Luthers Lehre von den zwei Reichen aus biblischer Sicht

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Polarität von Christentum und Gesellschaft Luthers Lehre von den zwei Reichen aus biblischer Sicht Von: Ulrich Heckel, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe 1/2017 Augustin unterschied zwischen der civitas terrena und der civitas dei. Das Mittelalter war beherrscht durch den Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst. 1918 wurde in Deutschland die Trennung von Staat und Kirche vollzogen. Immer geht es um die Polarität von Christentum und Gesellschaft, von kirchlichen und staatlichen Aufgaben, von geistlicher und weltlicher Autorität. Ulrich Heckel ruft in diesem Zusammenhang Luthers Lehre von den zwei Reichen in Erinnerung, zeigt ihre biblischen Grundlagen auf und fragt nach ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Staat heute. 1 1. Luthers Zwei-Reiche-Lehre Der Begriff der Zwei-Reiche-Lehre findet sich noch nicht in Luthers Schriften, sondern wurde erst 1922 von Karl Barth geprägt, als nach der Trennung von Staat und Kirche 1918 das Verhältnis zwischen beiden Seiten neu bestimmt werden musste. 2 Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich der Begriff rasch eingebürgert, um das Verhältnis der Christen und der Kirche zur säkularen Staats- und Gesellschaftsordnung auf einen griffigen Nenner zu bringen. Doch zunächst ist Luthers eigene Sicht zu skizzieren. 3 Luther und Augustin Als Augustinermönch übernahm Luther von Augustin die Unterscheidung der civitas dei und der civitas terrena, die für den Kirchenvater zugleich eine civitas diaboli war. Augustin verstand wie Luther das Reich Gottes und das Reich der Welt als zwei feindliche Völker, deren Kampf die Weltgeschichte beherrschte. In Augustins Sicht umfasst das Reich Gottes die Kinder Gottes, die wahren Glaubenden, die Gemeinschaft der Heiligen, die von ihm gerettet werden und mit ihm herrschen werden, das Reich der Welt hingegen die Anhänger des Teufels, die im jüngsten Gericht mit diesem untergehen werden. Augustin und Luther reagierten mit ihrer Zwei-Reiche-Vorstellung allerdings auf verschiedene historische Konstellationen. Augustin stand noch am Anfang des »Konstantinischen Bundes« zwischen Staat und Kirche und wandte sich gegen die Bedrohung der Christenheit durch die immer noch heidnisch geprägte und als fremd empfundene Staatsgewalt. Luther hingegen blickte auf lange Jahrhunderte der engen Verklammerung und schwerer Streitigkeiten zwischen dem deutschen Kaiser und der Herrschaft des Papstes zurück. Gegen Rom, Kaiser und die Schwärmer Mit seinen Äußerungen zur weltlichen Obrigkeit kämpfte Luther an drei Fronten: gegen Rom, gegen Kaiser und Reich und gegen alle Richtungen der Schwärmer. Seine Schriften bestritten den Weltherrschaftsanspruch des Papstes. Sie bekämpften die Unterdrückung der evangelischen Lehre durch den Kaiser und die katholischen Obrigkeiten. Und sie verurteilten die Versuche Thomas Müntzers, der radikalen Spiritualisten und der Bauern zur Aufrichtung des Reiches Gottes durch weltliche Gewalt, aber auch den pazifistischen Gewaltverzicht durch die quietistischen Spiritualisten und die Täufer. In dieser dreifachen Frontstellung hat Luther keine Staatslehre vorgelegt, aber von den reformatorischen Hauptschriften 1520 über die Wittenberger Unruhen und den Bauernkrieg bis zur Bedrohung durch die Türken die vielschichtigen Fragestellungen weltlicher Macht und geistlicher Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 1/11

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Polarität von Christentum und Gesellschaft

Luthers Lehre von den zwei Reichen aus biblischer Sicht

Von: Ulrich Heckel, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe 1/2017

Augustin unterschied zwischen der civitas terrena und der civitas dei. Das Mittelalter war beherrschtdurch den Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst. 1918 wurde in Deutschland die Trennung vonStaat und Kirche vollzogen. Immer geht es um die Polarität von Christentum und Gesellschaft, vonkirchlichen und staatlichen Aufgaben, von geistlicher und weltlicher Autorität. Ulrich Heckel ruft indiesem Zusammenhang Luthers Lehre von den zwei Reichen in Erinnerung, zeigt ihre biblischenGrundlagen auf und fragt nach ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Staat heute.1

1. Luthers Zwei-Reiche-Lehre

Der Begriff der Zwei-Reiche-Lehre findet sich noch nicht in Luthers Schriften, sondern wurde erst1922 von Karl Barth geprägt, als nach der Trennung von Staat und Kirche 1918 das Verhältniszwischen beiden Seiten neu bestimmt werden musste.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich derBegriff rasch eingebürgert, um das Verhältnis der Christen und der Kirche zur säkularen Staats- undGesellschaftsordnung auf einen griffigen Nenner zu bringen. Doch zunächst ist Luthers eigene Sichtzu skizzieren.3

Luther und Augustin

Als Augustinermönch übernahm Luther von Augustin die Unterscheidung der civitas dei und dercivitas terrena, die für den Kirchenvater zugleich eine civitas diaboli war. Augustin verstand wie Lutherdas Reich Gottes und das Reich der Welt als zwei feindliche Völker, deren Kampf die Weltgeschichtebeherrschte. In Augustins Sicht umfasst das Reich Gottes die Kinder Gottes, die wahren Glaubenden,die Gemeinschaft der Heiligen, die von ihm gerettet werden und mit ihm herrschen werden, das Reichder Welt hingegen die Anhänger des Teufels, die im jüngsten Gericht mit diesem untergehen werden.

