Marion Saxer (Hg.)...Marion Saxer (Hg.) Spiel (mit) der Maschine Musikalische Medienpraxis in der...

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  • Marion Saxer (Hg.)Spiel (mit) der Maschine

    Musik und Klangkultur

  • Marion Saxer (Hg.)

    Spiel (mit) der MaschineMusikalische Medienpraxis in der Frühzeit von

    Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio

    Redaktionelle Mitarbeit Leonie Storz

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    Wir danken der Speyer’schen Hochschulstiftung für die finanzielle Unterstüt-zung der Publikation.

  • Inhalt

    Marion Saxer Spiel (mit) der Maschine. Anmerkungen zur Historiographie

    musikalischer Medienpraxis in der Frühzeit der Reproduktions-

    und Übertragungsmedien. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    Marion Saxer / Leonie Storz Medienchronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

    Musikalische Medienpraxis im Kontext: Naturwissenschaft – Ästhetik – Ökonomie

    Julia Kursell Experimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900 . . . . . 29

    Dieter Daniels Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er

    als komplementäre Formen einer »Eigenkunst« der Medien . . . . . . . . . 51

    Marion Saxer / Leonie Storz Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Anmerkungen

    zur Wirtschaftsgeschichte der Medien oder: vom Aufstieg

    und Niedergang des Selbstspielklaviers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

    Kerstin Helfricht Klingende Industriegeschichte: Die Frankfurter Orchestrion- &

    Piano-Instrumenten-Fabrik J. D. Philipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

  • Musikalische Medienpraxis als Interaktion von Menschen und Maschinen

    Marion Saxer »Grammophon-Konzerte«. Historische Medienkombinationen

    mit Schallplatte und der Wandel der Live-Ästhetik . . . . . . . . . . . . . 121

    Rebecca Wolf Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als

    virtuose Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

    Kai Köpp Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument

    und Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

    Tobias Plebuch Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen

    und Musik in der Entwicklung von Tonfilmtechniken . . . . . . . . . . . 177

    Sabine Breitsameter Radio als Erlebnisraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

    Michael Harenberg Leiblichkeit und das Körperspiel der Maschinen . . . . . . . . . . . . . . 227

    Musikalische Medienpraxis in historischen Zeitschriften

    Claudia Thiesse »Die Stimme seines Herrn«. Hauszeitschrift der Deutschen

    Grammophon AG von 1909 bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

    Janina Klassen Radio zum Blättern. Spotlights auf die Rundfunkzeitschrift

    »Die Funk-Stunde« (1924–1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

  • Musikalische Medienpraxis im Horizont einer Ästhetik des Eigenwerts der Medien

    Susanne Schaal-Gotthardt »Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die

    (neuen) Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

    Andreas Münzmay Ausweitung der Machbarkeitszone. Ästhetisch-technische

    Modernitätskonzepte von Film und Partitur in Arnold Fancks

    und Paul Hindemiths »In Sturm und Eis« (1921) . . . . . . . . . . . . . . 317

    Martin Elste Hindemiths Versuche »grammophonplatteneigener Stücke«

    im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik

    im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

    Daniel Gethmann Das Grammophon als Instrument. László Moholy-Nagy,

    Oskar Messter und die Gestaltung einer gezeichneten

    Phonoschrift für Schallplatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

    Rolf Grossmann Gespielte Medien und die Anfänge ›phonographischer Arbeit‹ . . . . . . 381

    Anhang

    Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

    Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

    Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

  • Spiel (mit) der Maschine Anmerkungen zur Historiographie musikalischer Medienpraxis

    in der Frühzeit der Reproduktions- und Über tragungsmedien.

