Markus M. Müller, Ingrid Hemmer, Martin Trappe (Hrsg ... · »Rio+20. Nachhaltigkeit neu denken?«...
Transcript of Markus M. Müller, Ingrid Hemmer, Martin Trappe (Hrsg ... · »Rio+20. Nachhaltigkeit neu denken?«...
Markus M. Müller, Ingrid Hemmer,
Martin Trappe (Hrsg.)
Nachhaltigkeit neu denkenRio+X: Impulse für Bildung und Wissenschaft
Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden,
reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag.
Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein
Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter www.oekom.de.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 oekom, München
oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,
Waltherstraße 29, 80337 München
Layout und Satz: Reihs Satzstudio, Lohmar
Korrektorat: Maike Specht, München
Umschlagentwurf: Elisabeth Fürnstein, oekom verlag
Umschlagabbildung: © Igor Mojzes – Fotolia.com
Druck: Bosch-Druck GmbH, Ergolding
Dieses Buch wurde auf 100%igem Recyclingpapier gedruckt.
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-86-581684-9
e-ISBN 978-3-86581-886-7
Nachhaltigkeit neu denken
Rio+X: Impulse für
Bildung und Wissenschaft
Markus M. Müller, Ingrid Hemmer, Martin Trappe (Hrsg.)
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
Markus M. Müller, Ingrid Hemmer & Martin Trappe
Nachhaltigkeit neu denken
2 Nachhaltigkeit – quo vadis?
Felix Ekardt
Theorie der Nachhaltigkeit
Georg Müller-Christ
Nachhaltigkeit in Forschung und ForschungseinrichtungenEin Ordnungsangebot
Ortwin Renn
Nachhaltigkeit nachhaltig kommunizieren:
Wie man die Idee eines normativ-funktionalen Ansatzes der Nachhaltigkeit
vermitteln kann
Hubert Weiger
Nachhaltige Entwicklung:
Neue Perspektiven nach Rio+20?
3 Ökologie
Christina Fehrmann, Barbara Stammel & Bernd Cyffka
Die Auswirkungen der Wasserkraftnutzung auf Auen
Klimaschutz und Naturschutz als unvereinbare Antagonisten?
Peter Fischer & Bernd Cyffka
Wie nachhaltig sind ökologische Flutungen?
Untersuchungen zur Auwaldrenaturierung
an der bayerischen Donau zwischen Neuburg und Ingolstadt
Andreas Hahn
Zur Sicherung der Nachhaltigkeit in Forstbetrieben
Wie bekommt man Gewinnstreben, ökologische Kriterien und
Optionenvielfalt unter einen Hut?
Martin Kuba, Ümüt Halik, Martin Welp & Bernd Cyffka
Nachhaltigkeit von Dienstleistungen
in Ökosystemen unter Stress
Kathrin Umstädter, Florian Haas & Michael Becht
Nachhaltige Landnutzung auf La Palma
Untersuchungen zur Bodenerosion unter besonderer Berücksichtigung
von Brandereignissen
4 Ökonomie
Patricia I. T. F. Girrbach
Organisationaler Wandel in Richtung NachhaltigkeitEin Implementierungsansatz für die unternehmerische Praxis
Stephanie Schuhknecht
Energieversorgungsunternehmen in der öffentlichen Kommunikation
Nachhaltigkeit, Corporate Social Responsibility (CSR)
und Corporate Citizenship (CC)
5 Gesellschaft
Katrin Reuter
Nachhaltigkeit als Aspekt guten Lebens
Andreas Schmidt & Inga Schlichting
Sustainability and Climate Change
Interpretations and Claims by Societal Actors from Germany, India and the United States
Xiling Yang
Ökologische Modernisierung und der Lebensstilwandel?
6 Kommunikation
Dirk Marx & Rouven Keßler
Nachhaltige Hochschulentwicklung
durch ein transformatives Forum, das t-Forum
Claudia Schmidt
Entscheidungen im Alltag
Stoffgeschichten und Kritikalitätsbewertungen
Isabel Winkler
Medien und Nachhaltigkeit
Ein theoretischer und empirischer Ansatz
7 Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
7.1 BNE in Lehrplänen, Lehrer- und Berufsbildung
Péter Bagoly-Simó
Implementierung von Bildung für nachhaltige Entwicklung
in den Fachunterricht im internationalen Vergleich
Daniel Feldkamp & Christina Lüllau
»Fachwirt/-in Erneuerbare Energien und Energieeffizienz (HWK)«
Eine Antwort der beruflichen Bildung auf die Transformation
der Energiewirtschaft
Stephanie Leder
Barrieren und Möglichkeiten einer Bildung
für nachhaltige Entwicklung in Pune, Indien
7. 2 Lehr- und Lernvoraussetzungen für BNE
Katja Feigenspan
Nachhaltigkeit = Naturbelassenheit?
Wie Biologie-Lehramtsstudierende Natur, Nachhaltigkeit und BNE verstehen
Karoline Kucharzyk
Vom Wind verweht, durch Beton versiegelt, von Schadstoffen zerfressen.
Ist Bodenschutz (k)ein Thema für BNE?
Ann-Christin Schulz & Martin Sauerwein
Die Bedeutung von BNE
Erste Ergebnisse einer empirischen Studie
zum Geographieunterricht an Hildesheimer Haupt-, Real- und Gesamtschulen
7.3 Transdisziplinäre Konzeptionen an der Schnittstelle zwischen Schule und Gesellschaft, Sozialwissenschaften und Psychologie
Christine Bänninger, Stefanie Gysin, Patrick Isler-Wirth & Christine Künzli David
Service-Learning mit Fokus Nachhaltigkeit (SeLeN)
Anne-Kathrin Lindau & Martin Lindner
Von Brüssel bis zum Nahraum
Das Projekt »Elbe-kennen – Elbe-leben – Elbe-wegen«
zur Umsetzung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie
7.4 BNE im Unterricht
David Hergesell & Lissy Jäkel
(Mitarbeit: Lukas Ditz, Matthias Rupp, Jasmin Weishäupl, Elvira Zur)
Helfen moderne Geomedien (GPS, GIS), die Interessiertheit Jugendlicher
für Naturbegegnung und Umweltschutz zu steigern?
