of Lücken im Medikamentenmanagement geschlossen - K r a n k e n p f l e g e SBK 3/2012

Page 1: Lücken im Medikamentenmanagement geschlossen - K r a n k e n p f l e g e SBK 3/2012

18 K r a n k e n p f l e g e 3/2012S o i n s i n f i r m i e r s

FRIEDEMANN H ESSE

LAUT LAUT einer Jahresauswertung, dievom September 2009 bis September2010 durchgeführt wurde, erhieltendie Bewohnerinnen und Bewohner desWohnheims Titlis rund 87 950 ver-schiedene vom Arzt verordnete Medi-kamentenportionen. Nicht jedem Be-wohner werden täglich Medikamenteverabreicht, dennoch sind es im Durch-schnitt pro Tag und Bewohner rund 8,3rezeptpflichtige Medikamenteneinhei-ten, aufgeteilt in drei bis vier Portio-nen. Für jede Portion muss rechtlichgesehen der Ablauf von der Verord-nung, Bestellung, Lieferung, Lagerung,Kennzeichnung, Dokumentation, Über-wachung bis zur Anwendung durch eineFachkraft sichergestellt sein, ein enor-mer Aufwand, der wertvolle personelleRessourcen bindet. Ausserdem sind dieFehleranfälligkeit und die Fehlerquotebeim Portionieren in handelsüblichenDosierboxen nachweislich recht hochund gefährlich.

Vor der Einführung des neuen Systemsgingen in der gesamten Stiftung bis zu 75Prozent der freiwillig gemeldeten CIRS-Fehler auf das Konto des Medikamenten-managements. Trotz institutionalisiertemQualitätsmanagementsystem, darauf ba-sierender Evaluation der Fehlerquellenund Verbesserung der Abläufe liess sich

die Fehlerquote nicht merklich senken.Die Geschäftsleitung beschloss deshalb,das Medikamentenmanagement grund-legend zu überarbeiten. Um sicherzustel-len, dass die gesetzlichen Rahmenbedin-gungen eingehalten sind, wurde der Kan-tonsapotheker Luzern aktiv in das Projekteingebunden.

Heim – Arzt – Apotheke

Als erstes wurde eine öffentliche Apo-theke gesucht, die bereit war, als Schnitt-stelle zwischen Heim, Ärzten und Her-stellerin der Medikamentenblister mitzu-arbeiten. In einem Zusammenarbeits-vertrag mit der See-Apotheke Luzernwurden sowohl die rechtlichen Anforde-rungen als auch die Dienstleistungenfestgehalten. In einem nächsten Schrittgalt es, die behandelnden Ärzte für dasneue System und die vorhandenen Feh-lerquellen im Medikamentenabgabebe-reich des Wohnheimalltags zu sensibili-sieren. Dies bedeutet eine wesentlicheVeränderung, da unsere Ärzte zum Teilgewohnt sind, weitgehend eigenständigzu handeln und die Medikamente direktaus der Praxis an die Bewohner abzuge-ben oder ins Heim zu liefern. Die wich-tige und gute Zusammenarbeit zwischenHeim und Arzt zeigte, dass man durch einen rationelleren Ablauf eine Optimie-rung für die Behandlung der Bewohne-

P f l e g e m a n a g e m e n t

Das Luzerner Wohnheim Titlis für erwachsene Menschen mit schwerer Behinderung geht innovative

Wege bei der Medikamentenabgabe und erhöht damit die Abgabesicherheit. Alle Medikamente stam-

men aus derselben vertraglich gebundenen Apotheke und werden direkt ins Wohnheim geliefert. Ein

Teil dieser Medikamente wird via einer spezialisierten Firma als verblisterter «Medifilm» bereit gestellt.

Lücken im Medikamenten-management geschlossen

Modell Titlis

rinnen im Heim erzielen kann. Heutestammen alle Medikamente aus einerQuelle und laufen über die Apotheke inLuzern, die als fachtechnische Verant-wortliche die Prozessabläufe begleitetund die Qualitätssicherheit prüft.

