Lyrikkalender 2012

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4 Sonntag Januar 2012 Neujahr Magister Martinus von Biberach Ich leb, und waiß nit wie lang, Ich stirb und waiß nit wann, Ich far und waiß nit, wohin, Mich wundert, das ich froelich bin. um 1480

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Lyrikkalender 2012, Michael Braun (Hg.), 2011, Verlag Das Wunderhorn.

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4Sonntag

Januar 2012

Neujahr

Magister Martinus von Biberach

Ich leb, und waiß nit wie lang, Ich stirb und waiß nit wann, Ich far und waiß nit, wohin, Mich wundert, das ich froelich bin.

um 1480

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Dieser Grabspruch, über dessen authentische

Urheberschaft immer noch gestritten wird, hat

eine lange und nachhaltige Wirkungsgeschichte.

Viel spricht dafür, dass dieser Vierzeiler, der ur-

sprünglich wohl als Priamel (= mittelalterliches

Spott gedicht mit überraschender Schlusswendung)

verfasst worden ist, dem franziskanischen Theo-

logen Martinus von Biberach (gestorben 1498 in

Biberach) als Grabspruch diente. Martin Luther

(1483–1546) kannte jedenfalls diesen Sinnspruch

und kritisierte ihn als »Reim der Gottlosen«.

Der fragende, zweiflerische, fast agnosti­

zistische Gestus des Vierzeilers hat Luther

zu einem trotzigen Gegengedicht provoziert.

Denn im Hingegebensein des Grabspruchs

an das Fatum und das Zufällige der Existenz

fehlte Luther die dezidierte Hinwendung zu

Gott als dem Urgrund aller Schöpfung. Bis

weit in die literarische Moderne adaptierten

Dichter diesen Vierzeiler und erweiterten

ihn. Variationen sind bekannt von Heinrich

von Kleist, Bertolt Brecht, F. K. Waechter und

zuletzt Wolf Biermann.

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6Dienstag

Januar 2012

Theodor FontaneEs kribbelt und wibbelt weiter

Die Flut steigt bis an den Arrarat Und es hilft keine Rettungsleiter, Da bringt die Taube Zweig und Blatt – Und es kribbelt und und wibbelt weiter. Es sicheln und mähen von Ost nach West Die apokalyptischen Reiter, Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest, Es kribbelt und wibbelt weiter. Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha, Es brennen Millionen Scheiter, Märtyrer hier und Hexen da, Doch es kribbelt und wibbelt weiter. So banne dein Ich in dich zurück Und ergib dich und sei heiter; Was liegt an dir und deinem Glück? Es kribbelt und wibbelt weiter.

1888/89

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Theodor Fontane (1817–1898) hat 1888/1889 ein

ungewöhnliches Endzeit-Gedicht mit heiter-komi-

schen Untertönen geschrieben. Die Figuren und

Schauplätze dieser apokalyptischen Phantasie sind

aus biblischen Erzählungen bekannt: Der erlo-

schene Vulkan im Hochland von Armenien, auf

dem die Arche Noahs landete und die mythischen

apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung des

Johannes. Gegen die Endzeit-Ängste empfiehlt das

lyrische Ich die »gelassene Heiterkeit« des römi-

schen Stoikers Seneca.

Die literaturwissenschaftliche Forschung hat

darauf hingewiesen, dass Fontanes eigenar­

tiger Refrain »Es kribbelt und wibbelt weiter«

auf Fügungen aus der romantischen Lieder­

sammlung »Des Knaben Wunderhorn«

(»Der Prinzenraub«) zurückgeht. Ein Volks­

lied des 18. Jahrhunderts lieferte die moti­

vische Verknüpfung zur Arche Noah: »Auk

die Arche Noah soll/Sick hier präsentiere;/

Kribbli, wibbli, alles voll/Von vierfüßke

Thiere…«

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0Mittwoch

Januar 2012

Achim von ArnimDer Welt Herr

Morgenstund hat Gold im Munde, Denn da kommt die Börsenzeit Und mit ihr die süße Kunde, Die des Kaufmanns Herz erfreut: Was er abends spekulieret, Hat den Kurs heut regulieret. Eilens ziehen die Kuriere Mit dem kleinen Kursbericht Daß er diese Welt regiere,Von der andern weiß ich’s nicht:Zitternd sehn ihn Potentaten, Und es bricht das Herz der Staaten

um 1825

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Es spricht für den visionären Weitblick der

Gattung Lyrik, dass das erste Gedicht über den

modernen Finanzkapitalismus und die globale

Macht der Börse bereits um 1825 entstanden ist:

Achim von Arnim (1781–1831), der mit seinem

romantischen Weggefährten Clemens Brentano

die berühmte Liedersammlung »Des Knaben

Wunderhorn« (1806 ff.) zusammenstellte, hat es

geschrieben.

