Mario Schärli_Phänomen Und Pathologie

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1 Mario Schärli Phänomen und Pathologie Maurice Merleau-Pontys negativistische Phänomenologie »La question est, en dernière analyse, de comprendre quel est, en nous et dans le monde, le rapport du sens et du non-sens.« 1 — Maurice Merleau-Ponty §1. Ein anderes Zurück zu den Phänomenen? Die Phänomenologie der Wahrnehmung kann mit Recht eine Philosophie des Pathologi- schen genannt werden. In der Tat ist es eines der hervorstechenden Merkmale dieses Hauptwerks unserer Disziplin, dass es sich in der Phänomenbeschreibung auf psychische und psychophysische Pathologien beruft. Dass diese keine untergeordnete Rolle für den Zugang zum Phänomen spielen, bestätigt bereits die erste Anführung einer Pathologie ganz zu Beginn des Werks: Sie erfolgt unmittelbar nach einer Formulierung, die dem Husserlschen Aufruf nach dem ›Zurück zu den Sachen selbst‹ auffällig gleicht: »Si nous revenons aux phénomènes…« 2 — das Zurück zu den Phänomenen ist für Merleau-Ponty ein Hin zur Pathologie, so scheint es. Diesen Zusammenhang wollen wir im Folgenden näher untersuchen. Es geht mir darum, die von Merleau-Ponty angewandte Methode in der Phänomeno- logie der Wahrnehmung bezüglich der Verwendung von Pathologien zu untersuchen. Der Gedanke, der meinen Ausführungen zugrunde liegt und den ich explizieren möchte, lässt sich in zwei Teilpunkte aufgliedern, die dem Aufbau meines Vortrags entsprechen: Erstens, Merleau-Ponty kritisiert an der Phänomenologie Husserls, dass eine vollständige ἐποχή, die Beschreibung eines ›reinen‹ Phänomens, unmöglich ist. Zweitens, der Rekurs auf Psycho- pathologien lässt sich aus dieser Husserl-Kritik heraus verstehen und leistet demnach einen 1 Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Collection tel 4 (Paris: Gallimard, 2005), 491; Mau- rice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von Rudolf Boehm (Berlin: De Gruyter, 1966), 487. 2 Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, 31; Phänomenologie der Wahrnehmung, 27.

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    Mario Schrli

    Phnomen und Pathologie

    Maurice Merleau-Pontys negativistische Phnomenologie

    La question est, en dernire analyse, de comprendre quel est, en nous et dans le monde, le rapport du sens et du non-sens.1

    Maurice Merleau-Ponty

    1. Ein anderes Zurck zu den Phnomenen?

    Die Phnomenologie der Wahrnehmung kann mit Recht eine Philosophie des Pathologi-

    schen genannt werden. In der Tat ist es eines der hervorstechenden Merkmale dieses

    Hauptwerks unserer Disziplin, dass es sich in der Phnomenbeschreibung auf psychische

    und psychophysische Pathologien beruft. Dass diese keine untergeordnete Rolle fr den

    Zugang zum Phnomen spielen, besttigt bereits die erste Anfhrung einer Pathologie ganz

    zu Beginn des Werks: Sie erfolgt unmittelbar nach einer Formulierung, die dem

    Husserlschen Aufruf nach dem Zurck zu den Sachen selbst auffllig gleicht: Si nous

    revenons aux phnomnes2 das Zurck zu den Phnomenen ist fr Merleau-Ponty ein

    Hin zur Pathologie, so scheint es. Diesen Zusammenhang wollen wir im Folgenden nher

    untersuchen.

    Es geht mir darum, die von Merleau-Ponty angewandte Methode in der Phnomeno-

    logie der Wahrnehmung bezglich der Verwendung von Pathologien zu untersuchen. Der

    Gedanke, der meinen Ausfhrungen zugrunde liegt und den ich explizieren mchte, lsst

    sich in zwei Teilpunkte aufgliedern, die dem Aufbau meines Vortrags entsprechen: Erstens,

    Merleau-Ponty kritisiert an der Phnomenologie Husserls, dass eine vollstndige , die

    Beschreibung eines reinen Phnomens, unmglich ist. Zweitens, der Rekurs auf Psycho-

    pathologien lsst sich aus dieser Husserl-Kritik heraus verstehen und leistet demnach einen

    1 Maurice Merleau-Ponty, Phnomnologie de la perception, Collection tel 4 (Paris: Gallimard, 2005), 491; Mau-rice Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, bers. von Rudolf Boehm (Berlin: De Gruyter, 1966), 487. 2 Merleau-Ponty, Phnomnologie de la perception, 31; Phnomenologie der Wahrnehmung, 27.

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    Beitrag zur , das heisst: der Zugang zum Phnomen wird erst im Rekurs auf das Pa-

    thologische gesichert.

    Beginnen werde ich deshalb mit einer thetischen Darlegung des Konzepts und der

    Rolle der bei Husserl (2), um dann die Kritik Merleau-Pontys an dieser Konzeption

    darzustellen (3). Anhand von Merleau-Pontys Analyse der Halluzination und des Falls

    Schneider werde ich dann darstellen, welche argumentative Rolle die Pathologien im Werk

    einnehmen (4). Schliessen werde ich mit einem tentativen Ausblick zum Konzept einer

    negativistischen Phnomenologie nach Merleau-Ponty (5).

    2. bei Husserl, oder: vom empirischen zum transzenden-

    talen Ego

    Philosophische Erkenntnis geht nach dem berhmten Wort des Aristoteles vom fr uns

    Nchsten, aber in der Sache Fernsten aus, um zum fr uns Fernsten, aber in der Sache

    Nchsten zu gelangen.3 Ebendieses gilt auch fr die Phnomenologie. Deren Gegenstand,

    die Bewusstseinsphnomene, sind uns nicht unmittelbar in reiner Form gegeben, sondern

    mssen erst freigelegt werden nicht zuletzt deshalb bezeichnet Husserl die Phnomeno-

    logie als Methode.4 Darunter ist nach B. Waldenfels allerdings nicht zu verstehen, dass sie

    ein neutrales Werkzeug sei, das man auf die in der Welt gleichsam herumliegenden Dinge

    anwenden knnte. Phnomenologie sei vielmehr in dem Sinne Methode, als sie ein Weg,

    der den Zugang zur Sache erffnet sei.5 Die Sache der Phnomenologie, das sind nach

    Husserl die Bewusstseinsphnomene in ihrer Reinheit, letztlich das transzendentale Be-

    wusstsein, das aller Objektkonstitution voraus liegt; und genau dieses ist es, was in der

    in reiner Form zugnglich werden soll.