Augustin und Luther reagierten mit ihrer Zwei-Reiche-Vorstellung allerdings auf verschiedenehistorische Konstellationen. Augustin stand noch am Anfang des »Konstantinischen Bundes«zwischen Staat und Kirche und wandte sich gegen die Bedrohung der Christenheit durch die immernoch heidnisch geprägte und als fremd empfundene Staatsgewalt. Luther hingegen blickte auf langeJahrhunderte der engen Verklammerung und schwerer Streitigkeiten zwischen dem deutschen Kaiserund der Herrschaft des Papstes zurück.

Gegen Rom, Kaiser und die Schwärmer

Mit seinen Äußerungen zur weltlichen Obrigkeit kämpfte Luther an drei Fronten: gegen Rom, gegenKaiser und Reich und gegen alle Richtungen der Schwärmer. Seine Schriften bestritten denWeltherrschaftsanspruch des Papstes. Sie bekämpften die Unterdrückung der evangelischen Lehredurch den Kaiser und die katholischen Obrigkeiten. Und sie verurteilten die Versuche ThomasMüntzers, der radikalen Spiritualisten und der Bauern zur Aufrichtung des Reiches Gottes durchweltliche Gewalt, aber auch den pazifistischen Gewaltverzicht durch die quietistischen Spiritualistenund die Täufer.

In dieser dreifachen Frontstellung hat Luther keine Staatslehre vorgelegt, aber von denreformatorischen Hauptschriften 1520 über die Wittenberger Unruhen und den Bauernkrieg bis zurBedrohung durch die Türken die vielschichtigen Fragestellungen weltlicher Macht und geistlicher

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Ämter immer wieder neu durchdacht. Bei aller Verschiedenheit der Anlässe und der strengenSituationsbezogenheit seiner Stellungnahmen ist so eine theologische Gesamtsicht von einererstaunlichen inneren Konsistenz entstanden. Damit hat Luther keine christliche Theorie vom Staatentworfen, zumal es den modernen Staat noch gar nicht gab, sondern sehr viel umfassender eineAnweisung für das Leben der Christen, das durch das Evangelium und den Glauben nicht von dieserWelt ist, aber in dieser Welt gestaltet werden soll.

Drei Unterscheidungskriterien

Die originelle Leistung Luthers lag darin, dass er auf den Spuren Augustins souverän zum NTzurückkehrte, aber die Staatsfremdheit Augustins überwand und die Verantwortung der Christen fürdie Welt aus den biblischen Grundaussagen exegetisch begründete und systematisch entfaltete.

Luther hat Augustins Lehre von den zwei Reichen mit seiner reformatorischen Lehre von den zweiRegimenten verbunden, die er aus der Rechtfertigungslehre mit der Unterscheidung von Gesetz undEvangelium gewann. Dabei gebraucht er das lateinische Wort »regnum« im doppelten Wortsinnsowohl für das »Reich« im Sinne des Herrschafts- oder Machtbereichs als auch für das »Regiment« imSinne der Herrschaftsausübung. So trifft Luther die Unterscheidung der beiden Reiche nach dreiKriterien, nämlich personal nach der Gemeinschaft mit Christus oder dem Satan, dann funktional nachder unterschiedlichen Regierweise in beiden Regimenten, zum Dritten aber auch material nachSachbereichen oder Gegenständen.

Das Fundament von Luthers Zwei-Reiche-Lehre bildet Augustins Unterscheidung der beiden Reicheals zweier feindlicher Völker, d.h. das Reich Gottes als Gemeinschaft der Gläubigen und GliederChristi einerseits sowie das Reich der Welt als Anhängerschaft Satans andererseits. So teilt Luther»Adams Kinder und alle Menschen in zwei Teile: die ersten zum Reich Gottes, die andern zum Reichder Welt.« Zum Reich Gottes gehören »alle Rechtgläubigen in Christus und unter Christus … ZumReich der Welt oder unter das Gesetz gehören alle, die nicht Christen sind« (42.44; WA 11, 249.251).4

Zweitens unterscheidet Luther die zwei Reiche nach der Art der Herrschaft: »Darum hat Gott zweiRegimente verordnet: das geistliche, welches Christen und fromme Leute macht durch den heiligenGeist, unter Christus, und das weltliche, das den Unchristen und Bösen wehrt, dass sie äußerlichFrieden halten und still sein müssen, ob sie wollen oder nicht … Darum muss man die beidenRegimente sorgfältig voneinander unterscheiden und beide bleiben lassen: eins, das fromm macht,das andere das äußerlich Frieden schafft und bösen Werken wehrt. Keins reicht ohne das andere ausin der Welt« (45f; WA 11, 251f). Der letzte Satz zeigt: Luther geht es nicht um die Trennung der beidenReiche und Regimente, sondern um die rechte Zuordnung. Darum entgegnet er in derObrigkeitsschrift den Landesherren, die den Verkauf von Luthers Übersetzung des NT verbotenhatten: »Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken als über Leib und Gutund was äußerlich ist auf Erden … Wo weltliche Gewalt sich anmaßt, der Seele Gesetze zu geben, dagreift sie Gott in sein Regiment und verführt und verdirbt nur die Seelen« (60; WA 11, 262).

Drittens unterscheidet Luther die beiden Reiche oder Regimente nach Gegenständen oderSachbereichen, wenn er Krieg und Frieden, Ehe oder Erziehung als »weltlich Ding« bezeichnet, diePredigt und den Glauben aber den geistlichen Dingen des Heils zuordnet.

Theologische Konsequenzen

Daraus ergibt sich als Konsequenz: Das Reich der Welt hat eine eigenartig schillernde Doppelnatur.Es ist das Reich des Teufels und steht doch unter der Herrschaft Gottes, der die Welt nicht fallenlässt, sondern sie durch das Evangelium erlösen will und dafür durch das Gesetz erhält. Diese

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Herrschaft Gottes über das Reich der Welt bezeichnet Luther als »Regiment« oder »Reich Gottes mitder linken Hand«, denn es steht im Range unter seiner Herrschaft im Reich Gottes.

