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Marietta Moskin, gebürtige Wie-nerin, lebt in den VereinigtenStaaten, wo sie sich als Auto-rin und Übersetzerin aus demNiederländischen und Deut-schen einen Namen machte. Für ihren Beitrag zur jüdischenJugendliteratur erhielt sie den»Shirley Kravitz Children’s BookAward«. Zu ihren bedeutends-ten Werken gehört der Roman

»Um ein Haar«, ein Bericht über das (Über-)Leben einesjüdischen Mädchens im Dritten Reich, der auf ihren eigenenErfahrungen basiert.

Dieses Buch wurde im Schuljahr 2002/2003 unter der Lei-tung von Reinhold Adler und Wolfgang Horstmann von den fol-genden Schülerinnen und Schülern der Dollinger-Realschuleund des Pestalozzi-Gymnasiums, Biberach an der Riß, insDeutsche übertragen: Wolf Bittorf, Stefan Bochtler, SebastianBöhm, Heike Brauner, Isabel Distel, Kerstin Fesseler, AgnesGläsel, Sarah Gläser, Mathias Grabler, Ines Häderer, KathrinHagel, Daniel Hofherr, Sarah Kern, Margarete Kopp, Anja Krat-tenmacher, Silke Kuczera, Tanja Litau, Jürgen Lypke, SteffenMader, Tamara Markert, Rebecca Maucher, Maximilian Menz,Theresa Merk, Ellen Mohr, Aline Müller, Lea Müller, JuliaPorske, Nicole Rath, Jessica Renz, Florian Rief, ChristineSchmid, Simon Schmidtke, Laura Sommer, Rita Steigmiller,Hannah Weckemann, Gabriel Zell und Tanja Zweil. Die Über-setzung ins Deutsche haben Rotraud Rebmann und WernerToporski redigiert.

DIE AUTORIN

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Marietta Moskin

Um ein Haar

Überleben im Dritten Reich

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Band 30212 cbt – C. Bertelsmann TaschenbuchDer Taschenbuchverlag für JugendlicheVerlagsgruppe Random House

Unterrichtshilfen zu diesem Buchfinden Sie auf:www.randomhouse.de

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Munken Printliefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

3. Auflage Deutsche Erstausgabe April 2005 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Vorwort in alter Rechtschreibung© 1972 der Originalausgabe by Marietta Moskin Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals1972 unter dem Titel »I am Rosemarie« bei John Day Co., New York. © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbt / cbj Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Umschlagfoto: Corbis, DüsseldorfUmschlagkonzeption: init.büro für gestaltung, Bielefeldlf · Herstellung: CZSatz: Uhl+Massopust, Aalen Gesetzt aus der Stempel GaramondDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-570-30212-1 ISBN-13: 978-3-570-30212-5Printed in Germany

www.cbj-verlag.de

SGS-COC-1940

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Vorwort

1.Ich schlage die letzte Seite von »Um ein Haar« zu unddenke: »Keine dichterische Phantasie – nicht die vonDante, Shakespeare, Goethe oder Cervantes – keinedichterische Phantasie hätte sich je vorstellen können,was es hieß, in Hitlerdeutschland und dem deutsch be-setzten Europa während des Zweiten Weltkrieges jü-disch gewesen zu sein.«Wem diese Geschichte der Rosemarie Brenner aliasMarietta Moskin nicht zu Herzen geht, der hat keines.Es ist die Odyssee eines Mädchens, das 1928 als Kindjüdischer Eltern in Wien geboren wird, in den Nieder-landen Zuflucht findet, dort im Mai 1940 den Ein-marsch der Wehrmacht erlebt und in das Deporta-tionslager Westerbork verbracht wird – Beginn eineslangen Leidensweges. Er führt über die Ungeheuer-lichkeit des Daseins im KZ Bergen-Belsen und denverfehlten Versuch, als »Austauschjüdin« gegen inter-nierte Deutsche die Schweiz zu erreichen, ins Bibera-cher Internierungslager Lindele, wo kurz vor Kriegs-ende französische Truppen ihren Qualen dann einEnde bereiten.Rosemarie Brenner, das Alter ego der Autorin, hatteden Holocaust überlebt – »durch die Verquickung von

