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D 12013 ISSN 0939-138X 3/2015 sfr 5,60 3,60 (A) 3,50 Persönlich. Echt. Lebensnah. WWW.LYDIA.NET Keine Macht den Sorgen MEDIEN Nicht ohne mein Smartphone EHETHERAPIE Hilfe in der Krise Von Kritik lernen, ohne verletzt zu sein Wenn hält, was sie verspricht Liebe Larissa Murphy

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Sehnen Sie sich nach Leben voller Liebe und Sinn? Trauern Sie um eine Beziehung oder zerbrochene Träume? Gehen Sie durch eine finanzielle Krise? Egal, wo Sie sich gerade auf Ihrer Reise befinden, LYDIA möchte Sie begleiten: mit wahren Geschichten, die berühren, ermutigen und inspirieren. Dafür steht LYDIA seit über 25 Jahren. Von Frauen für Frauen. Gemeinsam sind wir dem Leben auf der Spur ... Aus dem Inhalt dieser Ausgabe: - Titelinterview mit Larissa Murphy: Wenn Liebe hält, was sie verspricht - Eintagsfliegen: Keine Macht den Sorgen! - Keine Angst vorm Loslassen. Wie ich lernte, Entscheidungen zu treffen - Nachgefragt: Konkurrenzkampf unter Schwestern - Mein "Gumpeneck". Ich habe gelernt, meine Höhenangst mit Gottes Wort zu überwinden - Gott kreativ begegnen: Bible Art Journaling - Zu Hause im Büro? Arbeiten im Homeoffice - Nicht ohne mein Smartphone: Leben zwischen Whatsapp und Facebook - Ehetherapie: Verantwortung übernehmen und Grenzen setzen - Von Kritik lernen, ohne verletzt

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D 12013ISSN 0939-138X

3/2015sfr 5,60

3,60 (A)

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Persönlich. Echt. Lebensnah.

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Keine Machtden Sorgen

M E D I E N

Nicht ohnemein Smartphone

E H E T H E R A P I E

Hilfe inder Krise

Von Kritik lernen, ohne

verletzt zu sein

Wenn hält, was sie verspricht

LiebeLarissa Murphy

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Gott, mit dir auf dem Weg sein,

mit dir als Begleiter,

der mich sieht,

der auf mich achtet,

wohin ich gehe,

wohin ich trete,

damit ich aufgehoben bin.

Bei dir ist Freude.

Bei dir ist Vertrauen.

Bei dir ist Leben.

So kann ich fest stehen

und meinen Weg

getröstet weitergehen.

INGRID VON E IGEN

Wegbegleiter

2 Lydia 03/2015

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Ganz persönlichEllen Nieswiodek-Martin

„Hast du eigentlich eine Nackenfaltenmes-sung machen lassen, als du mit den Zwillingen schwanger warst?“ Diese Frage einer Bekann-ten katapultierte mich zurück in eine Phase, in der mein Glaube, vorsichtig ausgedrückt, nicht besonders stark war: Als der Arzt mir sagte, dass ich Zwillinge bekomme, fühlte ich mich dieser Aufgabe auf keinen Fall gewachsen. Ich hatte ja schon drei lebhafte Kinder! Zweifel und Ängste dominierten meine Gedanken. Gott, wieso traust du ausgerechnet mir das zu?

Zusätzlich wurde die Angst immer stärker, dass die Babys nicht gesund sein könnten. Dabei half mir auch mein Glaube nicht. Im Gegenteil, ich fürchtete mich davor, was Gott mir noch alles „zumuten“ könnte.

Ich drängte auf eine Fruchtwasserunter-suchung. Zum Glück hatte ich einen erfah-renen Arzt, der sich die Zeit nahm, meinen Ängsten nachzugehen. „Was würden Sie denn tun, wenn eines der Kinder eine Behinderung hätte?“, fragte er mich. So weit hatte ich nicht gedacht. Ich hatte nur meine Angst vor Augen und wollte mich durch die Untersuchung beruhigen. Über Konsequenzen und mög-licherweise auftauchende Fragen hatte ich nicht nachgedacht. Das Gespräch mit dem Arzt rüttelte mich wach. Ich beschloss, mein Vertrauen auf Gott zu setzen. Plötzlich konnte ich das wieder.

Nun achtete ich darauf, mich zu schonen und die Babys möglichst lange im Bauch zu behalten. Ich konzentrierte mich auf das Leben statt auf die Angst, und merkte, dass ich nicht alleine war: Es gab viele Menschen, die mich unterstützten und für uns beteten.

Die Forschung in der Medizin entwickelt sich ständig weiter. Mit den neuen Möglich-keiten steigen die Fragen und die Verunsi-

cherung. Vielfach dominiert Angst die Ent-scheidungen. Ich kann das nachvollziehen. Aber was würde Gott dazu sagen, dass wir versuchen, uns weitestgehend abzusichern? Dass wir entscheiden, ob ein Kind, das einen Chromosomendefekt oder eine Anomalie hat, leben darf ? Laut Statistiken werden knapp 90 Prozent der Kinder, bei denen vor der Geburt das Downsyndrom diagnostiziert wird, abge-trieben. Hier hat sich eine Haltung in der Gesellschaft ausgebreitet, die mich sorgt.