Eine Untersuchung im Projekt Naturbildungspunkte
Daniela Krischer, Philipp Spitzer & Martin Gröger
»… natürlich Chemie!«
Chemieunterricht in naturnaher Umgebung
und naturbezogenen Kontexten
Marten Lößner
Chancen der Nutzung der Biodiversität –
zwischen Biopiraterie und fairem Vorteilsausgleich
Ein Thema für den Geographieunterricht?!
Sandra Sprenger & Karl-Heinz Otto
(Experimentelle) Lehr-/Lernformen
als Grundlage für gesellschaftlich relevante Entscheidungsprozesse
Michael Stroh
Brauchen Planspiele zur Nachhaltigkeit
einen Rückkopplungsmechanismus?
7.5 Wertevermittlung als Fokus
Sascha Haffer, Sandra Sprenger & Kerstin Kremer
WASSERwerte(n)
Bildung für Nachhaltige Entwicklung im Museum
Eva Marie Ulrich-Riedhammer
Die ethische Dimension von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit
im Geographieunterricht mitdenken
Anhang
Tagungsprogramm
»Rio+20. Nachhaltigkeit neu denken?«
5. bis 6. November 2012 in Eichstätt
Autorenverzeichnis
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei einigen Textstellen auf die gleichzeitige Verwendung
männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleich-
wohl für beiderlei Geschlecht.
1
EINLEITUNG
N a c h h a l t i g k e i t n e u d e n k e n
13
Markus M. Müller, Ingrid Hemmer & Martin Trappe
Nachhaltigkeit neu denken
Die Begriffe ›nachhaltige Entwicklung‹ und ›Nachhaltigkeit‹ werden 20 Jahre nach
Rio in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft häufig verwendet. Das Leitbild ist breit
akzeptiert und in verschiedene Lebens- und Bildungsbereiche vorgedrungen. Nicht
selten werden die Begriffe jedoch fehlerhaft und missverständlich eingesetzt. Wie aber
sieht es im Bereich der Wissenschaft mit der Nachhaltigkeit aus? Hat die Diskussion
um das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung auch die Wissenschaften nachhaltig
geprägt? Welche Impulse gehen von den Wissenschaften für die Nachhaltigkeit in
verschiedensten Lebensbereichen aus? Inwiefern geben die Erträge der Wissenschaft
Anlass, das Konzept der Nachhaltigkeit zu ergänzen oder zu verändern? Welche Zu-
gänge werden in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen gegenwärtig diskutiert
und erforscht?
Das Wissenschaftsjahr Nachhaltigkeit/Zukunftsprojekt Erde, das 2012 vom deut-
schen Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgerufen wurde, zeugt von
der Notwendigkeit, 20 Jahre nach Rio eine kritische Bestandsaufnahme zu machen,
die unter anderem von Schneidewind & Augenstein (2012), Schneidewind (2009)
sowie Schneidewind & Singer-Brodowski (2013) vorgelegt wurde. Diese stellen auch
gezielte Reformvorschläge vor, wie der Übergang in ein transformatives, nachhaltig-
keitsorientiertes Wissenschaftssystem möglich ist und wie dadurch der gesellschaftli-
che Wandel, die sogenannte große Transformation der Gesellschaft, unterstützt und
gefördert werden kann.
An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU), die seit 2010 für die
gesamte Hochschule ein Nachhaltigkeitskonzept für Forschung, Lehre und Campus-
management verfolgt, fand am 5. und 6. November 2012 die Konferenz »Rio+20:
Nachhaltigkeit neu denken?« statt. Veranstaltet wurde sie vom Graduiertenkolleg
»Nachhaltigkeit in Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft« und der Nachhaltigkeits-
beauftragten der KU. Es kamen über 100 vornehmlich junge Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum.
E in le i tung
14
Mit insgesamt 45 Einzelvorträgen in elf Sitzungen zu nahezu allen Themenbereichen
der Nachhaltigkeitsforschung, vier Gastvorträgen von renommierten und einflussrei-
chen Wissenschaftlern und einer Postersession war es eine der größten Fachtagungen
zum Thema im Wissenschaftsjahr 2012. Die Idee kam von der Nachhaltigkeitsbeauf-
tragten der KU. 20 Jahre nach der UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung
wollte man vor allem junge Forscherinnen und Forscher verschiedenster Disziplinen
zusammenbringen und ihnen ein Forum bieten für den inhaltlichen und methodi-
schen Austausch ihrer Nachhaltigkeitsforschung. Das Eichstätter Graduiertenkolleg
»Nachhaltigkeit in Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft« beteiligte sich intensiv an
der Organisation und schuf so den Stipendiatinnen und Stipendiaten im Kolleg die
Möglichkeit, aktuelle Forschungsergebnisse und Forschungsfragen in einem interdis-
ziplinären Kontext zu diskutieren. Die Tagungsorganisation wurde in harmonischer
Kooperation von den Fächern Geographie und Psychologie geleistet. Darüber hinaus
wirkten Kolleginnen und Kollegen aus den Fächern Geographie, Journalistik, Reli-
gionspädagogik und Psychologie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft als Sitzungs-
leiter und Gutachter mit. Studierende, vor allem des »Masterstudiengangs Geographie:
Bildung für nachhaltige Entwicklung«, waren bei der Vorbereitung, Durchführung und
Berichterstattung der Tagung integriert und hatten freien Zugang zu den Vorträgen.
Seit Beginn seiner Verbreitung hat der Begriff der Nachhaltigkeit eine Vielzahl
von Deutungen, Erweiterungen, Veränderungen erfahren, sodass man heute durch-
aus von einem »unscharfen Prädikat« (Linneweber, 1998) sprechen kann. Die teils
sehr unterschiedlichen Zugänge, welche in den Disziplinen zum Thema Nachhaltig-
keit gewählt werden, führen dabei dazu, dass die Ansätze oft nur schwer vergleichbar
werden und eine Kommunikation untereinander erschwert wird (Tremmel, 2004).
Dies wird auch in den Beiträgen zu Theorien und Perspektiven von nachhaltiger Ent-
wicklung deutlich (Enders & Remig, 2013). Die Tagung legte daher einen besonderen
Wert darauf, dass in den einzelnen Beiträgen – Vorträgen wie Posterpräsentationen –
der jeweilige Zugang, die jeweils verwendete Definition offengelegt wird.