    Eine Einführung

    Marion Saxer

    Erfreulicherweise nehmen die Forschungsaktivitäten, die sich mit der Entwick-lung der Reproduktions- und Übertragungsmedien beschäftigen, nicht allein in der Musik- und der Medienwissenschaft, sondern auch in anderen kulturwissen-schaftlichen Disziplinen seit einigen Jahren erheblich zu. Doch obgleich heute kaum jemand bestreiten wird, dass die Erfindung von Phonographie, Selbstspiel-klavier, Film und Radio im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht allein die Musik-kultur, sondern darüber hinaus die gesamte Kultur des 20. Jahrhunderts nach-haltig geprägt hat, sind die Bemühungen um ein methodisches Instrumentarium zur adäquaten Beschreibung der mit den neuen Medien verbundenen kulturellen Prozesse noch immer im Fluss. Neue technische Medien zu erschaffen scheint leichter zu sein, als ihre kulturelle Bedeutung zu verstehen. Der Band Spiel (mit) der Maschine. Musikalische Medienpraxis in der Frühzeit von Phonographie, Selbst-spielklavier, Film und Radio dokumentiert die Beiträge der gleichnamigen Tagung, die im Sommer 2014 am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main stattgefunden hat und ergänzt sie mit zwei zusätzlichen Tex-ten. Ziel des Bandes ist es, die im Untertitel genannten vier Medien gemeinsam in den Blick zu nehmen und ihre komplexen Verflechtungen untereinander zu beleuchten – sei es innerhalb von Diskursen unterschiedlicher Wissensformatio-nen oder auf der medienpraktischen Ebene. Darüber hinaus soll belegt werden, wie die Medien zugleich auch mit älteren musikalischen Praxisformen des In-strumentalspiels vermischt und kombiniert wurden.

    Der Band versteht sich zum einen durchaus als Materialfundus. Viele Bei-träge dokumentieren zahlreiche, heute weitgehend vergessene Formen musi-

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    kalischer Medienpraxis und belegen sie mit reichhaltigen Abbildungen. Der Fokus auf ephemeren musikalischen Praxisformen zieht jedoch zugleich mu-sik- und medienhistoriographische Konsequenzen nach sich, die letztlich zu einem neuen Medienverständnis führen. Denn dies wird entscheidend von den historiographischen Modellen, die wir ihm zugrunde legen, bestimmt. Dabei ist es für den Band durchaus bereichernd, dass die Sichtweisen der Autoren1 nicht durchweg einheitlich sind. Was jedoch alle hier versammelten Beiträge verbindet, ist die Abkehr von medientheoretischen Ansätzen, die auf jeweils ein singuläres »Endmedium« ausgerichtet sind, zugunsten von Theoriemo-dellen, die sich an heterogenen, in einem permanenten Prozess der Transfor-mation und Neukonfigurierung befindlichen Medienverbünden orientieren.

    Aus Darstellungsgründen konnte auf das In-den-Blick-Nehmen einzelner Medien dennoch nicht gänzlich verzichtet werden. Eine bewusst knapp gehal-tene Medienchronologie am Beginn des Bandes, die einige wenige Kerndaten der technischen Entstehungsgeschichten der vier Medien nebeneinanderstellt, dient dem historischen Überblick und der Vernetzung von Basiswissen. Das eigentliche Anliegen des Bandes besteht jedoch gerade nicht im Verfolgen der Entwicklungslinien einzelner Medien, sondern im Aufzeigen ihrer Vernet-zungen und der Diskussion der damit einhergehenden medialen Praxisfor-men. Damit aber wird eine Alternative zum geläufigen Modernisierungsnar-rativ der Medien und seinen impliziten Reduktionen entfaltet, eine Alternative, die nicht unbedingt anstrebt, jene »alte« Erzählung der Moderne zu ersetzen, sondern sich als ihre notwendige Ergänzung versteht.

    Die Problematik des im Zusammenhang mit medientechnischen Neu-erungen häufig verwendeten Begriffs der Medienrevolution vermag die me-dienhistoriographische Neuperspektivierung, die hier angestrebt wird, zu verdeutlichen: Die Metapher der Medienrevolution ist zentraler Bestandteil jenes Modernisierungsnarrativs, das eine Fortschrittsgeschichte der Medien aufgrund ihrer permanenten technischen Ausdifferenzierung erzählt. Dabei werden jedoch wichtige Aspekte einer historisch präzisen Rekonstruktion der Entwicklung verstellt. Weil die Metapher der Revolution zwingend die Kon-struktion einer linearen Abfolge von Ereignissen nach sich zieht, wobei die Aufmerksamkeit vorwiegend auf das Neue – meist die neuen Endgeräte – ge-richtet wird, kommt z. B. das Miteinander von Neuem und Altem, das stets die Medienwirklichkeit einer Zeit prägt, nicht gebührend in den Blick, es wird marginalisiert und gerät in Vergessenheit. Wer ausschließlich nach den Auswirkungen der medientechnischen »Revolutionen« fragt, dem entgehen die  – für alle Medienkulturen typischen  – Medienkonstellationen, in denen sich traditionelle Medien mit neuen Medienformaten vermischen und gerade

    1 | Mit Nennung einer männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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    aufgrund dieser Vermischung vielfältige neue Praxisformen erschließen. Be-rücksichtigt man medienhistoriographisch jene medialen »Gemengelagen«, so entsteht ein unübersichtlicheres, jedoch auch präziseres Bild, aus dem sich überdies – jenseits der technischen Entwicklungen der Einzelmedien – neue Kontinuitätslinien auskristallisieren, die, weil sie nicht von Technologien, sondern von Praxisformen ausgehen, nicht unbedingt dem Gebot des »Fort-schritts« gehorchen müssen.