Die festen Medikamente (Tabletten,Kapseln, Dragées etc.) werden von derspezialisierten Pharmafirma Medifilm zueinem «Medikamentenfilm» verblistert(vgl. Kasten). Dabei hat sich das Wohn-heim Titlis für einen wöchentlichen Lie-ferrhythmus entschieden. Dieser kann jedoch jederzeit individuell angepasstwerden. Bei Bedarf sind Lieferungen innerhalb 24 Stunden möglich, jedochkommt dies im stationären Betreuungs-alltag kaum vor.

Medikamentenwagen

Auf jeder Station befindet sich ein mobi-ler Medikamentenwagen, dessen Schub-laden mit einem elektronischen Code gesichert sind, so dass nur ausgewählteMitarbeitende Zugriff haben. In denSchubladen gibt es für jeden Bewohnerein Fach, gekennzeichnet mit bewohner-spezifischer Farbcodierung und Bewoh-nerfoto. In diese Fächer kommen die Blis-terverpackungen, dazu separat nochFlüssigkeiten und Salben, und fertig istdie Medikamentenaufbereitung für eineganze Woche.

Fotos: Medifilm

Page 2: Lücken im Medikamentenmanagement geschlossen - K r a n k e n p f l e g e SBK 3/2012

19K r a n k e n p f l e g e 3/2012S o i n s i n f i r m i e r s

Mit dem mobilen Wagen fällt das unfle-xible System mit einem fixen, grossenMedikamentenschrank irgendwo in derStation weg. Die Wegzeiten sind kürzer,und das risikobehaftete Herumtragenvon Dosierboxen auf Tablaren entfällt.

Kleineres Lager

Das Fazit nach inzwischen rund einemJahr Erfahrung ist äusserst positiv. DerLagerbestand rezeptpflichtiger Medika-mente sank von 358 Einheiten auf 83Einheiten. Bei den nicht rezeptpflichtigenProdukten sank der Bestand um 40 Pro-zent von 121 Einheiten auf 73 Einheiten.Diese Einsparungen wirken sich direktauf den Arbeitsaufwand aus.

Pro Wohngruppe und Monat reduziertsich die Arbeitszeit für Bereitstellung, La-gerung, Kontrolle und Dokumentation derMedikamente um sechs Stunden. Im Hausbefinden sich nur noch die wöchentlichtatsächlich gebrauchten Medikamente. Esbraucht keine aufwändigen Verfalldaten-kontrollen mehr, bei einer Therapieände-rung bleiben keine Anbruchpackungenzurück, die Abrechnung erfolgt entspre-chend dem Verbrauch.

Statt sich stundenlang in einem abge-trennten Raum bei Logistik- und Adminis-trationsaufgaben aufhalten zu müssen,können die dringend benötigten Fachper-sonen nun ihre Zeit dort einsetzen, wo sieam wertvollsten ist, bei den Bewohnern.Kommt hinzu, dass in einem Wohnheimfür geistig behinderte Menschen das Be-treuerteam sehr heterogen ist. Zwar gibtes für jede Wohngruppe eine Pflegefach-person, die für die Medikamente verant-wortlich ist. Doch kann diese nicht an 365

Tagen rund um die Uhr anwesend sein.Es ist daher im Alltag unerlässlich, dassauch andere Teammitglieder die Medika-mentenversorgung sicherstellen können.

Klar definierte Abläufe

In guter Zusammenarbeit mit dem Kan-tonsapotheker Luzern wurde der Prozessgeklärt und entsprechend einer gültigenBewilligung umgesetzt. Alle Abläufe sinddokumentiert und werden gemäss denvorgegebenen gesetzlichen Rahmenbe-dingungen von verschiedenen Fachperso-nen kontrolliert. Der Arzt trägt seine Ver-ordnung direkt in das neu entwickelte Medikamentenblatt des jeweiligen Bewoh-ners ein. Anschliessend werden sämtlicheRezepte an den Vertragsapotheker über-

mittelt. Dieser kontrolliert die Dosierun-gen, überprüft die Verordnung auf Inter-aktionen und mögliche Unverträglichkei-ten und macht gegebenenfalls Vorschlägezu einer kostengünstigeren Therapie. BeiFragen nimmt er Rücksprache mit dembehandelnden Arzt oder der zuständigenPflegeperson im Wohnheim.

