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21 Magazin für internationalen Sozialismus Nr. 16 | Sommer 2010 Spende 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de Feature Südafrika: Weltmeister und Wellblech Nelson Mandela und der ANC: Die reiche Geschichte des Widerstands WM-Feier: Ein »unverkrampfter« Nationalismus? Analyse: Wie der Kapitalismus dem Sport die Seele raubt marx UNSERE JUNGS? Michael Hartmann kritisiert die Auslese im Bildungssystem Alex Demirović über Intellektuelle und den Klassenkampf Janine Wissler zieht eine Bilanz der Politik von Roland Koch Die WM, Nationalismus und die Linke Public Enemy Kampfansage in Arizona Stieg Larsson Jenseits von Bullerbü Linkspartei Was die anderen schreiben Eurokrise Was steckt wirklich dahinter?

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Magazin für Internationalen Sozialismus

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21Magazin für internationalen Sozialismus

Nr. 16 | Sommer 2010 Spende 3,50 € | ISSN 1865-2557www.marx21.de

Feature Südafrika: Weltmeister und Wellblech Nelson Mandela und der ANC: Die reiche Geschichte des Widerstands WM-Feier: Ein »unverkrampfter« Nationalismus? Analyse: Wie der Kapitalismus dem Sport die Seele raubt

marx

UNSERE JUNGS?

Michael Hartmannkritisiert die Auslese im Bildungssystem

Alex Demirovićüber Intellektuelle

und den Klassenkampf

Janine Wisslerzieht eine Bilanz der

Politik von Roland Koch

Die WM, Nationalismus und die Linke

Public Enemy Kampfansage in Arizona

Stieg Larsson Jenseits von Bullerbü

Linkspartei Was die anderen schreiben

Eurokrise Was steckt wirklich dahinter?

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Nils Böhlke erklärt, warum er Fußball liebt, aber sich keinesfalls Schwarz-Rot-Gold

auf die Wange malt

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Ich bin Fußballfan seit ich denken kann. Das erste Mal war ich im Alter von sie-ben Jahren im Stadion. Ich habe mich heiser geschrieen für den FC St. Pau-li und mit den anderen Fans den Auf-stieg gefeiert. Während der Weltmei-sterschaft werde ich mir so viele Spiele wie möglich anschauen. Aber eins werde ich ganz sicher nicht tun: Mir Schwarz-Rot-Gold auf die Wange ma-

len, eine Fahne schwenken und dabei »Deutsch-land, Deutschland« grölen. Die Bild wird mich und andere, die ähnlich den-ken, als »Spaßbremse« und »Miesmacher« bepö-beln. Egal. Denn ich bin Überzeugungstäter: Ich bin überzeugt davon, dass der absehbare schwarz-rot-goldene Taumel im besten Falle eine Ablenkung ist, die unseren Herrschern gut in den Kram passt – und

im schlechtesten Falle Kräfte der radikalen Rech-ten stärkt. Über »schwarz-rot-geil« (Bild) freuen sich die falschen Leute. So jubelte zum Beispiel die no-torisch rechte CDU Hessen nach der WM 2006: »Die Fußballweltmeisterschaft in unserem Land hat den Umgang mit nationalen Symbolen wieder selbstver-ständlicher gemacht. Die Diktatur der Nationalsozi-alisten und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatten das deutsche Nationalgefühl stark beschä-digt. In den Jahrzehnten nach 1945 hatten wir Deut-sche große Probleme, zu einem normalen Patrio-tismus zurückzufinden. Das scheint nun gelungen zu sein.« Gerhard Haslinger, Bezirkspolitiker der rechtsextremen FPÖ in Österreich, freute sich da-mals: »Eine herrliche Zeit! Man darf ungestraft zei-gen, dass man auf seine Nation stolz ist und man darf öffentlich sein Land lieben. (…) Die gepredigte Vielfalt weicht der Nation, das Miteinander zerfällt