Als »Der Welt Herr«, der die politischen

Geschicke lenkt, erscheint in diesem Gedicht

ein offenbar kapitalstarker Kaufmann, dessen

abendliche Spekulation am nächsten Morgen

den Kurs »regulieret«. In ebenso einfachen

wie prägnanten Reimen kommentiert Arnim

das Börsengeschäft satirisch – und läßt offen,

ob die Macht seines Spekulanten bis in den

Himmel reicht. Eine fast frühmarxistische

Sicht auf die Verhältnisse: Denn die Politik

wird hier eindeutig der Ökonomie nach­

geordnet.

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1Donnerstag

Januar 2012

Friedrich HölderlinDas Angenehme dieser Welt

Das Angenehme dieser Welt hab’ ich genossen, Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, April und Mai und Julius sind ferne, Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

nach 1806

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Im Januar 1811 berichtete ein Tübinger Jura-

stu dent seinem Bruder von seinem Besuch beim

»armen Hölderlin«: »Er gab mir heute einen

ganzen Fascikel zum durchlesen, woraus ich dir

doch Einiges aufschreiben will.« Darin befand sich

auch jenes Gedicht, in dem Hölderlin (1770 –1843)

seine Situation im Turmzimmer am Tübinger

Neckarufer in erschütternder Klarheit benennt.

Fünf Jahre vor Abfassung des Gedichts hatte

man den Dichter in eine Anstalt für Geistes­

kranke gewaltsam verschleppt, um ihm dort

mit allerlei Torturen den angeblichen »Wahn­

sinn« auszutreiben. Nach seiner Entlassung

nahm ihn eine Tübinger Handwerksfamilie

in ihr Haus auf, wo er das berühmte Turm­

zimmer bewohnte – und weiterhin Gedichte

schrieb. Dort entstand auch das lyrische

Proto koll seiner Verzweiflung.

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4Sonntag

Januar 2012

Jakob Michael Reinhold LenzWo bist du itzt

Wo bist du itzt, mein unvergeßlich Mädchen, Wo singst du itzt? Wo lacht die Flur, wo triumphiert das Städtchen, Das dich besitzt? Seit du entfernt, will keine Sonne scheinen, Und es vereint Der Himmel sich, dir zärtlich nachzuweinen, Mit deinem Freund. All unsre Lust ist fort mit dir gezogen, Still überall Ist Stadt und Feld – dir nach ist sie geflogen, Die Nachtigall. O komm zurück! Schon rufen Hirt und Herden Dich bang herbei! Komm bald zurück!

1772/73

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»Es ist mir, also ob ich auf einer verzauberten Insel

gewesen wäre.« So beschreibt der unglückliche

Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792)

eine Schlüsselszene seines Lebens, die Begegnung

mit der Pastorentochter Friederike Brion im

elsässischen Sesenheim Ende Mai 1772. Die von

ihm innig Angebetete war gerade von Goethe, dem

Freund und Rivalen von Lenz, verlassen worden.

Etwa ein Jahr nach der ersten Begegnung

mit Friederike Brion entstand das herzzer­

reißende Liebesgedicht von Lenz, das jenes

Motiv der Abwesenheit und des Verlustes

thema tisiert, das bestimmend wurde im

Leben des Dichters. Ein Lenz­Biograph

ver weist auf Friederike als »dauerhafteste

Neigung« in Lenz’ Lebensweg: »Ihretwegen

versuchte er Selbstmord, ihren Namen wie­

derholte er in den Wahnsinnsphantasien...«

Die Freundschaft zwischen Goethe und Lenz

zerbrach im Sommer 1776, als Goethe auf­

grund eines bis heute nicht geklärten Vorfalls

(»Lenz Eseley«) die Ausweisung des Freundes

aus Weimar verfügte.