Im Psalm 139, Verse 16 und 17, heißt es: „Du hast mich gesehen, bevor ich geboren war. Jeder Tag meines Lebens war in deinem Buch geschrieben. Jeder Augenblick stand fest, noch bevor der erste Tag begann. Wie kostbar sind deine Gedanken über mich, Gott! Es sind unendlich viele.“ Gott hat kostbare Gedanken über uns! Egal, ob unser Erbgut perfekt ist oder nicht.

In dieser Ausgabe finden Sie ganz unter-schiedliche Beispiele von Menschen, die gelernt haben, mit einem Handicap zu leben. Manche sind durch eine Krankheit oder einen Unfall beeinträchtigt. Manche wurden mit einer Behinderung geboren. Aber alle haben eines gemeinsam: Sie berichten davon, wie lebenswert das Leben ist. Nur eben anders als geplant. Sie erzählen, wie sie Gott erfahren und sich ihre Sicht auf die Dinge verändert hat.

In der Redaktion waren wir sehr berührt von diesen ehrlichen Erzählungen und hoffen, es geht Ihnen ebenso.

Ihre

Ellen Nieswiodek-Martin

Auf das Leben konzentrieren

Gott hat kostbare Gedanken über uns! Egal, ob unser Erbgut perfekt ist oder nicht.

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{persönlich} 3 Ganz persönlich Auf das Leben konzentrieren

Ellen Nieswiodek-Martin

20 Der Überfall – Philippa Smale

22 Mein „Gumpeneck“ Ich habe gelernt, meine Höhen-angst mit Gottes Wort zu überwinden – Birgit Morbach

44 Besondere Kinder für besondere Eltern Vertrauen lernen, wenn Gott mich „enttäuscht“ – Stefanie Gonser

50 „Wir würden es wieder machen!“ – Interview mit Simone und Bernhard Guido

58 Hoffnung in der Dunkelheit Mary Brandt

64 Frauen weltweit: „Ich bin eine Kämpferin!“

68 Meine Geschichte Kein Produkt meiner Vergangenheit Eva-Maria Admiral

72 Heilige heute Frauen wie wir • Kampf um Leben und Tod Andrea Großkopf • Fünfzehn Ärzte Annegret Müller • Das Geschenk der alten Dame Petra Hänig • Gebet im Krankenhaus Ellen Drescher mit Andrea Cervenka • Geschenkte Zeit Christine Raue

{echt}

Vier Schritte zu echter Vergebung

12 Eintagsfliegen Keine Macht den Sorgen – Roswitha Wurm

14 Keine Angst vorm Loslassen Wie ich lernte, Entscheidungen zu treffen – Lysa TerKeurst

17 Meine Meinung Welche Begegnungen hatten Sie mit Flüchtlingen?

25 Die Angst besiegen – Interview mit Dr. Caroline Leaf

47 „Wir haben alle mitgeweint“ – Tirza Schmidt

54 Reich beschenkt Was ich von meinen Söhnen mit Downsyndrom lerne – David Neufeld

61 Anderen sagen, wenn ich Hilfe brauche ... – Karin Mayr

66 Vier Schritte zu echter Vergebung – Joyce Meyer

81 Sag mal, ... Fragen an die Ehebrecherin

82 Nachgedacht Viel Platz am Tisch – Ute Paul

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T i T e l f o To : l y d i a H a r T n e T T

Wenn Liebe hält, was sie verspricht6 Titelinterview mit Larissa Murphy

Zu Hause im Büro?30

22 Mein„Gumpeneck“

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18 Nachgefragt Konkurrenzkampf unter Schwestern Annemarie Pfeifer

26 Gott kreativ begegnen Mein Weg zum „Bible Art Journaling“ – Nicole Sturm

30 Zu Hause im Büro? Arbeiten im Homeoffice – Interview mit Dana Nowak, Simone Küffner und Elisabeth Büchle

34 Nicht ohne mein Smartphone Leben zwischen Whatsapp und Facebook – Heike Malisic

36 Hilfe in der Krise Ehe-Therapie: Verantwortung übernehmen und Grenzen setzen – Interview mit Vincent und Ella Naumann

39 Von Kritik lernen, ohne verletzt zu sein – Martina Kessler

42 Zwischendurchgedanken Das GVH-Virus Saskia Barthelmeß

43 LYDIA-Familientipp: Das Gebetsspiel – Antje Bernhardt

{lebensnah}

{service}

10 Für Sie gelesen

46 Liebe Leser

57 Schmunzeln mit LYDIA

62 LYDIA kreativ – Imke Johannson

76 Gut informiert. Neu inspiriert.

80 Leserbriefe

81 Impressum

Lydia{inhalt}

Von Kritik lernen, ohne verletzt zu sein

39

34

36Hilfe inder Krise

Nicht ohne mein Smartphone

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Liebe6 Lydia 03/2015

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LiebeInterview

mit Larissa Murphy

L Y D I A

Als Sie die Nachricht von Ians Unfall hörten, waren Sie auf einer Feier. Können Sie diesen Moment beschreiben?

