Mann der Stunde - DL Media...

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06/17 stereoplay.de 142 Musik Jazz Die Rolle als Protegé hat Christian Sands hinter sich gelassen. Der Pianist aus Connecticut ist zwar noch keine 30, hat sich aber unter anderem durch seinen Platz in den Bands des Bassisten Christian McBride einen festen Platz in der ame- rikanischen Jazzwelt erspielt. Manch einer sieht in ihm den neuen McCoy Tyner, auch weil er souverän mit dem akkordischen Spiel umgehen kann. Doch Sands ist mehr als ein Epigone. „Ich wollte etwas schaffen, das jedermann erreichen JAZZ-CD DES MONATS Mann der Stunde CHAMBER JAZZ Mike McGinnis Recuring Dream PIANO JAZZ WORLD JAZZ Eric Schaefer Kyoto Mon Amour GUITAR JAZZ Kevin Eubanks East West Time Line MODERN JAZZ Chris Potter The Dreamer Is The Dream ACT / Edel Kultur (49:57) Mack-Avenue / in-akustik (65:45) Mack Avenue / in-akustik (62:52) ECM / Universal (50:08) Sunnyside / Delta (60:24) Der Schlagzeuger Eric Schaefer hat sich in die ja- panische Stadt Kyoto verliebt. Ein Vierteljahr hat er dort gelebt, musiziert und Land, Leute und Musik kennengelernt. Diese Eindrücke führt er nun mit dem japanischen Klarinettisten und Ba- ritonsaxofonisten Kazutoki Umezu, der als „Dr. Umezu“ einst dem humorvollen Freejazz gehul- digt hatte, und der Kotospielerin Naoko Kikuchi sowie dem Kontrabassisten John Eckhardt zu- sammen. Die Stücke setzen die Kotoharfe aller- dings eher als folkloristische Beigabe zu verträum- ten Melodien Umezus und einer wenig inspi- rierten Bass-Schlagzeug-Basis ein. Nicht jedes Reiseerlebnis mündet in große Kunst. WS Zwei Welten prallen auf Kevin Eubanks’ neuer CD aufeinander. Mit zwei komplett verschiedenen Bands hat der Gitarrist sehr unterschiedliche Sets zu jeweils fünf Songs aufgenommen. Man könnte fast von zwei Platten auf einer CD reden, wäre nicht genau dieser Kontrast das Konzept. In New York frönte er unter anderem mit Dave Holland, Nicholas Payton und Jeff ‚Tain’ Watts seiner M-Base-Vergangenheit, in Kalifornien träumte er sich mit Marvin ‚Smitty’ Smith, Bill Pierce, Mino Cinelu und Rene Camacho in die Jazz-Katakom- ben. Bei dieser eindrucksvollen Verhandlung von Tradition und Moderne kommt Eubanks’ eige- nes Spiel vielleicht ein wenig zu kurz. WK So kennt man Chris Potter eigentlich nicht. Ob- wohl, zwei vorangegangene Alben für ECM ha- ben bereits die Richtung gewiesen. Denn ist der New Yorker Saxofonist auf der Bühne gerne der Alleskönner, der seine Virtuosität mit Chuzpe präsentiert, zeigt er sich in seinen Quartettauf- nahmen für das Münchner Label gerne auch von seiner zart elegischen Seite. Der dezent hallige und mit Blick auf die Band schon beinahe über- transparente Sound unterstützt diesen Eindruck, obwohl Potter auch auf „The Dreamer Is The Dream“ stellenweise kraftvoll fabuliert. Umso mehr kommen seine Kompositionen als Schmuck- stücke kontrollierter Ekstase zur Geltung. RD Ein Swing-Klarinettist ist Mike McGinnis nicht. Wohl aber ein exzellenter Grenzgänger zur klas- sischen Klarinette und zu den coolen Klängen der 1950er. Seine Kompositionen klingen wie zi- selierte Kammermusikwerke, in denen jeder Ton wohlüberlegt in ein Gesamtkonzept eingegliedert ist. Zwischen ihm, dem Elektrobassisten Steve Swallow und dem Pianisten Art Lande laufen Melodien gegen- und miteinander, wobei die Trennung in Hinter- und Vordergrund aufgeho- ben ist. Gleichmäßig und ausgewogen klingt die- se Musik, und damit verwirklicht sie ein wenig den in den 1950ern geborenen Traum von einem „Third Stream“ zwischen Klassik und Jazz. WS Musik: ■■■■■ ■■■■■ Klang: ■■■■■■■■ ■■ Musik: ■■■■■■■■■ Klang: ■■■■■■■■ ■■ Musik: ■■■■■■■ ■■■ Klang: ■■■■■■■■ ■■ Musik: ■■■■■■■■ ■■ Klang: ■■■■■■■■ ■■ Musik: ■■■■■■■■ ■■ Klang: ■■■■■■■■ ■■ Christian Sands Reach könnte, die Groover und die Denker, die Zuhö- rer und Nebenbeihörer“, meint er in den Anmer- kungen zu seinem Album „Reach“, dem bislang sechsten unter eigenem Namen. Dementsprechend vielfältig wirkt die Musik. Ei- nige Stücke sind klassisches Trio-Spiel mit Yasu- shi Nakamura am Bass und Marcus Baylor am Schlagzeug. Für andere gesellen sich der Saxofo- nist Marcus Strickland und der Gitarrist Gilad Hekselman zum Team und frischen den entspan- nten Standard-Sound durch soulige, rockige Klän- ge auf. Sands ist der Leader, der sich mit ebenso leichter wie konzentrierter Melodieführung und der wunderbaren Entspanntheit des gestalterischen Überblicks aus einer Vielzahl inspirierender Quel- len bedient. So hat „Reach“ vieles, was man sich von einem grundlegenden Jazzalbum erhofft: die hörbare Verwurzelung in der Opulenz der Traditi- on, die Fähigkeit, mit dem Material zu spielen, und die Lust an der akustischen Herausforderung. RD Foto: Ralf Dombrowski