    Indem die Textbeiträge des Bandes die naturwissenschaftlichen, ästheti-schen, sozioökonomischen und medienpraktischen Netze, die sich zwischen den Medien bilden, aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, dekons-truieren sie gewissermaßen die anfangs vorgestellte Medienchronologie und deren vier einzelne, stringent konstruierte Linien technischer Entwicklung. Sie beschreiben stattdessen ein komplexes Feld vielfältig aufeinander bezo-gener, kreuz und quer verlaufender Prozesse, innerhalb dessen mehr Hand-lungsspielräume im Umgang mit den Medienmaschinen erkennbar werden als im Rahmen des Modernisierungsnarrativs mit seinen Reduktionen.

    Aus der Anlage des Bandes ergeben sich für die Leser unterschiedliche mög-liche Lektürewege. Zum einen können  – möglichen Spezialinteressen fol-gend – die Beiträge zu einem der vier vertretenen Medien gebündelt gelesen werden: Mit fünf Texten zum Selbstspielklavier (Julia Kursell, Marion Saxer/Leonie Storz, Kerstin Helfricht, Rebecca Wolf, Kai Köpp), drei Texten mit dem Schwerpunkt Film (Dieter Daniels, Tobias Plebuch, Andreas Münzmay), drei Texten mit Schwerpunkt Radio (Dieter Daniels, Sabine Breitsameter, Janina Klassen), vier Texten mit Schwerpunkt Grammophon (Marion Saxer, Claudia Thieße, Martin Elste, Daniel Gethmann) und vier Überblickstexten, die alle vier Medien thematisieren (Marion Saxer/Leonie Storz, Michael Harenberg, Susanne Schaal-Gotthardt, Rolf Großmann), sind die Anteile der vier Medien innerhalb des Bandes recht ausgewogen. Da fast alle Texte Querverbindungen zu anderen Medien herstellen, kann diesen auch mit einer Lektüre »kreuz und quer« gefolgt werden. Querverweise in den Texten und ein Register tragen zur Orientierung bei. Es bleibt zu hoffen, dass sich den Lesern bei der Lektüre so vielfältige Zusammenhänge zwischen den Medien erschließen, wie sie die intensiven Diskussionen der Tagung erbrachten.

    Musik alische Medienpr a xis iM konte x t: naturwissenschaf t – Ästhe tik – ÖkonoMie

    Die Beiträge des ersten Themenblocks beleuchten Wechselbeziehungen zwi-schen den vier zur Rede stehenden Medien aus der Perspektive unterschied-licher Wissensformationen. An exemplarischen Beispielen werden komplexe

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    Verflechtungen mit dem naturwissenschaftlichen Denken der Zeit, den äs-thetischen Diskursen und ökonomischen Entwicklungen diskutiert. Dabei wird die naheliegende Frage nach den kulturellen »Auswirkungen« der neu-en Techniken eher vermieden, denn sie birgt methodische Fallstricke: Die Antworten darauf schießen nämlich dann leicht übers Ziel hinaus, wenn sie Medientechnologien als die hauptursächlichen Agenten geschichtlichen Wandels begreifen und sämtliche kulturellen Wandlungsprozesse aus media-len Umbrüchen herleiten. Wird ein solches monokausales, deterministisches Technikverständnis nicht eigens reflektiert, mündet es letztlich in eine theolo-gische Argumentationsstruktur, die der Technik die Rolle eines pseudo-gött-lichen All-Bewegers zuschreibt, wie Jonathan Sterne einmal kritisch bemerkt hat2. Im Gegensatz dazu machen die Beiträge dieses Bandes die Entstehung der neuen Medien im Rahmen eines gesamtkulturellen Prozesses verstehbar, an dem jeweils unterschiedliche wissenschaftliche, künstlerische und insti-tutionelle Akteure beteiligt sind. Dieser Prozess erstreckt sich auf das natur-wissenschaftliche Denken und die damit verbundenen experimentellen Unter-suchungsmethoden, ebenso wie auf ästhetische Diskurse, die – über mediale Grenzziehungen hinweg – aufeinander Bezug nehmen und dabei in spezifi-scher Weise transformiert werden und auf Industrien und Märkte mit zum Teil sehr unterschiedlichen Verlaufskurven, die sich dennoch beeinflussen.