Ich war gerade auf einer Brautparty, als Ians Vater anrief. Ians Mutter war auch da und nahm den Anruf entgegen. Danach kam sie zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Larissa, wir müssen gehen. Ian hatte einen Autounfall. Er wird im Krankenhaus in Pittsburgh operiert.“ Wir hatten gerade ein Anbetungs-lied gesungen mit dem Refrain „Ich will dir vertrauen, was auch immer kommen mag; ich will deiner souve-ränen Gnade vertrauen.“ Das waren also die Worte, die in meinem Kopf herumgingen, als mich die Nachricht erreichte. Wir fuhren sofort los. Das Krankenhaus war etwa zwei Stunden entfernt.

Auf der Fahrt zum Krankenhaus betete ich: „Gott, bitte lass es nicht das Gehirn sein!“

Aber das war eigentlich schon zu spät …

Ja, es stellte sich heraus, dass es genau das war. Ian wurde wegen einer massiven, traumatischen Hirnverlet-zung operiert. Als ich zu ihm durfte, lag er im Koma, die Ärzte machten uns wenig Hoffnung. Zwei Tage später zeigte sein Gehirn bei vier von fünf Tests keine Reaktion. Man legte uns nahe, ein Bestattungsinstitut zu kontak-tieren und die Beerdigung zu planen.

Aber wir hofften immer noch, dass Gott ihn heilen würde. In der Bibel hat Jesus viele Wunder getan, und er ist derselbe heute, gestern und in Ewigkeit. Ich habe in den ers-ten Tagen sehr viel gebetet. Die Gebete von anderen waren eine große Stütze für mich. Wir saßen an Ians Bett und lie-ßen seine Lieblingsmusik laufen. Das ging nur zu bestimm-ten Zeiten. Die übrige Zeit saßen wir im Wartebereich der Intensivstation. Stunde um Stunde. Wir lebten praktisch dort und verließen das Krankenhaus so gut wie nie.

Larissa und Ian waren jung und verliebt und planten ihre Hoch-

zeit. Doch dann hatte Ian einen schweren Unfall und erlitt eine

traumatische Hirnverletzung. Als er aus dem Koma aufwacht,

kann er sich nicht mehr mitteilen. Im LYDIA-Interview erzählt

Larissa von dieser Zeit und warum sie Ian trotzdem geheiratet hat.

Wenn Liebe hält, was sie verspricht

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A lles fing während eines Aus-tauschjahres in den USA an. Meine Gastfamilie bestand aus Christen, die ihren Glauben

im Alltag lebten. Das ließ mich hellhörig werden, weckte meine Neugier. Schließlich entschied ich mich ebenfalls, an Jesus zu glauben und in der Bibel zu lesen. Es war eine spannende, unbeschwerte Zeit, in der Gott und die Bibel ganz selbstverständlich zu meinem Leben dazugehörten. Ich schlug die Bibel auf, las ein paar Verse, pickte einen Gedanken heraus und schlug die Bibel wie-der zu. Die Bibel wurde zu meinem neuen Wegbegleiter.

Zurück in Deutschland, galt ich mit meinem neuen „Hobby“ schnell als Exot. Ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Die Leichtigkeit im Umgang mit der Bibel verschwand, dafür fing ich an, meinen Glauben bewusst zu reflektie-ren. Er gewann dadurch an Tiefe. Die Bibel betrachtete ich in dieser Zeit als meinen Kompass.

Vom Liebesbrief zum LehrbuchEinige Monate später lernte ich Jugend-

liche kennen, für die die Bibel ganz normal zum Leben dazugehörte. Es tat mir gut, Zeit mit ihnen zu verbringen, denn ich fühlte

mich verstanden. Im Laufe der Zeit nahm ich aber eine unausgesprochene Botschaft wahr, die lautete: Ein „guter Christ“ liest täglich in der Bibel – und zwar mit System. Zwar las ich sehr regelmäßig in der Bibel, fast täglich, aber am System mangelte es mir. Also versuchte ich es. Ich las Bücher der Bibel konsequent von vorne nach hin-ten durch, was mir in der Tat ganz neue Erkenntnisse bescherte. Ich entdeckte die vielen Zusammenhänge zwischen Altem und Neuem Testament, füllte meinen Kopf mit Wissen. Es war eine gewinnbringende Zeit. Für die damals erarbeiteten Erkennt-nisse bin ich noch heute dankbar. Gleich-zeitig war es auch die Zeit, in der das Bibel-lesen immer mehr zum Krampf wurde. Mit einem Mal ging es mehr um Pflichterfül-lung als um die Beziehung zu Gott. Aus dem Liebesbrief Gottes an mich war nach und nach eine Art Lehrbuch geworden, aus dem mein Verstand genährt wurde, aber immer weniger mein Herz.

Während meines Theologiestudiums wechselten die Rollen, die die Bibel in meinem Leben spielte. Mal hatte ich nach Vorlesungsschluss genug davon. Es gab aber auch Zeiten, in denen ich täglich viel Zeit damit zubrachte, in ihr zu lesen und mit Gott über das Gelesene zu sprechen.