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Page 1: Mann der Stunde - DL Media Musicdlmediamusic.com/wp-content/uploads/2017/09/530-MUSIK-Jazz-stere… · in ihm den neuen McCoy Tyner, auch weil er souverän mit dem akkordischen Spiel

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Musik Jazz

Die Rolle als Protegé hat Christian Sands hinter sich gelassen. Der Pianist aus Connecticut ist zwar noch keine 30, hat sich aber unter anderem durch seinen Platz in den Bands des Bassisten Christian McBride einen festen Platz in der ame-rikanischen Jazzwelt erspielt. Manch einer sieht in ihm den neuen McCoy Tyner, auch weil er souverän mit dem akkordischen Spiel umgehen kann. Doch Sands ist mehr als ein Epigone. „Ich wollte etwas schaffen, das jedermann erreichen

JAZZ-CD DES MONATS

Mann der Stunde

CHAMBER JAZZ

Mike McGinnis Recuring Dream

PIANO JAZZ

WORLD JAZZ

Eric Schaefer Kyoto Mon Amour

GUITAR JAZZ

Kevin Eubanks East West Time Line

MODERN JAZZ

Chris Potter The Dreamer Is The Dream

ACT / Edel Kultur (49:57)

Mack-Avenue / in-akustik (65:45)

Mack Avenue / in-akustik (62:52)

ECM / Universal (50:08)

Sunnyside / Delta (60:24)

Der Schlagzeuger Eric Schaefer hat sich in die ja-panische Stadt Kyoto verliebt. Ein Vierteljahr hat er dort gelebt, musiziert und Land, Leute und Musik kennengelernt. Diese Eindrücke führt er nun mit dem japanischen Klarinettisten und Ba-ritonsaxofonisten Kazutoki Umezu, der als „Dr. Umezu“ einst dem humorvollen Freejazz gehul-digt hatte, und der Kotospielerin Naoko Kikuchi sowie dem Kontrabassisten John Eckhardt zu-sammen. Die Stücke setzen die Kotoharfe aller-dings eher als folkloristische Beigabe zu verträum-ten Melodien Umezus und einer wenig inspi-rierten Bass-Schlagzeug-Basis ein. Nicht jedes Reiseerlebnis mündet in große Kunst. WS

Zwei Welten prallen auf Kevin Eubanks’ neuer CD aufeinander. Mit zwei komplett verschiedenen Bands hat der Gitarrist sehr unterschiedliche Sets zu jeweils fünf Songs aufgenommen. Man könnte fast von zwei Platten auf einer CD reden, wäre nicht genau dieser Kontrast das Konzept. In New York frönte er unter anderem mit Dave Holland, Nicholas Payton und Jeff ‚Tain’ Watts seiner M-Base-Vergangenheit, in Kalifornien träumte er sich mit Marvin ‚Smitty’ Smith, Bill Pierce, Mino Cinelu und Rene Camacho in die Jazz-Katakom-ben. Bei dieser eindrucksvollen Verhandlung von Tradition und Moderne kommt Eubanks’ eige-nes Spiel vielleicht ein wenig zu kurz. WK