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Zufall, Glück und Fügung«, wie die in New York le-bende heute Sechsundsiebzigjährige das Unglaublichekommentiert: die Befreiung.An diesem Punkt der Lektüre angelangt, stockte mirvollends der Atem: War doch das, was ich da las, auchdie eigene Geschichte! Nur daß meine Retter keineFranzosen waren, sondern Truppen der 8. BritischenArmee des Feldmarschalls Bernard Law Montgomery,nachdem Hamburg am 3. Mai 1945 kapituliert hatte.Nach Jahren der Entrechtung, der Denunziationen,Berufsverbote, Gestapoverhöre, Mißhandlungen,Zwangsarbeit und der Flucht in die Illegalität mitständiger Entdeckungsgefahr, krochen meine Familieund ich aus einem dunklen, feuchten, kalten und vonRatten verseuchten Kellerloch an das augenschmer-zende Licht des Tages – wir waren befreit!Das ist jetzt fast 60 Jahre her, aber ich frage michimmer noch: »Hast du das wirklich überlebt?«Es ist nicht nur diese Gleichheit im Schicksal undseinem Ausgang – auch wie das Erlittene von Mariet-ta Moskin publizistisch verarbeitet wird, hat ihre Pa-rallelen mit meiner eigenen Familien- und Verfolgten-Saga »Die Bertinis«: Durch die Entscheidung derAutorin für den autobiographischen Roman, und dasmit Gründen, die auch die meinen waren – künstleri-sche Freiheit der Gestaltung, »ohne daß die Wahrheitverfälscht würde.«Die Wahrheit ständig drohender Deportation; dervollgestopften Züge in den Osten auf Nimmerwieder-

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sehen; der gnadenlosen SS- und Gestapowillkür; desKampfes gegen Läuse, Kälte, ewigen Hunger und derschlaflosen Furcht vor dem jederzeit möglichen Ge-walttod …Marietta Moskins Buch, 1972 unter dem Originaltitel»I am Rosemarie« herausgekommen und 1976 als Bei-trag zur jüdischen Jugendliteratur mit dem »ShirleyKravitz Children’s Book Award« ausgezeichnet, ist inden USA als Schullektüre eingeführt worden. Unddazu das Werk einer Frau, die sich, wie sie in den»Anmerkungen der Autorin« zur deutschen Ausgabeschrieb, ihre Fähigkeit zum Anstand und die positiveEinstellung zur menschlichen Natur bewahren wollte –»trotz der Grausamkeiten, die wir durch unsere Peini-ger erfuhren«.»Um ein Haar« – ein Buch das mich erschüttert hat,tief erschüttert.

2.Wie auch das, was es hier in Deutschland auslöste.Ich spreche von jenen 40 Zehntkläßlern der Dollinger-Realschule und des Pestalozzi-Gymnasiums Biberachund von ihren Lehrern Reinhold Adler und WolfgangHorstmann, die der Sache auf die Spur kamen, sichdann zusammenschlossen und das Buch aus dem En-glischen ins Deutsche übersetzten – eine Arbeitsge-meinschaft, ohne die es keine hiesige Leserschaft ge-ben würde.Als der Verleger mich mit dem Projekt bekannt mach-