Dem Unterschied der Anhängerschaft der beiden Reiche bzw. der geistlichen und weltlichen Dingeentspricht eine verschiedene Herrschaftsweise Gottes: Seine Herrschaft über die Gläubigen übtChristus durch das geistliche Regiment aus, durch das ministerium verbi divini, durch die Predigt vonGesetz und Evangelium, durch die Sakramente usw. Die Herrschaft über das Reich der Welt übt Gottdurch das weltliche Regiment aus, durch die weltliche Obrigkeit, die die Zehn Gebote äußerlichdurchsetzt, den Frieden sichert, die weltliche Gerechtigkeit wahrt, aber auch durch die kirchlichenOrgane, soweit es um weltliche Dinge oder die äußere Ordnung der Kirche geht, z.B. bei denFinanzen oder in Disziplinarangelegenheiten. Im Reich Christi wird das Evangelium durch dasgeistliche Amt sine vi sed verbo, ohne weltliche Gewalt verkündigt. Im Reich der Welt muss dasGesetz Gottes von der weltlichen Obrigkeit durch den notwendigen Zwang vollzogen werden. Reichund Regiment sind untrennbar.

Die geistlichen Dinge sind dem geistlichen Reich und Regiment Christi und folglich dem geistlichenAmt der Kirche vorbehalten. Die weltlichen Dinge sind dem weltlichen Regiment Gottes vorbehalten,welches die äußere Ordnung der Welt von der weltlichen Obrigkeit nach dem Naturrecht wahren lässt.

Mit der Unterscheidung der beiden Reiche und Regimente bekämpfte Luther nicht nur ihreVermischung, sondern auch ihre dualistische Trennung: Denn nicht eine strenge Scheidung, sonderndie rechte Zuordnung der zwei Reiche und Regimente war das Hauptanliegen Luthers, um dasVerhältnis Gottes zur Welt prägnant zu umschreiben, das auch das Verhalten der Christen im ReichGottes und zum Reich der Welt bestimmt. Das Ziel der zwei Reiche und Regimente liegt im WillenGottes, der die Welt durch das Gesetz gegen die Macht des Bösen schützt und durch das Evangeliumvon ihr erlöst. Beide Regimente und Reiche Gottes finden im Dienst des Heils ihren Sinn und ihreEinheit.

2. Die biblische Begründung der Zwei-Reiche-Lehre

Wo immer Luther auf die Zwei-Reiche-Lehre zu sprechen kommt, beruft er sich auf das NT. An allenStellen, auf die er sich bezieht, geht es um die grundlegende Unterscheidung zwischen geistlicher undweltlicher Macht, so unterschiedlich die Ausgangsfragen, Akzentuierungen und Zuspitzungen imEinzelnen auch ausfallen.

Das weltliche Recht begründet Luther mit den Ausführungen zur Obrigkeit in Röm. 13,1-7 und 1. Petr.2,13f, aber auch Gen. 9,6: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen wiedervergossen werden« (vgl. Ex. 21,14) sowie dem ius talionis »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (Ex.21,23-25) und dem Wort Jesu an Petrus im Garten Gethsemane: »Wer das Schwert nimmt, soll durchdas Schwert umkommen« (Mt. 26,52). Darum ist es für Luther »Gottes Wille, das weltliche Schwertund Recht zu handhaben zur Strafe der Bösen und zum Schutz der Frommen« (41; WA 11,247f).

Dieser Begründung der weltlichen Obrigkeit stellt Luther für die Christen die Worte Jesu aus derBergpredigt gegenüber, nämlich die Antithese zum Grundsatz »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, dassman keinem Übel widerstehen, sondern bei einem Backenstreich die andere Wange hinhalten soll (Mt.5,38f), sowie das Gebot der Feindesliebe (Mt. 5,44), aber auch Röm. 12,19 »rächt euch nicht selbst,sondern gebt Raum Gottes Zorn« und das Vergeltungsverbot aus 1. Petr. 3,9 (41f; WA 11,248f). Sounterscheidet Luther konsequent zwischen der notwendigen Ordnungsfunktion der Obrigkeit im Reichder Welt und dem von Christus als Herr im Reich Gottes geforderten Verzicht auf Rache durch dieChristen.

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Wenn Luther die Unterscheidung zwischen der weltlichen Obrigkeit und dem Reich Christi im NThervorhebt, so haben wir die politischen Verhältnisse zur Zeit Jesu zu bedenken: Judäa ist römischeProvinz unter dem Statthalter Pontius Pilatus (26-36 n.Chr.). Dort tritt Jesus an mit der Botschaft vomAnbruch der Königsherrschaft Gottes: »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen«(Mk. 1,15). Die Römer fürchten den Aufstand, den vor allem die Zeloten in der jüdischenFreiheitsbewegung betreiben. Am Ende wird Jesus als politischer Aufrührer zur Todesstrafe durchKreuzigung verurteilt und als Messiasprätendent hingerichtet, wie die Inschrift am Kreuz zeigt: »DerKönig der Juden« (Mk. 15,26). Damit bewegt sich schon die frühe Christenheit im Spannungsfeldzwischen politischer Macht und religiösem Anspruch.

Die ersten christlichen Gemeinden sind eine zwar rasch wachsende, aber doch noch kleineMinderheit am Rande der Gesellschaft. Deshalb stellt sich im NT noch nicht die grundsätzliche Fragenach dem christlichen Verständnis des Staates, sondern ganz praktisch nach dem konkreten Umgangmit den Vertretern der römischen Staatsgewalt. Dabei begegnet uns eine große Bandbreite von derpositiven Anerkennung als von Gott eingesetzte staatliche Gewalt in Röm. 13 bis zur Verteuflung alsTier aus dem Abgrund in Offb. 13.

»Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh. 18,36)

Dieser Satz ist das Herzstück der joh. Passionsgeschichte, wie Martin Hengel dargelegt hat.5 Indieser Szene stehen sie einander gegenüber: Pilatus als Statthalter des Imperium Romanum undJesus als Repräsentant des Reiches Gottes.