N ICOLE STURM

Gott kreativ begegnen Mein Weg zum „Bible Art Journaling“

Seit mittlerweile fast 20 Jahren gehe ich mit Gott durchs Leben. Das macht knapp 20

Jahre, in denen die Bibel eine Rolle in meinem Leben spielt. Mal war es eine Haupt-, mal

eine Nebenrolle. Aber ganz gleich, ob ihre Rolle scheinbar groß oder eher klein war –

sie hat mich immer begleitet.

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Meinen eigenen Zugang findenAls ich nach dem Studium mit Kindern

und Jugendlichen in einem sozialen Brenn-punkt arbeitete, hatte ich zum ersten Mal eine Wohnung ganz für mich allein. Ich genoss den Luxus, beim Abwaschen laut Lobpreislieder singen zu können, ohne dass es jemanden störte. Im Wohnzimmer breitete ich mich mit Tee, Bibel, Papier und Stift aus. Diese Freiheit wirkte sich auf mein Verhältnis zur Bibel aus. Niemand verlang-te in dieser Zeit ein bestimmtes Pensum an Lesezeit, und ich fand meinen eigenen Rhythmus. Ich las ganz ungezwungen, ein-fach für mich. Mal ein Buch am Stück, mal einen Psalm, mal entlang eines Themas. Die Bibel wurde wieder zu einer echten Kraft-quelle und einem wertvollen Begleiter.

Dann kam die Hochzeit, und ein Jahr später wurde ich Mutter. Viele der lieb-gewonnenen Freiheiten fielen weg. Die Nächte waren kurz, die Tage oft wenig vor-hersehbar. Hinzu kamen Ehrenamt, eine kleine freiberufliche Tätigkeit, Freunde. Mein Tag hatte einfach zu wenig Stunden für all das, was anstand. Ich fing an, mich ins Bad zurückzuziehen, um wenigstens dort ein paar Minuten Ruhe zu haben – und ja, auch um in der Bibel zu lesen. Zu einem späteren Zeitpunkt kaufte ich mir dann das

Neue Testament als Hörfassung auf MP3, sodass ich beim Joggen oder Abwaschen die Bibel hören konnte. Ich versuchte, die Bibel in meinen Alltag zu integrieren. Es war schwer für mich, zu akzeptieren, dass das Konzept „Lies jeden Tag so und so lange Bibel, und zwar möglichst um die und die Uhrzeit“ einfach nicht zu mir und meinem Leben passte. Die Bibel trat immer mehr in den Hintergrund. Nicht, weil sie mir nichts mehr bedeutete, sondern weil ich erkannte, dass ich den Anspruch mancher Mitchris-ten nicht leben konnte, und ich verzweifelte daran.

Bibelseiten kreativ gestaltenMittlerweile geht unsere Tochter in die

Schule. Da ich selbstständig von zu Hause aus arbeite, könnte ich somit wieder zum planvollen, regelmäßigen Bibellesen mit System zurückkehren. Aber ich tue es nicht. Warum? Weil ich erkannt habe, dass mein Perfektionismus und mein innerer Richter sogleich zur Stelle sind, sobald ich einen Tag auslasse oder den Text nur überfliege. Sie verleiden mir das, was ich doch eigent-lich liebe. Ich möchte meinen Glauben nicht durch eine mehr oder weniger perfekt abgearbeitete Bibellese-To-do-Liste defi-nieren lassen. Durch diese Entscheidung ist

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Hilfe in derKriseEhe-Therapie: Verantwortung

übernehmen und Grenzen setzen

Interview mit Vincent und Ella Naumann:

Ella und Vincent waren mit großen Erwar-

tungen und viel Idealismus in die Ehe

gegangen. Gerade war das dritte Kind

geboren, als Vincent mit einem Burn-out

in die Klinik kam. Während der Therapie

geriet sein Leben aus den Fugen …

Vincent beschreibt seine Gefühle in die-ser Zeit so:

„Negative Gefühlsstrudel nahmen mich mehr und mehr gefangen und zogen mich abwärts. Ich hatte keine Lebensperspektive mehr und war schlicht am Ende. In diesen Depressionssümpfen gediehen meine täg-lichen Suizidsehnsüchte prächtig. Mein eigenes Ende war mir beständig vor Augen. Es war für mich unbegreiflich, warum Gott diese Situation zugelassen hatte. Schließlich war ich Christ. Ich hatte eine Beziehung zu Gott! Ich flehte ihn an, mir zu helfen, doch Gott schien irgendwie ,abgetaucht‘ zu sein. Das ließ mich völlig verzweifeln. Ich war maßlos enttäuscht von ihm. Und das weck-te Rachegelüste in mir. Ich wollte Gott zei-gen, wie lieblos er sei, und richtete meine zerstörerische Energie auf meine engsten Beziehungen – in erster Linie auf meine Frau. Ich wollte zerstören, weil ich zerstört war. Deshalb tat ich das, was Beziehungen

am meisten schadet: In vollem Bewusstsein der Konsequenzen schlief ich mit einer anderen Frau.“