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Für Sparkom-missar Schäuble ist die WM ein Geschenk des Himmels

zu Gegnern.« Auch Jürgen Gansel, Ideologe der NPD, freute sich über die Deutschlandfahnen: »Die Herrschenden in Politik und Kultur müssen feststel-len, dass über 60 Jahre nach Kriegsende nationale Gemeinschaftssehnsüchte nicht länger unterdrückt und Nationalbewusstsein nicht mehr unter mora-lische Quarantäne gestellt werden kann.«Nun will nicht jeder, der bei der WM einen Deutsch-landwimpel schwenkt, die Wiederherstellung des Dritten Reichs in den Grenzen von 1936. Man kann sogar recht sicher davon ausgehen, dass das nur auf einen minimalen Teil der Deutschlandfans zutrifft. Tatsache ist jedoch: Die schwarz-rot-goldene Woge schafft eine Atmosphäre, in der sich die Rechte pu-delwohl fühlt. Richtig hässlich wird es, wenn sich Patriotismus noch mit Spekulationen über einen feststehenden Nationalcharakter oder obskuren biologischen Annahmen paart. Vor der WM 2006 meinte Luis Fernando Suárez, Trainer des ecuado-rianischen Teams, in einem Interview über die deut-sche Mannschaft: »Die Deutschen spielen wie große Panzer, die alles, was sich ihnen in den Weg stellt, überrollen. Sie spielen realistisch, effizient. Sie sind Zerstörer, wie im Krieg.« Ähnlich äußerte sich Franz Beckenbauer, der wusste: »Wir Deutschen haben et-was im Blut, um das uns die ganze Welt beneidet. Wir geben nie auf.« Der ehemalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder variiert das völkische Mo-tiv soziobiologisch, wenn er pseudowissenschaftlich analysiert: »Der südamerikanische und afrikanische Fußball haben genetisch andere Voraussetzungen.« Die Spielweise, durch gezielte Zerstörung der Offen-sivbemühungen der gegnerischen Mannschaft das Spiel zu gewinnen, wird oft als »deutsche Tugend« bezeichnet.Die Annahme, dass sich in einer Nationalmann-schaft und ihrer Spielweise ein Nationalcharak-ter manifestiert, ist absurd. Denn so etwas wie »das Deutsche« gibt es nicht. Nationalismus – und damit auch die Annahme einer feststehenden »deutschen Nation« – ist das Produkt frühkapitalistischer Gesell-schaften. Der Begriff in seiner heutigen Bedeutung ist erst im späten 18. Jahrhundert entstanden, wie der Historiker Benedict Anderson in seinem Buch »Die Erfindung der Nation« aufgezeigt hat. Das, was wir heute als Deutschland kennen, war noch im frü-hen 19. Jahrhundert ein Mosaik verschiedener Kö-nigreiche und Fürstentümer. Lange Zeit gab es keine einheitliche deutsche Sprache. Ein Bewohner Ba-dens hätte sich nicht einmal mit einem Einwohner Mecklenburgs unterhalten können. Nachdem die Nationalstaaten entstanden waren und mit ihnen der Nationalismus, wurden im Nach-gang eine Nationalgeschichte und ein Nationalcha-rakter konstruiert, die nach Möglichkeit tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichten. So wurde beispielsweise im 19. Jahrhundert der Germa-nenfürst Arminius, der 9 nach Christus die Römer

in der Varusschlacht besiegt hatte, zu »Hermann«, dem Gründungsvater der Deutschen umgewidmet. Das soll der eigenen Nation historische Tiefe geben, ist aber ein unhistorisches Konstrukt.

Bislang ist jeder Versuch der Konservativen, in »Leitkulturdebatten« festzulegen, was deutsch ist, im Sande verlaufen. Die Leitkulturvertreter schei-terten schon daran, dass seit Jahren Pasta und Pizza die unangefochtenen Lieblingsessen der Deutschen sind, und nicht der Sauerbraten. Gesellschaften sind permanent im Fluss und im Wandel, Auffassungen ändern sich, erfolgreiche Bewegungen setzen oftmals auch einen Wandel in den Mentalitäten durch. Debatten wie die über die »deutschen Tugenden« der Nationalmannschaft und die Leitkultur verfolgen nur einen Zweck: eine Einteilung in »wir« und die »anderen«, in Deutsche und Nichtdeutsche.Da hilft es auch wenig, dass mit Mesut Özil, Andreas Beck, Lukas Podolski, Miroslav Klose, Mario Gomez, Denis Aogo, Jerome Boateng, Serdar Tasci, Sami Khedira, Marco Marin, Piotr Trochowski und Cacau knapp die Hälfte der Nationalspieler einen Migra-tionshintergrund hat – im Gegenteil. Ihnen werden dann von der Boulevardpresse besonders »deutsche Tugenden« angedichtet: »Er singt die Nationalhym-ne lauthals mit, sein Spitzname ist ›Helmut‹. Die Rede ist von unserer WM-Hoffnung Cacau. Gebür-tiger Brasilianer, der deutsch spricht, deutsch spielt und deutsch tickt. Cacau grinst: ›Ich war nie ein ty-pischer Brasilianer. Ich kam nie 60 Minuten zu spät, sondern nur 20 Minuten. Meine ganze Mentalität ist deutsch‹«, berichtet die Bild. Was sie damit eigent-lich sagen will: Der gemeine Brasilianer ist unpünkt-lich. Wie schnell aus solchen Klischees bösartige An-schuldigungen werden können, dürfen wir derzeit bei der Welle nationalistischer Hetze gegen die Grie-chen beobachten.