    Doch beginnen wir beim fr uns Nchsten: Der Ausgangspunkt der Phnomenolo-

    gie ist das Zunchst und Zumeist unseres In-der-Welt-Seins, in der uns alles in der natrli-

    3 Aristoteles, Physica, I.1, 184a. 4 Fr die Bedeutung der Methode in der Phnomenologie, vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phno-menologie und phnomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einfhrung in die reine Phnomenologie, Jahrbuch fr Philosophie und phnomenologische Forschung 1,1 (Halle a. d. S.: Max Niemeyer, 1913), 121 ( 63). 5 Bernhard Waldenfels, Einfhrung in die Phnomenologie (Mnchen: Fink, 1992), 30; man knnte sagen, dass Phnomenologie nicht Methode im schlechten Sinn ist, wie es etwa im Titel von Gadamers Wahrheit und Methode gemeint ist, wo Methode als eine vom Gegenstand unabhngige Zugangsweise letztlich als das Fal-sche verschrien ist.

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    chen Einstellung6 gegeben ist. Husserl beschreibt diese Erfahrung folgendermassen: Ich

    bin mir einer Welt bewusst, endlos ausgebreitet im Raum, endlos werdend und geworden

    in der Zeit. Ich bin mir ihrer bewusst, das sagt vor allem: ich finde sie unmittelbar anschau-

    lich vor, ich erfahre sie. Durch Sehen, Tasten, Hren usw., in den verschiedenen Weisen

    sinnlicher Wahrnehmung sind krperliche Dinge in irgendeiner rumlichen Verteilung fr

    mich einfach da, im wrtlichen oder bildlichen Sinne vorhanden, ob ich auf sie besonders

    achtsam und mit ihnen betrachtend, denkend, fhlend, wollend beschftigt bin oder

    nicht.7 Kurzum: Als natrlich Erfahrende ist die Phnomenologin eine, die sich in Raum

    und Zeit situiert und Gegenstnde in ebendiesem Raum und ebendieser Zeit erfhrt.8

    Das Bewusstsein vom Gegenstand, wie es uns natrlicherweise gegeben ist, ist also

    von verschiedenen Annahmen ber dessen Realitt durchdrungen, etwa indem dem Erfah-

    renen in einem Existenzurteil ein Vorhandensein unabhngig von unserer Beobachtung

    zugeschrieben wird. Doch sagt uns dies ber das Bewusstseinsphnomen lediglich, dass un-

    ser bewusstes Erleben zunchst und zumeist die verarbeitete, bereits als Urteil vorliegende

    Form eines Erlebnisses darstellt.9 Jedoch sind nicht alle Bewusstseinsphnomene von dieser

    Art. Der Gedanke an einen mathematischen Gegenstand etwa stellt nicht einen Gegenstand

    in Raum und Zeit vor; dieser ist vielmehr bloss dann vorhanden, wenn ich ihn mir vorstel-

    le. Es ist demnach fr das Bewusstsein nicht im Ganzen kennzeichnend, dass es mit raum-

    zeitlichen, unabhngig von mir existenten Gegenstnden zu tun htte.

    Wollen wir das Bewusstsein als solches zum Gegenstand haben, gilt es daher, (impli-

    zite) Realittsannahmen genannter Art nicht in die Bestimmung des Phnomens eingehen

    zu lassen. Und genau das ist es, was die phnomenologische , phnomenologische Re-

    duktion oder Einklammerung zu erreichen anstrebt; Husserl bezeichnet sie in diesem Sinn

    auch als eine eine gewisse Urteilsenthaltung10. Die suspendiert jegliche Setzungen ei-

    ner Realitt, die das blosse bewusste Erleben berstiegen einerseits mit dem Ziel, das Be-

    wusstsein in Reinform untersuchen zu knnen, andererseits um die raumzeitliche Realitt

    ihrerseits als durch das Bewusstsein konstituiert begreifen zu knnen.

    Suspendiert bedeutet hier aber nicht: bezweifelt. Die Phnomenologin ist sich

    stets dessen bewusst, dass zumindest bestimmten Bewusstseinsakten bewusstseinstranszen-

    6 Husserl, Ideen I, 56 ( 32); die entscheidende Passage zur Epoch ist 2732. 7 Ebd., 48 ( 27). 8 Ebd., 29. 9 Ebd., 53 ( 31). 10 Ebd., 55 ( 31).

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    dente Gegenstnde zugrunde liegen. Die Phnomenologie ist daher unter keinen Umstn-

    den mit einem Aussenweltskeptizismus zu verwechseln. Es kommt nach Husserl lediglich

    darauf an, den Eigengehalt der cogitatio in seiner reinen Eigenheit zu erfassen und allge-

    mein zu charakterisieren, also unter Ausschluss von allem, was nicht in der cogitatio nach

    dem, was sie in sich selbst ist, liegt.11

    Die ist demnach, wie Bernet, Kern und Marbach formulieren, die Methode

    des Zugangs zur Forschungssphre der Phnomenologie12 und dient dazu, diese For-

    schungsdomne [] in ihrer Eigenheit methodisch reinlich abzugrenzen, ihre reine, unver-

    mischte Gegebenheit methodisch sicherzustellen.13 Erst so ist es der Phnomenologie mg-

    lich, zu dem was Husserl die transzendental gereinigten Phnomene14 nennt, vorzudrin-

    gen.

    Nach dieser kurzen Skizze bleibt zu betonen, dass die Fundamentalitt der fr

    die Phnomenologie nicht zu unterschtzen ist, denn alle weiteren Schritte der Phno-

    menologie sind vom Erfolg des Rckgangs auf die Sphre des reinen Bewusstseins abhn-

    gig. Wenn Husserl von der transzendentalen Phnomenologie als Wesenswissenschaft im

    Vergleich zu einer Tatsachenwissenschaft (wie etwa der empirischen Psychologie) spricht,

    dann setzt dies voraus, dass das in der Wesensschau Geschaute nicht mit Tatsachenannah-

    men kontaminiert ist.15 Denn das mittels eidetsicher Variation im Raum blosser Mglich-

    keit herausgeschlte Wesen einer Sache, das eines Gegenstandes als dessen notwendige

    Struktur, nach der dann die Wirklichkeit beurteilt wird, ist nur dann ein solches, wenn

    seine Schau wirklich unabhngig den Tatsachen, vom zufllig Gegebenen, stattfindet. Die

    Wesensschau ist demnach vom Erfolg der abhngig.16

    11 Ebd., 61 ( 34). 12 Rudolf Bernet, Iso Kern, und Eduard Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens (Hamburg: Meiner, 1989), 56. 13 Ebd., 57. 14 Husserl, Ideen I, 3. 15 Ebd., 4. 16 vgl. Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. von Ludwig Landgrebe (Prag: Academia, 1939), 426f. ( 90).