Ella schildert ihre Sicht so:„Als wir heirateten, war Vincent 20 und

ich 22 Jahre alt. Wir haben uns über das Internet kennengelernt und kannten uns zum Zeitpunkt der Hochzeit fast ein Jahr, wenn man die ersten Online-Kontakte mitzählt. Und wir liebten uns! Vincent hatte gerade seine Ausbildung zum Büro-kaufmann abgeschlossen. Ich steckte noch mitten in meinem Lehramtsstudium. Wir zogen in das große Haus meiner Eltern, da wir keine eigenen Geldreserven hatten. Nach fast zwei Jahren kam unser Sohn Lucas zur Welt, zwei Jahre später unsere Tochter Sarah und weitere drei Jahre später unser drittes Kind, Jonas. Für mich war das Leben wunderschön.

Doch dann ging die Bombe hoch: Weni-ge Wochen nach Jonas’ Geburt kam Vin-cent mit einer Erschöpfungsdepression in die Klinik. Einige Wochen später sagte er mir, dass er mich und die Kinder verlassen wollte. Ich fühlte mich betrogen, ohnmäch-tig und verhöhnt. Ich liebte ihn all die Jahre, war ihm treu, war ihm eine gute Ehefrau – ich konnte es nicht fassen! Noch nie in meinem Leben ging es mir so schlecht. In blindem Schmerz suchte ich verzweifelt

nach einer Lösung. Ich kontaktierte Seel-sorger und las Bücher. Ich erfüllte Vincent aus eigener Initiative einen seiner innigsten Wünsche: aus dem Haus meiner Eltern aus-zuziehen. Ich kämpfte wie eine Löwin um unsere Beziehung.“

Vincent, Ihre Frau hat dann einen Termin beim Paartherapeuten vereinbart. Wie war das erste Gespräch?

Vincent: Anfangs war ich nur widerwillig und halbherzig dabei. Ich war nur mitge-kommen, weil ich den Therapeuten bereits kannte und mochte. Es war für mich sehr anstrengend, vor einem anderen Menschen gemeinsam mit meiner Frau über uns und unsere Probleme zu reden. In den Sitzungen kam vieles ans Licht, was ich gar nicht im Licht sehen wollte. Meine eigene Haltung wurde deutlich und wurde im Beisein mei-ner Frau offen angesprochen. Das tat richtig weh.

Ella, Sie hatten die Termine für die Paar- therapie vereinbart, waren die Aktive und wollten die Ehe retten …

Ella: Ich fühlte mich als Opfer. Wie kann man einer Frau, die gerade ein Baby bekom-men hat, so etwas antun? Ich dachte, ich geh dahin und erzähle, wie Vincent unsere Beziehung zerstört. Er war krankgeschrie-ben, aber statt mir mit den Kindern zu hel-

Ehe

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fen, lag er die ganze Woche auf dem Sofa und spielte mit seinem Handy. Der The-rapeut hat sich das angehört und erst mal geschwiegen. Dann sagte er: „Ella, wie lange muss man auf deiner Seele herumtrampeln, bis du lernst, Grenzen zu setzen?“ Das war für mich wie ein Schlag ins Gesicht.

Vincent: Auf dem Rückweg hat Ella geweint. Sie war sauer, enttäuscht und ver-letzt. Ich habe sie nicht getröstet, sondern sie weinen lassen.

Ella: Das war hart. Ich wollte doch beschützt, getröstet und geliebt werden! Aber nur so konnte ich lernen, für mich selbst Verantwortung zu übernehmen.

Wie sind Sie damit umgegangen?Ella: Mir war klar, dass ich an mir arbei-

ten musste. Ich habe mir mehrere Bücher bestellt, die mir geholfen haben, Grenzen zu setzen, um auf mich aufzupassen. Ich wollte geachtet werden, weil ich es wert bin, weil Gott mich liebt. Der Therapeut hatte gesagt: „Ella, ich sehe keine Wut, keinen Zorn bei dir, nur Liebe. Was muss er denn noch alles tun, damit du wütend wirst?“ Ich dachte, wenn ich wütend werde und Grenzen setze, dann verlässt er mich sowieso! Ich hatte Angst, mit den Kindern allein zu bleiben. Schließlich beschloss ich: Ich probier´s!

Haben Sie ein Beispiel?Ella: An eine Situation erinnere ich mich

noch ganz genau. Es war das erste Mal, dass ich Grenzen gesetzt habe. Wir waren gerade in die neue Wohnung gezogen und ich war dabei, Kisten auszupacken, als er anrief und sagte: „Ich bin wieder in der Klinik. Kannst du mir Kleidung bringen?“ Er sprach davon, dass er mindestens zwei Wochen bleiben würde, weil er wieder Selbstmordgedanken gehabt hätte. Ich antwortete: „Weißt du was, Vincent? Du hast mich mit den Kin-dern sitzenlassen und willst jetzt, dass ich zu dir komme und dir frische Sachen brin-ge? Sag mal, für wen hältst du mich über-haupt?“ Ich kam dann zwei Tage später und blieb nur ganz kurz. Aus den zwei Wochen, die er in der Klinik bleiben wollte, wurden auf einmal fünf Tage. Es war das erste Mal, dass Vincent drei Tage dieselbe Unterwä-sche und dieselben Socken trug …

Wie ging es weiter?Ella: Einmal hatten wir wieder einen Ter-

min bei dem Therapeuten. Ich war schon hochgegangen, während Vincent sich unten mit ihm unterhalten hat. Ihm schien es gut zu gehen, sie scherzten zusammen. Als die beiden dann hochkamen, war Vin-cent wieder traurig und sagte: „Ich gehe.“ Der Therapeut sagte: „Nein, du gehst nicht.