Die größte Bekanntheit in der Öffentlichkeit hat das »Drei-Säulen-Modell« bzw.
»Nachhaltigkeitsdreieck« erlangt, welches davon ausgeht, dass Nachhaltigkeit auf den
Säulen der Ökologie, der Ökonomie und des Sozialen ruht. Die Beiträge in diesem
Band zeigen, dass dieser Ansatz aus heutiger Sicht zwar mitunter als nützliche Heu-
ristik herhalten kann, aber in seiner unklaren Schwerpunktsetzung der einzelnen
Zielfelder problematisch ist. Mit möglichen Leitbildern, wie etwa dem einer Post-
wachstumsgesellschaft, setzt sich die Forschung bislang noch sehr zögerlich ausein-
ander, wie Felix Ekardt in seinem Beitrag zeigt. Er betont die Bedeutung von Gerech-
tigkeitstheorien als Nachhaltigkeitsbasis und fordert eine Nachhaltigkeitsgovernance
(Ekardt, 2013). Georg Müller-Christ weist in seinem Beitrag darauf hin, dass in dieser
Konzeption prinzipiell jeder der Teilbereiche durch einen anderen ersetzt oder kom-
N a c h h a l t i g k e i t n e u d e n k e n
15
pensiert werden kann. Eine solche Sichtweise übersieht indes, dass die natürlichen
Lebensgrundlagen des Menschen unersetzbar sind. So kann die Zerstörung der Ozon-
schicht nicht kompensiert werden durch zum Beispiel die Schaffung ökonomischer
Werte, etwa Arbeitsplätze. Diese Ideen hatte Neumayer (2003) in seinem Konzept der
»starken Nachhaltigkeit« formuliert, welches sich von der »schwachen Nachhaltig-
keit« darin unterscheidet, dass der Ökologie eine Priorität gegenüber anderen Zielfel-
dern gegeben wird. Darüber hinaus ist eine Vernetzung der drei Säulen bzw. Pole zu
beachten. Mit der Idee der Nachhaltigkeit sind also immer auch Zielkonflikte ver-
bunden, welche nur durch einen offenen gesellschaftlichen Diskurs gelöst werden
können.
Dass hierbei Partizipation und Verfahrensgerechtigkeit eine wichtige Rolle spielen,
zeigt der Beitrag von Ortwin Renn, denn wenn Menschen selbst zu Gestaltern wer-
den können, werden sie auch verantwortungsbewusst. Die große Herausforderung
der Idee der Nachhaltigkeit besteht nicht so sehr in der Erforschung technischer
Lösungen wie in Verhaltensänderungen, die sowohl auf individueller wie auch auf
gesellschaftlicher Ebene ansetzen können. Der transdisziplinäre Austausch über Fä-
chergrenzen und Theorie-Praxis-Grenzen hinweg kann hierzu wichtige Anregungen
liefern.
Transdisziplinarität ist eine der wichtigsten Herausforderungen der Nachhaltig-
keitsforschung (Schneidewind & Singer-Brodowski, 2013), denn es geht im Wesent-
lichen darum, wie die Menschheit auch in Zukunft lebensfähig und der Planet Erde
bewohnbar bleibt. Mit Transdisziplinarität ist gemeint, dass sich die Wissenschaft
in einen Austausch mit der Praxis begeben sollte, um ihre Forschungsfragen zu ent-
wickeln und ihre Ergebnisse anzuwenden. Manche Entwicklungen in der heutigen
Wissenschaftswelt machen jedoch bereits den interdisziplinären Austausch schwierig,
da sich die Fachdisziplinen immer weiter ausdifferenzieren und die Methoden immer
spezifischer werden. Eine Wissenschaft der Nachhaltigkeit kann und muss bedeut-
same Anstöße liefern, die oftmals diagnostizierte »Sprachlosigkeit« im Austausch zu
überwinden und den Blick wieder aufs Ganze zu lenken. Transdisziplinarität ist dann
nicht mehr eine noch weitere Hürde, sondern eine Chance für die Entwicklung von
Forschungsfragen, die tatsächlich gesellschaftliche Themen und Probleme betreffen.
Im Sinne der Transdisziplinarität erfolgte als integraler Bestandteil der Tagung die
Kooperation mit Akteuren der Gesellschaft, namentlich der Kreisgruppe Eichstätt des
Bundes Naturschutz in Bayern e.V., dem Umweltreferat des Bistums Eichstätt und
der Sparkasse Eichstätt, in deren Räumen der öffentliche Vortrag von Prof. Dr. Hubert
Weiger, dem 1. Vorsitzenden des Bundes Naturschutz Bayern e.V. und Vorsitzenden
des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V., stattfand. Der Vortrag
und die anschließende, sehr angeregte Diskussion zeigten auf, was auch in der gesam-
ten Tagung immer wieder anklang: Einerseits sind viele Entwicklungen der letzten
E in le i tung
16
zwei Jahrzehnte seit der Konferenz von Rio im Jahre 1992 ernüchternd, wie etwa die
stetige faktische Zunahme an Emissionen von Treibhausgasen trotz der hehren Ziele,
sie zu reduzieren. Andererseits darf dies nicht den Blick auf die vielen kleinen und
großen Erfolge auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit verstellen.
Die elf Sitzungen widmeten sich verschiedenen Aspekten von Nachhaltigkeit aus
(fach-)wissenschaftlicher Sicht (wobei darauf geachtet wurde, dass sowohl die Vor-
träge als auch die Sitzungsleitung möglichst aus unterschiedlichen Disziplinen kamen)
sowie der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Die Vielfalt der Zugänge findet sich
auch in den einzelnen Abschnitten des vorliegenden Sammelbandes wieder.
Insgesamt fünf Beiträge widmen sich Fragen der Ökologie und Nachhaltigkeit.