So kennt man Chris Potter eigentlich nicht. Ob-wohl, zwei vorangegangene Alben für ECM ha-ben bereits die Richtung gewiesen. Denn ist der New Yorker Saxofonist auf der Bühne gerne der Alleskönner, der seine Virtuosität mit Chuzpe präsentiert, zeigt er sich in seinen Quartettauf-nahmen für das Münchner Label gerne auch von seiner zart elegischen Seite. Der dezent hallige und mit Blick auf die Band schon beinahe über-transparente Sound unterstützt diesen Eindruck, obwohl Potter auch auf „The Dreamer Is The Dream“ stellenweise kraftvoll fabuliert. Umso mehr kommen seine Kompositionen als Schmuck-stücke kontrollierter Ekstase zur Geltung. RD

Ein Swing-Klarinettist ist Mike McGinnis nicht. Wohl aber ein exzellenter Grenzgänger zur klas-sischen Klarinette und zu den coolen Klängen der 1950er. Seine Kompositionen klingen wie zi-selierte Kammermusikwerke, in denen jeder Ton wohlüberlegt in ein Gesamtkonzept eingegliedert ist. Zwischen ihm, dem Elektrobassisten Steve Swallow und dem Pianisten Art Lande laufen Melodien gegen- und miteinander, wobei die Trennung in Hinter- und Vordergrund aufgeho-ben ist. Gleichmäßig und ausgewogen klingt die-se Musik, und damit verwirklicht sie ein wenig den in den 1950ern geborenen Traum von einem „Third Stream“ zwischen Klassik und Jazz. WS

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Christian Sands Reach

könnte, die Groover und die Denker, die Zuhö-rer und Nebenbeihörer“, meint er in den Anmer-kungen zu seinem Album „Reach“, dem bislang sechsten unter eigenem Namen. Dementsprechend vielfältig wirkt die Musik. Ei-nige Stücke sind klassisches Trio-Spiel mit Yasu-shi Nakamura am Bass und Marcus Baylor am Schlagzeug. Für andere gesellen sich der Saxofo-nist Marcus Strickland und der Gitarrist Gilad Hekselman zum Team und frischen den entspan-nten Standard-Sound durch soulige, rockige Klän-ge auf. Sands ist der Leader, der sich mit ebenso leichter wie konzentrierter Melodieführung und der wunderbaren Entspanntheit des gestalterischen Überblicks aus einer Vielzahl inspirierender Quel-len bedient. So hat „Reach“ vieles, was man sich von einem grundlegenden Jazzalbum erhofft: die hörbare Verwurzelung in der Opulenz der Traditi-on, die Fähigkeit, mit dem Material zu spielen, und die Lust an der akustischen Herausforderung. RD

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06/17 stereoplay.de 141Musik max. 10 Punkte, Klang max. 10 Punkte erhältlich auf CD erhältlich auf Vinyl erhältlich als Download

VOCAL JAZZ

Diana Krall Turn Up The Quiet

CHAMBER JAZZ

Jochen Feucht Light Play

MODERN JAZZ

Denys Baptiste The Late Trane

PIANO JAZZ

Benny Green Happiness!

Mit einem heiteren „Welcome“ begrüßt das Jo-chen Feucht Trio seine Hörer. Vergnügt trällert der Bandleader auf dem Sopransaxofon, und ebenso unbeschwert lassen Dizzy Krisch und Günter Weiss die Töne aus Vibraphon und Gitar-re tänzeln. Fünfundvierzig Minuten später ver-abschieden sie sich etwas besinnlicher mit dem bedächtigen „Kleine Melocolie“. Dazwischen lie-gen acht Stücke, in denen sie Melodien auskos-ten, Spannung aufbauen, verdichten, loslassen. Zwischendurch wechselt Feucht zur Bassklari-nette oder zur Flöte, und in zwei Titeln ergänzt der Tablaspieler Suman Sarkar indisches Flair. Eine angenehm leichte, gelöste Musik. WS