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    3. von Husserl zu Merleau-Ponty, oder: vom transzen-

    dentalen Ego zur Faktizitt des Zur-Welt-Seins

    Genauso wie die Husserlsche Phnomenologie ihren Angelpunkt im Vollzug und Erfolg

    der findet, setzt auch die Kritik Merleau-Pontys an Husserls Phnomenologie bei

    diesem Begriff an. Nach Merleau-Ponty kann uns die Husserlsche einzig die Unmg-

    lichkeit einer vollstndigen Reduktion17 lehren. Aus unseren bisherigen berlegungen ist

    klar: gelnge es, diese Unmglichkeit aufzuweisen, brchte dies ganze Projekt einer trans-

    zendentalen Phnomenologie ins Wanken, ja zum Scheitern denn ohne kann es

    keine transzendentale Phnomenologie geben, da uns keine reine Sphre transzendentalen

    Bewusstseins zugnglich wre.

    Das Argument gegen die transzendentale Phnomenologie Husserls soll sich gerade-

    zu als Lehre aus ihr ergeben. Rekapitulieren wir also: Wie dargestellt, besteht diese darin,

    durch die Loslsung der Bewusstseinserlebnisse vom unmittelbaren, empirischen Gege-

    bensein mittels der die faktische Welterfahrung als durch das Bewusstsein konstituiert

    zu begreifen.18 Doch muss die Reduktion, um berhaupt Not zu tun und in Gang zu

    kommen, die faktische Welterfahrung in der natrlichen Einstellung voraussetzen. Von

    diesem empirischen Bewusstsein ausgehend, vollzieht die Phnomenologin einen retrogra-

    den Erkenntnisgang durch die Stufen der Konstitution hindurch, zurck zu einer von der

    Welt unterschiedenen und separat untersuchbaren Erkenntnismaterie. Diese weltunabhn-

    gige Erkenntnismaterie wird dann schliesslich als dasjenige begriffen, welches das Weltbe-

    wusstsein konstituiert.

    Indessen, und hier setzt Merleau-Pontys Argument an, scheitert die transzendentale

    Phnomenologie Husserls am Begreifen ihrer ursprnglichsten Voraussetzung, ihres Aus-

    gangspunkts: Die pure Faktizitt des Zur-Welt-Seins, der Existenz des Menschen, der im-

    mer schon auf eine Welt bezogen und sie erfhrt, bleibt fr sie reflexiv uneinholbar.19 Mer-

    leau-Pontys Einspruch besteht also darin, dass in dieser Reflexion selbst unverstanden blei-

    ben muss, dass wir immer schon Erfahrung von der Welt haben, von der aus eine Redukti-

    17 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 11; Phnomnologie de la perception, 14. 18 vgl. Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 3; Phnomnologie de la perception, 7. 19 Damit vollzieht Merleau-Ponty fr die Phnomenologie den bergang von der negativen zur positiven Philosophie, um den Ausdruck Schellings zu bemhen. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg. von Manfred Frank, 3. Aufl. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), bes. 118f.

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    on berhaupt erst in Gang kommen kann.20 Unverstanden bleibt demnach der Ausgangs-

    punkt jeder , die pure Faktizitt des empirischen Bewusstseins. Husserls Phnomeno-

    logie, so knnte man sagen, erkennt bestenfalls im Konditional: Wenn wir eine unmittelba-

    re Welterfahrung haben, dann knnen wir diese gegebenenfalls als vom Bewusstsein kon-

    stituiert begreifen. Doch dass wir diese Welterfahrung haben, bleibt ewig unverstanden.

    Wollten wir die Pointe von Merleau-Pontys Kritik in einem Schlagwort formulieren,

    knnten wir sagen: Die Welt liegt aller Konstitution voraus.

    Der Grund fr die Unmglichkeit des Begreifens der Faktizitt der Welterfahrung

    ist damit aber noch nicht angegeben; er liegt nach Merleau-Ponty in der Zeitlichkeit einer

    jeden bewussten Erfahrung. Denn es kann genau deswegen kein Denken, das all unser

    Denken umfasste geben, da alle unsere Reflexionen ihrerseits auch in den Zeitstrom ver-

    fliessen, den sie zu fassen suchen.21 Jeder bewusste Akt ist jeweils selbst Teil des Bewusst-

    seinsstroms, der durch die Reflexion auf die Konstitution seinerseits um einen Akt reicher

    wird, der selbst nicht bereits Teil dieses Reflexionsakts sein kann.22 Eine erfolgreiche Refle-

    xion erforderte im Unterschied dazu einen Geist bar jeder Weltlichkeit, der alle seine Ge-

    genstnde selbst hervorbringen und erfassen knnte oder, was Kant einen anschauenden

    Verstand nennt.23 Angesichts der Zeitlichkeit des Menschseins, dessen Geworfenheit in eine

    Welt, kommt jede Reflexion aber immer schon zu spt24. Im Rckgang auf sich selbst

    stosst das Bewusstsein demnach auf eine Aporie: Es kann sich nie selbst gegenwrtig sein,

    sondern bleibt, um den treffenden Ausdruck Fichtes zu verwenden, stets auf einen Anstoss

    angewiesen, den es selbst nicht konstituieren kann.

    Gravierende Konsequenzen hat dies insbesondere fr die Konzeption der Phno-

    menologie als Wesenswissenschaft. Wenn Husserl die Erkenntnis der reinen Wesenheiten

    im Bewusstsein als das Erkennen reiner Mglichkeiten beschreibt25, die dann auf die fakti-

    schen Bewusstseinsgegebenheiten appliziert werden knnen, oder wenn er andernorts die

    20 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 284; Phnomnologie de la perception, 290. 21 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 11; Phnomnologie de la perception, 14. 22 Dieses Problem erkennt Husserl selbst, auch wenn er es (nach meiner Ansicht) nicht befriedigend zu lsen vermag, vgl. bes. Edmund Husserl, Zur Phnomenologie des inneren Zeitbewusstseins, hg. von Rudolf Bernet (Hamburg: Meiner, 2013), 33 und 39; ferner 367369 und 404418. 23 Zum Tableau der Anschauungsformen bei Kant und im Deutschen Idealismus, vgl. Eckart Frster, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, 2. Aufl. (Frankfurt am Main: Klostermann, 2012), 150ff. 24 Bernhard Waldenfels, Phnomenologie in Frankreich (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983), 164. 25 Husserl, Erfahrung und Urteil, 90f.