Der Apotheker übermittelt die bereinig-ten Verordnungen an Medifilm, welchedie Blister gemäss den aktuellen Rezeptennoch einmal prüft und dann für jeden Bewohner individuell herstellt. Die Liefe-rung erfolgt gesamthaft durch die Apothekedirekt an die entsprechende Wohngruppe,wo die verantwortliche Pflegefachpersonden Wareneingang prüft. Somit ist sicher-gestellt, dass der Prozess und die Doku-mentation der Verordnungen immer und

Medifilm

Einzelportionenmit Namen

Die spezialisierte Pharmafirma Medi-film verpackt die Medikamente gemässden aktuellen Rezepten individuell in einem «Medifilm». Bei dieser speziellenArt Blister handelt es sich um aneinan-dergereihte, transparente Kunststoff-beutel. Jeder Medifilm enthält die Medi-kamentenportionen für einen bestimm-ten Bewohner oder eine bestimmte Be-wohnerin. Jeder Beutel ist durch einePerforation leicht abtrennbar, so dassEinzelportion um Einzelportion heraus-gezogen werden kann. Jede Portion ist

Die Abläufe garantieren, dass der Patient das richtigeMedikament erhält.Foto: Andreas Fix, SSBL

mit dem Namen des Bewohners oderder Bewohnerin sowie Inhalt, Abgabe-termin und Formerkennungsangabenzum Medikament beschriftet. Der In-halt bleibt somit für die Pflegefachper-sonen jederzeit erkennbar. Jeder Be-wohner hat seine individuell für ihn erstellte Medifilmbox.

Page 3: Lücken im Medikamentenmanagement geschlossen - K r a n k e n p f l e g e SBK 3/2012

›Medikamente

› Patientensicherheit

›Management

www.sbk-asi.ch

jederzeit nachvollziehbar sind. In seinerVerantwortung liegt es auch, regelmässigin jeder Wohngruppe ein Selbstevalua-tions-Fachaudit durchzuführen und die-ses mit einem Bericht und geeignetenVerbesserungsmassnahmen abzuschlies-sen. In Zusammenarbeit mit den Pflege-fachpersonen bietet er zudem spezifischeMitarbeitenden-Schulungen in den Wohn-gruppen an, die sich auf die Bewohnerund deren aktuelle Therapie beziehen.

Gemäss dem «Sechs mal Vier-Augen-Prinzip» sind alle beteiligten Medikamen-tenspezialisten optimal involviert (sechsAugen bei der Kontrolle durch Arzt, Apo-theker und Pflegefachperson bei der Ver-ordnung und Diagnosestellung; vier Augenbei der Anwendung vor Ort durch zweiMitarbeitende, die eine weitere Kontrollevornehmen).

Befreit von Logistik

Durch das Modell Titlis ist die Institu-tion nun vollständig von den reinen Logis-tikaufgaben entlastet. Die Effizienzsteige-rung ist deutlich spürbar; die Verwaltungkonnte um 60 Prozent verringert werden.Wie bei jeder Änderung, musste auch dieLeitung des Wohnheims Titlis am AnfangÜberzeugungsarbeit leisten. Wenn seitJahren «bewährte» Abläufe hinterfragtwerden, löst dies skeptische Fragen aus.Andererseits war allen Beteiligten klar,dass eine so hohe Fehlerquote bei einer sogrossen Menge an Medikamenten nichthingenommen werden kann und auf derBasis des alten Systems offensichtlich kei-ne messbare Verbesserung zu erreichenwar. Die grösste Umstellung im Alltag be-deutete das Blistersystem in Kombinationmit der Einführung der neuen «6-R-plus-Regel» (vgl. Kasten) für die Mitarbeiten-den in den Wohngruppen. Sie musstensich nicht nur an geänderte Abläufe ge-

wöhnen, auch die Fehlerkultur erhielt einezentrale Bedeutung. Das neue Medika-mentenmanagement macht die gesamteProzesskette transparent, Fehler werdenwährend der mehrfachen Kontrollen un-weigerlich bis hin zur Abgabe aufgedeckt.