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6Dienstag

Januar 2012

Gottfried KellerWinternacht

Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt, Still und blendend lag der weiße Schnee. Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt, Keine Welle schlug im starren See. Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf, Bis sein Wipfel in dem Eis gefror; An den Ästen klomm die Nix’ herauf, Schaute durch das grüne Eis empor. Auf dem dünnen Glase stand ich da, Das die schwarze Tiefe von mir schied: Dicht ich unter meinen Füßen sah Ihre weiße Schönheit Glied um Glied. Mit ersticktem Jammer tastet’ sie An der harten Decke her und hin, Ich vergeß’ das dunkle Antlitz nie, Immer, immer liegt es mir im Sinn!

1851

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Verzweifelter kann eine Wasserfrau kaum sein.

Die Nixe ist eingeschlossen im Eis, mit »ersticktem

Jammer« tastet sie nach einem Ausweg. Ihr

flehent licher Blick unter der Oberfläche des gefro-

renen Sees trifft den Spaziergänger, der regungslos

in die schwarze Tiefe schaut.

Das verstörende Gedicht des Schweizers

Gottfried Keller (1819–1890) hat die Leser

rätseln lassen: Was sagt uns das mythische

Bild der Nixe? Ist ihre Verlorenheit in der

Eisesstarre, ihre Abgetrenntheit ein Sinnbild

für Kellers lebenslange Lebensfremdheit,

vor allem für seine Isolation gegenüber den

Frauen? Das Gedicht spricht jedenfalls von

der Nähe von etwas Ersehntem, das den

Sehnsüchtigen gleichwohl nie erreicht.

Es erschien erstmals 1851, im Rahmen von

Kellers »Neueren Gedichten«. Dort steht

es am Schluss der Abteilung »Jahreszeiten«.

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0Mittwoch

Januar 2012

Gottlieb Konrad PfeffelDer Exorzist

Ein Exorzist trieb Teufel aus; Nicht einer durfte lang verweilen: Mit Flüchen, Lachen oder Heulen Verließ er stracks das fremde Haus. Ein altes Weib wird vorgeführt, Die sich mit allen Vieren bäumet; Der Priester droht, die Vettel schäumet Und Satanas kapituliert; Erlaube mir nach altem Brauch In eine fette Sau zu fahren; Er sprachs und fuhr mit Haut und Haaren Dem Exorzisten in den Bauch.

1788

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Der elsässische Diplomatensohn Gottlieb Konrad

Pfeffel (1736–1809) hatte ursprünglich der

Familien tradition folgen wollen und Staatsrecht

an der Universität Halle studiert. Erst nach

seiner völligen Erblindung brach er die juristische

Laufbahn ab, was seiner Umtriebigkeit jedoch

keine Grenzen setzte. Er gründete 1773 in Colmar

eine protestantische Erziehungsanstalt für adlige

Jugendliche und trotzte seiner Blindheit mit gesell-

schaftskritischen Fabeln und launig-satirischen

Gelegenheitsgedichten. 1788 entstand das sarka-

stische Porträt eines Exorzisten, dem eine Teufels-

austreibung gründlich missrät.

Das Ritual der Austreibung des Teufels wird

hier als greller Slapstick geschildert. Denn

der verjagte Teufel bemächtigt sich seinerseits

des Exorzisten. Freche Gelegenheitsgedichte

dieser Art wurden von den Freunden Pfeffels

ohne Wissen des Autors seit 1759 in der

Straßburger Wochenschrift »Der Sammler«

gedruckt. Pfeffel selbst veröffentlichte erst­

mals 1761 eine dreibändige Sammlung mit

»Poetischen Versuchen«.

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3Samstag

Januar 2012

Unbekannter DichterVerschneiter Weg

Es ist ein Schnee gefallen Und ist es doch nit Zeit, Man wirft mich mit den Ballen, Der Weg ist mir verschneit. Mein Haus hat keinen Giebel, Es ist mir worden alt, Zerbrochen sind die Riegel, Mein Stüblein ist mir kalt. Ach Lieb, laß dich’s erbarmen Daß ich so elend bin, Und schleuß mich in dein Arme! So fährt der Winter hin.

