Mathematik als Werkzeug zur Wissensrepräsentation

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Johann Sjuts

Mathematik als Werkzeug zur Wissensreprasentation Theoretische Einordnung, konzeptionelie Abgrenzung und interpretative Auswertung eines kognitions- und konstruktivismustheoriegeleiteten Mathematikunterrichts

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften des Fachbereichs MathematikiInformatik der Universitat Osnabriick

Berichterstatter: Prof. Dr. Elmar Cohors-Fresenborg, Universitat Osnabriick Prof. Dr. Lisa Hefendehl-Hebeker, Universitat Augsburg

Tag der miindJichen Priifung: 1. Juli 1999

Von 1987 bis 1992 und von 1993 bis 1995 fanden im Mathematikunterricht einiger nie­dersachsischer Schulen unter den Titeln "Integration algorithmischer und axiomatischer Denkweisen in den gymnasialen Unterricht der Klassen 7 und 8 als Beitrag zur informa­tions- und kommunikationstechnologischen Bildung" und "Mathematik als Sprache zur prazisen Darstellung von Wissen" zwei Schulversuche statt, die in der Verlaufs- und Folgezeit die Grundlage einer Neuorientierung des gymnasialen Mathematikunterrichts der Schuljahrgange 7 bis 10 Iieferten.

Die Dissertation beinhaltet in ihren drei Teilen theoretische Einordnung, konzeptionelle Abgrenzung und interpretative Auswertung des neuorientierten Mathematikunterrichts. Die Arbeit liefert Anhaltspunkte dafur, daB der beschriebene Ansatz einen wesentlichen Beitrag leisten kann zum Verstandnis der Frage, wie sich die Qualitat des Mathematik­Ie mens in der Breite verbessem laBt. Zu fordem ist dann ein Mathematikunterricht, bei dem die Lehr- und Lem- sowie die Denk- und Verstehensprozesse in den Mittelpunkt von Planung und Gestaltung riicken. In Kurzform laBt sich die Anderung durch ein neues Grundverstandnis des Mathematikunterrichts kennzeichnen, durch die Position namlich, Mathematik als Werkzeug zur Wissensreprasentation aufzufassen.

Der erste Teil enthalt jene Ergebnisse aus den Kognitions- und Konstruktivismus­theorien, die fur den in Rede stehenden Mathematikunterricht leitend und fur das Ver­standnis erforderlich sind. So manches ist nicht spezifisch fur das Fach Mathematik; dies mag als Indiz gelten, daB die Auffassung von Lehren und Lemen, von Unterricht und Schule im Wandel begriffen ist. Bildungs- und wissenstheoretische Uberlegungen ergan­zen die Argumentation hinsichtlich Stellung, Bedeutung und Zielsetzung des Schulfachs Mathematik in neuer Sichtweise.

Der zweite Teil befaBt sich mit der didaktischen Konzeption des aus den Schulversuchen resultierenden Mathematikunterrichts. Basis ist eine Folge von Schiilertextbiichem und Lehrerhandbiichem fur den Mathematikunterricht in den Jahrgangen 7 bis 10. Grund­legend sind zwei Modellwelten: die Computerwelt "Registermaschine" und die Ver-

(JMD 21 (2000) H. 1, S. 72-74)

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tragswerkewelt "Wtistensandsatze". Die Computerwelt mit Registermaschinen etabliert Modellvorstellungen zur algorithmischen Auffassung von Mathematik einschlieBlich eines konstruktiven Autbaus des Funktionsbegriffs. Die Fortsetzung erfolgt durch die "Einfuhrung in die mathematische Modellbildung mit Funktionen". Die "Satze aus dem Wtistensand und ihre Interpretationen" fundieren Modellvorstellungen zur axiomati­schen Auffassung von Mathematik. Auf die algorithmischen und axiomatischen Modell­vorstellungen rekurrieren die "Vertragswerke tiber den Umgang mit Zahlen" zur Term­und Gleichungsalgebra und das Vertragswerk zum "Rechnen mit dem Ungewissen" in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Gegenstand der Unterrichtsreihe "Vom logischen Denken zum logischen Rechnen" ist die Formalisierung von Wissen. Den AbschluB des den Sprach- und Werkzeugcharakter betonenden Mathematikunterrichts bilden die Bti­cher fur die Klassen 9 und to.

In den dargestellten Unterrichtseinheiten kommen wesentliche mathematische Denkwei­sen zum Tragen. Zu nennen sind der wissenschaftstheoretische Wesenszug der Axioma­tik, der der modern en Mathematik ihren Charakter verliehen hat, ohne indes von der Schulmathematik in entsprechender Weise aufgenommen worden zu sein, und fachtypi­sche Fragen zur Ontologie. Des weiteren sind zu erwahnen Modellbildung und Mathe­matisierung, die algorithmische Auffassung von Mathematik, die Sichtweise von Ma­thematik als Sprache zur Wissensreprasentation und die Bereiche Logik, Syntax und Semantik, Notation und Nomenklatur.

Die veranderte Schwerpunktsetzung verlangt tiberdies, zentrale mathematische Werk­zeuge mental zu verankern. Zu ihnen geh6ren Begriffsbildung, Definieren, Axiomatisie­ren, Abstrahieren, Beweisen, Prazisieren, Formalisieren und Programmieren. Die Hand­habung kognitiver mathematischer Werkzeuge ist jedoch nicht zu verwechseln mit in­haltsungebundenen Fahigkeiten im Sinne formaler Bildung. Kognitive Werkzeuge ent­wickeln sich in modellhaften Lernsituationen; sie bedtirfen der permanenten Pflege.