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    Erkenntnisse der transzendentalen Phnomenologie als irreal26 beschreibt, so setzt dies

    die Mglichkeit der vollstndigen Abkehr vom faktischen Gegebensein der Welt voraus. Ist

    diese dahin, kann die Phnomenologie auch nicht mehr Wesenswissenschaft sein, da das

    Wesen die Faktizitt der Wahrnehmung von Welt nicht konstituieren kann.27 Aus diesem

    Grund invertiert Merleau-Pontys Phnomenologie gegenber derjenigen Husserls die Prio-

    ritt des Idealen vor dem Realen, des Wesens vor dem Faktum, des Mglichen vor dem

    Wirklichen: Nicht das Wesen konstituiert die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit konstitu-

    iert das Wesen.28 Die Reflexion auf ein ideales Wesen stellt fr Merleau-Ponty bestenfalls ein

    Erkenntnismittel, nicht aber ein Erkenntnisziel dar.29 Vielmehr gilt es nach seinem Phno-

    menologieverstndnis, die faktische Wahrnehmung der Welt, das Sein des Menschen zur

    Welt zu beschreiben30 denn wo die Reflexion an ein Ende kommt, bleibt nur die Deskrip-

    tion der Faktizitt brig.

    Der bergang vom transzendentalen Ego Husserls zu Merleau-Pontys Hermeneu-

    tik leiblicher Faktizitt bringt es darber hinaus mit sich, dass eine andere Form von Ph-

    nomen ins Zentrum des Blicks rckt. Dieses lsst sich unter den Titel des Sinns bringen

    eines Sinnes, der immer schon unserem Weltbezug inhrent ist: Zur Welt seiend, sind wir

    verurteilt zum Sinn31. Doch die Faktizitt des sinnhaften Seins zur Welt bloss zu konstatie-

    ren, verbliebe eine leere Auskunft, wrde man dieses Phnomen nicht aufzuhellen versu-

    chen. Diesem Ziel gelten schliesslich die Anstrengungen Merleau-Pontys womit aller-

    dings auch er ein Projekt fasst, das ihn mit dem Problem konfrontiert, wie etwas zu fassen

    zu kriegen ist, das in jedem bewussten Erleben schon am Werke ist. Darber hinaus hat er

    sich, aufgrund seiner Abkehr von Husserl, es verunmglicht, den Sinn als vom Bewusstsein

    26 Husserl, Ideen I, 4. 27 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 428; Phnomnologie de la perception, 434. 28 Man mag hiergegen einwenden, dass sich der spte Husserl dieser Probleme seiner Methode durchaus be-wusst war. Und in der Tat ist es so, dass viele Kritikpunkte Merleau-Pontys als ein Ausspielen des spten Husserl gegen den frhen und vor allem mittleren gelesen werden knnen (so etwa Waldenfels, Phnomeno-logie in Frankreich, 165.) Doch wre es auch verkrzt, Merleau-Pontys Phnomenologie durchwegs mit Husserls Sptwerk, der genetischen Phnomenologie, gleichzusetzen. Denn selbst dieser hlt er noch vor, den Rekurs auf die Lebenswelt auf eine uneinsichtige Weise zu vollziehen: Wenn dieser nmlich eine genuine Notwendigkeit darstellen sollte, dann msste diese im Sinne Merleau-Pontys als uneinholbare Faktizitt be-griffen werden. Doch Husserl verfllt Merleau-Ponty zufolge der Versuchung, auch die Lebenswelt noch vollstndig transparent machen zu wollen, alle Dunkelheiten der Welt verschwinden zu lassen. Das vermag aber den notwendigen Rckgang auf die Lebenswelt selbst nicht mehr einsichtig zu machen, da diese, wird sie transparent, letztlich im Ideellen wiederum aufginge. Der Rckgang auf sie letztlich nur ein Erkenntnis(-um-)weg ist. Das Eigentliche ist bleibt aber die Konstitution im Bewusstsein (vgl. Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 417f.; Phnomnologie de la perception, 423f.) 29 vgl. hierzu erneut Waldenfels, Phnomenologie in Frankreich, 164. 30 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 6f.; Phnomnologie de la perception, 10f. 31 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 16; Phnomnologie de la perception, 20.

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    konstituiert aufzufassen; Sinneseinheiten setzen nicht mehr sinngebendes Bewusstsein

    voraus.32 Vielmehr ist Sinn etwas, das in Auseinandersetzung des Menschen mit und in sei-

    ner Welt geschieht. Die Welt ist aber eine, die er immer schon hat und in die er immer

    schon eingelassen ist. Merleau-Ponty spricht in diesem Sinne von einer fungierenden In-

    tentionalitt, die vor aller Prdikation, vor aller Aktintentionalitt liegt und das

    Grundphnomen der Wahrnehmung, des sinnhaften Offenseins fr die Welt, grndet.33

    Sinn ist (und hier folgt Merleau-Ponty dem frhen Heidegger34) gleichsam ein Verhltnis,

    das sich zwischen Mensch und Welt einstellt und so erst entspringt und eine Reduktion

    auf eines der beiden Relate schliesst sich aus, da fr Relationen bekanntermassen beide Re-

    late gleichermassen Bedingung sind. Kurzum: Der Sinn wird weder vom Bewusstsein allein

    gestiftet, noch liegt er in der Welt fertig vor.

    Merleau-Pontys Fassung der phnomenologischen hat sich also dem Ziel einer

    Deskription der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz als dienlich zu erweisen, ohne diese

    einseitig entweder auf das transzendentale Ego oder auf die dem Ego transzendente Welt zu

    reduzieren.35 Erst wenn wir damit in Verbindung bringen, dass Sinn genau zwischen Ego

    und Welt geschieht also weder immer schon da ist, noch schlechterdings in einer mensch-

    lichen Stiftung grndet wird verstndlich, dass Phnomenologie unter diesen Vorausset-

    zungen allein darin bestehen kann, den Sinn in statu nascendi36 zu beschreiben. In statu

    nascendi im Zustand seines Geborenwerdens , das bringt in einer Formulierung genial

    den Ansatz Merleau-Pontys auf den Punkt. Wir knnen folgende Konnotationen unter-

    scheiden: (1) Reflexive Uneinholbarkeit: Jedes menschliche Leben schliesst eine Geburt ein,

    doch diese kann nie bewusst erlebt werden und noch viel weniger beabsichtigt werden. Wir

    sind immer schon Geborene. Genauso gilt fr den Sinn, dass wir seine Entstehung nicht

    abwehren knnen. Er ist immer schon da. Unsere einzige Freiheit besteht im Schaffen von

    neuem Sinn und im Anschluss an bestehenden. (2) Unumgnglichkeit: Sinn durchwirkt

    menschliches Leben gleichsam naturhaft. Wenn man auch versucht ist, dies zweite Natur zu

    nennen, so bringt uns dies nicht um die Konnotation des Unumgnglichen, die dem Natr-

    32 Husserl, Ideen I, 106 ( 55). 33 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 7, 66, 487489; Phnomnologie de la perception, 11, 69, 491493. 34 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl. (Tbingen: Max Niemeyer, 2006), 32. 35 Beide Einseitigkeiten (Reduktion des Sinns auf die Welt bzw. das Bewusstsein) sind paradigmatisch fr die Hauptgegner Merleau-Pontys, vgl. Phnomenologie der Wahrnehmung, 62ff., 72f., 90ff. et passim; Phnomno-logie de la perception, 64ff., 75f., 95ff. et passim. 36 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 18; Phnomnologie de la perception, 22.