Es ist wissenschaftlich belegt, dass einGrossteil der Fehler im Bereich der Medi-kamentenabgabe auftreten und diese vor-wiegend auf dem sogenannten «letztenMeter», also bei der Abgabe an die Patien-ten, stattfinden. Hier ein Optimum an Si-cherheit anzustreben, ist zum Wohle vonPatienten und betreuten Personen uner-lässlich. Man darf aber nicht vergessen,dass Fehler auch auf die Mitarbeitendennegative Auswirkungen haben. Sie wollenja keine Fehler an den ihnen anvertrautenBewohnern machen und fühlen sich dar-

um oft mit Schuld, Scham, Frust, Angstund dem Gefühl der Unzulänglichkeit be-lastet. Das Ziel einer offenen Fehlerkulturliegt darin, Fehler zu kommunizieren, sodass alle Beteiligten daraus lernen. Esgeht nicht darum, einen Schuldigen zubrandmarken, sondern darum, Sicher-heitslücken im Prozess des Medikamen-tenmanagements zu schliessen.

Das Modell ist auch mit Blick auf dieKosten im Gesundheitssystem interes-sant: In der Vereinbarung des Leistungs-katalogs der Krankenkassen sind heutedie Abrechnungen, aber auch die ver-traglichen Kostenstabilisierungsbeiträgevon 2,3% auf allen abgerechneten Posi-tionen an die Krankenkassen verankert.Die See-Apotheke ist aufgrund des opti-malen Organisationsgrades des ModellsTitlis bereit, den Krankenkassen eineRückvergütung von einem weiteren zu-sätzlichen Prozent anzubieten.

Positive Erfahrungen

Überzeugt vom neuen System ist auchPascale Yamamoto, Pflegefachfrau HFund Verantwortliche für die Medikamenteim Wohnheim Titlis. Sie sagt: «Das System mit den Blistern und den kontrol-lierten Abläufen hat uns die Arbeitenorm erleichtert. Bei der Verordnungund Bereitstellung der Medikamentepassieren praktisch keine Fehler mehr».Am anfälligsten für Fehler sei nach wievor die Abgabe an die Bewohner: «Dochauch hier konnten wir die Fehlerquotesenken, denn durch das durchgehendeKontrollsystem ist bei allen Teammitglie-dern das Bewusstsein für die Bedeutungder Medikamente stark gestiegen.» Sehrpraktisch sei zudem der fahrbare Me-dikamentenwagen: «Wenn wir für eineArbeit Ruhe brauchen, können wir ihn inein ruhiges Büro schieben und bei derMedikamentenabgabe ist er ebenfalls inder Nähe.» Friedemann Hesse ist Leiter des Wohnheims Titlis,Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL, Emmen, Kontakt: [email protected],www.ssbl.ch

P f l e g e m a n a g e m e n t

20 K r a n k e n p f l e g e 3/2012S o i n s i n f i r m i e r s

Medikamentenmanagement

Die 6-R-plus-RegelDas Wohnheim Titlis hat die be-

kannte 5-R-Regel überarbeitet undwendet im Alltag die neue 6-R-plus-Regel an. Sie dient als eine Art Leit-faden den Mitarbeitenden dazu, alleKontrollkriterien sicher zu beachten:1. Richtiger Bewohner und richtige

Indikation.2. Richtiges Medikament und richtiger

Lagerort.3. Richtige Dosierung und

Zubereitung.4. Richtige Applikation und

Anwendung.5. Richtiger Zeitpunkt und

Besonderheiten.6. Richtige Dokumentation und

Kommunikation.Das «plus» bezieht sich auf die richtigeZusammenarbeit mit den professionel-len Partnern des Gesundheitswesens(Arzt, Vertragsapotheke, Mitarbeiten-de und Pflegefachkräfte). Diese ar-beiten innerhalb der gesetzlichenRahmenbedingungen und einem klarfestgelegten Medikamentenmanage-ment auf der neu eingerichteten Kom-munikationsplattform in den optimier-ten Prozessen zusammen.