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Zum 5. März 1933 wurde die Bevölkerung in Deutschland erneut zur Wahl eines neuen Reichstags aufgerufen – nach den beiden Wahl- gängen zur Reichspräsidentenwahl im Frühjahr des Vorjahres, den Reichstagswahlen im Juli und November und der Aprilwahl für den preußischen Landtag zum sechsten Mal binnen Jahresfrist. Rechnet man die auf den 12. März 1933 terminierten Kommunal- und Provinziallandtagswahlen hinzu, so hatten die schleswig-holsteinischen Wähler in einem Zeitraum von zwölf Mo- naten sogar sieben mal die „Qual der Wahl“ . Im Gegensatz zu den vorhergehenden Wahlgängen gab es dieses Mal allerdings kaum Zweifel über das Ergebnis. Der Sieger konnte nur die NSDAP und der mit ihr verbündete deutschnationale Kampfbund „Schwarz- Weiß-Rot“ sein, der für die Durchsetzung des nationalsozialisti- schen Herrschaftsanspruches anfangs noch dringend benötigt wur- de. Die am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Paul von Hinden- burg mit den Regierungsgeschäften betrauten Nationalsozialisten hatten zudem entsprechende Vorkehrungen getroffen. Mit der „Machtübernahme“ hatten sie sich die Schlüsselpositionen im Staats-, Justiz- und Polizeiapparat gesichert. Die Gegner, vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, wurden ver- haftet und galten spätestens seit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 als vom politischen Tagesgeschäft ausge- schaltet. Bei den anschließenden Kommunalwahlen konnte die NSDAP in zahlreichen Gemeinden sogar die absolute Mehrheit er- zielen. Ohne nennenswerten Widerstand gelang es nahezu reibungs- los, Politik und Verwaltung zu instrumentalisieren. Landräte, Bür- germeister, Gemeinde- und Amtsvorsteher wurden entlassen, durch Parteileute ersetzt und die Mandate oppositioneller Parteien und Gruppierungen kassiert. Die vakanten Sitze übernahmen in der Re- gel Angehörige der „nationalen Bewegung“ , die sich als lokale oder regionale Führungsclique schon beim Aufstieg des Nationalsozialis- mus besonders bewährt hatten. Für den Kreis und die Stadt Schleswig werden im Folgenden erstmals die Lebens- und Karrierewege regionaler NS-Funktionsträ- ger nachgezeichnet. Als Kreis- oder Ortsgruppenleiter waren sie in ihrem Verantwortungsbereich etwa für die gesamte politische, kultu- relle und wirtschaftliche Gestaltung aller Lebensäußerungen nach nationalsozialistischen Grundsätzen verantwortlich. Andere begrün- deten durch ihre frühe Mitgliedschaft nach der Machtübertragung eine neue berufliche Existenz. In den seinerzeit gleichgeschalteten Medien wurden sie oft als „Alte Kämpfer“ bezeichnet und damit auf eine langjährige Parteimitgliedschaft und besondere Verdienste beim Aufbau der NSDAP hingewiesen. Einige sind der „Alten Garde der NSDAP“ zuzurechnen. Nach parteiinterner Definition zählten hier- zu ausschließlich jene „Parteigenossen, denen das Ehrenzeichen des Führers – das Parteiabzeichen mit goldenem Kranz – verliehen wur- Matthias Schartl: Eine Clique „Alter Kämpfer“ Aufstieg und Fall regionaler NSDAP-Eliten in Stadt und Landkreis Schleswig Matthias Schartl Eine Clique „Alter Kämpfer“ 161 Schleswig 06 Schartl 01.06.2008 16:44 Uhr Seite 161

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Zum 5. März 1933 wurde die Bevölkerung inDeutschland erneut zur Wahl eines neuenReichstags aufgerufen – nach den beiden Wahl-gängen zur Reichspräsidentenwahl im Frühjahrdes Vorjahres, den Reichstagswahlen im Juliund November und der Aprilwahl für denpreußischen Landtag zum sechsten Mal binnen

Jahresfrist. Rechnet man die auf den 12. März 1933 terminiertenKommunal- und Provinziallandtagswahlen hinzu, so hatten dieschleswig-holsteinischen Wähler in einem Zeitraum von zwölf Mo-naten sogar sieben mal die „Qual der Wahl“. Im Gegensatz zu denvorhergehenden Wahlgängen gab es dieses Mal allerdings kaumZweifel über das Ergebnis. Der Sieger konnte nur die NSDAP undder mit ihr verbündete deutschnationale Kampfbund „Schwarz-Weiß-Rot“ sein, der für die Durchsetzung des nationalsozialisti-schen Herrschaftsanspruches anfangs noch dringend benötigt wur-de.

Die am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Paul von Hinden-burg mit den Regierungsgeschäften betrauten Nationalsozialistenhatten zudem entsprechende Vorkehrungen getroffen. Mit der„Machtübernahme“ hatten sie sich die Schlüsselpositionen imStaats-, Justiz- und Polizeiapparat gesichert. Die Gegner, vor allemKommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, wurden ver-haftet und galten spätestens seit der Reichstagsbrandverordnungvom 28. Februar 1933 als vom politischen Tagesgeschäft ausge-schaltet. Bei den anschließenden Kommunalwahlen konnte dieNSDAP in zahlreichen Gemeinden sogar die absolute Mehrheit er-zielen. Ohne nennenswerten Widerstand gelang es nahezu reibungs-los, Politik und Verwaltung zu instrumentalisieren. Landräte, Bür-germeister, Gemeinde- und Amtsvorsteher wurden entlassen, durchParteileute ersetzt und die Mandate oppositioneller Parteien undGruppierungen kassiert. Die vakanten Sitze übernahmen in der Re-gel Angehörige der „nationalen Bewegung“, die sich als lokale oderregionale Führungsclique schon beim Aufstieg des Nationalsozialis-mus besonders bewährt hatten.

Für den Kreis und die Stadt Schleswig werden im Folgendenerstmals die Lebens- und Karrierewege regionaler NS-Funktionsträ-ger nachgezeichnet. Als Kreis- oder Ortsgruppenleiter waren sie inihrem Verantwortungsbereich etwa für die gesamte politische, kultu-relle und wirtschaftliche Gestaltung aller Lebensäußerungen nachnationalsozialistischen Grundsätzen verantwortlich. Andere begrün-deten durch ihre frühe Mitgliedschaft nach der Machtübertragungeine neue berufliche Existenz. In den seinerzeit gleichgeschaltetenMedien wurden sie oft als „Alte Kämpfer“ bezeichnet und damit aufeine langjährige Parteimitgliedschaft und besondere Verdienste beimAufbau der NSDAP hingewiesen. Einige sind der „Alten Garde derNSDAP“ zuzurechnen. Nach parteiinterner Definition zählten hier-zu ausschließlich jene „Parteigenossen, denen das Ehrenzeichen desFührers – das Parteiabzeichen mit goldenem Kranz – verliehen wur-

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„Alter Kämpfer“Aufstieg und Fall regionaler NSDAP-Eliten in Stadt und Landkreis Schleswig

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de“ und eine Mitgliedsnummer unter 100000 besaßen.1 „Alte Partei-genossen“ waren im Unterschied dazu diejenigen, die vor dem1. April 1933 durch die Reichsleitung in die NSDAP aufgenommenworden waren. Für den vorliegenden Beitrag wird der Terminus des„Alten Kämpfers“ bevorzugt, der gewissermaßen eine Zusammen-führung beider Begriffe bedeutet und dazu dient, die besondere Stel-lung dieser sich selbst als Elite verstehenden und alle Privilegien fürsich in Anspruch nehmenden Gruppe hervorzuheben.

Der Kreis Schleswig wurde deshalb ausgewählt, weil hier auf-grund einer fundierten Quellenlage vertiefende Aussagen über dieAusbreitung des Nationalsozialismus, die Art und Weise der Macht-übernahme und Ausschaltung der politischen Gegner sowie über dieKarrieresprünge der „Alten Kämpfer“ möglich sind. Den Abschlussder Betrachtungen bildet das Aufsehen erregende Strafverfahren ge-gen den Kreisdeputierten, stellvertretenden Schleswiger Landratund Angehörigen der „Alten Garde“ Otto Gestefeld im Sommer1934. Mit ihm geriet fast das gesamte regionale NSDAP-Netzwerkin die öffentliche Kritik, wie unter anderem der damalige Kreisleiter,spätere SA-Brigadeführer und Kieler Polizeipräsident JoachimMeyer-Quade. Gauleiter und Oberpräsident Hinrich Lohse war nichtnur damit beschäftigt, Schaden von der Partei abzuwehren, sondernversuchte sich zugleich als Hüter im Geflecht der für das NS-Systemso typischen personalistischen Herrschaftsbeziehungen schützendvor seine „alten Weggefährten“ zu stellen.2

Der Aufstieg der NSDAP in Stadt und im Landkreis Schleswig. In der frühenNSDAP-Hochburg Schleswig-Holstein hatten Nationalsozialisten inder Kreisstadt Schleswig erstmals im Oktober 1922 Aufmerksam-keit erregt.3 Bis zu dem durch den „Hitlerputsch“ im November1923 verursachten Verbot soll hier für ca. ein Jahr eine Ortsgruppedes antisemitischen „Völkisch-Sozialen Blocks“ bestanden haben.Ein Jahr später trat Ende November 1924 mit Ernst Graf Reventlow4

in einer vom örtlichen „Hypotheken- und Gläubigerverband“ einbe-rufenen Versammlung erstmals ein prominentes Parteimitglied auf.Angekündigt als „Führer der nationalsozialistischen Partei“, referier-te er über deren Ziele und warb beim zahlreich erschienenen Publi-kum um neue Mitglieder.5 Bei der anschließenden Kommunalwahlerreichte der antisemitische „Völkisch-Soziale Block“ 1,4 Prozentder Stimmen. Über eine Listenverbindung zog der spätere ersteNSDAP-Stadtverordnete Dr. Erich Straub in die Stadtverordneten-versammlung ein. Die steigende Popularitätskurve verdeutlicht dieErgebnisse der Reichstagswahlen ab 1930. Zur Reichspräsidenten-wahl im April 1932 erhielt Hitler in der Stadt bereits 43,3 Prozent.Im zweiten Wahlgang verbuchte er zusätzliche 535 Stimmen undwies damit einen größeren Anteil auf als der letztlich siegreiche undgemeinsam von DNVP, Sozialdemokraten und liberalen Parteien un-terstützte Amtsinhaber Paul von Hindenburg.6

Im Juli 1932 erreichte die NSDAP in Schleswig 50,7 Prozent.Wie auch andernorts, sank der Anteil zwar im November leicht ab,stieg dann aber bei der letzten Wahl am 5. März 1933 wieder auf

1 Bei dem Terminus „Alte Garde“ handeltes sich quasi um einen geschützten Be-griff, der zurückzuführen ist auf eine Be-kanntmachung von Rudolf Hess als „Stell-vertreter des Führers vom 8. 5. 1934, Ver-fügungen. Anordnungen. Bekanntmachun-gen. Band 1, hg. von der Parteikanzlei,München o. J. (1943), S. 208 f.