    Obgleich die drei Hauptbeiträge dieses Teils jeweils eine Betrachtungsper-spektive ins Zentrum stellen, machen sie dennoch auch deutlich, dass medi-ale Entwicklungen niemals auf nur eine dieser Perspektiven zurückzuführen sind. In der Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Entwicklungen wer-den auch ästhetische und ökonomische Aspekte aufgerufen. Analoges gilt für die beiden anderen Perspektiven. Letztlich wird an den hier vorgestellten ex-emplarischen Beispielen erkennbar, dass eine umfassende musikalische Medi-engeschichte einer breiten Neuverschaltung von Wissensbeständen bedarf, auf die hier nur ausblickshaft verwiesen werden kann.

    Bereits Friedrich Kittler hat vermerkt, dass erst die bahnbrechenden Er-kenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts und das daraus sich ergebende neue Weltverhältnis den Boden für die Entwicklung der neuen Technologien schufen3. Die technischen Voraussetzungen für die Phonographie waren lange vor ihrer Entstehung bereits gegeben, es bedurfte jedoch einer neuen, auf den Erkenntnissen der Akustik und der experimentel-len Psychologie beruhenden Auffassung des Hörens, um technische Apparate zur Aufzeichnung von Klang zu realisieren. So führten etwa neue sinnesphy-siologische Analysemethoden der Wahrnehmung Hermann von Helmholtz

    2 | Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham/London 2003.3 | Friedrich Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, Berlin 1986, S. 35ff.

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    dazu, das Ohr nicht mehr als einen bloßen Übermittler zu denken, der in ei-nem einfachen Korrespondenzverhältnis zu dem steht, was in einem Außen geschieht, sondern als ein produktives Organ, auf das experimentell eingewirkt werden kann. Erst dieser Umbruch in der Auffassung der Sinnesorgane war die Voraussetzung für die Entstehung akustischer Aufzeichnungsmedien. Ju-lia Kursell entwickelt in ihrem Beitrag Experimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900 diese Grundeinsicht noch einige Schritte weiter, indem sie zeigt, wie sich komplexe Wechselwirkungen zwischen naturwissenschaft-licher Forschung und medientechnischen Neuentwicklungen bis in die mu-sikalische Hörkultur hinein auswirken. An zwei exemplarischen Beispielen belegt sie, dass sich, sobald das Klavierspiel um 1900 zum Studienobjekt der experimentellen Lebenswissenschaften wird, die ästhetischen Vorstellungen der Interpretation – insbesondere auch in Beziehung auf die Zeitlichkeit von Musik – verändern. Dafür, dass sich die Erwartungen an das gute Spiel von der Regelmäßigkeit hin zur Individualität der Interpretation verschieben, spielt der technische Stand der Aufzeichnungs- und Abspielapparaturen eine wichti-ge Rolle. Kursell stellt Konstellationen von akustischen Medien, Spielpraktiken und dem Diskurs über das Klavierspiel vor. In diesen Konstellationen, so die These Kursells, werden Veränderungen in der Art und Weise sichtbar, wie das Klavierspiel gehört wird. Dass und wie solche Hörweisen entstehen, ordnet die Autorin in eine Geschichte der Experimentalpraktiken ein, die bei der Untersu-chung von Lebensvorgängen in der Physiologie ihren Ausgang genommen hat.