Das Königtum Jesu durchzieht Joh. 18f wie ein roter Faden. Zwölfmal erscheint der Titel basileús alsStichwort der Anklage, dreimal weist Jesus auf seine basileía hin. Die Kreuzesinschrift bekräftigt nocheinmal diese Anklage. Hier liegt der historische Kern der Passionserzählungen aller vier Evangelien.Aber Joh. genügt das Faktum der politischen Anklage gegen den Messias Jesus als »König derJuden« nicht mehr, dieser muss vielmehr selbst vor dem Präfekten als dem Vertreter des Imperiumsdas wahre Wesen seiner basileía definieren und damit seine radikale Andersartigkeit, seineschlechthinnige, gleichwohl paradoxe Überlegenheit gegenüber den etablierten politischen Mächtenhervorheben (18,36-38).

Der Dialog zwischen Jesus und Pilatus ist hochpolitisch und konzentriert theologisch. Historischspiegelt er die politische Auseinandersetzung zwischen Juden, Römern und Christen bei derTempelzerstörung 70 n.Chr. Zugleich geht er weit darüber hinaus. Jesu Königtum ist ganz anders. Eshat nichts mit den Reichen dieser Welt und dem dort alles beherrschenden Machtkalkül zu tun.

Das Reich Gottes ist der Zentralbegriff der Verkündigung Jesu, die basileía toú theoú, dieKönigsherrschaft Gottes. In Joh. fallen Reich Gottes und Reich Christi zusammen, im Dialog mitNikodemus spricht Jesus noch vom »Reich Gottes« (Joh. 3,3.5), aber vor Pilatus ist es auch explizit»mein Reich« geworden (18,36).

Dabei ist die Königsherrschaft Christi keine Idealisierung, Steigerung oder Überhöhung irdischerHerrschaftsansprüche, sondern wird durch die Passionsgeschichte einerseits gebrochen, andererseitsgesprengt, überboten, transzendiert. Jesu Botschaft vom Reich Gottes liegt auf einer anderen Ebene,weder bedient er sich weltlicher Machtmittel noch lässt er sich von anderen für politische Zweckeinstrumentalisieren. In Gethsemane sind die Jünger eingeschlafen, statt zu wachen und zu beten,haben Jesus im Stich gelassen, statt ihn zu verteidigen (Mk. 15,32ff). Joh. bietet noch eine ganzerömische Kohorte mit einem Tribun als Befehlshaber auf (18,3.12). Aber Jesus liefert sich ihnenfreiwillig aus (18,6ff; vgl. 10,18; 17,12). »Steck dein Schwert in die Scheide!«, sagt er zu Petrus, alsdieser Malchus, dem Knecht des Hohenpriesters, das Ohr abhieb (18,10f), und bei Mt. fügt er nochhinzu: »Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen« (26,52). Nicht sie sollenfür ihn kämpfen, sondern er tritt für sie ein: »Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden« (Joh.16,33). Der Sohn geht souverän den vom Vater gewiesenen Weg: Er vollendet dessen Werk (4,34;

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17,4; 19,28ff).

Jesus weiß sich in die Welt gesandt, die eine, unteilbare Wahrheit Gottes zu bezeugen, dass Gott,der Vater, in ihm selbst, dem Sohn, seine Geschöpfe liebt und zum wahren Leben befreien will, jadass eben darin des Vaters innerstes Wesen, seine Liebe, offenbar wird (Joh. 3,16; 1. Joh. 4,8). Dasentscheidende Heilsereignis liegt in der Menschwerdung des Gottessohnes, die sich in seinemKreuzestod vollendet. Christi basileía kann darum auch nicht nur als die ganz individuelleKönigswürde Jesu verstanden werden, sondern als eine die Welt überwindende Macht, die sich schonhier auf Erden ihren eigenen Machtbereich verschafft, indem sie die verhärteten Herzen öffnet (vgl.Joh. 12,40).

Auch den Präfekten trifft Jesu Herrschaftsanspruch, d.h. sein Zeugnis der Wahrheit. Aber er weist eszurück durch seine relativierende Gegenfrage: »Was ist Wahrheit?« Der Vertreter des Imperiumsopfert konsequenterweise die auch für ihn als Amtsträger verpflichtende Wahrheit der Rechtsfindungund damit die Gerechtigkeit des Urteils. Obwohl er weiß, dass Jesus unschuldig ist (19,4.6), verurteilter ihn zum Kreuzestod. Der Evangelist demonstriert damit, dass die staatliche Macht, die von keinerverpflichtenden Wahrheit wissen will, eben darum ihre eigenen Rechtsprinzipien verrät. Damit erweistsich der Präfekt als Repräsentant »dieser Welt«, d.h. des vom Bösen beherrschten Kosmos. Aberauch seine Vollmacht (exousía), d.h. auch sein ihm vom Kaiser übertragenes Imperium, beruhtletztlich auf dem Willen Gottes und nicht auf der Gunst des Kaisers, um die Pilatus bangt (19,12).Denn Jesus sagt: »Du hättest keine Vollmacht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre«(19,11).

Jesu Königtum leuchtet gerade im Augenblick seines Todes am Kreuz auf. Sein letzter Schrei »Es istvollbracht« (19,30) bringt nicht nur das Ende des Leidens, sondern die Vollendung seiner Sendung als»Retter der Welt« (4,42) zum Ausdruck. In dem Ruf tetélestai wird in höchst eigenwilliger Weise dieuntrennbare Einheit des Todes Jesu mit seiner Auferstehung und Erhöhung, der Geistausgießung undParusie, kurz: sein Herrschaftsantritt als Erretter der Welt angedeutet. Hier ist der Brennpunkt, der alleStrahlen sammelt.

Damit wird der Herrschaftsanspruch des römischen Kaisers verworfen, aber auch die zelotischeBotschaft des Judas Galiläus, dass wegen des ersten Gebots kein fremder Herrscher als König inIsrael geduldet werden dürfe. Sowohl die mit politischer Gewalt zu erkämpfende illusionäre»messianische Theokratie« der Zeloten wie der absolute Herrschaftsanspruch des römischenImperiums und seines göttlichen Princeps sind lediglich Ausdrucksformen des gottfeindlichen, durchdie Königsherrschaft des Gekreuzigten entmächtigten Kosmos.