„Schon für normale Mitglieder-versammlungen hätte immer dergrößte Saal in der Stadt ange-mietet werden müssen.“

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51,8 Prozent (Reichstag) bzw. 51,2 Prozent (Landtag) an. Zwölf na-tionalsozialistische Stadtverordnete zogen bei der eine Woche späterstattfindenden Kommunalwahl ins Rathaus und hielten dort zusam-men mit den drei Mandaten der rechtskonservativen Kampffront„Schwarz-Weiß-Rot“ gegen fünf sozialdemokratische und einenkommunistischen Mandatsträger eine komfortable Zweidrittelmehr-heit. Bis zur „Reichstagswahl“ am 12. 11. 1933 gewann die NSDAPweiter an Zustimmung und schwamm mit nunmehr 87,7 Prozent aufder Welle des Erfolgs.7

2 Zur Biographie Lohses vgl.: Uwe Danker,Oberpräsident und NSDAP-Gauleitung inPersonalunion: Hinrich Lohse, in: National-sozialistische Herrschaftsorganisation inSchleswig-Holstein, hrsg. von der Landes-zentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein, Kiel 1996, S. 23 ff; Ders., Diedrei Leben des Hinrich Lohse, in: DG 11(1998), S. 105 ff.; Ders. Hinrich Lohse,in: Steinburger Jahrbuch 2000, S. 280 ff.3 Herausragend immer noch Rudolf Heber-le, Landbevölkerung und Nationalsozialis-mus. Eine soziologische Untersuchung derpolitischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918-1932, Stuttgart 1963 so-wie Rudolf Rietzler, Kampf in der Nord-mark. Das Aufkommen des Nationalsozia-lismus in Schleswig-Holstein 1919-1928,Neumünster 1982.4 Ernst Graf Reventlow, 18. 8. 1869 inHusum – 21. 11. 1943 in München, warPublizist und Politiker. 1907 und 1912kandidierte er für die antisemitische„Deutsch-Soziale Reformpartei“ im Wahl-kreis Flensburg-Apenrade erfolglos für denReichstag. Bis 1914 amtierte er als Provin-zialvorsitzender des rechtskonservativen„Bundes der Landwirte“. Nach 1918 enga-gierte er sich in rechtsextremen Gruppie-rungen, ehe 1927 der Beitritt zur NSDAPerfolgte, die er bis zu seinem Tod imReichstag vertrat, SHBL 7, S. 221 ff..5 Schleswiger Nachrichten (SN) 3. 12.1924. 6 Wahlergebnisse nach SN sowie AlmutUeck, Die politische Entwicklung in Schles-wig 1929 – 1934, Ms. Kiel 1983.7 Zur Volksabstimmung im November1933.: Frank Omland, „Unser aller ‚Ja‘dem Führer!“ Zur Geschichte der erstennationalsozialistischen Reichstagswahl undVolksabstimmung vom 12. November1933 in Schleswig-Holstein, in: Informa-tionen zur schleswig-holsteinischen Zeitge-schichte 39 (April 2001), S. 3 ff.

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* NSDAP-Anteil bei der gleichzeitigen „Volkabstimmung: 90,7 %

NSDAP Anteile bei den Reichstagswahlen 1924-1933 in der Stadt Schleswig (in %)

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NSDAP Anteile bei den Reichstagswahlen 1924-1933 im Kreis Schleswig (in %)

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SA-Aufmarsch in Schleswig ca. 1930 (GA SIFI)

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Der die verständlichen, aus der Weltwirtschaftskrise herrühren-den Existenznöte geschickt aufnehmende und gegen die demokrati-sche Grundordnung gerichtete Herrschaftsentwurf der NSDAP fandauch in dem von der Agrarwirtschaft dominierten Kreis Schleswigzahlreiche Anhänger. Bei der Reichstagswahl im September 1930erreichte die NSDAP mit ihrer zielgerichteten Agrarkampagne imKreis Schleswig mehr als ein Drittel der Stimmen. Am 5. 3. 1933zählte Schleswig mit 69,9 Prozent zu den Landkreisen mit denhöchsten NSDAP-Anteilen in der Provinz. In den kleineren Landge-meinden betrug der Anteil oft mehr als 75 Prozent.8

Von einzelnen örtlichen Keimzellen im Umfeld der Stadt Schles-wig ausgehend, wurde im Umland systematisch und erfolgreich agi-tiert.9 Schon bei der Kommunalwahl im Dezember 1929 zogen miteinem Ergebnis von 5161 Stimmen fünf nationalsozialistische Kan-didaten in den Kreistag ein. Unter den Gewählten befanden sich ne-ben Kreisleiter Joachim Meyer-Quade der Rendant Otto Gestefeld,der Bankangestellte und spätere Flensburger Kreisleiter und LandratClaus Hans10 und der Landwirt Jürgen Jöns,11 zugleich Kreisvor-standsmitglied des schleswig-holsteinischen Bauernbundes sowie

Jürgen Jöns (Erfde) gehörte ebenfalls zuden frühen NS-Agitatoren in Schleswig undbis zu seinem Tod dem Kreistag als ZweiterKreisdeputierter an.(LAS Abt. 399.4 Nachlass Beeck)

8 Wahlergebnisse in SN, Angaben auchbei Almut Ueck, Politische Entwicklung,S. 126.9 Rietzler, Kampf S. 401 ff.10 Claus-Peter Hans, 23. 6. 1900 –17.7. 1977, gehörte der Partei seit Au-gust 1927 mit der Mitgliedsnummer65188 an. Er war zunächst Ortgsruppen-leiter in Seeth/Drage und von Juil 1932bis Mai 1945 Kreisleiter im Kreis Flens-burg-Land, in Personalunion von Oktober1935 bis November 1937 Landrat sowieKreisdeputierter und zwischen 1933 und1935 sowie 1941 und 1945 stellvertre-tender Landrat, GA SlFl, Pers. Zur Rollebeim Zwangsarbeitereinsatz vgl. SebastianLehmann, „Ich habe in Flensburg keineZwangsarbeiter kennen gelernt.“ Die juris-tische Behandlung des „Fremdarbeiter-Einsatzes“ in den Spruchgerichtsverfahrender britischen Besatzungszone, in: RobertBohn, Uwe Danker, Nils Köhler (Hg.), Der„Ausländereinsatz“ in Flensburg 1939 –1945, Bielefeld 2002, S. 202 ff.11 Jürgen Jöns, NSDAP-Mitgliedsnummer96.135 gehörte der Partei seit 1928 an.Er war Mitgründer der Ortsgruppe Erfdeund deren Ortsgruppenleiter. 1929 wurdeer in die Gemeindevertretung gewählt. ImMärz 1933 wurde er Gemeindevorsteherund amtierte im Kreistag als 2. Kreisdepu-tierter auch bis 1939 im Kreisausschuss.Nach schwerer Krankheit starb Jöns am10. 4. 1939 im Alter von 42 Jahren, Gün-ter Süring (Hg.), Bargen-Erfde. Einblickein das Leben zweier Stapelholmer Dörfer,Husum 1999, S. 147 ff; Kreisblatt Schles-wig, 17. 4. 1939; SN 12. 4. 1939.

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der Gastwirt Albert Zerrahn. Für Claus Hans rückte 1932 PeterBörnsen nach.12

Regelrechte Versammlungswellen in den Herbstmonaten 1929und 1930 führten zu zahlreichen Ortsgruppengründungen. Bis Ende1929 waren im Kreis Schleswig 18 NSDAP-Ortsgruppen mit 912Mitgliedern entstanden. Im Juni 1930 waren es 22 und 990 Mitglie-der. Ende Januar 1933 wurden dann 3525 Mitglieder gezählt, 1070gehörten der SA und weitere 95 verschiedenen SS-Abteilungen an.13

Regionale Verteilung und Gründungszeitraum der Ortsgruppenverdeutlichen ein Ost-West-Gefälle. In der Landschaft Angeln brei-tete sich die NSDAP deutlich später als in den westlichen Kreistei-len aus. Hier erwies sich u. a. der rechtskonservative JungdeutscheOrdens (Jungdo), der mit zahlreichen Ortsgruppen besonders starkim Bereich des Amtes Süderbrarup vertreten war, als Konkurrenz.14

In Twedt war die NSDAP-Ortsgruppe unter Führung des in engstemKontakt mit Gestefeld und Zerrahn stehenden und späteren Kreis-bauernführers Ernst Hansen hingegen schon im Dezember 1929 ent-standen. In Mohrkirch erfolgte die Gründung der Ortsgruppe Anfang1930, in Kappeln – mit Hilfe der im Frühjahr etablierten OrtsgruppeSüderbrarup um dessen Leiter Dahme – am 12. 9. 1930 und in Sa-trup am 10. 12. 1930.15

Bemerkenswert ist die Dichte im Umfeld von Schleswig als re-gionalem Zentrum. Aufgrund erheblicher Mitgliederfluktuation, diemit dem regelmäßigen Semesterwechsel an der höheren Landwirt-schaftschule, deren Absolventen den frühen Kern der örtlichenNSDAP bildeten, zusammenhing, hatte die Schleswiger Ortsgrup-pe im Mai 1929 allerdings nur 40 Mitglieder. Zum Jahresende warenes mit 51 kaum mehr. Davon wohnte die Mehrzahl zudem in Fahr-dorf und Busdorf. Nachdem hier im Februar 1930 eigene Ortsgrup-pen gegründet worden waren, sank die Schleswiger Mitgliederzahlauf 33 herab. Im Juli und August entstanden in Schleswig eine Orts-gruppe des „Deutschen Frauenordens – Rotes Hakenkreuz“ sowieeine erste Ortsgruppe der Hitler-Jugend. Im Mai 1932 verkündetedie nationalsozialistische „Schleswig-Holsteinische Tageszeitung“mit einigem Stolz, schon für „normale Mitgliederversammlungenhätte immer der größte Saal in der Stadt angemietet werden“ müs-sen.16 Ende 1932 wies die Schleswiger NSDAP-Ortsgruppe rund700 Mitglieder auf, die HJ und die Nationalsozialistische Betriebs-