Warum das alles? Weil den Konservativen »das ge-brochene Verhältnis der Deutschen zur Nation« ein Dorn im Auge ist. Das hat einen Grund: Die deut-sche Gesellschaft ist tief gespalten. Die oberen fünf Prozent der Bevölkerung verfügen über 46 Prozent des Vermögens und die oberen zehn Prozent so-gar über zwei Drittel. Allein das oberste Prozent be-sitzt über 23 Prozent des Reichtums in Deutschland. Gleichzeitig haben zwei Drittel der Bevölkerung na-hezu kein eigenes Vermögen. Als Folge des Sozial-abbaus der letzten Jahre öffnet sich die Schere im-mer weiter und immer schneller. Die konservative Antwort darauf: Das große deut-sche »Wir« beschwören, um die soziale Spaltung zu verkleistern. Der Spiegel brachte es im Jahr 2006 auf den Punkt: »Es ist tatsächlich eine Stimmung der Einheit, die Deutschland erfasst hat. (…) Für die Dauer eines Turniers interessieren sich Hartz-IV-

WM in Südafrika

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Empfänger, Investmentbanker und Intellektuelle für dasselbe, im Jubel sind die Grenzen sozialer Her-kunft verwischt.« Die Süddeutsche Zeitung (SZ) zeigte in einer Re-portage anschaulich, wie selbst Menschen, deren soziale Existenz völlig zerstört ist, das Nationalge-fühl annehmen. Unter einer Brücke in München machte das Blatt obdachlose Fußballfans ausfindig: »›Wir haben oft genug vom Staat auf den Sack be-kommen‹, sagt Indie, ›aber wir stehen trotzdem für Deutschland, weil wir hier geboren sind, weil das unser Vaterland ist.‹ Sein Feuerzeug hat die Farben Schwarz-Rot-Gold.« Die SZ wollte mit diesem Arti-kel die allumfassende Begeisterung dokumentieren. Doch eigentlich ist diese Geschichte sehr traurig. Indie bräuchte ein Dach über dem Kopf, eine Ge-sellschaft, die sich um ihre Schwächsten kümmert. Stattdessen bekommt er Schwarz-Rot-Gold. Und das kann man bekanntlich nicht essen.

Politik und Wirtschaft setzen ganz bewusst auf den »Patriotismuseffekt«. Im Vorfeld der WM 2006 lie-ßen es sich 25 Konzerne 30 Millionen Euro kosten, um uns von Plakatwänden, aus Zeitungen und im Fernsehen immer wieder dieselbe Botschaft zu pre-digen: Du bist Deutschland!In ihrem Manifest appellieren die Initiatoren: »Be-handle dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an.« Auch der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder und die CDU unterstützten die Kampagne. Spiegel-Autor Matthias Matussek argu-mentierte ähnlich: »Umfragen zeigen ja, dass die Deutschen im Prinzip zu schmerzhaften Einschnit-ten bereit sind. Wenn es dann allerdings um die kon-kreten Maßnahmen geht, dann antworten die jewei-ligen dann betroffenen Gruppen wiederum anders. Aber ich glaube, dass es ein Nationenzusammenge-hörigkeitsgefühl braucht, um gerade durch schwie-rige Zeiten zu kommen und zu sagen: Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir. Und da ist Patriotismus natürlich sehr tauglich.«Diese Rolle hat Nationalismus seit jeher gespielt: eine zwischen Arm und Reich, zwischen Klassen ge-spaltene Gesellschaft unter dem Banner von »Volk« oder »Nation« zu vereinen, um dann für die Nation Opfer abzufordern. Anschaulich schildert das Hen-rik Müller, stellvertretender Redakteur des Mana-ger-Magazins in seinem im Jahr 2006 erschienenen Buch »Wirtschaftsfaktor Patriotismus – Vaterlands-liebe in Zeiten der Globalisierung«. Er klagt: »Statt sich auf den ökonomischen Wettbewerb einzustel-len und mitzuspielen, verlangen viele in Deutsch-land nach internationalen Lösungen: zum Beispiel nach einer Harmonisierung der Steuer- und Sozial-systeme innerhalb der EU, mit dem Ziel, den Stand-ortwettbewerb zu begrenzen. Es liegt auf der Hand, welche Reformen in Deutschland anstehen: ein