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    lichen anhaftet. Nie knnen wir vollstndig ausserhalb seiner sein, durch eine Entschei-

    dung in ihn eintreten oder ihm entsagen. Wir sind konstitutiverweise sinnhafte Wesen,

    genauso, wie jede Masse der Gravitation unterliegt. (3) Ereignis- und Prozesshaftigkeit: Sinn

    ist, gleich wie die Geburt, etwas, das im Aufeinandertreffen zweier induziert wird, die ein

    Drittes hervorgehen lassen, das in seinem Entstehen von ihnen beiden abhngt, aber in sei-

    nem Bestand von ihnen unabhngig wird. Sinn ist hervorgebracht, ohne beabsichtigt zu

    werden er geschieht.37

    Den Sinn in seinem Hervorgehen zu fassen schliesst aber ein, den Versuch zu wa-

    gen, bis zur Grenze der Sinnlosigkeit zu gehen wie schon bei Platon der Anfang der Phi-

    losophie im Schwindel besteht, der einen beim Blick in den Abgrund befllt.38 Sich von

    diesem Schwindel ergreifen zu lassen, die alltgliche Sinnhaftigkeit aus den Angeln zu he-

    ben und so die Welt von Neuem sehen zu lernen, als ob man sie noch nie gesehen htte, ist

    das Ziel der Philosophie. Die als das den Zugang Schaffende lsst sich in diesem Zu-

    sammenhang als eine Verfremdungsoperation verstehen; den Zugang zum Sinn-Phnomen

    zu sichern erfordert einen Bruch mit der Weltvertrautheit, wodurch gerade das unmoti-

    vierte Entspringen dieser Welt sichtbar wird.39

    4. Die Geburt des Sinns aus dem Entzug

    Die Welt ist da, vor aller Analyse40 dies kann man den Leitgedanken von Merleau-

    Pontys Phnomenologie nennen. Whrend Husserl das fr Merleau-Ponty Unmgliche

    wollte die Welt selbst geschehen zu lassen , gilt letzterem der Sinn als dasjenige, dessen

    Geschehen zu fassen ist: Philosophie heisst in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu

    sehen41.

    An dieser Stelle hier ist es uns mglich, auf den Ausgangspunkt unserer berlegun-

    gen zurckzukommen: Wir wollten die Rolle und die unerbittliche Insistenz, die bei Mer-

    leau-Ponty auf dem Pathologischen liegt, aus seiner Philosophie heraus erklren. Unsere

    These wird weiter sein, dass die Pathologie genau dies leistet, was Merleau-Pontys

    37 Damit wre auch ein Hinweis auf die wesenhaft geschichtliche Dimension des Sinns gegeben, fr die ich es hier, wie bei so vielem, mit einer Erwhnung bewenden lassen muss. 38 Platon, Theaitetos, 155c-d. Vgl. zur Deutung: Emil Angehrn, Anfang und Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik (Mnchen: Fink, 2007), 99. 39 Waldenfels, Phnomenologie in Frankreich, 164. 40 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 6; Phnomnologie de la perception, 10. 41 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 18; Phnomnologie de la perception, 21.

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    leisten msste: Einen Entzug des Sinngeschehens derart vor Augen zu stellen, dass der Sinn

    in seinem Entstehen fasslich werden kann. Wir wollen dazu exemplarisch auf Merleau-

    Pontys Diskussion des Falls Schneider42 und der Halluzination eingehen.

    Die Ausfhrungen zum Fall Schneider finden sich im Kapitel ber die Rumlichkeit

    des Leibes. Dieses dient dem Nachweis, dass Krperraum und Aussenraum zusammen ein

    praktisches System bilden, innerhalb dessen ersterer die fundamentalere Rolle einnimmt.

    Dabei interessiert sich Merleau-Ponty insbesondere fr die Beziehung zwischen Krper-

    und Aussenraum, und diese soll nach der Auskunft Merleau-Pontys an einem Bespiel

    krankhafter Motorik [] sichtbar werden.43 Sehen wir zu, inwiefern dies geschieht.

    Die Analyse des Kranken fhrt Merleau-Ponty mit einer spezifischen Unfhigkeit

    ein, die dessen Motorik kennzeichnet: Er kann keine abstrakten Bewegungen bei geschlosse-

    nen Augen ausfhren, d.h. konkret: Wird von ihm verlangt, bei geschlossenen Augen den

    Arm zu haben, so kann er dies nicht. Genauso wenig kann er, wenn man seinen Krper

    irgendwo berhrt, sagen, wo er berhrt wurde. Zwar kann er Greifbewegungen an seinem

    Leib ausfhren (z.B. mit der Hand an die Stelle fassen, wo er von einer Mcke gestochen

    wurde) sowie gewohnte Bewegungen wiederholen (etwa seine Nase putzen), nicht aber mit

    seinem Finger auf seine Nase zeigen. Er kann nicht sagen, in welcher Position sich seine

    Gliedmassen befinden, ohne sie aktual wahrzunehmen.

    Merleau-Pontys Interpretation der Krankheit besteht nun darin zu sagen, dass dem

    Kranken lediglich sein phnomenaler Leib gegeben sei, also der Leib, wie er ihn aktuell

    fhlt oder wahrnimmt. Die Greifbewegung etwa spielt sich allein in dieser Dimension ab.