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te, mir Näheres über seinen Inhalt mitteilte, über dieBegeisterung, die Kontinuität und die Ernsthaftigkeit,mit denen Schülerinnen, Schüler und ihre beiden Pä-dagogen ans Werk gegangen sind, und mich dabei umein Geleitwort bat, da antwortete ich, unfähig, meineinnere Bewegung zu verbergen, sofort: »Sie können inmir einen begeisterten Bundesgenossen voraussetzen.«Und als ich erfuhr, daß ich aus den Reihen der Schüle-rinnen und Schüler als gewünschter Verfasser einessolchen Prologs genannt worden war, weiter: »Es istmir eine Ehre, daß mein Name in diesem Zusammen-hang aus dem Munde junger Deutscher von heute fiel,und ein Ansporn in währender Zeit, weiterzumachen.«Je tiefer ich mich in die Arbeit der jungen Menschenaus Biberach versenkte, desto wärmer wurde mir umsHerz; desto dringender verspürte ich das Bedürfnis,mich über ihre Persönlichkeiten, ihre Gegenwart undihre Hoffnungen zu informieren; desto bestätigter sahich meine seinerzeit schwere Entscheidung, trotz allem,was mir und den Meinen vor 1945, aber auch durch dieVerdrängung der NS-Vergangenheit danach widerfah-ren ist, in Deutschland geblieben zu sein.Wenn der Platz es erlauben würde, hätte ich schon hiervorn gern die Namen einer jeden Schülerin, einesjeden Schülers aufgeführt, um so meinen Gefühlen derDankbarkeit, der Freude und der Ermutigung jenenAusdruck zu verleihen, in den die beiden schon ge-nannten Lehrer selbstverständlich einbezogen sind –ebenso wie Rotraud Rebmann und Werner Toporski,

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die den deutschen Text redigierten. Wird mit der Bi-beracher Erfahrung doch erfreulicherweise bestätigt,daß dort, wo aus Pädagogenkreisen ein Keim zu ehr-licher Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheitgelegt wird, auch das jugendliche Reservoir existiert,das bereit ist, ihn zu pflegen und hegen.So danke ich denn allen Beteiligten, die »Um einHaar« entdeckt und das Buch vom Englischen insDeutsche übersetzt haben, mit der Solidarität einesÜberlebenden des Holocaust, verbunden mit demgleichzeitigen Wunsch an meine Schicksalsgenossin inNew York: Masel tov, masel tov, Marietta Moskin –und ein langes, langes Leben noch!

Ralph GiordanoKöln, im Januar 2005

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I Amsterdam Mai 1940 – August 1942

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Kapitel 1

Ich hätte ausschlafen sollen an diesem sonnigen Mai-morgen, denn die Ferien hatten begonnen, und ichbrauchte nicht aufzustehen, um zur Schule zu gehen.Doch ich erwachte Viertel nach fünf, Stunden früher alssonst. Halb verärgert, halb froh im Bewusstsein, nochZeit zu haben, machte ich die Augen wieder zu undvergrub mich in mein Kissen, um weiterzuschlafen.Aber ich schlief nicht weiter. Durch das halb geöff-nete Fenster drangen die Geräusche des Hinterho-fes und des erwachenden Viertels an mein Ohr: dasScheppern eines Mülltonnendeckels, den jemand zu-warf, das leise Jammern eines Babys und irgendwozwischen den Hinterhofzäunen der durchdringendeSchrei eines streunenden Katers.Und dann, sozusagen im Hintergrund der anderen, ver-trauten Geräusche, war da noch ein leises, aber anhal-tendes Dröhnen, das ab und zu von längerem, dump-fem Grollen unterbrochen wurde. Wie weit entfernterDonner, dachte ich schläfrig. Aber wie konnte es aneinem so herrlich sonnigen Tag donnern?Faul ließ ich meine Gedanken zu anderen, näher lie-genden Dingen schweifen. Was zum Beispiel würdeich an meinem ersten Ferientag unternehmen? Ziem-lich sicher würde ich ihn mit Anneke verbringen, mei-

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ner besten Freundin, die nur – quer über die Hinter-höfe – eine Straße weiter wohnte. Anneke würde wie-der einmal diejenige sein, die für uns Pläne schmiede-te. So war es immer und mir war das recht. Vielleichtwürden wir unsere Fahrräder nehmen und zu den Dü-nen fahren, die kurz hinter unserem Viertel im Südenvon Amsterdam begannen. Erst vor ein paar Tagenhatte ich zu meinem zwölften Geburtstag ein brand-neues, glänzendes Fahrrad bekommen und branntedarauf, es auf einer längeren Fahrt auszuprobieren.