Mit Martin Hengel können wir festhalten, »dass jener Dialog zwischen Christus und Pilatus deneigenwilligsten Beitrag des Neuen Testaments zu dem spannungsreichen Verhältnis von ReichChristi, Kirche und Staat darstellt, der in seiner Kompromisslosigkeit vielleicht auch der bedeutsamsteist. Denn hier ist nichts von jenen ›theokratischen Versuchungen‹ zu spüren, die die Kirche in ihrerspäteren Geschichte stets begleitet hat, im Gegenteil, hier ist wirklich alles auf die äußere Ohnmachtund innere Sieghaftigkeit des Glaubens an den Gekreuzigten gestellt« (429). Im Grunde sind esdieselben theokratischen Versuchungen, die Luther dem Papst und den Schwärmern zum Vorwurfmacht, dass sie weltliche Herrschaft an sich ziehen oder das Reich Gottes mit Gewalt durchsetzenwollen.

»Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« – Die Frage nach der Steuer (Mk.12,13-17)

Mit den Pharisäern und Herodianern treten die religiös und politisch Mächtigen auf den Plan. ImZentrum steht die Frage, ob es erlaubt ist, dem Kaiser Steuern zu zahlen.6 Es handelt sich um eineFangfrage, mit der Jesus auf die Probe gestellt werden sollte. Sowohl ein einfaches Ja als auch eineinfaches Nein hätte ihn in Schwierigkeiten gebracht. Das theologische Problem bestand darin, dass

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Judas Galiläus, der Begründer der jüdischen Freiheitsbewegung, das Erfüllen der Steuerpflicht zueiner Frage des ersten Gebots gemacht hatte. Eine glatte Bejahung wäre Jesus durch dieAnerkennung der kaiserlichen Steuerforderung als Götzendienst und Verstoß gegen das erste Gebotzur Last gelegt worden, eine schlichte Verneinung hätte ihm den Vorwurf der Steuerverweigerungeingebracht, ihn als zelotischen Aufrührer hingestellt und der römischen Besatzungsmachtausgeliefert.

Jesus durchschaut die Heuchelei der Fragesteller und bittet sie um einen Denar, die römischeSteuermünze mit dem Bild des Kaisers mit Lorbeerkranz als Symbol seiner göttlichen Würde und derUmschrift: Kaiser Tiberius, des göttlichen Augustus anbetungswürdiger Sohn. Wenn Jesus diePharisäer nach einem Denar fragt, so liegt die Pointe darin, dass die Gegner dadurch, dass sie dieseMünze benutzen, den Machtanspruch des römischen Kaisers de facto längst anerkannt haben. AmEnde macht Jesus deutlich, dass er kein Zelot ist, sondern die Meinung der Fragesteller teilt: »Gebtdem Kaiser, was des Kaisers ist« (Mk. 12,17).

Die eigentliche Pointe liegt jedoch im zweiten Teil, den Jesus ungefragt hinzufügt: »und Gott, wasGottes ist.« Jesus entlarvt die Fangfrage als falsche Alternative. Das Entweder-oder verwandelt er inein Sowohl-als-auch, das den Anspruch des Kaisers ebenso zu seinem Recht kommen lässt wie denAnspruch Gottes.7 Indem Jesus die Steuer bejaht, erkennt er die kaiserliche Autorität in ihrempolitischen Anspruch an, doch weist er den damit verbundenen religiösen Anspruch durch denHinweis auf Gott ausdrücklich zurück. Den Aufruhr gegen die römische Staatsmacht durch die Zelotenlehnt er ebenso ab wie die religiöse Forderung des Kaisers.

Was der Mensch Gott schuldig ist, beantwortet Jesus bei der Frage nach dem wichtigsten Gebot,nämlich Gott und seinen Nächsten zu lieben; wer sich daran hält, ist nicht fern vom Reich Gottes (Mk.12,28-34). Neben die Steuerforderung tritt das Doppelgebot der Liebe. Dem Imperium des Kaiserswird das Reich Gottes gegenübergestellt, die Vergänglichkeit der irdischen Macht wird überbotendurch die eschatologische Botschaft vom Anbruch der Gottesherrschaft. Angesichts der göttlichenAutorität kann die Forderung des Staates nur ein begrenztes Recht haben. Jesus weist die staatlicheMacht in ihre Schranken; die Grenze zieht er dort, wo gegen das erste Gebot verstoßen wird. Wirddieser religiöse Anspruch aber respektiert, so gibt es keinen theologischen Grund, die Zahlung vonSteuern zu verweigern. »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber Gott, was Gottes ist!«

Aufs Ganze gesehen lässt Jesu Antwort auf die Steuerfrage noch nicht dieselbe theologischtiefsinnige Durchdringung wie der Dialog mit Pilatus in Joh. erkennen, aber sie unterscheidet schonklar zwischen politischem und religiösem Anspruch, himmlischer und irdischer Autorität, göttlicher undweltlicher Dignität. Wenn wir bedenken, in welchem Ausmaß religiöses und politisches Leben in derAntike miteinander verflochten waren, dann war diese Antwort Jesu geradezu revolutionär, sie warnichts weniger als »eine Entideologisierung und Entsakralisierung staatlicher Autorität.«8

»Ehrfurcht, dem die Ehrfurcht gebührt« – Die Stellung zur staatlichen Gewalt (Röm. 13,1-7)

In der Wirkungsgeschichte hat Röm. 13 eine zentrale Bedeutung für das christliche Verständnis desStaates erlangt.9 Andererseits haben die Erfahrungen mit den totalitären Diktaturen des 20. Jh. für dieMöglichkeiten des Missbrauchs sensibilisiert und Fragen des Widerstandsrechts aufgeworfen, diePaulus so noch nicht vor Augen hatte. Umso mehr wird in der Exegese betont, dass Paulus hier imKontext der Paränese keine allgemeine christliche Staatstheorie, sondern konkrete Ermahnungen fürdas Verhalten staatlichen Amtsträgern gegenüber formuliert,10 d.h. zum Zahlen von Steuern undZöllen (13,6f). Die Ausführungen folgen auf Mahnungen zum Verhalten innerhalb der Gemeinde(12,9-13) und gegenüber der Umwelt (12,14-21), sind gerahmt durch Aufforderungen zur Liebe(12,9-21; 13,8-10) und stehen unter dem Vorzeichen des vernünftigen Gottesdienstes im Alltag derWelt (12,1f).