12 Verwaltungsbericht des Kreises Schles-wig 1929, GA SlFl Abt. B 0.2/141, Proto-koll der Kreistagssitzung vom 21. 12.1929, GA SlFl Abt. B 0.2/15. Peter Börn-sen, Parteieintritt am 1. 8. 1928 mit derMitgliedsnummer 95351, war in FüsingOrtsgruppenschriftwart. Von Januar 1933bis 1945 amtierte er als NSDAP-Kreisleiterin Eckernförde und von 1939-1942 alsVertreter des im Kriegseinsatz befindlichenSchleswiger Kreisleiter Dr. Georg Carsten-sen. 1932 wurde er in den preuß. Landtaggewählt und gehörte 1933-1945 demReichstag an. Nach Kriegsende wurde er37 Monate interniert und 1949 zu sechsJahren Gefängnis verurteilt. Im Revisions-verfahren wurde die Strafe auf drei Jahreabgemildert, freundliche Mitteilung vonSebastian Lehmann, Kiel, dem ich für wei-tere Hinweise danke sowie: BDC-SA, PeterBörnsen, BAK Z 42 IV/1496 und LAS460.1/429.13 Zahlen, auch für Tabelle LAS301/4557 und 4558 sowie 320Sl-L/130.14 Hinweise dafür bei NSDAP-Fahnenwei-he in Mohrkirch SN 28. 2. 1934 undSchleibote 28. 2. 1934.15 SN 24. und 28. 2. 1934, Schleibote2. 9. 1935; Die Ortsgruppe Süderbrarupwurde im Mai 1930 erstmals mit 6 Mit-gliedern genannt, LAS 309/22998; zuSatrup: Satrup. Das Herz von Angeln, Hu-sum 2002, S. 24.16 SHT 20. 5. 1932.

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NSDAP-Ortsgruppen, Parteimitglieder und Mitglieder im SA-Sturm IV/86im Kreis Schleswig 1929-1933

Ortsgruppen Mitglieder SA-Mitglieder1.9.1929 18 773 1391.3.1930 20 939 1471.6.1930 22 990 155

31.1.1933 ? 3525 1070

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zellenorganisation (NSBO) je rund 80, das „Rote Hakenkreuz“ ca.60 und der BDM 40. In der SA waren bis zu 150 Mitglieder aktiv,die SS umfasste ca. 50 Mann.17

Eigentlicher Kristallisationspunkt der NSDAP im Kreis Schles-wig war die nur wenige Kilometer östlich von der Kreisstadt gelege-ne Landgemeinde Tolk. Hier existierte schon 1924 ein Stützpunktder „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsgemeinschaft“, diezum 10. Oktober zu einer Versammlung mit dem Vorsitzenden des

17 Mitgliederzahlen nach dem Stand26. 11. 1929 und 21. 2. 1930, LAS 309/22998; für 1932: LAS 320 SL-L/130sowie SN 9. 3. 1932 und 24. 4. 1933. Zu Beginn des Jahres 1933 befand sichdie Ortsgruppe, wohl im Zusammenhangmit dem enttäuschenden Wahlausgang imNovember 1932, in einer tiefen Krise.Gerüchte über Parteiaustritte führenderlokaler Funktionsträger waren in Umlauf,ehe dann im Überschwang der „Macht-ergreifung“ die Stabilisierung gelang,FVZ 12. 1. 1933.18 Polizeipräsident Flensburg, Berichtüber den Stand der nationalsozialistischenBewegung vom 1. 5. 1929 und 30. 12. 1929, LAS 309/22998. Die zum Teil erheblichen Differenzen ge-genüber der vorhergehenden Tabellerühren wohl daher, dass zwischen zahlen-den Mitgliedern und Anhängern nicht un-terschieden wurde. Leerfelder in der Tabel-le besagen, dass die genannte Ortsgruppezum Datum nicht bzw. nicht mehr bestand,in eine Ortsgruppe integriert wurde odereine Ausgründung am genannten Ort er-folgte.

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Regionale Verteilung der NSDAP-Ortsgruppen und Mitglieder im KreisSchleswig im Jahre 192918

Ortsgruppen (Gründungsjahr) 1.5.1929 1.12.1929Bergenhusen 64 87Brodersby 46Busdorf – z. T. bei Schleswig mitgezählt 7Dörpstedt 40Ellingstedt 104Erfde (August 1928) 94 202Esperstoft 31Fahrdorf 65Faulück 8Friedrichstadt 30 61Füsing 56Groß-Rheide 85Hollingstedt 185Hollingstedt, Ellingstedt, Friedrichsfeld, Dörpstedt (Januar 1928) 120 siehe einzelne OrteKlappholz 25Klein-Bennebek ?Kropp 16 41Moldenit, Brodersby, Füsing 62Norder-, Süderstapel 192Nübel 12Schleswig (März 1925) 40 51Schuby 23 52Seeth/Drage (Januar 1928) 80 142Silberstedt 112Süderbrarup 6Tolk (August 1925) 111Tolk/Twedt 62Treia 174Treia/Silberstedt (August 1928) 191Twedt 82Wohlde 84Summe 801 2042

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schleswig-holsteinischen Landesverbandes Ockel aus Kiel einlud.19

An der Spitze stand der Rendant der lokalen Spar- und Darlehens-kasse Otto Gestefeld, der von seiner Frau Anna unterstützt wurde.Weitere Gründungsmitglieder waren der Fischermeister und Gast-wirt Albert Zerrahn sowie dessen Sohn Wilhelm. Die OrtsgruppeTolk arbeitete eng mit der anfänglich mitgliederschwachen Schles-wiger Ortsgruppe zusammen, beide tauschten Material aus und hal-fen sich bei der Vermittlung auswärtiger Referenten.20

Die herausragende Rolle Zerrahns und seiner am Langsee gele-genen, von Mythen umwobenen Gastwirtschaft „Waldlust“ beimAufstieg des Nationalsozialismus im Kreis Schleswig beleuchtet einZeitungsartikel anläßlich der von einem Kreis „Alter Kämpfer“ zele-brierten Verabschiedung des als Brigadeführer zur SA-Gruppe Nie-dersachsen beförderten seinerzeitigen Schleswiger Landrats Joa-chim Meyer-Quade im November 1933: „Seltsam, wie manche Wa-gen am Sonnabend durch den kalten Novemberabend vom Gallbergaus starten. Seltsam, dass sie alle in einer Richtung fahren! … Sindes Verschwörer, die fernab der Stadt in aller Weltabgeschiedenheiteine nächtliche Sitzung planen? Ja, es handelt sich schon um Ver-schwörer, um Verschwörer im besten Sinne, um aufrechte Männer,die noch vor Jahren – geächtet, verlacht und verspottet – oft genuggezwungen waren, sich heimlich zusammenzufinden, weil die Sys-temregierungen in ihnen mit Recht ihre schlimmsten Widersacherund gefährlichsten Gegner sahen; ja es handelt sich um kernigeMänner, die schon vor vielen Jahren das Dritte Reich erahnten, anAdolf Hitler und seine Sendung glaubten und sich zu ihm bekann-

Gastwirtschaft „Waldlust“ am Langsee, die„Keimzelle der NSDAP“ im Kreis Schleswig(GA SIFI)

19 Anzeige in SN 10. 10. 1924.20 Rietzler, Kampf, S. 354, SN 10. 3.1934.

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ten; es handelt sich um die ‚Alte Garde‘, die im kleinen, altvertrau-ten Kreise Abschied nehmen will von einem ihrer Besten und Ge-treuesten, die ihm gerade jetzt Lebewohl sagen will, wo ein gut Teilnationalsozialistischer Politik und Geschichte in Schleswig-Holsteingemacht worden ist: in der ‘Waldlust’ des alten Pg. Zerrahn.“21

Starken Zulauf erhielt die NSDAP auch in den westlich vonSchleswig gelegenen Geestdörfern. In Groß-Rheide wurde die Orts-gruppe unter Führung des späteren Amtsvorstehers Jürgen Tamsschon am 7. 11.1928 gegründet. Tams, am 9. 1. 1879 in Klein-Ben-nebek geboren, bewirtschaftete einen Hof in Groß-Rheide. Am1. 12. 1928 trat er der NSDAP mit der Mitgliedsnummer 108114bei. Im April 1929 wurde er zum Ortsgruppenleiter ernannt und am1. 2. 1931 Sturmführer eines zunächst 30 Mitglieder umfassendenSA-Sturms, der Ende 1932 auf über 300 Mitglieder angewachsenwar. 1930 übernahm er das Amt eines landwirtschaftlichen Bezirks-beraters für die Partei. Im April 1933 gelangte er in den SchleswigerKreisausschuss, wo er zu engen Gefolgsleuten Gestefelds zählte.22

1936 wurde Tams in einem langwierigen Verfahren vor dem Gauge-richt wegen parteischädigenden Verhaltens aller Ämter enthobenund ausgeschlossen. Dennoch gruppierte ihn der Entnazifizierungs-hauptausschuss nach Kriegsende einstimmig in die Kategorie III als„belastet“ ein mit allen Konsequenzen, was für einen abhängig Be-schäftigten die sofortige Entlassung zur Folge gehabt hätte. Begrün-det wurde dies damit, „weil er 150% Nazi war und weit über die Zie-le der Partei hinausgeschossen und weil er Diktator über seine eige-nen Parteigenossen sein wollte“. Tams habe Bewohner seiner Ge-meinde nicht nur zum Parteieintritt gezwungen, sondern diese mehr-fach bedroht und darüber hinaus bei den Polizeibehörden denun-ziert, hieß es weiter.23

Von Groß-Rheide aus erfolgten Ortsgruppengründungen in denbenachbarten Gemeinden wie Klein-Rheide, Börm, und Klein-Ben-nebek sowie in Jagel.24 Ein weiterer Brückenkopf befand sich imGebiet des Amtes Silberstedt. Hier hatte der seit dem 9. 9. 1926 alsParteimitglied registrierte Lehrer Emil Gosch im September 1928eine Ortsgruppe ins Leben gerufen. Kurz darauf fasste die NSDAPin Esperstoft, Treia und Schuby Fuß. Die zunächst gemeinsameOrtsgruppe Silberstedt und Treia wuchsen so stark, dass schon nachwenigen Wochen die Trennung vollzogen werden konnte. Ende1929 hatte die Ortsgruppe Silberstedt 112 Mitglieder, 1933 waren es168. In Treia waren es zum selben Zeitpunkt 174 und 1933 sogar185 Mitglieder. Schon 1930 hatten die dort beheimateten örtlichenSA-Stürme 112 bzw. 174 Mitglieder aufzuweisen, wurden dabei al-lerdings von Hollingstedt übertroffen, wo 185 SA-Männer aktiv wa-ren. Kolportiert wird darüber hinaus, dass zahlreiche SilberstedterLandwirte nur noch NSDAP-Mitglieder bzw. in der SA organisierteMänner auf ihren Höfen beschäftigt haben sollen.25 In Schuby sollThomas Frahm als Ortsgruppenleiter ein wahres „Schreckensregi-ment ausgeübt haben. Er sei „als Ober-Nazi aktiv gewesen und habeAndersdenkende gemaßregelt und drangsaliert“, lautete es im Urteil

21 SN 30. 11. 1933.22 Schleibote 27. 4. 1933.

23 LAS 460.12/279, Tams, Jürgen so-wie SN 24.2.1934.

24 SN 24. 2. 1934.

25 Hierzu: Friedrich Ueck, Anmerkungenüber Silberstedt vor der nationalsozialisti-schen Machtergreifung, in: Jahrbuch fürdie Schleswigsche Geest 33 (1985),S. 25 ff.