Ich überlegte, ob Anneke auch gerade wach lag unddem merkwürdigen Grollen und Dröhnen lauschte,das immer lauter und eindringlicher zu werden schien.Mich beunruhigte, dass ich die Geräusche nicht ein-ordnen konnte. Wie Flugzeuge, dachte ich, die in gro-ßer Zahl durch den wolkenlosen Himmel dröhnten.Aber warum sollte eine Staffel Flugzeuge die fast länd-liche Stille von Amsterdams Süden stören? Selten ge-nug kam es vor, dass überhaupt ein Flugzeug überunser Haus flog.

Plötzlich fiel mir ein: Natürlich, die Mobilmachung!Seit Wochen hatten die Leute von kaum etwas anderemgesprochen. Seit Deutschland und England sich seitletztem Herbst im Krieg befanden, hatten meine Elternund ihre Freunde endlos darüber diskutiert, ob Hol-land neutral bleiben konnte. Eingezwängt zwischen dieverfeindeten Nationen, fiel es Holland schwer, sich ausdem Krieg herauszuhalten. Schließlich hatte die Regie-rung vor einigen Wochen vorsorglich die holländischen

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Truppen mobilisiert, um sie vor allem an der deutschenGrenze einzusetzen.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wur-de ich, dass dieses seltsame Donnern von Kanonenstammte, die schon halb Holland passiert haben muss-ten. Aber was für eine gottlose Uhrzeit zum Kriegfüh-ren! Allerdings: Soldaten müssen immer früh aufstehen,oder?

Ich nahm mir vor, Anneke später nach diesen Ma-növern zu fragen. Annekes ältester Bruder war vor einpaar Wochen in die Armee eingezogen worden, undsie wusste vielleicht mehr darüber, was die Soldaten ander deutschen Grenze machten.

Zufrieden, eine Erklärung gefunden zu haben, strichich die fernen Kanonen aus meinen Gedanken. Undfast im selben Augenblick wurde ich von anderen Ge-räuschen beunruhigt, näher und dringlicher, direkt imHaus.

Ich hörte Schritte im Flur und auf der Treppe, Türenwurden geöffnet und zugemacht, und dann Getuschelvor meiner Zimmertür. Was um Himmels willenmachten meine Eltern da schon vor sechs Uhr?

Rasch kam mir eine Erklärung: Oma! Kein Zweifel.Oma, im Zimmer gleich nebenan, hatte sicher wiedereine ihrer Herzattacken.

Ich sprang aus dem Bett und rannte hinaus auf denFlur. Aber ich sah niemanden. Die Tür zu Omas Zim-mer war offen, aber es war leer. Ebenso das großeSchlafzimmer meiner Eltern.

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Ich zog mir hastig den Morgenmantel über den Py-jama und rannte die Treppe hinab. Schon auf halbemWege hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer: diemeiner Eltern und meiner Großmutter und dazu dielaute, beschwörende Stimme eines Radiosprechers.

»Fallschirmjäger«, wiederholte die Stimme. »Vor-sicht vor Fallschirmjägern! Gehen Sie nicht auf dieStraße! Trauen Sie keinem Fremden! Achtung! Ach-tung! Fallschirmjäger!«

Die laute Stimme hallte durch den unteren Flur, aberich war in zu großer Hast, um auf die Worte zu achten.Ich stürmte ins Wohnzimmer und blieb abrupt stehen.

Meine Eltern und Oma standen um das Radio undhörten so gespannt zu, dass sie mein Erscheinen erstbemerkten, als ich sie ansprach. Dann wandten sie sichmir zu, ihre Gesichter voller Sorge.