Nils Böhlke ist Politikwissenschaftler, Doktorand und Fußball-fan. Er ist Mitglied im SprecherInnenrat der AG betrieb & gewerkschaft der nordrhein-westfäli-schen LINKEN.

WM in Südafrika

grundlegender Umbau der Sozialsysteme, die wei-tere Öffnung des Arbeitsmarkts und der Märkte für Dienstleistungen.«Neidisch blickt der Journalist auf die erfolgreiche Konkurrenz: »Andere Länder haben es vorgemacht – in den 1980er Jahren die Niederlande, Großbri-tannien, die USA, Neuseeland, in den 1990er Jahren Schweden, Finnland, Dänemark; erst recht die vor-mals sozialistischen osteuropäischen Staaten. Sie alle haben sich in kollektiven Kraftakten auf die neu-en Realitäten eingestellt, haben grundlegende Re-formen durchgesetzt.«Müller wirbt deshalb für die entsprechende Ideolo-gie, um diesen »kollektiven Kraftakt« auch im Inte-resse der deutschen Konzerne durchzusetzen: »Das Bindemittel des Patriotismus – das Zugehörigkeits-gefühl zu dem und die Opferbereitschaft für das nationale Kollektiv – wird offenkundig benötigt als emotionaler Gegenpol zu einer ökonomischen Glo-balisierung.«Auch Bild rüstet für den globalen Standortwettbe-werb. In einem Kommentar anlässlich der für deut-sche Athleten äußerst erfolgreichen Olympischen Winterspiele in Turin heißt es: »Deutschland, die klare Nummer 1 weltweit. (…) wir sehen, was wir er-reichen können, wenn wir uns auf unsere Tugenden und Stärken besinnen. Tatkraft. Fleiß. Ehrgeiz. Teamgeist. Der Wille, anzupacken und nie aufzuge-ben. Das alles steckt in jedem von uns. (…) Jawohl, wir können’s noch!«

sie reden vom Weltmeistertitel und meinen den Ex-portweltmeister – eine Position, die errungen wurde auf dem Rücken von immer schärfer ausgebeuteten Beschäftigten. Dieses Spiel sollten Linke nicht mit-machen und auch während der WM über die wirk-lichen Probleme im Land reden. Und das ist nicht ein mögliches Ausscheiden in der Vorrunde, son-dern Dinge wie zum Beispiel Schäubles Sparpro-gramm.Die Bundesregierung wird den Windschatten der medialen Konzentration auf die WM zu nutzen wis-sen. Während wir auf den Ball gucken und die Arme zum Jubel heben, wird hinter unserem Rücken der Sozialstaat demontiert. Bereits im Umfeld der WM 2006 wurden Verschärfungen bei Hartz IV verab-schiedet. Für Sparkommissar Schäuble ist auch die-se WM ein Geschenk des Himmels, um seine Grau-samkeiten mit einer schwarz-rot-goldenen Schleife zu versehen. Politiker, Manager und Medien werben für den angeblich »unverkrampften« Patriotismus, weil sie hoffen, hinter der Fassade des neuen »Wir-Gefühls« Politik gegen alle Menschen in Deutsch-land machen zu können – egal, ob sie Deutsche, Tür-ken, Italiener oder Serben sind. Jedoch sollten weder Deutsche noch Ausländer der Regierung dabei hel-fen, indem sie das Bild ihrer Städte mit schwarz-rot-goldenen Fahnen prägen.