Christina Fehrmann, Barbara Stammel und Bernd Cyffka zeigen, dass scheinbar eng
verbundene Werte wie Klimaschutz und Naturschutz bei der Wasserkraftnutzung in
Weichholzauen im Konflikt stehen können. Peter Fischer und Bernd Cyffka untersu-
chen die Nachhaltigkeit ökologischer Flutungen an der bayerischen Donau zwischen
Neuburg und Ingolstadt. Andreas Hahn analysiert die sich stetig verändernden Her-
ausforderungen für eine nachhaltige Forstwirtschaft. Der Beitrag von Martin Kuba,
Ümüt Halik, Martin Welp und Bernd Cyffka beschäftigt sich mit der Frage, wie
sich die nicht nachhaltige Nutzung von Ressourcen in Ökosystemen auswirkt, in
welchen extremen klimatischen Bedingungen herrschen. Des Weiteren stellen Kathrin
Umstädter, Florian Haas und Michael Becht eine Untersuchung zur Landnutzung auf
La Palma vor, wo Bodenerosionen die Bewohner vor zunehmende Probleme stellen.
Die Rolle der Ökonomie bei der nachhaltigen Entwicklung ist viel diskutiert und
problematisiert worden. Patricia Girrbach zeigt auf, wie Corporate Sustainability in
der unternehmerischen Praxis implementiert werden kann. Der Beitrag von Stephanie
Schuhknecht berichtet über Ergebnisse einer Studie in Energieversorgungsunterneh-
men, bei der die Kommunikation von Corporate Social Responsibility nach innen
und außen untersucht wurde.
Nachhaltige Entwicklung ist immer auch eine Frage des individuellen und kollekti-
ven Denken und Handelns, weshalb Sozialwissenschaften und Psychologie im Themen-
feld Gesellschaft wichtige Beiträge zur Debatte liefern können. Katrin Reuter widmet
sich der Frage nach dem »Guten Leben«, indem sie zeigt, dass Nachhaltigkeit nicht nur
Leitbild für politisches, sondern auch für privates Handeln sein kann. Andreas Schmidt
und Inga Schlichting zeigen am Beispiel des Klimawandels, dass der Nachhaltigkeits-
begriff von Akteuren sehr unterschiedlich gedeutet wird, was zu sehr verschiedenen
Problemlösungsansätzen führt. Xiling Yang diskutiert, wie ökologische Modernisie-
rung als Grundlage für Umweltpolitik und soziale Partizipation dienen kann.
Die Beiträge zum Themenfeld Kommunikation setzen sich mit der Frage aus-
einander, wie Nachhaltigkeit kommuniziert wird und kommuniziert werden kann.
Dirk Marx und Rouven Keßler fokussieren dabei nachhaltige Entwicklung an Hoch-
N a c h h a l t i g k e i t n e u d e n k e n
17
schulen. Claudia Schmidt stellt das Konzept der »Stoffgeschichten« vor, welche dabei
unterstützen sollen, Nachhaltigkeit im Alltag greif- und fassbar zu machen. Isabel
Winkler untersucht die Rolle, welche Medien bei der Kommunikation von Nachhal-
tigkeit spielen.
Die Beiträge zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), die teils Forschung
und teils konzeptionelle Arbeiten umfassen, gliedern sich in fünf Bereiche. Drei Texte
widmen sich der Rolle von BNE in Lehrplänen, Lehrer- und Berufsbildung. Péter
Bagoly-Simó vergleicht die Implementierung von BNE in Lehrplänen aus Deutsch-
land, Mexiko und Rumänien und stellt bedeutsame Unterschiede auf verschiedenen
Ebenen fest. Daniel Feldkamp und Christina Lüllau argumentieren, dass die soge-
nannte Energiewende auch große Herausforderungen für die Berufsbildung darstellt,
da Fachkräfte in Richtung nachhaltiger Entwicklung qualifiziert werden müssen. Und
Stephanie Leder bespricht die Chancen und speziellen Herausforderungen bei der
Implementierung von BNE in einem Schwellenland am Beispiel Indiens.
Lehr- und Lernvoraussetzungen für BNE sind Thema von drei Beiträgen. Katja
Feigenspan stellt eine empirische Untersuchung vor, in der Lehramtsstudierende der
Biologie nach ihrem Verständnis von Nachhaltigkeit befragt wurden. Im Beitrag von
Karoline Kucharzyk wird die Frage beleuchtet, warum BNE sich dem Thema Boden
nur zögerlich annähert. Ann-Christin Schulz und Martin Sauerwein ermitteln die
Bedeutung von BNE für Schülerinnen und Schüler und ihre Bereitschaft zu nachhal-
tigkeitsbezogenem Handeln.
Bildung für nachhaltige Entwicklung stellt eine besondere und reizvolle Herausfor-
derung dar, da sie sich nicht auf die rein schulische Vermittlung von Wissen beschrän-
ken kann. Zwei Beiträge stellen Transdisziplinäre Konzeptionen an der Schnittstelle
zwischen Schule und Gesellschaft vor. Marten Lößner stellt vor dem Hintergrund
der Nutzung der Ressource Biodiversität in der Pharmaindustrie eine Unterrichtsein-
heit für die 9. Klasse vor. In naturnaher Umgebung und anhand von naturbezogenen
Kontexten betrachten Daniela Krischer, Philipp Spitzer und Martin Gröger den schu-
lischen Chemieunterricht in einem chemiedidaktischen Freilandlabor.
Verschiedene Ansätze für BNE im Unterricht werden in fünf Beiträgen vorge-
stellt und diskutiert. Wie moderne Geomedien im Unterricht effektiv eingesetzt wer-
den können, zeigt der Beitrag von David Hergesell und Lissy Jäkel. Anne-Kathrin
Lindau und Martin Lindner legen dies an dem Projekt »Elbe-kennen – Elbe-leben –
Elbe-wegen« dar. Christine Bänninger, Stefanie Gysin und Patrick Isler-Wirth zeigen,
wie der Ansatz des Service-Learning für die BNE nutzbar gemacht werden kann.
Sandra Sprenger und Karl-Heinz Otto widmen sich Standortfragen bei nachhaltiger
Energienutzung und zeigen, wie diese im Geographieunterricht integrativ themati-
siert werden können. Michael Stroh beschäftigt sich mit der Methode der Planspiele,
welche sich für die Vermittlung von BNE als sehr fruchtbar erwiesen.
E in le i tung
18
Nachhaltiges Handeln impliziert immer auch Wertentscheidungen, die in der
BNE thematisiert werden müssen. Zwei Beiträge wählen daher Wertevermittlung als
Fokus. Sascha Haffer, Sandra Sprenger und Kerstin Kremer zeigen, dass die scheinbar
einfache Frage »Was ist Wasser eigentlich wert?« weitreichende Implikationen für die
BNE haben kann. Und Eva Marie Ulrich-Riedhammer stellt heraus, dass BNE sich
auch ethische Urteilskompetenz zum Ziel setzen muss, und diskutiert dies anhand
der Begriffe ›Nachhaltigkeit‹ und ›Gerechtigkeit‹, welche im Zentrum des Diskurses
zur nachhaltigen Entwicklung stehen, aber oft nicht hinterfragt werden.