Du kannst mich nicht unten mit einem Lächeln empfangen und, wenn du mit Ella redest, so mies drauf sein. Jetzt reiß dich mal zusammen und kämpfe! Ich denke, du bist nicht wirklich depressiv. Du hast depressive Gefühle und steigerst dich da rein, aber du hast keine Depression.“

Vincent, was haben Sie gedacht, als er das sagte?

Vincent: Seine Worte taten mir weh, aber zugleich tat es mir gut, dass er mir diesen Spiegel vor Augen hielt. Und er hatte recht: Immer wenn es um unsere Zukunft ging, war ich niedergeschlagen. Er hat mir viele Dinge gesagt, die ich nicht hören wollte. Aber es war wichtig. Eine andere Sache war das mit der Opferrolle. Ich fühlte mich immer als Opfer. Es war ein wichtiger Schritt zu sagen: „Ich bin erwachsen. Ich trage Verantwortung.“

Können Sie das näher erklären?Vincent: Wenn ich etwas tue, muss ich

die Konsequenzen tragen. Das ist das Prinzip von Saat und Ernte. Ein Satz, den unser Therapeut am Anfang ganz oft zu mir gesagt hat, war: „Vincent, das Leben ist keine Spielwiese. Du kannst nicht nur tun, wozu du Lust hast. Du kannst nicht nur nach deinen Gefühlen entscheiden. Du hast Verantwortung gegenüber deiner Familie.“

Es war sicher nicht leicht, so etwas zu hören …

Vincent: Nein. Aber der Therapeut hat das in

einem wertschätzenden Ton gesagt, dadurch konnte ich es anneh-

men. Ich habe mich nicht wie ein Held gefühlt, aber in mir hat es klick gemacht. Ich habe gemerkt: Ich habe

viel Schönes gewollt, ohne mich selbst dafür einzu-bringen. Ich sah ein, dass ich nicht nur nach meinen

Gefühlen entscheiden sollte, sondern nach dem, was gut und

richtig ist und was gute Früchte bringen kann. Aber der Therapeut

hat auch Ella aufs Korn genommen, nicht nur mich. Er sprach ihre Co- Abhängigkeit an; ihr großes Liebesloch, das ich gar nicht füllen kann. Er sagte

ihr, dass ich nicht dafür geschaffen bin,

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BesondereKinderfür besondere

ElternVertrauen lernen, wenn Gott mich „enttäuscht“

Leben mit Handicap

S T E FA N I E G O N S E R

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Ich war schon immer ein sehr ängstlicher Mensch. Obwohl einer der häufigsten Sätze der Bibel lautet „Fürchte dich nicht!“, hatte ich Angst vor vielem, unter anderem auch vor Gott. Was, wenn Gottes

Plan Schlimmes bereithielt oder er womöglich zornig auf mich war und mich deshalb bestrafte? Immer wieder plagten mich diese Ängste.

Dann wurde ich plötzlich schwanger und alles verän-derte sich. Ich finde es im Nachhinein so erstaunlich, wie Gott mein Leben zuerst in Trümmer zerlegt hat, um mich ein Stück weit zu heilen …

Eine beunruhigende DiagnoseIm dritten Monat meiner Schwangerschaft wurde ich

gefragt, ob ich per Ultraschall eine Messung der sogenann-ten Nackenfalte des Babys vornehmen wolle. Anhand der Dicke dieser Wasseransammlung im Genick des Embryos kann man ableiten, ob das Kind wahrscheinlich behindert sein wird oder nicht. Ich habe damals sofort Nein gesagt, und auch mein Mann war einverstanden. Wir wollten das alles nicht wissen und uns überraschen lassen. Bei meiner ängstlichen Veranlagung war mir klar, dass das das Beste war. Doch Gott hatte andere Pläne.

In der folgenden Nacht fing ich an zu erbrechen. Jede halbe Stunde überfiel es mich, und wir riefen in den Morgenstunden meine Frauenärztin an, die mich sofort ins Krankenhaus schickte. Dort angekommen, wurde per Ultraschall nach dem Embryo geschaut. Der Arzt bestätigte mir, dass das Herz schlagen würde, doch er sah mich betreten an und sprach von einer sehr großen Was-seransammlung im Genick des Kindes. Schnell wurde der Chefarzt gerufen, der mir dann eröffnete, dass die Nackenfalte unseres Kindes viel zu groß sei, nämlich 4 Millimeter (bis 1,5 Millimeter wäre in Ordnung gewe-sen), und damit eine Behinderung sehr wahrscheinlich sei. Der Chefarzt beschloss, dass er sofort eine Mutter-kuchenpunktion vornehmen würde. Ich fragte vorsich-tig, was wäre, wenn es behindert sei. „Dann machen wir einen Abort!“ Zack! Das saß. Verzweifelt meinte ich, dass ich das aber nicht wolle. Ich könne mein Kind doch nicht umbringen! Ich blieb dabei, dass ich weder einen Abbruch noch die Punktion machen lassen würde.