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SA-Mitglieder im Kreis Schleswig im Dezember 1931

Ort MitgliederSchleswig 70Hollingstedt 110Jagel 80Schuby 40Satrup 55Kappeln 65Süderbrarup 40Treia 120

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des Entnazifizierungsausschusses, der ihn als „belastet“ einstufteund zudem eine Geldstrafe verhängte.26

Die Angaben der Landeskriminalpolizeistelle Flensburg überden Stand der SA- und SS-Abteilungen im nördlichen Schleswig-Holstein unterstreichen das West-Ost-Gefälle.

Insgesamt gehörten der SA im gesamten Landeskriminalpolizei-bezirk mit den Kreisen Dithmarschen, Schleswig, Husum, Eider-stedt, Südtondern sowie der Stadt und dem Landkreis FlensburgEnde 1931 ca. 12000 Mann an. Im Sturm IV/86 – Kreis Schleswig –wurden insgesamt 650 Mann an neun Orten gezählt. Hinzu kommendrei Reservestürme in Schleswig, Jagel und Treia sowie ein Schles-wiger SA-Spielmannszug. Machtübernahme und Gleichschaltung in Kreisverwaltung und Kommunen. ImZuge der gesellschaftlichen und administrativen Gleichschaltung imFrühjahr 1933 erfolgten auch im Kreis Schleswig richtungsweisendePersonalentscheidungen auf allen Ebenen. Schon am Tage nach derMachtübernahme hatte der Hauptschriftleiter der zur NSDAP abge-drifteten Schleswiger Nachrichten, Fritz Michel, unter der Über-schrift „Schicksalswende“ gefordert, dass „der 30. Januar innen-und außenpolitisch der Anfang sein“ müsse in „einer Zeit nationalerBesinnung und nationaler Kraft“.27 Kreisleiter Joachim Meyer-Qua-de verkündete wenige Wochen später, dass diejenigen, die „im Wegestehen und sich widersetzen, verschwinden“ müssten.28

Zunächst kleidete sich der NS-Terror zwar noch weitgehend imrechtsstaatlichen Gewand, gleichwohl waren rechtspolitische Be-denken über Bord geworfen und die traditionellen Freiheits- undRechtstraditionen der deutschen Geschichte brutal gekappt. Dabeizeigte sich, dass sich staatliche wie kommunale Bürokratie von Be-ginn an in den Dienst der neuen Machthaber stellte, ja sogar oft imvorauseilenden Gehorsam handelte.29 Noch vor der Reichstags-brandverordnung Ende Februar 1933, die die Zerschlagung der or-ganisierten Arbeiterbewegung weiter forcierte, gingen per Erlass le-gitimierte lokale und regionale Parteigliederungen gemeinsam mitwillfährigen Polizeidienststellen rücksichtslos gegen sich anbahnen-de oder nur vermutete Widerstandsaktivitäten vor. Seit dem 1. Fe-bruar 1933 griff bereits ein Demonstrationsverbot. Nachdem tagsdarauf das Versammlungsverbot auf Veranstaltungen in geschlosse-nen Räumen ausgedehnt worden war, der zwei Tage später eine Not-verordnung des Reichspräsidenten „zum Schutz des DeutschenVolkes“ folgte, besaßen die von den Nationalsozialisten kontrollier-ten Ortspolizeibehörden alle Möglichkeiten, politische Versamm-lungen, Drucksachen oder Zeitungen willkürlich zu verbieten bzw.zu beschlagnahmen und Hausdurchsuchungen vorzunehmen. Am17. Februar forderte Göring von der Polizei den rücksichtlosenSchusswaffengebrauch, und per Erlaß verfügte er fünf Tage später,sich der SA, SS und des Stahlhelms zu bedienen, um „im besten Ein-vernehmen” mit den nationalen Verbänden gegen die „Staatsfeinde“vorzugehen.30 Reichsweit wurden ca. 50000 Angehörige dieser pa-ramilitärischen Verbände für diese Aufgabe rekrutiert. Im April 1933

26 Einen Einspruch gegen dieses Urteilzog Frahm wegen Krankheit zurück,LAS 460.12/104, Frahm, Thomas.

„Die nationalsozialistische Revo-lution ist auch im Kreis Schleswigdurchschlagend gewesen.“

27 SN 31. 1. 1933, zu der von SPD undReichsbanner „Schwarz-Rot-Gold“ organi-sierten Gegendemonstration in Schleswigvgl. SHVZ 2. 2. 1933.28 SN 20. 5. 1933, zu den Gleichschal-tungen: Christiansen, S. 73 ff. sowie KlausLeushacke, Die nationalsozialistischeGleichschaltungspolitik im Kreis Schleswig(an ausgewählten Beispielen), Ex. Arb. o. O 1980.29 Gerhard Paul, Braune „Nordmark“.Der nationalsozialistische Herrschaftsappa-rat, in: Ders., Uwe Danker, Peter Wulf(Hg.), Geschichtsumschlungen. Sozial- undKulturgeschichtliches Lesebuch Schleswig-Holstein 1848-1948, Bonn 1996,S. 210 ff.

30 Auch zum Vorhergehenden: PeterNitschke, Polizei und Gestapo. Vorausei-lender Gehorsam oder polykratischer Kon-flikt, in: Gerhard Paul, Klaus Michael Mall-mann (Hg.), Die Gestapo. Mythos undRealität, Darmstadt 1995, S. 306-322,S. 311 f.

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übertrug Regierungspräsident Anton Wallroth, der frühere Flensbur-ger Landrat, den schleswig-holsteinischen SA-Führern im April1933 sogar stillschweigend die Zuständigkeit für Hausdurchsu-chungen „unter Ausschaltung der örtlichen Dienststellen“.31

Auch in Schleswig wurden gemäß „Hilfspolizeierlass” insge-samt 116 Mitglieder des Stahlhelms und der NS-Kampfverbände ander politischen Gegnerverfolgung beteiligt. Ungeachtet der nachdem Wahltag am 5. März vorgenommenen ersten Entlassungenüberstieg die Stärke der Hilfspolizei bei weitem den „ortsüblichenBedarf“ in einer Stadt von der Größenordnung Schleswigs.32

Als Schleswiger Hilfspolizisten dienten überwiegend Arbeitslo-se im Alter zwischen 21 und 45 Jahren, entgegen den Durch-führungsbestimmungen vereinzelt auch über fünfzig- und unterzwanzigjährige Männer. Einige waren vorbestraft, als Unruhestifterstadtbekannt oder in der Vergangenheit bei Auseinandersetzungenmit dem politischen Gegner aufgefallen. Weitere Bewerber wurdenaufgrund schwerster Verfehlungen – Verstöße gegen die Straßenver-kehrsordnung, Unzucht, Betrug, Unterschlagung oder Brandstiftung– nicht berücksichtigt. Bei entsprechender Bewährung erschien einespätere Weiterbeschäftigung in anderen Arbeitsbereichen möglich.Mindestens zwei Hilfspolizisten wurden in den Schleswiger Polizei-dienst übernommen, andere fanden in der Stadtverwaltung oder beistädtischen Betrieben Verwendung.33

Die Hilfspolizisten sollten die Schutzpolizei zunächst bei derWahrung ihrer Aufgaben unterstützen, etwa bei der Sicherung le-benswichtiger Betriebe, die wegen befürchteter kommunistischerSabotageaktionen besonders zu schützen waren. Ihr eigentlicherZweck bestand jedoch darin, die Bevölkerung einzuschüchtern, oderwie es in einem Vermerk aus dem Schleswiger Landratsamt hieß,mit ihrer ständigen Präsenz, „staatsfeindliche und verbrecherischeElemente abzuschrecken“.34 Im großen Stil wirkte die Hilfspolizeibei Hausdurchsuchungen und bei der willkürlichen Verhaftung vonSozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftern mit. AnfangMai 1933 befanden sich im für diese Zwecke genutzten SchleswigerPolizeigefängnis 78 Personen aus Schleswig-Holstein in Schutzhaft,darunter aus Schleswig der Lederarbeiter und Gewerkschafter Jo-hannes Weiß oder der Redakteur der sozialdemokratischen Schles-wiger Volkszeitung Andreas Paysen.35 Ebenso rücksichtslos wurdein Kappeln, Süderbrarup und weiteren Orten im Kreisgebiet vorge-gangen. Für die Verhafteten begann ein mehrere Monate währendertraumatischer Leidensweg, der viele zunächst in das eilends einge-richtete Konzentrationslager Kuhlen bei Bad Segeberg führte. Alsdieses zum Oktober 1933 aufgelöst wurde, wurden 15 vormals inSchleswig inhaftierte Häftlinge ins Konzentrationslager Papenburgim Emsland verfrachtet.36

Auch im Kommunalwahlkampf versuchten die NS-Gliederun-gen ihre Ansprüche gegenüber möglichen Partnern in den rechtenParteien und Bürgervereinen radikal durchzusetzen. Die Kreislei-tung verlangte für die NSDAP, die bisher mit fünf Mandaten im

31 Weitergabe einer Anordnung desSchleswiger Landrats an die Bürgermeisterund Landjäger vom 4. 4. 1933, StA Kap-peln II/8/5/2.

32 GA SlFl Abt. 10/9 und 10/10.

33 Namentliche Aufstellung der als Hilfs-polizei beschäftigten Männer in GA SlFl,Abt 10/9 sowie Personalakten Abt. V/63und V/72.