    Eine blind vollfhrte Zeigebewegung erforderte dagegen ein Verstndnis des eigenen Leibs

    im objektiven Raum, das nicht direkt von der Wahrnehmung abhngt. Der Kranke erfhrt

    seinen Leib jedoch offenkundig nicht als in einen objektiven Raum eingelassen, nicht als

    nur ein Element im System von Subjekt und Welt, sondern er ist einfach nur sein Leib,

    und sein Leib ist das Vermgen einer bestimmten Welt.44

    Der Kranke hier erfllt demnach die Rolle, den phnomenalen Leib in Isolation

    vorstellig werden zu lassen, wie er dem Gesunden nie gegeben ist. Doch begngt sich die

    42 Unter dem Namen Schneider ist ein schwer hirngeschdigter Patient der Neurologen Adhmar Gelb und Kurt Goldstein bekannt; die beiden rzte grndeten noch whrend des ersten Weltkriegs (1916) in Frankfurt am Main das Institut fr die Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen, das insbesondere fr Soldaten mit Verletzungen dieser Art gedacht war. 43 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 128; Phnomnologie de la perception, 132. 44 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 132 (die bersetzung habe ich leicht modifiziert); Phnomnologie de la perception, 137.

  • 11

    Interpretation Merleau-Pontys nicht damit, dieses Unvermgen zu konstatieren. Ein Ver-

    stndnis der Krankheit zu erlangen erfordere vielmehr, sie als vollstndige Existenzform

    aufzufassen und die Phnomene korrekt zu lesen und ihren Sinn zu erfassen, d.h. sie zu

    nehmen als Modalitten und Variationen des ganzen Seins des Subjekts.45 In diesem Kon-

    text kommt der Reaktion des Kranken auf eine Aufforderung, die er nicht wie der Gesun-

    de vollfhren kann, besondere Bedeutung zu. Muss er etwa blind die Lage seiner Glieder

    angeben, dann versucht er, auf verschiedene Weise den Leib zum Gegenstand seiner Wahr-

    nehmung zu machen, da er in seinem Zugang ja auf das aktuell Wahrgenommene be-

    schrnkt ist. Nur so kann er auf eine umstndliche Weise eine Aufgabe vollfhren, die fr

    einen Gesunden unmittelbar zu erledigen ist. Das Verhalten des Kranken wird in dieser

    Perspektive als Suche eines funktionalen quivalents zu einer Normalfunktion verstanden,

    und erst so gewinnt dieses Kontur. Demnach ist mit Merleau-Pontys Ansatz die These ver-

    bunden, dass das Pathologische nur im Lichte der Gesundheit berhaupt als pathologisch

    verstanden werden kann.46

    Verfolgen wir die Erluterungen des Kapitels weiter, so stellt sich heraus: Die Nor-

    malfunktion der Motorik besteht darin, die Welt als einen Raum von Mglichkeiten aufzu-

    fassen, innerhalb derer man leiblich als ein Element eingelassen ist und sich bewegen kann.

    Das bedeutet, dass jedes leibliche Bewusstsein nicht nur eines vom Leib, sondern auch von

    diesem Leib im Raum ist. Leiblichsein schliesst ein Bewusstsein fr die Situation, in der

    man sich befindet, mithin eine Aussenperspektive auf sich selbst ein. Der Kranke versucht,

    eine Ersatzfunktion dafr zu finden, indem er einerseits der Raum ausserhalb des Leibs,

    andererseits den Raum von Mglichkeiten und Virtualitten durch aktual Wahrgenomme-

    nes zu ersetzen versucht. Das kann jedoch nie, oder bestenfalls mhsam gelingen, da die

    Vielzahl aller Mglichkeiten gegenber aus der wahrnehmbaren Wirklichkeit nur schwie-

    rig zu extrapolieren sind, beruhen sie doch als mgliche letztlich auf etwas, das gar (noch)

    nicht ist.47 Der Kranke hat demgemss in gewissem Sinne keine Welt, in die er sich entwer-

    fen kann oder anders herum: Keine Welt besteht bloss aus wahrgenommener Wirklich-

    keit. Die Existenz von Schneider ist demnach durch ein Missverhltnis von Leib und Welt

    gekennzeichnet, als deren Ersatz sein Verhalten zu interpretieren ist. Der Gesunde ist mit-

    tels seines Leibs immer schon bei der Welt und hat eine solche. Er erfhrt auch die Dinge

    45 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 133; Phnomnologie de la perception, 138. 46 Auf die Konzeption von des Pathologischen gehen wir im 5 genauer ein. 47 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 134137; Phnomnologie de la perception, 138142.

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    leiblich, wenn er sieht, dass er den Henkel eines Krugs greifen oder den Hrer eines Tele-

    fons abnehmen kann. Ihm ist die Welt als eine auf seinen Leib und seine Mglichkeiten hin

    ausgelegte gegeben.48 Und das bedeutet: Sie ist ihm als bedeutungsvolle, sinnvolle gegeben,

    weil sie einen Mglichkeitshorizont einschliesst.

    Es zeigt sich demnach am Kranken die Defizienz des gewhnlichen Zur-Welt-Seins

    des Menschen insofern, als er die Figur eines Scheiterns ist. Dem Gesunden wre es prob-

    lemlos mglich, blind auf seine Nase zu zeigen (oder es zumindest zu versuchen). Diese

    Mglichkeit ist ihm gegeben. Der Kranke dagegen muss sie erst konstruieren und scheitert

    manchmal gar daran. Somit erfllt er zwei argumentative Funktionen: Erstens zeigt sich in

    der Abwesenheit seines Knnens dasjenige des Gesunden kontrastreicher. Zweitens lsst

    sich an der Defizienz des Kranken gleichsam ersehen, wie eine schrittweise Konstitution

    des sinnvollen Weltbezugs versucht wird und scheitert, und das bedeutet: Der menschlich-

    sinnhafte Weltbezug ist weder kognitiv noch sonstwie herzuleiten oder zu ersetzen. Der

    Kranke zeigt das Unvermgen auf, das einen Menschen berfallen muss, wenn er seine

    Sinnwelt beabsichtigen soll.

    Unser zweites Fallbeispiel ist das einer Halluzination, die wir fassen knnen als eine

    Art des sinnlichen Eindrucks ohne gegenstndliches Korrelat in der intersubjektiv erfahr-

    baren Welt. Das Halluzinierte ist also nur der Halluzinierenden gegenwrtig. Diese vermag

    jedoch, und das ist entscheidend, zwischen der Halluzination und der Wahrnehmung zu un-

    terscheiden; sie setzt die Halluzination nicht als gleichermassen wahr wie ihre Wahrneh-

    mungen. Merleau-Ponty zitiert hierzu die faszinierende usserung eines Halluzinierenden,

    der auf die Bemerkung des Arztes, dass er die Stimmen nicht hre, von denen der Patient

    berichte, bemerkt: So bin ich also der Einzige, der sie hrt.49

    Davon ausgehend versteht Merleau-Ponty die Halluzination als ein defizientes In-

    tegrationsvermgen der eigenen Gedanken in eine objektive Welt. Die Halluzinierende hat

    keinen Zugang zur Gegenwart, weil ihre Wahrnehmung ber die Zeit, ber die Welt50

    hinweg gleitet. Die Halluzination geht also gleichsam der Welt voraus und die Halluzinie-

    rende kann diese nicht mit dem faktischen Erscheinen in der Wahrnehmung in Einklang

    bringen. Daraus resultiert fr sie eine Welt, deren innerer Zusammenhang bloss von dem

    48 vgl. Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, bes. 176f.; Phnomnologie de la perception, 181183. 49 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 390; Phnomnologie de la perception, 396. 50 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 391; Phnomnologie de la perception, 397.