Die Tagung zeigte, wie groß das Interesse an Nachhaltigkeit als Forschungsthema
ist. »Nachhaltigkeit neu denken?« war das Tagungsmotto und dies gelang auch min-
destens in Ansätzen, schon allein dadurch, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer
unterschiedlicher Disziplinen ernsthaft miteinander ins Gespräch kamen und sich
über ihre Forschungsansätze und Ergebnisse austauschten. Der vorliegende Band soll
dazu anregen, diese Debatte weiter zu vertiefen und voranzutreiben.
Die Tagung und die vorliegende Publikation wurden finanziell maßgeblich unter-
stützt durch die Mittel des Graduiertenkollegs »Nachhaltigkeit in Umwelt, Wirt-
schaft und Gesellschaft«. Wir danken den Mitgliedern des Kollegs – Stipendiatinnen
und Stipendiaten, Projektleiterinnen und Projektleitern – für die Unterstützung bei
der Tagung. Weitere finanzielle Förderung erhielten wir von der Sparkasse Eichstätt,
der Maximilian-Bickhoff-Stiftung, der Eichstätter Universitätsgesellschaft sowie dem
Umweltreferat des Bistums Eichstätt. Ein großer Dank geht an alle Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler, welche sich dazu bereiterklärten, die Beiträge der Tagung
und des vorliegenden Bandes zu begutachten, und an diejenigen, welche die Sitzungs-
leitungen übernahmen (Prof. Dr. Jörg Althammer, Prof. Dr. Klaus-Dieter Altmeppen,
Prof. Dr. Péter Bagoly-Simó, Prof. Dr. Bernd Cyffka, Prof. Dr. Rainer Greca, Prof. Dr.
Elisabeth Kals, Dr. Anne-Kathrin Lindau, Prof. Dr. Uto Meier, Dr. Johanna Schocke-
möhle, Prof. Dr. Sandra Sprenger, Prof. Dr. Hans-Martin Zademach). Wir bedanken
uns besonders auch bei den Personen, welche uns bei der Umsetzung der Tagung
tatkräftig unterstützt haben: Michaela Walter-Rückel vom Aueninstitut Neuburg; der
Umweltreferentin des Bistums, Lisa Amon; der Umweltmanagementbeauftragten der
KU, Anja Westner; Claudia Pietsch vom Fachbereich Geographie, sowie, last, but not
least, den studentischen Hilfskräften Lena Gierl, Natascha Rüb, Agnes Grasberger,
Kathrin Thiel, Anja Brunner, Smaranda Goidaci, Tanja Helm und Vanessa Japha.
N a c h h a l t i g k e i t n e u d e n k e n
19
L I T E R AT U R
Ekardt, F. (2011): Theorie der Nachhaltigkeit. Rechtliche, ethische und politische Zugänge –
am Beispiel von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel. Baden-Baden: Nomos.
Ekardt, F. (2013): Transdisziplinäre geisteswissenschaftliche Nachhaltigkeitstheorie. Gerechtigkeit,
Governance, Hemmnisse. In: Enders, J. C. & Remig, M. (Hrsg.): Perspektiven nachhaltiger
Entwicklung. Theorien am Scheideweg (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeits-
forschung, Band 3). Marburg: Metropolis.
Enders, J. C. & Remig, M. (Hrsg.) (2013): Perspektiven nachhaltiger Entwicklung – Theorien am
Scheideweg (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung, Band 3). Marburg:
Metropolis.
Linneweber, V. (1998): Nachhaltige Entwicklung als unscharfes Prädikat. In: Umweltpsychologie,
2, S. 66–77.
Neumayer, E. (2003): Weak versus strong sustainability: Exploring the limits of two opposing
paradigms. Northampton, MA: Edward Elgar Publishing.
Schneidewind, U. (2009): Nachhaltige Wissenschaft. Plädoyer für einen Klimawandel im deut-
schen Hochschulsystem. Marburg: Metropolis.
Schneidewind, U. & Augenstein, K. (2012): Analyzing a transition to a sustainability-oriented
science system in Germany. In: Journal for Environmental Innovation and Societal Transitions, 3,
S. 16–28.
Schneidewind, U. & Singer-Brodowski, M. (2013): Transformative Wissenschaft. Klimawandel im
deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Marburg: Metropolis.
Tremmel, J. (2004): »Nachhaltigkeit« – definiert nach einem kriteriengebundenen Verfahren.
In: GAIA 13, H. 1, S. 26–34.
Tremmel, J. (2013): Das Nicht-Identitätsproblem. Ein schlagendes Argument gegen Nachhaltig-
keitstheorien? In: Enders, J. C. & Remig, M. (2013): Perspektiven nachhaltiger Entwicklung.
Theorien am Scheideweg (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung,
Band 3). Marburg: Metropolis.
2
NACHHALTIGKEIT –
QUO VADIS?
T h e o r i e d e r N a c h h a l t i g k e i t
23
Felix Ekardt
Theorie der Nachhaltigkeit
Definition von Nachhaltigkeit
›Nachhaltigkeit‹ ist seit einiger Zeit ein Hauptbegriff der internationalen politischen
Debatte, doch wird darunter zuweilen recht Unterschiedliches verstanden. Definitio-
nen, also die schlichte sprachliche Bezeichnung eines Sachverhalts, sind dabei natur-
gemäß letztlich beliebig – im Gegensatz zu erkennbaren und damit gerade nicht be-
liebigen Inhalten. ›Nachhaltigkeit‹ bezeichnet nach vorliegend vertretener Auffassung
definitorisch die politische/ethische/rechtliche Forderung nach mehr intertemporaler
und globaler Gerechtigkeit, also die Forderung nach dauerhaft und global durchhalt-
baren Lebens- und Wirtschaftsweisen. Gemeint ist ergo die Forderung nach inter-
temporaler und global-grenzüberschreitender Gerechtigkeit (nicht zu verwechseln mit
universaler Gerechtigkeit, also Prinzipien für das Zusammenleben in allen Gesellschaf-
ten). Gerechtigkeit sei hier definitorisch verstanden als die Richtigkeit der Ordnung
des menschlichen Zusammenlebens (so wie Wahrheit das Zutreffen von Tatsachenaus-
sagen meint); soziale Verteilungsgerechtigkeit als Kategorie materieller Verteilungs-
fragen ist davon nur ein Teilelement.