Die Warum-Fragen kommenIn meinem Zimmer angekommen, brach dann alles

über mir zusammen. Warum nur, Gott? Warum nur? Ich war so enttäuscht und wütend. Wie konnte er mir und dem Baby nur so etwas Schreckliches zumuten? Ich sagte ihm im Zorn meiner Enttäuschung, dass ich ihn am liebsten loslassen würde, da ich mich anscheinend nicht auf ihn verlassen könne, aber dass ich das nicht tun

würde, da er das Einzige sei, das mir bliebe. Ohne ihn wäre ich ganz und gar verlassen.

Eine Woche später hatte ich einen Termin zum Ultra-schall. In dieser Woche rang ich mit Gott. WARUM, war meine große Frage, auf die ich keine Antwort erhielt. Wollte Gott mich strafen? Aber das Baby konnte doch nichts dafür! Ich betete wie eine Verrückte, dass die Nackenfalte ein Messfehler sei und bei meinem Termin in der Praxis festgestellt werden würde, dass alles in Ord-nung sei.

Voller Angst und Hoffnung gingen mein Mann und ich zu diesem Termin. Doch dort wurde festgestellt, dass die Nackenfalte sogar noch auf 6 Millimeter gewachsen war. Die Ärztin teilte uns mit, dass die Wahrscheinlich-keit sehr hoch sei, dass das Kind noch im Mutterleib ver-sterben oder sehr schwer behindert sein würde.

Vertrauen lernenWir vereinbarten mit dieser wirklich netten Ärztin,

alle vier Wochen zum großen Ultraschall zu kommen. In dieser Zeit hörte ich eine Predigt, die mir einen wichti-gen Anstoß gab. Es ging darum, dass wir vieles, was Gott tut, nicht verstehen können und dass wir auch fragen dürfen, warum er das tut. Aber dass wir beim Warum nicht stehen bleiben sollen. Wenn Gott uns darauf keine Ant-wort gibt, sollten wir seine Allmacht aner-kennen und ihm vertrauen, dass er es trotz allem gut mit uns meint. Außerdem ging es darum, dass wir unseren Gefühlen nicht immer trauen können. Auch dann, wenn wir es nicht fühlen, sollten wir uns vom Verstand her sagen, dass Gott gut ist. Das stimmte mich sehr nachdenklich.

Also sagte ich zu Gott: „Du hast mir ver-sprochen, für mich zu sorgen und es gut mit mir zu meinen. Ich verlasse mich auf dich! Du wirst mich nicht enttäuschen, egal, wie das hier ausgeht!“

Ich kann nicht mehr genau sagen, wann, ich denke, es kam eher schleichend, aber es trat tatsächlich Ruhe in mir ein. Gott schenkte mir eine große Gelassenheit, die nicht natürlich war. Ich kam zu der festen Überzeugung, dass Gott einen guten Plan für uns hatte. Und wenn die-ser Plan ein behindertes Kind beinhaltete, würde er uns mit allem versorgen, was wir dazu brauchten.

Geborgen in den StürmenGott forderte mich auf, alles loszulassen, und als ich

losließ, fand ich die totale Zuversicht. Um mich herum herrschte Aufregung. Unsere Familien machten sich große Sorgen.

Gott forderte

mich auf, alles

loszulassen, und

als ich losließ,

fand ich die

totale Zuversicht.

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M A R Y B R A N D T

HOFFNUNG in der Dunkelheit

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Durch eine Augenkrankheit kann Mary Brandt nur Umrisse und Schatten sehen. Als sie

sich bei der Hausarbeit am Auge schwer verletzt, bricht sie voller Schmerz und Panik

zusammen. Aber dann passiert etwas, das ihr neue Kraft gibt. Ohne etwas erkennen zu

können, wagt sie alleine den Weg zum Augenarzt.

M A R Y B R A N D T

Ich leide unter Retinitis pigmentosa (RP), einer Form der Netzhautdege-neration, bei der die Photorezeptoren zerstört werden und sich das Gesichts-

feld immer mehr verengt – der sogenannte Tunnelblick. Ich sehe nur verschwommene Umrisse. Ich bin immer der Überzeugung gewesen, dass Gott uns nur so viel zumutet, wie wir ertragen können. Ich weiß: Er hat uns einen Geist und einen Verstand gege-ben, um Durchhaltevermögen zu trainieren und um uns zu helfen, einen Ausweg aus unseren Schwierigkeiten zu finden.

Und ich habe die Hoffnung nicht auf-gegeben, dass es eines Tages eine Behand-lungsmöglichkeit für RP geben wird.