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    gleichzeitigen Bestehen von Dingen und halluzinierten Dingen gekennzeichnet ist und die

    bisweilen in eine subjektive und eine intersubjektive Welt zerfllt.51

    Auch hier ist der Ansatz Merleau-Pontys derjenige, die Halluzination als Abwand-

    lung einer Grundfunktion des Wahrnehmens, diesenfalls der Wahrnehmung der objektiven

    Welt der Dinge im Raum, zu deuten. Die Halluzination zeigt diesbezglich, dass auch die

    Grundfunktion eine Konstitutionsleistung involviert, die vom Bewusstsein nicht vollstn-

    dig kontrolliert werden kann. Wre die Halluzination eine Leistung des Bewusstseins tout

    court, wrde es der Tuschung nicht erliegen, da es diese ja kontrollieren knnen msste.

    Die Halluzination verweist vielmehr darauf, dass die Frage danach, ob etwas wirklich da

    ist, ob es wirklich existiert, eine Frage ist, die wir nicht sinnvoll zu stellen vermgen. Die

    Konstitution der Dinge als ausser uns, von uns unabhngig, ffentlich zugnglich ist eine

    vorprdikative.52 Sie kann nicht beabsichtigt werden, sondern liegt unserer Wahrnehmung

    fundamental zugrunde. Das Wahrgenommene ist diesseits jeden Zweifels wie auch jeden

    Beweises.53 (Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass eine Illusion beim Gesunden ebenso

    wenig die Wahrnehmung als solche betrifft, sondern lediglich die Wahrnehmung durch eine

    andere, adquatere Deutung zu ersetzen trachtet.54) All dies verdichtet sich zu einem

    Nachweis dafr, dass die Wahrnehmung der Welt ein ursprngliches Faktum ist, dessen

    Kontrolle niemand vollstndig bernehmen kann. Genauso wie der Gesunde kann dies die

    Halluzinierende nicht, und genau deswegen rechnet sie die Halluzinationen zu ihrer Welt.

    Ihr kommt in diesem Sinne die Fhigkeit abhanden, zwischen Eigenem und Fremdem zu

    unterscheiden.55

    Die Halluzinierende zeigt sich auch hier als Facette eines Grundlegenden. Doch tritt

    hier im Vergleich zum vorher Genannten Gewinn des Rekurses auf die Pathologie ein

    Weiteres hinzu: Aus der Forderung heraus, dass die Halluzination im Rahmen der existen-

    ziellen Analyse selbst in ihrer Mglichkeit erklrt werden soll, ist der Fehlschlag der Unter-

    scheidung zwischen Eigenem und Fremdem offenbar geworden. Daraus knnen wir

    51 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 391393; Phnomnologie de la perception, 397399. 52 Interessanterweise trifft sich Merleau-Pontys Position in einem Punkt mit derjenigen Kants, der die Unter-scheidung von Dingen ausser uns und Zustnden unserer selbst, also diejenige von usserem und innerem Sinn, der Sinnlichkeit zurechnet, also auch vorprdikativ fasst, vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Ver-nunft, hg. von Wilhelm Weischedel, Werke in zwlf Bnden, Bd.e III-IV (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974), 13. 53 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 395; Phnomnologie de la perception, 401. 54 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 396; Phnomnologie de la perception, 401f. 55 Bernhard Waldenfels, Der Kranke als Fremder. Therapie zwischen Normalitt und Responsivitt, in Grenzen der Normalisierung, 2. Aufl., Studien zur Phnomenologie des Fremden 2 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008), 138f.

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    schliessen: Wir mssen uns selbst schon fremd sein, insofern wir die Konstitution der

    wahrgenommenen Dingwelt nicht vollends kontrollieren knnen, um berhaupt halluzi-

    nieren zu knnen. Im normalen Phnomen ist in diesem Sinne die Ermglichungsbedin-

    gung fr die Krankheit aber nicht zu sehen, und die Krankheit als Besttigung der Ergeb-

    nisse der normalen Bedingung. Erst die Halluzination lsst offenbar werden, inwiefern

    berhaupt eine Fremdheit im Eigenen fundamental ist.

    5. Merleau-Pontys negativistische Methode

    Inwiefern macht der Rekurs auf Pathologien den Sinn in statu nascendi zugnglich? Kranke

    sind fr Merleau-Ponty Figuren des Scheiterns.56 Schneider etwa scheitert an einer schein-

    bar banalen Aufgabe, die ein Gesunder ohne Probleme vollfhren knnte. Doch das Schei-

    tern an dieser Aufgabe ist nicht das, was in Wahrheit sein Kranksein ausmacht. Wir alle

    knnten unser Leben ohne Verlust weiterleben, wenn wir mit unserem Finger nicht blind

    auf unsere Nase zeigen knnten und viele unter uns haben das gar noch nie mit Absicht

    getan. Das Scheitern Schneiders verweist vielmehr auf eine fundamentalere Strung, die

    sein Leben im Ganzen affiziert: Schneider scheitert daran, ein hnlich sinnvolles Weltver-

    hltnis einzugehen wie die Gesunden. Wer, wie Schneider, jede Mglichkeit erschliessen

    muss, sofern sie keine bereits habitualisierte Bewegung darstellt, vermag nicht auf den Sinn

    einzugehen, wie die Welt ihn darbietet. Schneider vermag die Welt nicht als eine voll von

    Wegweisern zu sehen, auf nie gefasste Mglichkeiten des Weitergehens und Weiterlebens

    hinweisend. Was bei ihm letztlich gestrt ist, ist genau das Geborenwerden des Sinns; seine

    Welt ist nicht sinn-trchtig, mchte man sagen, und bietet daher auch nicht die Bedingun-

    gen dafr, als in actu begriffene oder verstandene zu sein.