Alternativ dazu verstehen viele Stimmen Nachhaltigkeit als eine Art Rubrum über
alles Erstrebenswerte in der Welt, womit der Nachhaltigkeitsbegriff mit dem Gerech-
tigkeitsbegriff zusammenfalle oder ihn sogar noch an Breite überbiete. Insbesondere
stehe Nachhaltigkeit für den nötigen Ausgleich von ökologischen, ökonomischen und
sozialen Belangen (Bizer, 2000; Heins, 1998; Ritt, 2002). Ein solches Drei-Säulen-Kon-
zept von Nachhaltigkeit wäre jedoch (zum Folgenden Ott & Döring, 2008; Siemer,
2006; Ekardt, 2011; anders Grunwald & Kopfmüller, 2012) aus einer Reihe von Grün-
den missverständlich und schief.
Das Drei-Säulen-Modell lenkt erstens vom Paradigmenwechsel als Kernidee ab:
mehr Generationen- und globale Gerechtigkeit. Denn mit dem Reden von den »drei
Säulen« gerät Nachhaltigkeit in die Nähe der eher trivialen Botschaft, dass politische
Nachhal t igke i t – quo v adis?
24
Entscheidungen verschiedene Belange möglichst in Einklang bringen sollten, insbe-
sondere dann, wenn der intertemporale und globale Bezug nur noch am Rande oder
gar nicht mehr auftaucht.
Zweitens ist eine Trennung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte in
den relevanten Bereichen kaum möglich: Wäre zum Beispiel bessere Luftqualität nur
ein ökologisches Ziel, weshalb nicht ein soziales oder ökonomisches? Oder ist zum
Beispiel die Gesundheit ein soziales Ziel oder ein ökologisches? Oder vielleicht ein
ökonomisches, weil sie medizinische Behandlungskosten einspart? Und was ganz
genau bedeutet überhaupt der letzten Endes überaus vielgestaltige und vage Begriff
des ›Sozialen‹ (Weber, 1984, S. 165)? Wäre dies alles, was mit Menschen zu tun hat,
wäre Nachhaltigkeit endgültig banalisiert.
Drittens kann das Säulen-Modell im Sinne der Annahme verstanden werden,
der Lebensgrundlagenschutz sei stark abhängig von Wirtschaftswachstum. Dies ist
jedoch gerade problematisch (siehe unten).
Viertens impliziert der Generationen- und Globalbezug von Nachhaltigkeit, dass
Nachhaltigkeit primär von grundlegenden Voraussetzungen des Menschseins und
nicht von jedwedem Teilaspekt von Wirtschafts- und Sozialpolitik im Allgemeinen
handelt.
All diese Gesichtspunkte werden in der Rio-Deklaration von 1992 als zentraler
internationaler Wurzel des modernen Nachhaltigkeitsdiskurses an einer Vielzahl von
Stellen sichtbar (Appel, 2005), explizit etwa in Grundsatz 5. Ferner bezieht sich Grund-
satz 7 der Rio-Deklaration (gemeinsame, aber geteilte Verantwortung von Industrie-
und Entwicklungsländern) ersichtlich auf die »Umwelt«fragen. Auch die Beseitigung
nicht nachhaltiger Produktions- und Verbrauchsstrukturen (Grundsatz 8) klingt nicht
gerade nach Dreisäuligkeit. Besonders deutlich ist Grundsatz 12, indem er Wirtschafts-
wachstum und Nachhaltigkeit nebeneinander nennt und damit als zwei zu unter-
scheidende Anliegen kennzeichnet.
Wesentlich für Nachhaltigkeit (auch) im Sinne der Rio-Deklaration dürfte indes
ein Integrationsprinzip in einem allerdings recht konkreten Sinne sein: Nachhaltigkeit
handelt von der integrierten Bewältigung intertemporal-globaler Problemlagen. Dahinter
steht auch die zutreffende Einsicht, dass ein lediglich additives Angehen bestimmter
komplexer Probleme diese häufig nicht zu lösen vermag: Es wäre beispielsweise (in-
haltlich) fatal, Armuts- und Klimaproblematik zu sehr voneinander zu separieren,
indem man zum Beispiel südliche Länder schlicht zur Imitation des westlichen, viel
zu ressourcenintensiven Entwicklungspfades anregte – oder umgekehrt die gravie-
rende Armut in weiten Teilen der Welt unter der Überschrift »gut für den Ressour-
cenverbrauch« unangetastet ließe.
T h e o r i e d e r N a c h h a l t i g k e i t
25
Ebenen des Nachhaltigkeitsdiskurses
Es geht mit der Nachhaltigkeit – transdisziplinär über verschiedenste Fachdiszipli-
nen hinweg (Rogall, 2009; Schneidewind, 2009; Ekardt, 2011) – (a) um definitori-
sche Klarheit des Wortes ›Nachhaltigkeit‹; (b) um die deskriptive Bestandsanalyse,
wie nachhaltig Gesellschaften, gemessen daran, bisher sind und welche Entwicklun-
gen und Tendenzen sich insoweit bisher beschreiben lassen; da dies nur sehr teilweise
sozialwissenschaftlich klärbar ist, ist vor allem hier der Ort der naturwissenschaftli-
chen Nachhaltigkeitsforschung; (c) um die ebenfalls deskriptive Frage, welche äuße-
ren Hemmnisse und Motivationslagen für die Transformation hin zur Nachhaltig-
keit oder ihr Scheitern wesentlich und ursächlich sind und welche Aussagen sich zur
menschlichen Lernfähigkeit treffen lassen, wobei auch dies bei biologischen Fakto-
ren manchmal naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse involviert; (d) um die
normative Frage, warum Nachhaltigkeit erstrebenswert sein sollte und was, daraus
folgend, ihr genauer Inhalt ist; (e) darum, wie viel Nachhaltigkeit normativ in Abwä-
gung mit anderen kollidierenden Belangen wie »kurzfristiges Wirtschaftswachstum«
geboten ist, einschließlich der Frage, welche Institutionen dies zu klären haben und
welche Entscheidungsspielräume dabei bestehen; (f ) um die Mittel respektive Gover-
nance- oder Steuerungsinstrumente, die das auf den Ebenen d und e ermittelte Ziel
effektiv umsetzen können, einschließlich »Bottom-up«-Maßnahmen wie Lernprozes-
sen, mehr Nachhaltigkeitspädagogik, mehr unternehmerischer Selbstregulierung und
der Frage nach den Hindernissen, nach möglichen Akteuren, Strategien usw.; von
nicht sozialwissenschaftlicher Seite her tritt an jener Stelle die Frage hinzu, welche tech-
nischen Möglichkeiten bestehen (auf deren Einsatz gegebenenfalls per Governance
hingewirkt werden könnte).