Die Methode der Auswertung im dritten Teil ist die der qualitativen Unterrichtsfor­schung. Das bedeutet, die empirische Erfassung ist exemplarisch, die Evaluation nicht statistisch-quantitativ, sondern fallstudien-interpretativ. Auf diese Weise wird der Nach­weis versucht, daB der sich konzeptionell abgrenzende Mathematikunterricht auch im Vollzug einen Wandel zeitigt.

Das veranderte Mathematiklemen laBt sich besonders gut dokumentieren durch die Art der Aufgaben und dUTch die praktizierte Metakognition. Ein erweiterter Realitatsbezug wird durch Aufgaben von hoher Authentizitat und durch die Hereinnahme von mehrstel­ligen Funktionen erreicht. Ein anderer Wandel der Aufgabenstellungen betrifft den be­wuBt und gezielt zu betreibenden Umgang mit Wissen. Es liegen erprobte Aufgaben zur Wissensexploration, -organisation und -reflexion vor. Sie zeichnen sich durch ein be­stimmtes Design aus, indem sie zur Entfaltung von Ideen herausfordem, indem sie sich auf tatsachliche oder fiktive Schiilervorstellungen und Schiilerdialoge beziehen, indem sie zur Fehleranalyse, zur Stellungnahme und zur Evaluation auffordem. Wiederkehren­des Merkmal ist es, Gedanken zu verschriftlichen. So existieren viele Aufgaben, die die individuell gebildeten mental en Modelle auf subtile Weise nach auBen zu kehren vermo­gen. Zahlreiche Schtilerlosungen und -auBerungen stehen als Beleg zur Verfugung.

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So erhalten Lehrende wie Lemende einen Einblick in kognitive Prozesse und eine Mog­lichkeit zur Korrektur. Angesprochen ist damit die lembegleitende Metakognition. Metakognition im Mathematikunterricht widmet sich der Metamathematik und der Metasprache, der Regulation und der Evaluation des eigenen Lemens. Das didaktische Konzept enthalt altersgemal3e Mikrowelten, Paradigmen und Aufgaben, die das Be­trachten und Erfassen des Zurechtlegens und des Zustandekommens mathematischer Theorien, Ideen, Begriffe und Modelle von einem hoheren Standpunkt aus errnoglichen.

Als Forschungsresultate sind vor allem die auf Wissensumgang gerichteten Aufgaben­stellungen und die das Lemen begleitende Metakognition, also Art und Weise der Ent­wicklung von Wissen und Metawissen, zu nennen. Die interpretative Unterrichtsfor­schung hat sich erweitert. Wurde oftmals Mathematikunterricht mit mikrosoziologischen Methoden untersucht, und zwar in erster Linie bezogen auf mehr oder minder zufallige, wenngleich wichtige Lemszenen, so kommt jetzt die interpretative, die hermeneutische Analyse sogenannter Schiilereigenproduktionen hinzu, und zwar solcher .Schiilereigenproduktionen, die innerhalb eines konzeptionell fundierten Unterrichts und durch eine bestimmte Aufforderung zur Aufgabenbearbeitung oder zur Metakognition erbracht werden. Die Analysebegrifflichkeit ist vorrangig die der Kognitionswissen­schaften; im Mittelpunkt steht der Reprasentationsbegriff.

Schliel3lich gehort zu den Resultaten, die Bedeutung mathematikdidaktischer Forschung und Entwicklung in einem Verstandnis von "design science" aufzuzeigen. Forschung und Entwicklung werden bei der Suche nach Moglichkeiten zur Qualitatsverbesserung oft vemachlassigt; dagegen zeigt der beschriebene Mathematikunterricht, wie gewinn­bringend die Wissenschaft fUr das praktische Tun sein kann.

Jiingeren Tendenzen zufolge mehren sich empirische Erhebungen zum Unterricht und zu Unterrichtsergebnissen. Solche Erhebungen ergeben zumeist deskriptive Befunde. Kon­sequenzen sind nicht in zwingender Weise ableitbar. Vonnoten ist eine Verkniipfung von Entwicklung und Evaluation in einem perrnanenten Prozel3. Die Studie bezieht sich auf einen solchen Prozel3; dabei ist hervorzuheben, dal3 Entwicklung und Forschung von einer fortwahrenden und intensiven Erprobung begleitet wurden. Der Unterricht stellte sich der Analyse und der Reflexion. Und die Auswertung hatte wiederum Folgen fUr Konzept und Unterricht; aus vielen Schiilerbeitragen und Lehrerrtickmeldungen ent­standen veranderte Vorgehensweisen mit Niederschlag in Aufgaben und Biichem.

Damit unterwirft sich die Studie auch dem Anspruch, die Bedeutung des fUr den Lehrbe­ruf und fUr die Mathematikdidaktik konstitutiven Theorie-Praxis-Verhaltnisses am Bei­spiel eines neuorientierten Mathematikunterrichts aufzuzeigen.

Die Arbeit ist unter obigem Titel erschienen in der Schriftenreihe des Forschungs­instituts fUr Mathematikdidaktik (Heft Nr. 35, ISBN 3-925386-42-4), Postfach 1847, 49008 Osnabrock, und auch dort zu beziehen.

StD Dr. Johann Sjuts Studienseminar Leer fUr das Lehramt an Gymnasien Evenburg - Am Schlol3park 25, 26789 Leer