34 Landrat an Regierungspräsident am16.3. 1933, LAS 320 Sl-L/87 dort auchweitere Hinweise sowie in LAS 320 Sl-L/130.

35 Hierzu auch die Lebenserinnerungenvon Hermann Clausen, Der Aufbau der De-mokratie in der Stadt Schleswig nach zweiWeltkriegen, Flensburg 1966, bes.S. 147 ff.

36 Harald Jenner, KonzentrationslagerKuhlen 1933, Neumünster 1988; zu Fäl-len aus dem Kreis Schleswig vgl. LAS 320Sl-L/164 – 166.

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Kreistag vertreten war, die ersten sechs Listenplätze. Für das Schles-wiger Rathaus beanspruchte sie sämtliche Beigeordnetenplätze, dieFunktion des Stadtverordnetenvorstehers sowie den Fraktionsvorsitzder zunächst angestrebten Gemeinschaftsliste. Außerdem wollte dieNSDAP den Fraktionszwang durchsetzen. Die Verhandlungen führ-ten zwar zu keinem Ergebnis und „Stahlhelm“, DNVP, DVP, die vierBürgervereine sowie die Handels- und Gewerbevereine vereintensich daraufhin allein im „Kampfblock Schwarz-Weiß-Rot“. DessenAufgabe war es, möglichst viele nicht nationalsozialistische Stim-men aus dem bürgerlichen Lager zu sammeln. Im Lavieren zwi-schen den Fronten unterschied sich das Wahlprogramm des Kampf-blockes allerdings nur minimal von dem der NSDAP. Lediglich beider Frage einer möglichen Zusammenarbeit mit der SPD „zum Woh-le der Stadt“ gab es unterschiedliche Auffassungen, die sich abernach der Wahl von selbst erledigen sollten.37

Bei der Stadtverordnetenwahl erzielte die NSDAP 52,4 Prozent,das waren zehn Sitze und eine deutliche absolute Mehrheit vor demKampfblock, der 16,6 Prozent und damit drei Mandate erreichte.Die SPD, deren Wahlkampf zuvor massiv behindert worden war, ge-wann 27,4 Prozent und fünf Sitze. Auf der ersten Sitzung der neuenStadtverordneten, zu der die NSDAP-Fraktion demonstrativ inBraunhemden in den altehrwürdigen Ständesaal einmarschiert war,wurden die sozialdemokratischen Mandate auf Betreiben desNSDAP-Fraktionsvorsitzenden Adolph Herting mit der Begründung„ein Zusammenarbeiten mit ihnen (sei) unmöglich“ mit Zustim-mung des nationalen Kampfblocks schon am 12. April kassiert. DerSPD-Fraktionsvorsitzende Hermann Clausen hatte schon vorher re-signiert aufgegeben, die weiteren Sozialdemokraten zogen sich inden folgenden Wochen aus Angst vor Verfolgung zurück. Am 12. 8.1933 teilte der Magistrat dem noch im Amt befindlichen Stadtratund Geschäftsführer des Konsumvereins Emil Brodkorb mit, dassnach dem Rückzug der SPD-Vertreter eine weitere „Zuteilung vonSitzen auf Wahlvorschläge der Sozialdemokratischen Partei … un-wirksam geworden ist.“ Auf der Liste verzeichnete Nationalsozialis-ten rückten nach.38 Bürgermeister Oscar Behrens wurde in der Nachtzum 10. August 1933 von der NSDAP-Fraktion ultimativ zum Rück-zug aufgefordert und schließlich auf der Grundlage des Gesetzes zurWiederherstellung des Berufsbeamtentums in den Ruhestand ver-setzt. Seine Nachfolge trat der NSDAP-Beigeordnete Heinrich Bluman, dem kurz darauf Adolph Herting folgte, der im Januar 1934 wie-derum vom Pinneberger Rechtsanwalt und dortigen Ortsgruppenlei-ter, Franz von Baselli, ersetzt wurde.39

Im Kreistag hielt die von Meyer-Quade angeführte und zuvorbestenfalls durch destruktives Oppositionsgehabe auffallendeNSDAP-Fraktion mit 19 gewählten Abgeordneten eine mehr alskomfortable Zweidrittelmehrheit. Die konservative Liste derKampffront „Schwarz-Weiß-Rot“ hatte vier und die SPD drei Man-date erhalten. Auch für die KPD war erstmals ein Sitz abgefallen,der aber zusammen mit den sozialdemokratischen Mandaten schon

37 Almut Ueck, Politische Entwicklung, S.128ff.

38 Magistrat an Emil Brodkorb am 12. 8.1933, GA SlFl Abt 9/488; zusammenfas-send: Christiansen, S. 77.

39 Oscar Behrens, Schleswig-Erinnerun-gen des Bürgermeister Dr. Behrens, in:Beiträge zur Schleswiger Stadtgeschichte(BSSt) 8 (1963), S. 3 ff, bes. S. 23

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nach wenigen Tagen kassiert wurde.40 Der seit 1917 amtierendeLandrat Gerhard Werther wurde am 19. 4. 1933 durch Erlaß mit dervertretungsweisen Verwaltung des Landratsamtes in Plön beauf-tragt. Seine Versetzung diente vermutlich nur dazu, um KreisleiterMeyer-Quade Platz zu machen, der das Amt folgerichtig am 12.Mai kommissarisch übernahm.41 Doch auch Werther biederte sichschon in der ersten Kreistagssitzung nach der Neuwahl, zu der dieNSDAP-Fraktion geschlossen und in Uniform in den Sitzungssaaleinmarschiert war, als Erfüllungsgehilfe des NS-Terrors an. In sei-ner Eröffnungsrede würdigte er den wegen eines Termins abwesen-den Meyer-Quade, der „seine ganze Kraft mit eingesetzt hätte zurErzielung des Erfolges der nationalen Front“. Zugleich versicherteer, dass er zukünftig „mit Gerechtigkeit und äußerster Pflichterfül-lung meines Amts walten (werde), getreu der Weltanschauung, derder überwiegende Teil dieses Kreistages huldigt, und die ich schonwährend der 16-jährigen Tätigkeit im Kreis Schleswig als eine fürdas deutsche Volk segenbringende anerkannt habe.“42

In der Mehrzahl der Gemeinden und Amtsbezirke bereiteten dieim Rahmen der Gleichschaltung erforderlichen Personalentschei-dungen kaum Probleme. Innerhalb kurzer Zeit wurden die den NS-Gliederungen im Wege stehenden Gemeinderäte zum Teil rück-sichtslos aus ihren Ämtern gedrängt. Sie hatten „Platz zu machenfür jene Männer, die durch den jahrelangen Kampf und ihre steteOpferbereitschaft einen Anspruch darauf hatten, jetzt auch in derGemeinde oder im Amtsbezirk für den Staat arbeiten zu können“,bemerkte der in Kappeln erscheinende Schleibote.43 Zu den Wahl-en waren zudem in einigen Gemeinden des Kreises Einheitslistenaufgestellt worden, die nicht nur sämtliche Berufsstände sondernauch nationalsozialistische Kandidaten auf sicheren Plätzenberücksichtigte.44 In der ersten Kreistagssitzung wurden auf Vor-schlag von Otto Gestefeld, der zum 1. Kreisdeputierten und stell-vertretenden Landrat gewählt worden war, neue Amtsvorsteherbestimmt, die fast ausschließlich der NSDAP angehörten oder ihrzumindest so nahestanden, dass sie zukünftige Entwicklungennicht behinderten. Zu den dabei aus dem Amt entfernten Ge-meinderäten gehörte z. B. der Sozialdemokrat Herbert Nonnsenin Busdorf, der zwischen 1924 und 1930 auch als Gemeindevor-steher amtiert hatte. In Süderbrarup waren im April 1933 alle so-zialdemokratischen Gemeindevertreter von der Schutzpolizei inHaft genommen und nach Schleswig verfrachtet worden.45

In Kappeln hatte die NSDAP bei den Stadtverordnetenwahlenzwar nur 31,3 % oder fünf Sitze erreicht und war auf Unterstüt-zung angewiesen. Die SPD hielt demgegenüber mit 25,7 % vierSitze, die bürgerliche Liste „Lorenzen“ 37,1 %, ebenfalls vierund die Liste „Clausen“ mit 5,9 % einen Sitz.46 Dennoch wurdenauch hier die sozialdemokratischen Stadtverordneten mit Unter-stützung der „Bürgerlichen“ zum Mandatsverzicht genötigt. Op-fer dieser „Säuberungsaktion“ war der ebenso in den Kreistagwiedergewählte Sozialdemokrat Heinrich Köster.47 In Friedrich-

40 Kreisblatt Schleswig, 24. 3. 1933.

41 GA-SlFl Abt. B 2.0/207; Karl Werther,geb. am 23. 8. 1878 in Halle/Saale, wur-de der Plöner Landratsposten, in dem er biszu seinem Tod am 2. 6. 1939 amtierte,endgültig am 2. 10. 1933 übertragen. Erlöste dort Dr. Max Kiepert ab, dem dieNSDAP-Kreisleitung von Plön die förmlicheZusammenarbeit aufgekündigt hatte, SN18. 3. 1933.

42 Abdruck der Einführungsrede in: Kreis-blatt Schleswig, 27. 5. 1933, siehe auch SN27. 4. 1933.

43 Schleibote 30. 12. 1933.44 Vgl. SN 26. 2. 1933; In Erfde war dieGemeindevertretung seit März 1933 nahezuidentisch mit der lokalen NSDAP, Sürig,S. 175 ff und S. 202 f.45 SN 12. 4. 1933; polizeiliche Verfügungvom 11. 7. 1933 sowie Mitteilung des Busdor-fer Gemeindevorstehers Tams an das Landrat-samt, LAS 320 Sl-L/126.46 Fritz Werner Dehnke, Die Geschichte Kap-pelns während der Zeit des Nationalsozialis-mus, Kappeln o. J. (1988), S. 20.47 Polizeiliche Verfügung Landrat Meyer-Qua-de vom 11.7.1933, LAS 320 Sl-L/126. Hein-rich Köster, der dem Kreisausschuss seit Juli1932 angehörte, wurde in mehrmonatigeSchutzhaft genommen. 1944 geriet er im Zugeder Ermittlungen gegen die Widerstandskämpferdes 20. Juli erneut in die Fänge der Gestapo, dieihn ins Konzentrationslager Neuengamme ver-frachtete. Bei der Räumung des Lagers kam erauf die Cap Arcona, deren Untergang in der Neu-städter Bucht er kurz vor Kriegsende nicht über-lebte.