Ich schaute von ihnen zu Oma, die immer noch reg-los neben dem großen, altmodischen Kurzwellenemp-fänger stand.

»Ich habe diesen Lärm gehört und dachte, es wäreOma«, sagte ich.

»Wir befinden uns im Krieg, Rosemarie«, sagte Papaleise. So leise, dass ich die Bedeutung der Worte zuerstgar nicht verstand.

»Krieg?«, wiederholte ich naiv. »Es ist doch schonKrieg und wir sind neutral.«

»Erzähl das mal diesem Hitler«, erwiderte Omascharf hinter Papas Rücken. »Wir hätten damit rech-nen müssen, jeder hätte damit rechnen müssen. Nach

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der Tschechoslowakei, nach Österreich und Polenwar es dumm zu glauben, er würde sich um unsereNeutralität scheren.«

»Deutschland ist ohne Vorwarnung heute Nacht inHolland einmarschiert«, erklärte Papa.

Krieg. Einmarsch. Wie oft hatte ich diese Worte in denletzten beiden Jahren in Unterhaltungen gehört, ohnesie wirklich zu beachten. Krieg und Einmarsch passier-ten anderen Völkern, aber doch nicht uns, nicht demsicheren, neutralen und friedlichen Holland. Selbst dieWorte kamen mir unwirklich vor, wie sie so in der ver-trauten Umgebung unseres sonnigen Wohnzimmersausgesprochen wurden.

Doch die Wirklichkeit war Papa, sonderbar elegantzu dieser ungewohnt frühen Morgenstunde in seinemgemusterten seidenen Morgenmantel. Und Mama…

Zum ersten Mal, seit ich das Zimmer betreten hatte,sah ich Mama wirklich an. Ihr Gesicht hatte alle Farbeverloren, um ihre Augen und auf ihren Wangen warenSpuren von Tränen. Wie Papa seinen Arm um sie leg-te, wirkte sie seltsam still und verletzlich. Diese Stim-mung passte nicht zu Mama, die mir immer wie einFels in der Brandung erschienen war. Und der uner-wartete Ausdruck des Schreckens in ihrem Gesichtließ meinen Hals ganz trocken werden.

»Was werden wir tun, Papa?«, fragte ich bestürzt.»Was passiert denn jetzt? Unsere Soldaten werdendoch gegen die Deutschen kämpfen, oder? Wir wer-den doch gewinnen?«

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Mit seinem freien Arm, den anderen noch immer umMama gelegt, zog Papa mich zu sich heran.

»Das weiß keiner«, meinte er, »Deutschland hateinen großen Fallschirmangriff gestartet. Niemand hateine Vorstellung, wie viele deutsche Soldaten hinterden holländischen Linien als Zivilisten abgesprungensind. Deswegen die Warnungen im Radio. Jeder, dermit deutschem Akzent auf der Straße angetroffenwird, ist verdächtig.«

»Dann bleibe ich wohl besser zu Hause«, sagte Omamit gezwungenem Lächeln.

Ihr hilfloser Scherz schien die Spannung etwas zulösen, aber gerade dadurch wurde uns allen erst be-wusst, dass wir soeben deutsch gesprochen hatten, dieSprache, die nun die des Feindes war.

Es gab Zeiten, in denen ich mich kaum daran er-innerte, dass ich nicht in Holland geboren wordenwar. Ich war sehr jung gewesen, als meine Eltern ausihrem Heimatland Österreich aus geschäftlichenGründen hierher gekommen waren. Ich hatte die neueSprache schnell gelernt, beherrschte das Holländischenahezu perfekt, viel besser als meine Eltern, die einigeder schwierigeren Kehllaute noch immer nicht aus-sprechen konnten, ohne ihre fremde Herkunft zu ver-raten. Zu Hause sprachen sie lieber ihr weiches, öster-reichisch gefärbtes Deutsch, und mir war es gleich, daich in beiden Sprachen so zu Hause war, dass ich kaummerkte, welche man gerade sprach.