Nachhaltigkeitsinhalte – und Indikatoren?
Inhaltlich ist Nachhaltigkeit ein normatives Ziel. Zum näheren Gehalt heißt es häu-
fig, Nachhaltigkeit bedeute etwa, dass erneuerbare Ressourcen nur unter Beachtung
der Nachwachsrate genutzt, nicht erneuerbare Rohstoffe sparsam verwendet, die Assi-
milationsgrenzen des Naturhaushalts beachtet und Schädigungen des Klimas sowie
der Ozonschicht vermieden werden sollen. Relevant wäre beispielsweise auch im Sinne
physischer Sicherung eine elementare Existenzsicherung weltweit (global) für alle ein-
schließlich elementarer Alterssicherung, Bildung, Zugang zu sauberem Trinkwasser
und medizinischer Behandlung sowie Abwesenheit von Krieg und Bürgerkrieg. Nähe-
res ist letztlich von der genauen normativen Nachhaltigkeitsbegründung abhängig.
Nachhal t igke i t – quo v adis?
26
Das gilt auch für die umstrittene Frage, inwieweit Naturgüter gegen ökonomische
Güter aufgerechnet werden dürfen (»starke versus schwache Nachhaltigkeit«; siehe
auch Ott & Döring, 2008; Rogall, 2009; Vogt, 2009).
Umstritten ist, ob Nachhaltigkeit sinnvollerweise auf einzelne numerische Indika-
toren eingedampft werden kann. Staaten und Unternehmen streben immer wieder
nach solchen Indikatoren (näher Grunwald & Kopfmüller, 2012, und teilweise Vogt,
2009) und einer Messbarkeit von Nachhaltigkeit, um Nachhaltigkeit in vereinfachter
Form durch einige aus der Vielzahl relevanter Faktoren ausgewählte, gut quantifizier-
bare Gesichtspunkte (sogenannte Nachhaltigkeitsindikatoren) sichtbar zu machen –
etwa CO2-Emissionen, Flächenverbrauch, Energieverbrauch pro Kopf, Anteil erneu-
erbarer Energien am Stromaufkommen oder die Gewässergüte bestimmter großer
Flüsse. Eine echte Messbarkeit wird gegebenenfalls noch dahingehend erstrebt, dass
all diese Dinge untereinander verrechnet werden sollen (kritisch Ekardt, 2011; zum
Teil auch Rogall, 2009). So sollen gewisse Entwicklungstendenzen und (reale oder
vermeintliche) Erfolge visualisiert und für ein breiteres Publikum verständlich ge-
macht werden. Hinterfragungswürdig ist daran bereits, dass (1) häufig vielleicht pro-
blematische, entweder nicht zur Nachhaltigkeit gehörende oder, da der verbreiteten
Wachstumsorientierung (siehe unten) verhaftet bleibend, sogar kontraproduktive Indi-
katoren gewählt werden. Denn die dauerhafte und globale Lebbarkeit von Wirtschafts-
und Lebensformen wird eben gerade nicht abgebildet, wenn sich ein Unternehmen
zum Beispiel vornimmt, in Zukunft 5-Liter- statt 8-Liter-Autos zu produzieren. Pro-
blematisch ist (2) an Indikatoren- und Messansätzen ferner, dass scheinpräzise ein-
zelne Faktoren eine Exaktheit suggerieren können, die so gar nicht gegeben ist, unge-
achtet aller politischen und medialen Attraktivität. Insbesondere jedoch erweisen sich
Indikatorensysteme als untauglich, sofern sie (3) normativ die (ethisch oder rechtlich)
»richtige« Nachhaltigkeit Sein-Sollen-fehlschlüssig naturwissenschaftlich oder ökono-
misch ableiten (dazu sogleich).
Normative Begründung von Nachhaltigkeit
Wenn der Inhalt von Nachhaltigkeit von der normativen Begründung abhängt, gerät
Letztere in den Blick. Nachhaltigkeit meint zunächst ein Politikziel, da es um die
Lösung gesellschaftlicher Probleme geht, und scheint damit im Belieben der jeweils
politisch Handelnden zu stehen; das wirft die Frage auf, ob die Politik zur Nach-
haltigkeit verpflichtet ist. Aus Naturbeobachtungen – etwa zum Klimawandel, zur
Endlichkeit von Ressourcen usw. – lässt sich eine solche normative Begründung nicht
geben. Denn aus einer empirischen Beobachtung als solcher folgt nicht logisch, dass
diese Beobachtung normativ zu begrüßen oder zu kritisieren ist. Aus gleichen Grün-
T h e o r i e d e r N a c h h a l t i g k e i t
27
den überzeugend ist auch jedwede Art von Vorstellungen, die von einer empirischen
Anthropologie logisch normative Schlussfolgerungen ableiten. Problematisch wäre
auch der Versuch, Nachhaltigkeit (oder etwas anderes) durch eine ökonomische Kos-
ten-Nutzen-Analyse (KNA) zu bestimmen, also durch eine quantifizierende Saldie-
rung von Vor- und Nachteilen eines bestimmten Umgangs mit Nachhaltigkeit, ge-
messen an den rein faktischen Präferenzen von Menschen. Denn eine KNA führt,
neben anderen Problemen zum Beispiel bei der Quantifizierung, auf die nonkogni-
tivistische Grundlage einer empiristischen Ethik zurück, die Normativität in ihren
letzten Grundlagen per se für subjektiv, unwissenschaftlich oder axiomatisch gesetzt
hält. Jene strikt nonkognitivistische Basis dürfte jedoch – ungeachtet aller im Bereich
des Normativen vielleicht bestehenden Spielräume – aufgrund performativer Wider-
sprüche nicht zu halten sein.