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stadt erschienen die NSDAP-Stadtvertreter gemeinsam mit Bürger-meister Coors in braunen Hemden zur ersten Sitzung des neuenStadtparlaments.48 Zielgerichtet wurden hier zwei Tage später dieMaßnahmen im Rahmen des ersten reichsweiten Boykotts gegen jü-dische Geschäftsleute am 1. April durchgeführt. Fünf Geschäftewurden besetzt und die Bevölkerung von SA- und SS-Posten am Be-treten der Ladenlokale gehindert. Zusätzlich hatten einzelne Gewer-betreibende mit Schaufensterplakaten ihre Solidarität gegenüberdem Boykott zum Ausdruck gebracht. Eine weitere Aktion richtetesich in Kappeln gegen die Familie Eichwald. Selbst in der kleinenGemeinde Kropp, in der nachweislich keine jüdischen Mitbürgerlebten, wurde der Boykott befolgt. Lediglich der örtliche Buchhänd-ler hatte den von ihm verlangten Plakataushang verweigert, weshalbein vor seinem Ladenlokal wachender SA-Mann „die Käufer vordem Betreten“ seines Ladenlokals warnte.49

In Satrup, wo die Ortsgruppe die „Machtergreifung“ am 19. Fe-bruar enthusiastisch gefeiert hatte, waren die auf den bürgerlichenListen kandidierenden Gemeinderäte nach und nach in die NSDAPbeigetreten. Im August 1933 wurde das auf der Arbeitnehmer-Listeverzeichnete SPD-Mitglied Markus Lausen aufgrund einer polizeili-chen Verfügung von Landrat Meyer-Quade aus dem Gemeinderatausgeschlossen.50 Obwohl zu diesem frühen Zeitpunkt noch nichtalle Maßnahmen abgeschlossen waren, konnte der in der Kreistags-sitzung am 26. 4. 1933 zum Kreisdeputierten gewählte Otto Geste-feld wohl zu recht resümieren: „Das Bild, dass wir heute sehen, dasbraune Bild, ist der Beweis dafür, dass die nationalsozialistische Re-volution auch im Kreis Schleswig durchschlagend gewesen ist“.51

Nur in zwei Gemeinden führten die Maßnahmen im Frühjahr1933 zu ernstzunehmendem Widerstand. In Nübel zwang eine letzt-lich zwar gescheiterte Protestbewegung sogar die Kreis- und Gaulei-tung zum Eingriff. Stein des Anstoßes war die Berufung desNSDAP-Ortsgruppenleiters Albert Zerrahn zum Amtsvorsteher, dendie Mehrheit der Einwohner, darunter sogar einzelne Parteimitglie-der, für unfähig hielten und in mehreren Beschwerdebriefen an Gau-leiter Lohse von „Vetternwirtschaft“ sprachen.52 In Langstedt schei-terte ein Versuch des allseits geachteten Gemeindevorstehers HansBundtzen, die NSDAP durch „Wahlarithmetik“ aus der Gemeinde-leitung fern zu halten.

Der 1883 geborene Hans Bundtzen zählte zu den bekanntestenpolitischen Persönlichkeiten im Kreis Schleswig. Er war Mitgliedder DNVP und gehörte dem Kreistag seit 1921 an. Außerdem vertrater seine Partei seit 1924 im preußischen Landtag und bekleidetezahlreiche Ehrenämter in landwirtschaftlichen Organisationen, etwaim Vorstand der Landwirtschaftskammer oder im Schleswiger Pfer-dezüchterverband. 1930 schloss er sich dem Landvolk an. Seit 1914war er kommunalpolitisch aktiv, amtierte als Gemeindevorsteherund war zudem Vorsitzender der Kreisabteilung des Verbandes derpreußischen Landgemeinden. Bundtzen war seit 1924 Mitglied imKreisausschuss und stellvertretender Landrat. Mit dem Einzug der

48 SN 30. 3. 1933.

49 SN 3. 4. 1933, 5.4. 1933; zu den Er-eignissen: Klaus Bästlein, Die Judenpogro-me am 9./10. November 1938 in Schles-wig-Holstein. Eine organisationsgeschichtli-che Skizze, in: Jüdisches Leben und Judenpogrome1938 in Schleswig-Holstein, hg. vomGrenzfriedensbund, Flensburg 1988, S. 9ff. Zu Kappeln: Bernd Philipsen, Der9./10. November 1938 in Kappeln. Die„Reichskristallnacht“ in einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt, in: ebd. S. 55 ff.; Ders., Zwischen Integra-tion und Deportation. Die Lebens- undLeidensgeschichte der jüdischen FamilieEichwald in Kappeln, in: Jb. Angeln 1999,S. 115 ff.50 Chronik Satrup, S. 2951 SN 27. 4. 1933.

52 Zahlreiche Protestbriefe in GA SlFl Abt.B 0.2/8.

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NSDAP in den Kreistag 1929 geriet er mehrfach mit deren führen-den Fraktionsmitgliedern Meyer-Quade und Gestefeld aneinander.Unter anderem hatte er Anfang 1930 als Kreisausschussmitglied denbeiden gewählten Amtsvorstehern und lokalen NS-ProtagonistenKlinker in Nübel und Rahn in Erfde die notwendige Bestätigungverweigert.53 Nachdem er im Vorfeld der Märzwahl 1933 auf eine er-neute Kreistagskandidatur und auf sein Amt als Gemeindevorsteherverzichtet hatte musste er auf Druck der Kreisleitung im April 1933auch vom Vorsitz des preußischen Landgemeindeverbandes imKreis Schleswig zurücktreten, weil er „nicht mehr das Vertrauen desKreises besitze und als Amtsperson unmöglich sei“, wie es hieß.54

Bundtzen war jedoch nicht bereit, sich kampflos zurückzuzie-hen. In seiner Heimatgemeinde Langstedt hatte die Gemeindevertre-tung auf seine Initiative hin kurz vor dem Wahltermin am 12. März1933 beim Kreisausschuss eine Änderung im Ortsstatut bewirkt unddie Zahl der zu wählenden Gemeinderatsmitglieder von sechs aufneun erhöht. Ziel war die Verhinderung eines Patts im Gemeinderat,was möglicherweise der NSDAP per Losentscheid zum Gemeinde-

Hans Bundtzen (Langstadt),Bürgermeister, Kreistags- und Landtags-abgeordneter und schleswig-holsteinischerLandwirtschaftsminister 1946/47 (GA SIFI)

53 Dabei handelte Bundtzen durchaus ge-setzeskonform, da die Ernennung vonAmtsvorstehern ausschließlich Angelegen-heit der preußischen Regierung war undder Kreistag nur der dort getroffenen Ent-scheidung nachkommen konnte, Kreistags-protokoll vom 31. 5. 1930, GA SlFl Abt B0.2/1554 SN 22. 3. 1933.

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vorsteherposten verholfen hätte. Bundtzen und die von ihm ange-führte agrar-konservative Wählerliste, die überwiegend aus Mitglie-dern des örtlichen Stahlhelm bestand, setzte sich bei der Wahl im Ortnicht überraschend mit deutlichem Vorsprung gegen die NSDAPdurch, die im Vergleich zur Kreistagswahl mehr als ein Drittel derStimmen in Langstedt verlor und nur vier Vertreter ins Gemeinde-parlament entsenden konnte. Wie geplant verlor der NSDAP-Orts-gruppenleiter Hans Hansen die Gemeindevorsteherwahl. Verbittertüber diese Niederlage bezeichnete dieser Bundtzen als einen „öf-fentlich gebrandmarkten Lügner“, beschuldigte ihn, eine Intrige in-szeniert zu haben, nur um „selbst noch weiter seine Hand im Spielzu haben, um den Nationalsozialismus im nationalsozialistischenStaat an die Wand zu drücken“. Zugleich legte Hansen offizielle Be-schwerde bei Landrat Meyer-Quade ein. In einem mehrere Monatewährenden Verfahren revidierte der Kreisausschuss unter Vorsitzvon Otto Gestefeld im September 1933 den früheren Beschluss zurÄnderung des Ortsstatuts wegen nicht eingehaltener Fristen mit derMaßgabe, das damalige Wahlergebnis auf der Basis von sechs zuwählenden Gemeindevertretern neu festzusetzen.55

In den Monaten davor und auch später wurde Bundtzen Ziel-scheibe heftigster nationalsozialistischer Übergriffe. Mitglieder derLangstedter Ortsgruppe überfielen seinen Hof mehrere Male undrichteten schwere Sachschäden an. Wiederholt wurde er in bis zu 14Tage währende „Schutzhaft“ genommen, wobei ihm nach der Ent-lassung sogar zweimal der Aufenthalt im Kreisgebiet bzw. in seinemHeimatdorf untersagt worden war. Bezeichnend für seine weitereBehandlung war auch ein vom Landrat und von der Kreisleitungausgesprochenes Verbot zur Ausübung des aktiven Wahlrechts beider „Reichstagswahl“ 1936, wogegen er erfolglos intervenierte.56

Nach Kriegsende zählte Bundtzen zu den Mitgründern der CDU imKreis Schleswig, amtierte seit Mitte Mai 1945 wieder als Langsted-ter Bürgermeister, gehörte dem Kreistag an und wurde am 23. 11.1946 von der britischen Militärregierung im Kabinett von TheodorSteltzer bis zur Landtagswahl im April 1947 als Landwirtschaftsmi-nister eingesetzt. Er starb am 13. 6. 1948 nach schwerer Krankheit inseinem Heimatort.57

NSDAP-Funktionsträger in der Stadt Schleswig. Die Wiederbelebung der imFrühjahr 1925 gegründeten NSDAP-Ortsgruppe in Schleswig spülteseit 1927 einen Kreis einflußreicher Männer in den Vordergrund, diein Schleswig und Umgebung nicht zu Unrecht als „Alte Garde“ be-zeichnet wurden. Die Namen und Fotos der „Vorkämpfer der Bewe-gung aus Stadt und Land“ sind in einem Rückblick über die „erfolg-reichen Kampfjahre“ der NSDAP im Kreis Schleswig in einem län-geren Artikel in den Schleswiger Nachrichten dokumentiert. Hierzunotierte die Zeitung weiter: „Wir veröffentlichen heute anläßlich derParteigründungsfeier und des Gauparteitages die Bilder von Volks-genossen, die sich in mühevoller Kleinarbeit und unermüdlicher Op-ferbereitschaft, beseelt von dem Glauben an Adolf Hitler, bereits ineiner Zeit für die Idee des Führers eingesetzt haben, in der die Bewe-

55 Vorgang in LAS 320 Sl-K/12. Trotzdieses Erfolges gelang es Hansen nicht,Bürgermeister zu werden.56 Beschwerde Bundtzens und Antwortdes Landrats vom 23. und 24. 3. 1936,LAS 320 Sl-L/61.57 Personendokumentation, GA SlFl so-wie Chronik der Gemeinden Eggebek, Jer-rishoe und Langstedt, Ausgabe A. EineFortschreibung der selbständig gebliebe-nen Gemeinden aus dem von WilhelmClausen 1939 herausgegebenen Heimat-buch des Kirchspiels Eggebek, Husum1999, S. 217 f.