Oma konnte fast gar kein Holländisch. Sie war vor

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knapp zwei Jahren hierher gekommen, nachdemGroßvater in Wien gestorben war und Hitlers Trup-pen Österreich annektiert hatten.

Obwohl ich damals erst zehn war, wusste ich nochgenau, wie besorgt meine Eltern um ihre Verwandtenin Wien gewesen waren, als die ersten Nachrichtenüber den »Anschluss« kamen. Es hing alles damit zu-sammen, dass wir Juden waren, und mit Hitlers wahn-haftem Judenhass. Es war wohl das erste Mal, dass ichmich wirklich damit beschäftigte, was es hieß, Jüdin zusein. Davor war es einfach nur eine von vielen Fasset-ten meiner Selbst gewesen, wie man sie als Kind selbst-verständlich lernt und hinnimmt. Mit der Religion warmeine Familie stets eher lässig umgegangen. In mei-nem Alltag kam sie kaum vor.

Im Laufe des darauf folgenden Jahres kam ein unauf-hörlicher Flüchtlingsstrom von Onkeln, Tanten, Nef-fen und Nichten zu uns, alle mit dem Ziel, in die Ver-einigten Staaten oder nach Südamerika zu gelangen. Sieredeten über Hitlers Judenverfolgung, über plötzlicheVerhaftungen und Folter, über geraubten Besitz undbeschlagnahmte Häuser. Mit großen Augen lauschte ichden schrecklichen Geschichten, erschauerte über dasSchicksal namenloser Fremder und war erleichtert, dassmeine Verwandten vor dem Schlimmsten hatten fliehenkönnen. Als aber einer nach dem anderen unser Hausverließ, um die lange Seereise in die »Neue Welt« anzu-treten, war ich froh, all das wieder aus meinem Hirnlöschen zu können. Die Bedrohung durch Hitler ver-

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schwamm wieder in der Ferne, schien etwas, das frem-de Leute ganz woanders betraf.

Und nun war die Gefahr plötzlich da. Ich versuch-te, mir ein Bild von den feindlichen Flugzeugen hocham wolkenlosen Himmel zu machen, unaufhörlich als Zivilisten getarnte Soldaten ausspeiend, die überahnungslose Holländer herfielen. Da war fast etwasLustiges an der Vorstellung, wie alle diese »Zivilis-ten« an aufgeblähten Fallschirmen durch die Luftherabschwebten. Und auch die gedämpften, weit ent-fernten Geräusche der Kanonen klangen eigentlichnicht bedrohlich, eher wie ein Feuerwerk zu einemFesttag.

Wie bedrohlich es jedoch tatsächlich war, spiegeltesich deutlich in den reglosen Gesichtern meiner Elternund meiner Großmutter und in der eindringlichenStimme des Radiosprechers. Trotz der warmen Sonne,die durch die breite Verandatür drang, lief mir einSchauer den Rücken hinunter.

»Vielleicht sollten wir erst mal frühstücken«, sagteMama schließlich. Das waren ihre ersten Worte, seitich nach unten gekommen war, und ich fand es ko-misch, etwas so Normales von ihr zu hören, wo siedoch immer noch blass und zerzaust aussah und einbisschen zitterte.

Ich sah, wie sie ihren hellblauen Morgenmantel zu-band und sich ein paar hellblonde Strähnen feststeck-te. Mit diesen einfachen Handgriffen schien sie sichwieder gefasst zu haben und die Herausforderung des

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Krieges anzunehmen samt dem, was er uns bringenmochte.

»Los, Rosie, hilf mir«, sagte sie und ging zur Küche.»Um seine Gedanken zu ordnen, geht nichts über eineheiße Tasse Tee.«

Ein merkwürdiges Frühstück. Im Grunde aßen wirgar nicht, schmierten nur Butter auf unsere Croissantsund taten Zucker in den Tee. Vom Zimmer nebenanhörten wir immer noch Warnungen vor Fallschirm-jägern und Spionen aus dem Radio und die Geschütz-salven schienen plötzlich gar nicht mehr so weit weg.