    Doch damit die Pathologie als Scheitern am Sinn interpretiert werden kann, muss

    diese schon Teil des Sinngeschehens sein, an dessen Ansprchen sie scheitert. Die Kranke

    kann also nicht als die schlechthin Andere (z.B.: Unmenschliche) gelten. Genauso wenig

    kann die Kranke nicht auf eine bloss andere Sinnhaftigkeit (z.B.: eine sinnvolle Existenz

    unter anderen gleichermassen sinnvollen) reduziert werden. Die Krankheit muss eine spezi-

    56 vgl. auch Emil Angehrn, Grenzerfahrungen des Menschlichen. Psychisches Leiden als Herausforderung der Philosophie, Vortrag (Liestal, 8. Februar 2014), 5.

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    fische Defizienz aufweisen, die sich als ein Mangel oder gar eine partielle Abwesenheit von

    Sinn interpretieren lassen muss.57

    Der berbegriff, der es Merleau-Ponty ermglicht, diesen Umstand zu artikulieren,

    ist der von Heidegger bernommene Begriff der Existenz fr die Seinsweise des Menschen.

    Existenz bedeutet in diesem Zusammenhang das leibhafte Verhalten des Menschen als Aus-

    einandersetzung zwischen Organismus und Welt.58 Auch das Kranksein gilt ihm daher als

    vollstndige Existenzform59, ja, es ist nur in einer existenziellen Analyse60 berhaupt

    zu verstehen. Menschen existieren auf je verschiedene Weise, doch dass sie existieren, eint

    sie. Und die Einheit der Existenz besteht darin, sich zu einer (kulturellen wie natrlichen)

    Welt im Ganzen zu verhalten und in integrativer Weise die Vollzge des Lebens als deren

    Teil zu integrieren.

    Die Krankheit als Existenzweise zu verstehen bedeutet daher einerseits, sie als genu-

    ine Weise des Menschseins aufzufassen als eine Mglichkeit, die in unserer Existenzform

    angelegt ist (wie besonders die Ausfhrungen zur Halluzination zeigen). Andererseits be-

    deutet es aber auch, den Begriff der Existenz normativ aufzuladen und den Sinn oder das

    Verstehenwollen als dessen Telos anzugeben.61 Denn nur wenn jede Existenz immer schon

    auf den Sinn gerichtet ist, zu ihm verurteilt ist, kann sie auch einen Begriff der Krankheit

    als Scheitern am Sinn inkorporieren.

    Die Krankheit ist demnach ein Scheitern am Sinn. Doch damit dieses Scheitern als

    ein solches berhaupt gelten kann, muss es sich als eines zeigen, das selbst am Sinn orien-

    tiert ist. Dies haben wir oben unter dem Begriff der Ersatzfunktionen thematisiert. Das

    Verhalten der Kranken als Ersatzfunktion interpretieren bedeutet aber auch, eine Normal-

    funktion anzunehmen, und des Weiteren, diese Normalfunktion als begrifflich primr zu

    verstehen. Eine Ersatzfunktion verweist auf die Normalfunktion und ist nur verstehbar als

    Scheitern am Anspruch, ein funktionales quivalent zu dieser zu sein.

    Den Zugang zum Sinn in statu nascendi zu erlangen bedeutet also, dessen Scheitern

    zu betrachten. Denn erst am Misslingen wird sichtbar, was im Normalfalle eigentlich ge-

    57 Ob man aber, wie Waldenfels, soweit gehen muss, das Kranke als dasUnzugngliche und Unzugehrige, dasdurch einen Prozess der Ein- und Ausgrenzungentsteht, zu fassen, scheint mir fraglich (Der Kranke als Fremder. Therapie zwischen Normalitt und Responsivitt, 131). 58 Waldenfels, Phnomenologie in Frankreich, 153. 59 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 133; Phnomnologie de la perception, 138. 60 Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 165; Phnomnologie de la perception, 170. 61 Dies ist die umfassende Perspektive bei Emil Angehrn, Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (Tbingen: Mohr Siebeck, 2010), bes. 378ff.

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    lingt. In diesem Sinn ist Merleau-Pontys phnomenologische auf das Pathologische

    angewiesen; und sie kann es auch sein, da auch das Positive, der Sinn, ein Geschehen ist, das

    nicht bereits fertig in der Welt liegt. Es handelt sich bei Merleau-Pontys Phnomenologie

    in diesem Sinne um einen methodischen Negativismus.62 Wenn wir darber hinaus die Un-

    terscheidung Emil Angehrns63 als Binnendifferenzierung dieses Negativismus aufgreifen, ist

    Merleau-Ponty sowohl verstehender Pathologe, weil er die Krankheit als sinnvolle Le-

    bensusserung begreift, die auf dem Normalen fusst, wie negativistischer Phnomenologe,

    insofern er die Krankheit als Erkenntnisgrund fr das Normale einsetzt.

    Die Pointe Merleau-Pontys besteht allerdings in der Verbindung dieser beiden Blick-

    richtungen. Der Anspruch, von dem seine Phnomenologie ausgeht, ist aber nicht, den

    Sinn selbst als das Primre anzusehen. Der Sinn ist primr nur im potentialis genauer: im

    Modus des Wunsches. Die Erfllung des Wunsches ist, was scheitern kann. Hieraus ergibt

    sich die Ortsbestimmung des Negativen: Das Negative ist nicht Prinzip, sondern Akt. Ne-

    gativitt ist stets mglich, genauso wie Sinn stets bloss mglich ist. Aber Sinn gibt es nur im

    Vollzug, genauso wie es Negativitt nur im Vollzug geben kann. Negativitt ist das Schei-

    tern am Sinnanspruch. Was menschliche Existenz in dieser Perspektive ausmacht, ist der

    Wunsch, das Verlangen nach Sinn, und ineins damit die Gefahr, am Sinn scheitern zu kn-

    nen. Der Wunsch, der auf seine Erfllung verweist, wird lediglich vom Versprechen der

    Welt, diesen Wunsch erfllen zu knnen, gerechtfertigt, und unterscheidet sich dadurch

    graduell von der Hoffnung und der Phantasie.

    62 Der Begriff eines methodischen Negativismus wurde von Michael Theunissen mit Bezug auf die Philoso-phie Sren Kierkegaards geprgt. Er bezeichnet das Verstndnis eines Phnomens im Ausgang von seinem Negativen, vgl. Michael Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode (Frankfurt am Main: Hain, 1991), 16ff.; Michael Theunissen, Der Begriff Verzweiflung: Korrekturen an Kierkegaard (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), 50f. 63 Emil Angehrn, Grenzerfahrungen des Menschlichen. Psychisches Leiden als Herausforderung der Philo-sophie, 5.