„... am wohlsten fühlte ersich, wenn er draußen kämpfenkonnte.“

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gung verlacht, verhöhnt und niedergeknüppelt wurde. Es ist Pflichtund Notwendigkeit, damit zu beginnen, die Verdienste dieser deut-schen Menschen in Wort und Bild festzuhalten, damit nie vergessenwerde, daß sie die ersten Bausteine trugen zum Dritten Reich.“58

Zu den Männern der „Ersten Stunde“ zählte der Arzt Dr. ErnstPaulsen, der schon an der Gründungsversammlung der NSDAP fürden Gau Schleswig-Holstein am 1. März 1925 teilgenommen hatte.Paulsen wurde dabei auf Empfehlung von Gauleiter Hinrich Lohsezum Ortsgruppenleiter in Schleswig bestimmt und mit dem Aufbaueiner lokalen Organisation beauftragt. Anfangs hatte er jedoch nurmäßigen Erfolg. Im Sommer 1925 umfasste die Ortsgruppe, derenKeimzelle vorwiegend aus Absolventen der „Höheren Lehranstaltfür praktische Landwirte“ bestand, die Schleswig im Regelfall beiSemesterende wieder verließen, nicht mehr als zehn Mitglieder. Mitdem Tod Paulsens Ende 1926 schien sie sogar vollständig von derBildfläche verschwunden zu sein.

Sein Nachfolger wurde Dr. med. Erich Straub, geb. 26. 8. 1885 inDurlach/Baden. Er hatte die Mitgliedsnummer 43987 und war derNSDAP am 17. 9. 1926 beigetreten. In Rostock, Leipzig und Frei-burg hatte er Medizin studiert, promovierte 1911 und erhielt 1912seine Approbation. Nach Tätigkeiten in der Heil- und Pflegeanstaltin Neustadt wurde er 1919 Oberarzt in der Provinzial-Heil- und Pfle-geanstalt Schleswig-Stadtfeld. Bereits 1921 wurde er als Mitglieddes „Völkisch-Sozialen Blocks“ und 1922/23 als Mitglied derNSDAP-Ortsgruppe München geführt. Nach erstem Erfolg zurKommunalwahl 1924 kandidierte er fünf Jahre später auf der ge-meinsamen bürgerlichen Liste „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“und wurde im Dezember 1929 erster NSDAP-Stadtverordneter inSchleswig. 1930 wurde er Leiter der Gauabteilung für Volksgesund-heit und Rassenfürsorge der NSDAP und war zugleich als Arzt An-laufstelle für die bei Auseinandersetzungen verletzten SA-Mitglie-der in Schleswig und Umgebung. Der Wahl zum Stadtrat am29.3.1933 folgte kurz darauf der Ruf zur Provinzialverwaltung nachKiel. Im November wurde er dort zum Landesrat befördert und mitder Leitung der Fürsorgeerziehung betraut. Zwischen Februar 1941und März 1943 wirkte er zudem als Gutachter im Rahmen des natio-nalsozialistischen „Euthanasie-Programms“. Dabei besuchte ermehrfach die Kliniken in Schleswig-Stadtfeld und Hesterberg. An-fang 1944 erfolgte seine Entlassung aus Altersgründen. Straub sollbei Kriegsende in Berlin verstorben sein.59

Erst mit Joachim Meyer-Quade kam neuer Schwung in dieOrtsgruppe. Unter seiner Führung baute die NSDAP im Kreis und inder Stadt Schleswig seit Sommer 1929 ihre Organisationsstrukturenauf. Zugleich wurde die Auseinandersetzung mit dem politischenGegner forciert und zunehmend auf die Straße verlagert. Hatten dieReichstagswahlen 1928, bei denen die Partei mit 149 Stimmen ihrenAnteil zwar um ca. 4 Prozent steigern konnte, noch keinen nach-haltigen Aufschwung gebracht, so änderte sich die Lage im Gefolgeder Kommunalwahlen 1929 schlagartig. Die NSDAP-Liste, über die

58 SN 24. 2. 1934.

59 BDC-PK, Erich Straub sowie SN 31. 3. 1933.

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Straub erneut in die Stadtverordnetenversammlung einzog, erhielt779 Stimmen, das waren 9,5 Prozent. In den Kreistag zogen, mitMeyer-Quade an ihrer Spitze, sogar fünf NSDAP-Mandatsträgerein.

Joachim Meyer-Quade wurde am 22. 11. 1897 in Düsseldorf ge-boren und trat der NSDAP am 13. 6. 1925 mit der Mitgliedsnummer7608 bei. Zusammen mit dem späteren NSDAP-Kreisgeschäftsfüh-rer Hans Bernsau und dem Apotheker M. Klauder war er Mitbegrün-der der Schleswiger SA. Über seine Tätigkeit für die Partei im KreisSchleswig gelang ihm der Karrieresprung, der ihn in hohe Ämter in-nerhalb der NS-Hierarchie führen sollte. Eigenen Angaben zufolgehat er, „nie einen Hehl daraus gemacht, daß er zum Paragraphen-menschen, zum Bürokraten, nicht taugte“ und „sich am wohlstenfühlte, wenn er draußen kämpfen konnte für die Idee seines und un-

NSDAP-Kreisleiter in Schleswig JoachimMeyer-Quade (SN 24.2.1934)

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seres Führers“.60 Unter den Schleswiger Nationalsozialisten soll ereinen „von hoher Wertschätzung geprägten, mit heldenmythischenElementen angereicherten Ruf“ genossen haben.61 Dies zeigt u. a.ein in den Schleswiger Nachrichten anlässlich des SA-Gautreffensim Mai 1935 veröffentlichtes Gedicht mit der Überschrift „Das Liedvon Jochen“, aus dem einige Verse zitiert werden sollen: „Er ist unsBruder, Vater/ der treu‘ste Kamerad/ und hilft uns als Berater/ mitWorten und mit Tat./ Wenn alle Stricke reißen,/ springt Jochen füruns ein,/ und wenn die Berge kreißen,/ läßt er fünf grade sein. – Wirklau’n für ihn den Teufel/ aus seinem Himmelbett,/ Geschmort wird,wer hat Zweifel,/ in seinem eignen Fett – – –/ Ja, Jochen bleibt dergleiche,/ er streitet wie er stritt/ fürs Volk im Dritten Reiche,/ Wirzieh’n im Gleichschritt mit.“62

In Schleswig wurde schon zu Lebzeiten der sogenannte „SA-Platz“, eine Versammlungsstätte an der Lornsenschule, als „Meyer-Quade-Platz“ bezeichnet. Außerdem tauften die Kreisverkehrsbe-triebe einen 1933 erworbenen Schleidampfer, der wegen hohen undteuren Energieverbrauchs allerdings unwirtschaftlich war und nacheinem Jahr wieder abgestoßen werden musste, auf seinen Namen.Nicht zu vergessen sei der Hinweis, dass Meyer-Quade mit dem gol-denen Parteiabzeichen geehrt wurde und der „Alten Garde derNSDAP“ zuzurechnen ist.

Nach der Mittleren Reife leistete Meyer-Quade von Januar 1915bis zum Februar 1920 seinen Militärdienst und wurde, im Weltkriegmit dem EK I. und II. Klasse dekoriert, als Vizefeldwebel entlassen.In Schleswig-Holstein nahm er die zuvor abgebrochene landwirt-schaftliche Ausbildung wieder auf. 1924 bis 1925 besuchte er dieSchleswiger Landwirtschaftsschule und arbeitete danach als Guts-verwalter in der Uckermark. In Schleswig wurde er schon am 1. 7.1925 für ca. einen Monat mit der Leitung der NSDAP-Ortsgruppebeauftragt. Kurze Zeit später berief ihn der Leiter der Landwirt-schaftsschule, Dr. Wölfer, in die Schriftleitung der „NorddeutschenLandwirtschaftlichen Zeitung“. Außerdem schrieb Meyer-Quade fürdie agrartechnische Beilage der Zeitschrift „Schleswig-Holsteini-scher Bauer“, dem Mitgliedsorgan des Bauernvereins. In dieserFunktion bereiste er das Land, knüpfte wertvolle Kontakte und nutz-te jede Gelegenheit, um für die NSDAP zu werben. Im März 1927und nochmals ab Januar 1929 bis zum 11. 3. 1931 war Meyer-Quadewiederum Ortsgruppenleiter in Schleswig. 1928 wurde er zusätzlichNSDAP-Kreisleiter im Kreis Schleswig, eine Position, in der er mitUnterbrechungen bis August 1932 und nochmals zwischen Aprilund Dezember 1933 amtierte. Es folgte die Bezirksleitung für denNSDAP-„Bezirk Nord-Ost“, mit den Gebieten Flensburg, Schleswigund Eckernförde. In dieser Funktion beteiligte er sich an dem vonSA-Männern des Sturms IV/86 arrangierten Sturm auf das Eckern-förder Gewerkschaftshaus am 10. Juli 1932, bei dem zwei sozialde-mokratische Landarbeiter erstochen wurden.63

Nach seiner Ernennung zum Oberführer der SA-UntergruppeSchleswig am 28. 7. 1932 wohnte er im März 1933 bei seiner erneu-

60 Schleibote 7. 11. 1933, zum Lebens-lauf auch Flensburger Nachrichten (FN)29. 1. 1934.61 Rietzler, Kampf, S. 401.

62 SN 25. 5. 1935, Verfasser des Ge-dichts war der Hauptschriftleiter der SN,Dr. Fritz Michel.

63 Hierzu die umfangreiche Berichterstat-tung in: Schleswiger Volkszeitung (SVZ)ab 11. 7. 1932 sowie über den Prozess,in dem Meyer-Quade als Zeuge auftrat, ab8. 9. 1932; ebenso: Karl-Werner Schunck,Der Sturm auf das Gewerkschaftshaus inEckernförde. Wie die Nazis die Landarbei-ter Buhs und Junge ermordeten, in: KurtHamer, u. a. (Hg.), Vergessen und Ver-drängt. Eine andere Heimatgeschichte.Arbeiterbewegung und Nationalsozialismusin den Kreisen Rendsburg und Eckernförde,Eckernförde 1984, S. 104 ff.; wenigeTage später, am 22. 7. 1932, wurde inEckernförde ein bewaffneter Überfall aufden Kreisleiter des Landarbeiterverbandesverübt, die angeklagten Nationalsoziali-sten Hans Ross, Bruno Benthien und OttoHorst stammten aus Schleswig und erhiel-ten eine Gefängnisstrafe von fünf Wochen,Bericht Regierungspräsident vom 28. 7.und Landrat in Schleswig vom 15. 11.1932, LAS 309/22700.