Ich starrte aus dem Esszimmerfenster auf die ruhige,sonnige Straße. Sie war so verlassen, wie sie zu so frü-her Stunde nur sein konnte, und ich fand es abwegig,dass irgendwo da draußen zwischen den sauberen Zie-gelhäusern Spione und Feinde lauern könnten, bereit,sich auf friedliche Passanten zu stürzen.

Nach dem Frühstück zogen wir uns an, und kaumhatten wir uns wieder unten versammelt, klingelteHerr van Dam bei uns, der Blockwart.

»Ihr habt die Nachrichten gehört«, sagte er be-drückt. »Ab jetzt gilt der Plan für den Ernstfall. Heu-te Abend wird alles verdunkelt.«

Papa nickte. »Klar, wird gemacht. Kann ich sonstnoch etwas tun, Henk?«

Herr van Dam zögerte und sah Papa eigentümlichan. Eine unangenehm lange Stille trat ein, die Herr vanDam am Ende mit einem Räuspern zu überspielenversuchte.

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»Entschuldige, Charles. Ich fürchte, es ist besser,wenn ihr einfach hier zu Hause bleibt«, sagte erschließlich, und man sah ihm an, dass ihm unbehaglichzu Mute war. »Natürlich weiß ich, dass ihr der deut-schen Sache nicht gerade Sympathien entgegenbringt.Aber der Widerwille gegen alles Deutsche spitzt sichjetzt zu und die Leute werfen leicht Deutsche undÖsterreicher in einen Topf. Du weißt, Charles, ichmeine es nicht persönlich…«

Zwei rote Flecken erschienen auf Papas Wangen. Erist wütend, dachte ich. So sieht er immer aus, wenn erwütend ist. Aber Papa beherrschte sich: »Ich glaube,hier gibt es genug für mich zu tun.«

Ich rannte aus dem Zimmer, damit ich Herrn vanDam beim Abschied nicht die Hand schütteln musste.Er hatte es zwar nicht gesagt, aber er hatte durch-blicken lassen, dass wir als feindliche Ausländer be-trachtet würden. Wie konnte einer denken, dass wirmit den Nazis sympathisierten! Wo doch alle unsereVerwandten aus Österreich hatten fliehen müssen undwir die Nazis deswegen doch wohl mehr hassen müss-ten als irgendjemand sonst!

Die nächsten Stunden waren wir mit den Maßnahmenfür den Ernstfall beschäftigt, sodass niemand von unsviel Gelegenheit hatte, sich über den Krieg oder unsereeigene Lage Gedanken zu machen. Wir füllten die Ba-dewanne und ein paar Eimer mit Wasser und brachtenKübel mit Sand von einem leer stehenden Grundstückan der Ecke ins Haus. Der Sand würde im Ernstfall dem

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Marietta Moskin

Um ein HaarÜberleben im Dritten Reich

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 288 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-570-30212-5

cbt

Erscheinungstermin: April 2005

Der authentische Bericht einer Überlebenden des Dritten Reichs. Amsterdam, 1940. Für die 13-jährige Jüdin Rosemarie und ihre Familie beginnt eine Odysseevoller Schrecken: Immer zwischen Hoffen und Todesangst, werden sie in verschiedene Lagerdeportiert – bis sie eines Tages als Austauschjuden in die Schweiz ausreisen sollen. Kurz vorder Grenze erlischt auch die letzte Hoffnung auf Rettung. Doch wie durch ein Wunder überlebtdie Familie in einem Lager bei Biberach ...Biberach, 2002. Ein Lehrer stößt auf Rosemaries in den USA veröffentlichte Erinnerungen undstartet mit seinen Schülern ein beispielloses Übersetzungsprojekt! Ein bewegender autobiografischer Roman – von deutschen Schülern übersetzt.