Ein Album, das Puristen wie Nonkonformisten gleichermaßen erfreuen dürfte. Aus seiner Vereh-rung für John Coltrane hat der britische Saxofo-nist Denys Baptiste nie einen Hehl gemacht. Nun widmet er sich explizit den Kompositionen sei-nes großen Vorbilds. Sicher sind Baptistes Takes Updates zu Coltranes Originalen, und doch geht der Brite sehr behutsam vor. Mit langjährigen Weggefährten wie Saxofonist Steve Williamson oder Bassist Gary Crosby zeigt er, wie unsterb-lich diese Werke sind. Aus der Sicht von Denys Baptiste handelt es sich eben nicht um Wieder-aufführungen, sondern um Stücke, die gehört werden wollen, als wäre es das erste Mal. WK

Der Pianist Benny Green schneidet Konzerte mit einem semiprofessionellen Sony PCM-M10 ger-ne mit – so auch seinen Auftritt vom 13. Juni 2016 im Club Kuumbwa im kalifornischen Santa Cruz. Die Aufnahmen gefielen ihm so gut, dass er sie veröffentlicht, obwohl Höhen und Panorama der Band nur unzulänglich eingefangen wurden. An-dererseits swingt der Ex-Jazz-Messenger im Team mit dem Bassisten David Wong und dem Drum-mer Rodney Green mit jeder Faser. Virtuos und bestens aufeinander abgestimmt, interpretieren sie Klassiker von Horace Silver, Cedar Walton, Freddie Hubbard und anderen Hard-Bop-Grö-ßen in jenem packenden Stil der 1950er. WS

Diana Krall ist schon verflixt lässig, wie sie die Klassiker des American Songbook im Schlender-ton des swingenden Entertainments in das Mi-krofon haucht, singt und pianistisch rahmt. In verschiedenen Besetzungen begleitet von alten Bekannten wie Gitarrist Russell Malone, Bassist Christian McBride, manchmal ergänzt durch Drummer Karriem Riggens, Gäste wie Gitarrist Marc Ribot oder ein paar flirrende Geigen, und außerdem ein letztes Mal fein balanciert produ-ziert vom unlängst verstorbenen Tommy Li Puma, zeigt sie mit vorbildlicher Nonchalance, wie man Nostalgie lustvoll in Klänge fasst, ohne damit in die Falle des Musealen zu tappen. RD

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Mochermusic / Heinzelmann (50:35)

Edition / Membran (60:42)

Sunnyside / Delta (50:14)

Verve / Universal (48:12)

Als der norwegische Trompeter Arve Henriksen sich einst mit der Band Supersilent auf den Weg machte, war er für seine Noise-Kaskaden be-rühmt, die die Musik an der Grenze von elektro-nischer Avantgarde und improvisierender Erzähl-haltung mit einer Prise Klangsubversion würzten. Auf seinen Soloalben hat er sich von dieser Äs-thetik Schritt für Schritt entfernt. Bei jeder neu-en Platte stellt sich der Eindruck ein, ätherischer und transparenter ginge es nicht mehr, doch Hen-riksen findet immer noch die Luke zur nächsten Sphäre. So auch auf „Towards Language“. Sein Horn hat sich klanglich komplett in eine japa-nische Flöte verwandelt, Musiker wie der Pro-grammierer Jan Bang, Tastenmann Erik Honoré oder Gitarrist Eivind Aarset steuern eher Um-laufbahnen und Aggregatzustände als tatsächlich greifbare Sounds bei. Der Albumtitel ist treffend, denn hier geht es viel-mehr um eine Art elysischer Ur-Verwirrung als um konkrete Aussagen, die sich in Sprache gie-ßen ließen. Der Sound ist so glasklar, dass auch Unhörbares hörbar zu werden scheint. Was sich mit Puls oder Impuls beschreiben ließe, löst sich auf, alles wird Sound. Doch gerade die sphärische Leichtigkeit geht einher mit einer schier unbe-schreiblichen physischen Schwere, als wollte der Norweger den Ballast verdeutlichen, den wir zu-rücklassen. Der tiefenpsychologische Effekt ist ähnlich wie autogenes Training, eine Art Wech-selspiel von Spannung und Entspannung anhand

AUDIOPHILE DES MONATSSpiel der Kontraste

AMBIENT JAZZ

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Arve Henriksen Towards Language

Rune Grammofon / Cargo (38:29)

der Wahrnehmung der gestalterischen Klangge-gensätze. Musikalisch lässt sich die CD vielmehr mit studiotechnisch ausgefeilten Produktionen von Brian Eno vergleichen als mit anderen State-ments im Jazz. Ob Arve Henriksen sich mit die-sem Album vervollkommnet oder in den Uterus zurückkehrt, soll und darf jeder Hörer für sich selbst entscheiden. Womöglich läuft beides ja auf dasselbe hinaus. WK