Vielfach wird Röm. 13 von der Aufforderung in V. 1 her als Appell zur unbedingten Unterordnung

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unter die staatliche Gewalt11 gelesen, weil jede – auch heidnische! – staatliche Macht von Gotteingesetzt ist (V. 1) und jeder Widerstand gegen diese daher eo ipso als Widerstand gegen Gottverstanden wird (V. 2). Begründet wird diese religiöse Legitimierung mit der staatlichenOrdnungsfunktion zur Förderung des Guten und zur Bestrafung des Bösen durch das Schwert, d.h.durch die staatliche Polizei- und Strafgewalt (V. 3f; vgl. 1. Petr. 2,14).

Über diesem generellen Appell zur Unterordnung in V. 1 wird aber leicht übersehen, dass derAbschnitt in V. 7 ebenfalls in einer allgemeinen Aufforderung gipfelt: »Gebt allen, was ihr ihnenschuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furchtgebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.« Die vier parallel gestalteten Wendungen lassen sich am bestenpaarweise gliedern, da die ersten beiden das Motiv der Steuern aus V. 6 wiederaufnehmen undstaatliche Abgaben betreffen, während die letzten beiden Glieder das verbreitete Motiv der Ehrfurchtvor Gott zum Ausdruck bringen (Spr. 24,21; vgl. 7,1). Damit haben wir in Röm. 13,7 dieselbeDifferenzierung wie in Jesu Antwort auf die Steuerfrage (Mk. 12,17), auch wenn wir nicht wissen, obPaulus dieses Herrnwort gekannt hat oder nicht. An beiden Stellen folgt dieselbe Konsequenz: Diestaatliche Steuerpflicht ist zu erfüllen, aber religiöse Verehrung gebührt allein Gott.12 Damit wird selbstin Röm. 13 die staatliche Gewalt nicht nur von Gott her legitimiert, sondern auch mit demherrschaftskritischen Vorbehalt versehen, dass die religiöse Ehrfurcht allein Gott vorbehalten ist.

Zudem erinnert Paulus die Gemeinde in der Militärkolonie Philippi, dass unser Bürgerrecht(políteuma) im Himmel ist, von wo er den Retter erwartet (Phil. 3,20; vgl. Hebr. 12,22; 13,14: »Wirhaben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir«). Am Ende der Zeiten, wennChristus das Reich (basileía) an Gott übergibt, wird er jede Herrschaft, jede Gewalt und Machtvernichten, damit Gott sei alles in allem (1. Kor. 15,24-28). Damit ist auch jede staatliche Ordnung Teil»dieser Welt« (Röm. 12,2), die vergeht (1. Kor. 7,31). Alle staatliche Gewalt steht unter demeschatologischen Vorbehalt, nichts Letztes und Absolutes, sondern etwas Vorletztes und Vorläufigeszu sein.

»Fürchtet Gott, ehrt den Kaiser!« (1. Petr. 2,11-17)

Wie in Röm. 13 wird auch in 1. Petr. 2,13-1713 zur Unterordnung unter die staatliche Gewaltaufgefordert, doch die theologische Legitimierung der Obrigkeit erfolgt deutlich zurückhaltender. Diestaatliche Macht ist nicht wie in Röm. 13,1 von Gott eingesetzt und auch nicht Gottes Dienerin (V. 4:diákonos, V. 6: leitourgós), sondern eine »menschliche Schöpfung« (anthropínä ktísis), d.h. eineOrdnung bzw. Institution, die von Menschen geschaffen ist (1. Petr. 2,13). Deutlicher als in Röm. 13,7wird zwischen Furcht und Ehre unterschieden: »Fürchtet Gott, ehrt den Kaiser!« (1. Petr. 2,17). Inbeiden Fällen liegt die Pointe in der Differenzierung zwischen weltlicher Anerkennung und göttlicherEhrfurcht, wie auch Jesus bei der Steuerfrage zwischen politischen und religiösen Pflichtenunterschieden hatte (Mk. 12,17).

»Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen« – Petrus vor dem Hohen Rat (Apg. 5,29)

Drei Punkte sind hier anders als bei den bisherigen Stellen: Zunächst bezieht sich Petrus in Apg.5,29 nicht auf die römische Obrigkeit, sondern auf den Hohen Rat, die oberste politische, religiöse undrichterliche jüdische Behörde in Jerusalem. Sodann geht es nicht um staatliche Abgaben, sondern umdie Christusverkündigung. Und drittens wird durch den Komparativ mállon (mehr) nicht zwischenpolitischem und religiösem Anspruch differenziert, sondern der Verkündigungsauftrag über das Verbotdes Hohen Rates gestellt (4,17f; 5,28). Petrus spricht nicht von weltlichen Verpflichtungen, sondernvon der Aufgabe der Christuspredigt. Hier gibt es aber kein Einerseits-andererseits, kein Sowohl-als-auch, sondern beim Christuszeugnis gilt es Gott mehr zu gehorchen als der Obrigkeit (5,29; vgl. 4,19).