Auch der gängige ethische Diskurs um eine Begründung von Nachhaltigkeit (zu-
sammengestellt etwa bei Unnerstall, 1999) weist jedoch Probleme auf. Erstens können
gegen die meisten ethischen Ansätze an der Grundlage Einwände erhoben werden
(zum Beispiel Sein-Sollen-Fehler, axiomatische Setzungen, Zirkelschlüsse usw.). Zwei-
tens hat jedwede Ethik, die die Politik zu etwas verpflichten will, das Problem, dass
das Verfassungsrecht der jeweiligen politischen Grundeinheit den Anspruch erhebt,
abschließend zu bestimmen, was Politik tun darf und gegebenenfalls tun muss, wo also
ihre Verpflichtungen und wo ihre Spielräume liegen. Recht ist dabei Ethik (verstan-
den als die Wissenschaft von den normativ richtigen gesellschaftlichen Zuständen) in
konkretisierter und sanktionsbewehrter Form. Ethik kann natürlich die Grundprin-
zipien des Rechts gegebenenfalls universal begründen oder auch als normativ ungül-
tig erweisen – was das Recht selbst nicht kann (hierzu und zum Folgenden Alexy,
1991, 1995; Ekardt, 2011; Habermas, 1992; eingeschränkt Rawls, 1971). Jenseits dessen
kann sie jedoch nicht einfach eine konkurrierende Normativität aufbauen.
Praktisch gelingt eine ethische Begründung – und damit auch Inhaltsbestimmung
von Nachhaltigkeit – deshalb primär dann, wenn man eine Verpflichtung zur Nach-
haltigkeit und eine Konturierung diesbezüglicher Spielräume anhand von Grund-
prinzipien liberal-demokratischer Verfassungen ermittelt.
Grundlagen einer Nachhaltigkeits-Menschenrechtstheorie –
rechtlich und ethisch
Hält man die Grundprinzipien der liberalen Demokratie für ethisch (gegebenenfalls
auch universal) begründbar, ergeben sich eine menschenrechtliche juristische und pa-
rallel ethische Grundlage und Inhaltsbestimmung für Nachhaltigkeit. Menschenrechte
sind Rechte von Individuen auf Freiheit und Freiheitsvoraussetzungen. Sie stehen,
Nachhal t igke i t – quo v adis?
28
gemeinsam mit den organisationsrechtlichen Regelungen der jeweiligen öffentlichen
Gewalt (Staat, Staatenbund, völkerrechtliches Vertragssystem) sowie sonstigen inhalt-
lichen Verpflichtungen jener öffentlichen Gewalt (zum Beispiel auf Sozialstaatlich-
keit), auf einer höherrangigen Ebene gegenüber sonstigen allgemeinverbindlichen
Regelungen (Gesetzen; zum gesamten Kapitel Ekardt, 2011; teilweise auch OHCHR,
2009; stärker traditionell ausgerichtet Alexy, 1986). Jene Prinzipien führen auch zu
Abwägungsregeln, die den Rahmen für Verpflichtungen und Spielräume zum Beispiel
auf Nachhaltigkeit umreißen, wobei liberale Verfassungen eine Aussparung von Fra-
gen des guten Lebens vornehmen (breit rezipierte Ansätze – u. a. ohne Abwägungs-
theorie – bei Habermas, 1992; Rawls, 1971; konkretisiert und modifiziert bei Ekardt,
2011).
Die beiden – in kantianischer Tradition aus der normativen Vernunft ableitbaren –
»liberalen Grundprinzipien« Menschenwürde (verstanden als der gebotene Respekt
vor der Autonomie des Individuums, also als Selbstbestimmungsprinzip) und die
Unparteilichkeit (verstanden als die gebotene Unabhängigkeit von Sonderperspekti-
ven) sind – nach umstrittener Ansicht (siehe Böckenförde, 2003, einerseits und Ekardt,
2011 andererseits) – keine Grundrechte, und sie sind auch nicht darauf angelegt,
überhaupt für einen konkreten ethischen oder rechtlichen Einzelfall etwas zu besa-
gen; sie sind vielmehr der normative Grund der Menschenrechte, also der konkreten
Freiheits- und Freiheitsvoraussetzungsrechte. Zur Ermittlung konkreter normativer
Kriterien für Nachhaltigkeit ist (rechtlich respektive parallel ethisch) darauf aufbau-
end eine partielle Neuinterpretation der Menschenrechte im Sinne einer Überwin-
dung eines primär wirtschaftlich ausgerichteten Freiheitsverständnisses, aber umge-
kehrt auch eine Vermeidung der drohenden Freiheitsabschaffung zum Beispiel durch
eine Ökodiktatur (doppelte Freiheitsgefährdung) nötig. Die diesbezüglich gewinnba-
ren Aussagen sind, ethisch gesprochen, Aussagen zur Gerechtigkeit und Aussagen zur
sozialen Ebene. Individualethische Verpflichtungen, die über die Verpflichtung zur
Herbeiführung einer gerechten – einschließlich nachhaltigen – Gesellschaftsordnung
hinausgehen, sind schon mangels hinreichender Konkretisierbarkeit und nicht erst
aufgrund von Durchsetzbarkeitsschwächen nur schwer vorstellbar. Menschenrechte
vermitteln sich unter anderem genau deshalb stets über die öffentliche Gewalt – auch
wenn ihr Ursprung im interpersonalen Verhältnis zwischen den Individuen begrün-
det liegt.
Ethisch und (auch über die partielle wortwörtliche Normierung hinaus) rechtsinter-
pretativ ergibt sich – als normativer Kern von Nachhaltigkeit – aus dem Freiheits-
begriff der Menschenrechte ein Recht auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen
wie Leben, Gesundheit, Existenzminimum in Gestalt von Nahrung, Wasser, Sicher-
heit, Klimastabilität, elementare Bildung, Abwesenheit von Krieg und Bürgerkrieg
und Ähnliches. Dieses ergibt sich im Kern daraus, dass – über die liberale Tradition