    Dieter Daniels befasst sich in seinem Beitrag Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er als komplementäre Formen einer »Eigenkunst« der Medien mit den medienbezogenen ästhetischen Praktiken und Diskursen der 1920er-Jahre und plädiert für eine gattungsübergreifende künstlerische Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. Er exemplifiziert diesen Ansatz am Beispiel des ästhetischen Paradigmas des »Eigenwerts der Medien«, das für alle Künste des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart von zentraler Bedeutung ist. Daniels dokumentiert, wie zwischen 1920 und 1933 in den damals neu-en Medien Film und Radio Kunstformen entwickelt wurden, die sich an den ästhetischen Eigenwirkungen dieser Techniken orientierten. Aus heutiger Sicht lassen sich der abstrakte Film und das »funkische« Hörspiel deshalb als Vorläufer der Medienkunst bezeichnen. Obgleich die Ausrichtung des Textes nicht primär musikbezogen ist, sind musikalische Zusammenhänge stets prä-sent. So etwa in den Personenkonstellationen, die sich um die Entwicklung medienspezifischer filmischer und »funkischer« Kunstformen bemühen, in denen Hans Flesch, Kurt Weill und Paul Hindemith als wichtige Protagonis-ten hervortreten. Darüber hinaus ist die Entwicklung des abstrakten Films von musikalischen Vorstellungen motiviert: Nicht zufällig wurde dessen erste Realisation, Walter Ruttmanns Opus 1 aus dem Jahr 1921, in zeitgenössischen Quellen als »Augenmusik« bezeichnet. Dass die berühmte Kurzfilm-Matinee

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    des Jahres 1925, in der die Novembergruppe abstrakte Filme von neun Künst-lern zeigte, den Titel Der absolute Film4 trug, war ein offener Hinweis auf die Rückbindung des abstrakten Films an die Idee der »absoluten Musik«. Der Ter-minus – von Richard Wagner mit pejorativem Aplomb eingeführt – benennt die Idee einer Musik, ohne Bezüge zu außermusikalischen Elementen und Re-ferenzen, in der bereits die Vorstellung des Eigenwerts des Medialen virulent war, ohne dass bereits ein entsprechender medientheoretischer Diskurs exis-tierte. Indem Daniels abschließend die technischen, ästhetischen und konzep-tuellen Paradoxien der Übertragung der Idee »absoluter Kunst« auf die neuen technischen Medien diskutiert, legt er bedeutende Motive für medienreflexive Tendenzen in den Künsten des 20. Jahrhunderts frei.

    Geht man – mit Jonathan Sterne – davon aus, dass die Industrie zu den wichtigsten medialisierenden Faktoren gehört, dann muss der Tatsache, dass die Entstehung der neuen Medien in die klassischen ökonomischen Zusam-menhänge von privatwirtschaftlichen Besitzverhältnissen, Mehrwertprodukti-on, Warentausch, Geldökonomie und unternehmerischem Handeln eingebun-den ist, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eine Wirtschaftsgeschichte der Frühzeit der Reproduktionsmedien liegt bislang sowohl in der Medien- wie auch in der Musikwissenschaft allerdings nicht vor. Während die tech-nischen Entwicklungen der einzelnen Geräte sehr gut beschrieben sind und musikkulturelle Auswirkungen der Medien intensiv diskutiert werden, fehlt eine vergleichende Studie über ihre ökonomische Konstitution. In dem Beitrag Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Anmerkungen zur Wirtschaftsgeschichte der Medien oder: vom Aufstieg und Niedergang des Selbstspielklaviers von Marion Saxer und Leonie Storz können lediglich Ansätze einer Aufarbeitung der da-mit verknüpften komplexen Fragestellungen formuliert werden. Nach einem Überblick über die wirtschaftlichen Trends in der Frühzeit der Reproduk-tionsmedien werden jeweils spezifische »ökonomische Physiognomien« der einzelnen Medien und die damit einhergehenden unterschiedlichen Vermark-tungsstrategien diskutiert. Dabei steht die Frage nach den Gründen für den Niedergang des Selbstspielklaviers im Mittelpunkt.

    Kerstin Helfricht ergänzt die Überlegungen zur Ökonomie der Medien mit einem konkreten Fallbeispiel. In ihrem Beitrag Klingende Industriegeschichte: Die Frankfurter Orchestrion- & Piano-Instrumenten-Fabrik J. D. Philipps arbeitet sie die Geschichte der Frankfurter Firma Philipps auf, die – heute weitgehend vergessen – bis 1929 im Stammwerk Frankfurt Bockenheim Orchestrien so-wie Selbstspielklaviere produzierte und zu den namhaftesten deutschen Her-stellern von Selbstspielklavieren gehörte. 1909 brachte die Firma das Repro-duktionsklavier Duca auf den Markt, das ein dem Welte-Reproduktionsklavier

    4 | Vgl. Christian Kiening/Adolf Heinrich: Der absolute Film. Dokumente der Medien-avantgarde (1912–1936), Zürich 2011.