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3. Die Bedeutung von Luthers Zwei-Reiche-Lehre heute

Luthers eigenständige geistige und theologische Leistung besteht darin, dass er aus vieleneinzelnen, teilweise sogar widersprüchlichen Bibelstellen eine systematische Gesamtschau vongroßer innerer Schlüssigkeit entwickelt hat. Der Durchgang durch das NT hat gezeigt, dass Luthersfundamentale Unterscheidung zwischen dem Reich Gottes und dem Reich der Welt biblisch gutbegründet ist. Sie wird durch die Differenzierung zwischen politischen und religiösen Ansprüchennahegelegt, die sich aus Jesu Antwort auf die Steuerfrage (Mk. 12,17) ebenso ergibt wie aus denErmahnungen in Röm. 13,7 und 1. Petr. 2,17, die zwischen der Ehrfurcht vor Gott und demRespektieren der staatlichen Gewalt unterscheiden. Erst recht im Dialog mit Pilatus (Joh. 18,36-38)treten die tiefgreifenden Unterschiede hervor zwischen Jesus, dem Throngenossen Gottes, undPilatus, dem »Freund des Kaisers« (19,12), zwischen dem »Retter der Welt« (4,42) und denMachthabern »dieser Welt« (18,36), oder anders ausgedrückt: zwischen der endzeitlichenKönigsherrschaft Christi und aller irdischen Machtausübung in einer Welt, die noch von der Sündegezeichnet ist.

Luthers geniale Zusammenschau politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen

Mit dieser Unterscheidung zwischen dem Reich Gottes und dem Reich der Welt hat Luther einenwesentlichen Grundzug der Verkündigung Jesu aufgenommen. Damit verbindet sich für ihn zugleichdie Einsicht in die tiefgründige Andersartigkeit, in der sich das Reich Christi von aller irdischenHerrschaft abhebt. Dementsprechend sind nicht nur politische und religiöse Geltungsansprüche,sondern auch staatliche und kirchliche Aufgaben sorgfältig zu unterscheiden: Die geistliche Aufgabebesteht in der Predigt vom Reich Gottes, in der Stärkung des Glaubens an die Königsherrschaft desgekreuzigten und auferstandenen Christus sowie in der Ermutigung zu tatkräftiger Feindes- undNächstenliebe mit dem Verzicht auf Rache und Vergeltung im Sinne der Bergpredigt. Die weltliche,politische, gesellschaftliche Aufgabe besteht im Anschluss an Röm. 13,1-7 und das ius talionis (Ex21,23-25) im Schutz der Schwachen, in der Sicherung des Friedens sowie in der Wahrung deräußeren Gerechtigkeit. Beide Male geht es um die Welt, die Gott geschaffen hat und erlösen wird.Aber bis es so weit ist, muss zum einen sichergestellt werden, dass alle Menschen in Frieden lebenkönnen. Das ist die Aufgabe staatlicher Gewalt, notfalls unter Zwang. Zum anderen muss das ReichChristi verkündigt werden, das Evangelium von der Königsherrschaft Gottes und seines Gesalbten,dem Retter und Vollender der ganzen Welt. Das ist die Aufgabe der Kirche sine vi sed verbo, ohneGewalt, allein durch die Überzeugungskraft des Wortes.

Damit entwirft Luther keine christliche Staatslehre, sondern wesentlich mehr: eine genialeZusammenschau politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen, in der nicht nur die Aufgabenstaatlicher Ordnung, sondern auch der Christen und der Kirche in der Welt klar umrissen werden.Diese Leistung ist umso höher zu veranschlagen, als es Luther mit der Zwei-Reiche-Lehre gelingt,diverse Einzelanweisungen für das konkrete Verhalten der ersten christlichen Gemeinden aus derMinderheitensituation in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu übersetzen. Zugleich trägt er derSpannung Rechnung, dass der Glaube nicht von dieser Welt ist, sehr wohl aber in dieser Welt mit allihren Ambivalenzen, die christliche Existenz zu leben, zu gestalten und zu bewähren ist.

Entscheidend ist die rechte Zuordnung von Geistlichem und Weltlichem, Politischem und Religiösem.Wie im NT wird von Luther nicht nur der Auftrag zur Evangeliumsverkündigung, sondern auch dieordnende Funktion staatlicher Macht als notwendig anerkannt. Aber die religiösen Ansprüche desrömischen Kaisers werden im Urchristentum ebenso zurückgewiesen wie die Übergriffe der weltlichenObrigkeit in geistliche Angelegenheiten bei Luther. Doch auch die theokratische Versuchung, dasReich Gottes mit Gewalt herbeizuführen oder weltliche Herrschaft auszuüben, kritisiert Jesus an denZeloten ähnlich wie Luther bei den Schwärmern und dem Papst. Stets geht es um die Unterscheidung

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von Letztem und Vorletztem, Vorläufigem und Absoluten, Vorübergehendem und Bleibendem. Damitträgt die Zwei-Reiche-Lehre zur Entsakralisierung staatlicher Macht bei. Zugleich liefert sie Kriterien,die – das ist nach den Diktaturen des 20. Jh. besonders hervorzuheben – helfen können, vorideologischer Überhöhung und Verabsolutierung politischer Gewalt durch totalitäre Systeme zubewahren.

Christen bzw. Kirche und Staat bzw. Gesellschaft

Nun sind 500 Jahre seit der Reformation vergangen mit einem tiefgreifenden Wandel der politischenund gesellschaftlichen Ordnung. Dieser Abstand macht eine sachgemäße Übersetzung der Zwei-Reiche-Lehre in die heutigen Verhältnisse erforderlich. Dabei darf die Unterscheidung der zwei Reichenicht auf das Gegenüber von Staat und Kirche verkürzt werden. Denn die Kirche ist nicht das ReichGottes und der Staat nicht das Reich der Welt. Beide sind nach der Zwei-Reiche-Lehre zuunterscheiden, aber nicht zu trennen. Der Staat wird bei aller Eigenständigkeit nicht in dieEigengesetzlichkeit entlassen, weil die Zwei-Reiche-Lehre mit dem Schutz der Schwachen, derErhaltung des Friedens und der Sorge für die weltliche Gerechtigkeit positive Kriterien für diestaatliche und gesellschaftliche Ordnungsfunktion benennt. Fragen der Wahrheit, des Glaubens undGewissen zu entscheiden, steht der staatlichen Gewalt jedoch nicht zu, sondern bleibt eine geistlicheAufgabe und damit der Kirche bzw. jedem Christen selber vorbehalten.