Gefangen im SchmerzMein letzter Rückschlag ist allerdings

noch nicht lange her. Es war der Tag nach meinem Geburtstag. Ich begann meine Wohnung zu putzen und beugte mich nach vorn, um einen Hocker beiseitezuschieben. Dabei traf mein linkes Auge gegen die Ecke einer Glastür. Es passierte im Bruchteil einer Sekunde. Ich spürte einen stechenden Schmerz, dann strömten Tränen über mein Gesicht. Oder war es Blut? Ich war mir nicht sicher. Ich sah nur Dunkelheit. Außer mir vor Schreck und Schmerz, drehte ich mich hin und her, konnte aber den rasen-den Schmerzen nicht entkommen.

Da hörte ich eine Stimme aus dem Radio. Ich hatte es angeschaltet, als ich mit dem Putzen begonnen hatte. Ich hörte meinen Namen. Es nahm mir fast den Atem. Ich ließ mich auf das Sofa sinken und hörte zu, gab mir Zeit, mich zu beruhigen. Jemand

hatte sich für mich das Lied „Gott segne dich“ gewünscht.

Das ganze Lied über blieb ich auf dem Sofa sitzen. Während mir die Tränen über das Gesicht strömten, hörte ich zu. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich der letz-ten Strophe lauschte. Ich hatte dieses Lied von Martin und Jennifer Pepper schon oft gehört, aber die Worte der letzten Strophe nie bewusst wahrgenommen.

Perfektes TimingDie Person, die das Lied für mich

gewünscht hatte, konnte nicht wissen, dass ich genau in diesem Moment einen Unfall haben würde. Was für ein unglaubliches Timing! Der Text geht so:

Manchmal ist die Hand vor unseren Augen gar nicht mehr zu sehen,und wir hoffen nur noch, dieses Dunkel irgendwie zu überstehen.Doch kein Schatten, den wir spüren, kann das Licht in uns zerstören.

Gott segne dich, behüte dich, erfülle dich mit Geist und Licht,Gott segne dich. Erhebe dich und fürchte nichts,denn du lebst vor seinem Angesicht. Gott segne dich!*

Das war genug. Ich erhob mich von mei-nem Sofa! Mit diesen Liedzeilen im Kopf holte ich meinen langen weißen Blinden-taststock und machte mich auf den Weg – zu meinem Augenarzt. Glücklicherweise hatte ich Orientierungstraining gehabt.

Ich kannte mich in meiner Umgebung aus, wenigstens in meiner unmittelbaren Nach-barschaft. Auch hatte ich den Weg zu eini-gen wichtigen Orten in der Stadt gelernt, zum Beispiel zur Post und zum Bahnhof. Für einen blinden Menschen ist es viel schwieriger als für eine sehende Person, einen einzigen falschen Schritt zu korrigie-ren. Daher ist es besonders wichtig, unter Stress ruhig und konzentriert zu bleiben.

Mir ist der Weg vertraut zu der Straße, in der sich die Augenarztpraxis befindet. Doch bevor ich diese erreichte, musste ich einige Hindernisse überwinden. Obwohl ich starke Schmerzen hatte, musste ich mich auf den Weg konzentrieren.

Besondere OrientierungMein Weg zum Arzt ist ein Beispiel für

einen Weg, den ich auswendig gelernt habe:Ich gehe die Einfahrt meines Hauses hin-

unter und biege dann links ab. Wenn ich den Ahornbaum erreiche, gehe ich noch drei Schritte, dann wende ich mich nach rechts und überquere zwei Zebrastreifen. Dann muss ich gut aufpassen, dass ich im Park den richtigen Weg nehme, der mich zur Stadtmauer bringt, denn die Wege zwei-gen in verschiedene Richtungen ab.

Anschließend kommt eine kurze Strecke durch „Niemandsland“ – ich gehe an eini-gen wild wachsenden Büschen vorbei. Zum Glück ist dieses Stück nur kurz. Nach etwa zwanzig Schritten erreiche ich das Gelände einer Schule. Ab hier laufe ich einen schma-len Pfad entlang, der auf beiden Seiten von hohen Bäumen gesäumt wird. Für eine sehende Person ein schöner Spaziergang – für mich ein Abenteuer.

Nun gibt es noch eine letzte Hürde, die ich nehmen muss: ein großer, offener Platz. Das ist eine echte Herausforderung, weil es keinerlei Orientierungshilfen gibt, wie zum Beispiel einen Bordstein, an dem ich mich entlangtasten könnte. Hier angekom-men, drehe ich eine Rechtskurve und stehe

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D 1 2 0 1 3 / P o s t v e r t r i e b s s t ü c k / G e b ü h r b e z a h l t / L y d i a V e r l a g / G e r t h M e d i e n G m b H / D i l l e r b e r g 1 / D - 3 5 6 1 4 A s s l a r - B e r g h a u s e n

a u s : "G lü c k H aT Tau s e n d f a r B e n " ( a d e o v e r l a G )

Mit Liebe bekommen die Tage Tiefe.Mit Liebe rette ich den einzelnen Tag

aus dem tosenden hektischen Meer.

T I T U S M Ü L L E R