1467

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Als elender Bettelmann muss der Mensch hier sein

zerfallendes Haus verlassen und sich mühsam

seinen Weg durch eine verschneite Landschaft ins

Unbekannte bahnen. Auf diesem beschwerlichen

Weg wird der Gehende mit »Ballen« beworfen, die

größere Schwierigkeiten bereiten als Schneebälle

im ausgelassenen Kinderspiel.

Das Ich hat mit Hindernissen und Mühselig­

keiten zu kämpfen, die, bedenkt man die

Entstehungszeit des Gedichts, wohl mit den

Verheerungen mittelalterlicher Kriege zu

tun haben. Denn das kleine Poem stammt

aus dem Kontext der anonymen deutschen

Volksdichtungen des 15. Jahrhunderts und

ist nach einer Handschrift von 1467 in viele

Anthologien aufgenommen worden. Das

Gedicht ist also in einem historischen Augen­

blick entstanden, da die religiösen und

politischen Fundamente der damaligen Welt­

ordnung zu wanken beginnen. Es bleibt offen,

ob es sich bei der »Lieb«, die in der letzten

Strophe um »Erbarmen« angerufen wird, um

eine göttliche Instanz oder um die innerwelt­

liche Geliebte handelt.

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5Montag

Januar 2012

Frank WedekindMein Käthchen

Mein Käthchen fordert zum Lohne Von mir ein Liebesgedicht. Ich sage: Mein Käthchen verschone Mich damit, ich kann das nicht. Ob überhaupt ich dich liebe, Das weiß ich nicht so genau. Zwar sagst du ganz richtig, das bliebe Gleichgültig; doch, Käthchen, schau: Wenn ich die Liebe bedichte, Bedicht ich sie immer vorher, Denn wenn vorbei die Geschichte, Wird mir das Dichten zu schwer.

1905

Page 18: Lyrikkalender 2012

Kein moderner Schriftsteller hat die romantische

Liebe so gründlich entmythologisiert wie Frank

Wedekind (1864–1918), der angriffslustige

Kabarettist, Bohemien und Dramatiker. Was er

in seinen antibürgerlichen Dramen wie »Lulu«

(1913), diesen grotesken Szenenfolgen über die

Käuflichkeit und Korrumpierbarkeit des Liebes-

gefühls, nicht thematisiert hatte, delegierte er an

seine leichthändig geschriebenen Gedichte.

1905 innerhalb des Zyklus »Sommer« erst­

mals veröffentlicht, positioniert sich Wede­

kind hier als Gegenfigur zum romantischen

Dichter. Denn es wird vom lyrischen Subjekt

nicht nur das Liebesbekenntnis verweigert,

sondern auch die poetische Imagination

der Liebes­Utopie. Stattdessen übt sich das

lyrische Ich Wedekinds in der Bekundung

emotionaler Unentschiedenheit – eine litera­

rische Liebes­Verweigerung erster Klasse.

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0Mittwoch

Januar 2012

Bettina von Arnim

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet, Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet, Das weiße Haus inmitten aufgestellt, Was ist’s, worin sich hier der Sinn gefällt? Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen, Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt, Nicht ist’s, was mir den Blick gefesselt hält. Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Und könnt ich Paradiese überschauen, Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen, Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt, Denn der allein umgrenzet meine Welt.

1835

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In seinem Tagebuch kommentierte der alte Goethe

1810 seine erste Begegnung mit der ihn anbetenden

Bettina von Arnim (1785–1859) sehr spöttisch:

»Der angesehene Dichter, Autor des Werther, zog

den Frieden seines trauten Heims dem aktiven

Rausch der Leidenschaft (delires actives de la

passion) vor«. Ob aus der romantischen Passion

bei dieser ersten Begegnung nicht doch eine ero-

tische wurde, ist umstritten. In ihrem Briefwerk

»Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« (1835)

hat Bettina von Arnim später diese ungewöhnliche

Liebe in romantischer Manier stilisiert.

Den dritten Teil des Briefwechsels mit

Goethe, das »Buch der Liebe«, hat Bettina

als poetisches Tagebuch angelegt, in das an

einer Stelle ein Gedicht eingefügt ist. Dieses

Gedicht beschwört Goethes Garten in Weimar

und das darin befindliche weiße Gartenhaus

als eine Art Weltmittelpunkt – Ort eines

Paradieses und Zentrum aller Sehnsucht.