Aber auch für die Christen ist ihr Glaube nicht nur eine Privatangelegenheit oder Gewissensfrage.Denn die Zwei-Reiche-Lehre weist der Predigt eine zentrale Bedeutung zu, verbietet aber denRückzug auf die liturgische Feier der Gottesdienste, sondern ermutigt zum vernünftigen Gottesdienstim Alltag der Welt. Damit bietet die Zwei-Reiche-Lehre heute einen fruchtbaren Ansatz, um dasVerhältnis der Christen zum Staat zu bestimmen. Einerseits ermöglicht sie es, die Trennung von Staatund Kirche in einer säkularen Gesellschaftsordnung anzuerkennen, andererseits macht sie Mut zurMitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens, d.h. reformatorisch gesprochen: der Welt. Diesen Wegbeschreitet die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit ihrer Denkschrift (1985): »EvangelischeKirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe.«

Staat und Religion

Nun hat aber nicht nur die Kirche ihr Verhältnis zum Staat zu klären, sondern auch der Staat seinenUmgang mit der Religion. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit gehört heute zu den Grundrechtenmoderner Verfassungen, so auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 4). Historischam Anfang stand die Abwehr kirchlicher und staatlicher Machtansprüche. Doch bleibt dasGrundgesetz nicht bei dieser negativen Religionsfreiheit stehen, sondern tritt darüber hinaus für diepositive Religionsfreiheit ein. In diesem Sinne bedeutet Religionsfreiheit nicht die Freiheit von derReligion, sondern die Freiheit zur Religion, d.h. zur »ungestörten Religionsausübung« (Art. 4 Abs. 2),auch in der Öffentlichkeit. Die Gesellschaft ist keine religionsfreie Zone. Der Staat muss dieweltanschauliche Neutralität wahren, in religiösen Angelegenheiten darf er keinen Zwang ausüben,niemanden aufgrund seines (Nicht-)Glaubens bevorzugen oder benachteiligen. Aber er soll derReligionsausübung auch in der Öffentlichkeit Raum geben. Diese positiv verstandene Religionsfreiheitwendet sich kritisch gegen die Forderung nach einer laizistischen Trennung, bei der jede Form derReligion zur Privatangelegenheit erklärt und aus dem öffentlichen Leben verbannt werden soll.

In Deutschland ergibt sich aus der positiven Religionsfreiheit das Modell der kooperativen Trennungvon Staat und Kirche. Unter Wahrung seiner Neutralität gewährt der Staat nicht nur den Kirchen,sondern allen Religionsgemeinschaften das Recht auf Religionsunterricht an öffentlichen Schulen,theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten, Militär- und Klinikseelsorge sowie das Betreibenvon Kindergärten oder diakonischen Einrichtungen usw. Dass die Republik Serbien dieses Modell der

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kooperativen Trennung 2006 in ihre neue Verfassung aufgenommen hat, ist höchst bemerkenswert,da einerseits die serbisch-orthodoxe Kirche von ihrer theologischen Tradition her sehr viel enger mitdem Staat verbunden war, andererseits das kommunistische Regime das laizistische Modell einerradikalen Trennung praktiziert, die Religion zur Privatsache erklärt und aus dem öffentlichen Lebenhinauszudrängen versucht hat.14 Mit der kooperativen Trennung bietet die säkulareGesellschaftsordnung einen Rahmen, in dem sowohl Christinnen und Christen als auch die Kirchenheute ihren Glauben in der Welt bewähren und an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv mitwirkenkönnen. Dazu hat Luther mit seiner Zwei-Reiche-Lehre nicht unwesentlich den Weg bereitet.

Anmerkungen:

1 Hauptvortrag der Theol. Konferenz der Evang. Kirche A.B. in der Slowakei am 16.9.2015 inTrnava. Eine ausführlichere Fassung erscheint im Tagungsband, hg. v. Generalbischof M. Klátik.

2 W. Härle, Art. Zweireichelehre II, TRE 36, Berlin u.a. 2004, 784-789, hier 784.

3 Das Referat folgt M. Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht (JusEccl), Tübingen(erscheint 2016).

4 M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), WA 11,245-281, zit. nach Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg. v. K. Bornkamm/G. Ebeling, Frankfurt/M.1982, Bd. 4, 37-84.

5 Die Darstellung folgt M. Hengel, Reich Christi, Reich Gottes und Weltreich im Johannesevangelium,in: ders., Jesus und die Evangelien, KS V (WUNT 211), Tübingen 2007, 408-429.

6 Vgl. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/2, Zürich u.a. 51999, 150-155.

7 M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 653.

8 W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (GNT 4), Göttingen 1982, 114.

9 Vgl. den Exkurs bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer (12-16) (EKK VI/3), Zürich u.a. 1982,43-66, zur Exegese 28-43, zu neueren Tendenzen S. Krauter, Studien zu Röm 13,1-7 (WUNT 243),Tübingen 2009.

10 Vgl. E. Käsemann, Grundsätzliches zur Interpretation von Röm 13, Exegetische Versuche undBesinnungen II, Göttingen 41965, 204-222.

11 Vgl. 1. Petr. 2,13f.17; Tit. 3,1.

12 Bemerkenswert sind nicht nur dieselben Worte für das Geben (apodóte) und die Steuer (phóros),sondern auch die analoge Aussagestruktur: dem Kaiser, was des Kaisers (ist), Gott, was Gottes (ist).

13 Vgl. R. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus (ThHNT 15/I), Leipzig 2005, 101-110.

14 Vgl. A. Pistalo, Religionsrecht in Serbien (JusEccl 105), Tübingen 2013.

Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771

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