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ten Kandidatur für den Reichs- und Kreistag in der SchleswigerBahnhofstraße. In den Kreistag gewählt, wurde er am 12. 5. 1933 alsNachfolger Gerhard Werthers zum Landrat des Kreises Schleswigernannt. Diese Position behielt Meyer-Quade bis zum 30. 11. 1933,nachdem er im Zuge der Aufklärung der Affäre um seinen Stellver-treter, den Kreisdeputierten Otto Gestefeld ins Zwielicht geraten warund, wohl aus Selbstschutzgründen, aus der vordersten Reihezurückgezogen werden musste. Er wurde als Führer zur SA-GruppeNiedersachsen versetzt, kehrte aber schon Anfang 1934 nach Schles-wig-Holstein zurück und wurde am 1. Februar zum Brigadeführerder SA-Gruppe Nordmark befördert.

Im Oktober 1934 ernannte ihn Gauleiter Lohse zum Kieler Poli-zeipräsidenten. Im selben Jahr gelangte er zudem als Beisitzer in denVolksgerichtshof. 1938 wurde er zum SA-Obergruppenführer in derNordmark befördert. Als solcher gab er in der Pogromnacht vom 9.auf den 10. November 1938 von München aus, wo seinerzeit dieParteielite zur Feier des Jahrestages des gescheiterten NSDAP-Put-sches von 1923 weilte, den Befehl zur Plünderung und Zerstörungder Synagogen in Schleswig-Holstein und zur Verhaftung der jüdi-schen Bevölkerung. Dies belegt im übrigen eindeutig, dass es sichbei damaligen blutigen Gewalttaten nicht um eine spontane Reakti-on der Bevölkerung, sondern um ein staatliches und von Parteikrei-sen gesteuertes Verbrechen an unschuldigen Menschen handelte.64

Meyer-Quade war langjähriger Parlamentsabgeordneter. 1929kandidierte er erstmals erfolgreich für den Schleswiger Kreistag. AlsSpitzenkandidat wurde er im März 1933 wiedergewählt. 1930erfolgte seine Wahl in den preußischen Landtag. Zugleich gehörte erdem Reichstag für den Wahlkreis 13, die Provinz Schleswig-Hol-

Die Gründungsmitglieder der NSDAP inSchleswig um 1933: 1. Joachim Meyer-Quade, 2. Ernst Kolbe,3. Hans Rieck, 4. unbekannt, 5. ErnstRamcke, 6. Dr. Adolph Herting, 7. ErichHasse. (Stadtmuseum Schleswig)

64 Bernd Philipsen, „... völlig überflüssi-ge Versammlungshäuser“. Die Pogrom-nacht vom 9./10. November 1938 inSchleswig-Holstein, in: Gerhard Paul,Miriam Gillis-Carlebach (Hg.), Menora undHakenkreuz. Zur Geschichte der Juden inund aus Schleswig-Holstein, Lübeck undAltona 1918 – 1998. Neumünster 1998,S. 469 ff.

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stein an, eine Mitgliedschaft, die in den folgenden Wahlen undVolksabstimmungen bis 1938 jeweils bestätigt wurde.65 Bei Kriegs-ausbruch verließ er Schleswig-Holstein, meldete sich freiwillig zumMilitärdienst und fiel als Oberleutnant im Infanterie Regiment 6 am10. September 1939 bei Piatek. Sein Grab wurde zur „Pilgerstätte“seiner alten Schleswiger Gefolgsleute. Darüber hinaus trug die pol-nische Stadt Kutno im Zuge der Umbennung besetzter Städte seitOktober 1943 für kurze Zeit den Namen „Quadenstädt“.66

Nicht nur in dem von ihm geführten Kreis Schleswig, auch fürdie Agitation im übrigen Schleswig-Holstein war Meyer-Quade alsDenker und Lenker unentbehrlich. In der dadurch bedingten Orts-abwesenheit übernahmen andere, ebenso eifrige Funktionsträger,einen Teil der Aufgaben für die Stadt und den Kreis Schleswig. Zudiesen zählen in den Rängen als Ortsgruppenleiter Hans Bernsau,der Zahnarzt und kurzzeitige Bürgermeister Dr. Adolph Herting so-

Dr. Adolph Herting, NSDAP-Fraktionsführer,komm. Bürgermeister in Schleswig1933/34 und Angehöriger der „AltenGarde“ (GA SIFI)

65 Kreisblatt Schleswig, 1929, S. 135,1933, S. 25; BDC-SSO, Joachim Meyer-Quade sowie GA SlFl, Abt. B 2.0/207.

66 Hierzu zählte u. a. die Stadt Lodz, diezur Erinnerung an den Sieger der dort im1. Weltkrieg ausgetragenen Schlacht „Litz-mannstadt“ hieß, Holsteinische Nachrich-ten, 28. 10. 1943. Für freundliche Hin-weise, u. a. auch für die Überlassung einerDokumentationsmappe über Meyer-Quadedanke ich Erich Koch in Schleswig.

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wie der spätere Stadtobersekretär Bruno Steen. Unerlässliche Hilfekam vom „Hauptschriftleiter“ der Schleswiger Nachrichten Dr. FritzMichel, dessen unverhohlene Sympathien für die NSDAP erstmalsim Kommunalwahlkampf 1929 deutlich wurden. Unter seiner Lei-tung verwandelte sich die Zeitung zum Sprachrohr für die NS-Ideo-logie.67

Adolph Herting, am 4. 10. 1896 in Schleswig geboren, ließ sichnach entsprechendem Schulabschluss und Studium, aus Brake ander Unterweser kommend, 1927 als Zahnarzt in seiner Heimatstadtnieder.68 Der NSDAP trat er mit der Mitgliednummer 159752 zum1. 11. 1929 bei. Schon am 1. April des Folgejahres avancierte er zumOrtsgruppenleiter, eine Position, die er bis zum 31. 8. 1931 bekleide-te. Er organisierte zahlreiche Parteiveranstaltungen, trat dabei alsRedner auf und hatte mehrfach Gelegenheit, in den SchleswigerNachrichten Propagandaartikel zu veröffentlichen. Er habe, so heißt

Heinrich Blum, komm. Bürgermeister inSchleswig 1933 und Angehöriger der„Alten Garde“ (SN 24. 2. 1934)

67 Hierzu neu: Falk Ritter, Dr. Fritz Mi-chel 1895 – 1978. Hauptschriftleiter der„Schleswiger Nachrichten“ 1923-1937,1949-1965, in BSSt 46 (2001),S. 121 ff. 68 Vgl. den apologetischen Beitrag vonDietrich Herting, Dr. Adolph Herting –nicht nur ein Schleswiger Leben, in: BSSt42 (1997), S. 99 ff. sowie – als Replikdarauf - Falk Ritter, Dr. Adolph Herting(1896 –1987). Schleswigs zweiter natio-nalsozialistischer Bürgermeister, in: BSSt44 (1999), S. 75 ff. Eine sich daraus ent-wickelnde öffentliche Kontroverse hat inSchleswig zur Jahreswende 1997/98hohe Wellen geschlagen.

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es, „Schwung in die Schleswiger NSDAP gebracht“ und zählte nachdieser Einschätzung dabei auch zu den frühen Wegbereitern des ra-dikalen Antisemitismus.69 Vom 1. 9. 1932 bis zum 12. 3. 1933 fun-gierte er in Vertretung für Meyer-Quade als Kreisleiter und zog indieser Phase mit seiner NSDAP-Fraktion bei der Kommunalwahl als„Fraktionsführer“ ins Rathaus ein. Am 21. 9. 1933 wurde er zum un-besoldeten Stadtrat bestimmt und nach nur wenigen Wochen, am24. Oktober, zum kommissarischen Bürgermeister ernannt. Aus die-ser Position zog er sich auf der Grundlage des neuen Gemeindever-fassungsgesetzes, das nur noch ausgebildete Verwaltungsleute bzw.Volljuristen in Bürgermeisterpositionen vorsah, am 22. 1. 1934zurück und konzentrierte sich wieder ganz auf seinen Zahnarztberuf.Nachfolger Hertings wurde Franz von Baselli.70

Herting hat nach Aussage des Sohnes die „Kampfzeit (als) imGrunde schönste Zeit“ empfunden. Nach dem „Röhm-Putsch“ am30. 6. 1934 habe er sich aber zurückgezogen, ja sich innerlich sogarvom Nationalsozialismus distanziert. Dieser Darstellung wird vonFalk Ritter unter Hinweis darauf, dass Herting auch später noch alsRedner auf einzelnen Parteiveranstaltungen öffentlich hervorgetre-ten sei, zurecht energisch widersprochen. Auch das 1939 letztlichgescheiterte Wiederaufnahmegesuch seiner Ehefrau, die Ende 1932aus der Partei ausgetreten war und damit seinerzeit nur mühsam ver-borgene Turbulenzen in der Schleswiger Ortsgruppe offenbart hatte,zeige, dass eine förmliche Abkehr zu diesem Zeitpunkt nicht stattge-funden haben könne. Folgerichtig wurde Herting im Entnazifizie-rungsverfahren 1947 in die Kategorie III (Belastet) eingestuft, miteiner Verfahrensgebühr von 1000 RM und einem Beitrag zum Wie-deraufbaufond in Höhe von 10000 RM belegt. Die Umstufung in dieKategorie der Mitläufer erfolgte im Rahmen der üblichen Umstu-fungsverfahren ein gutes Jahr später.71

Zum lokalen NS-Führungskorps gehörte ferner Hertings Amts-vorgänger als kommissarischer Bürgermeister, der Lehrer und späte-re Schulrat Heinrich Blum, der nach 1933 in hohe Schulverwal-tungspositionen aufstieg.72 Blum wurde am 5. 4. 1895 in Prüm/Rheinland geboren. Bei Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig.1922 studierte er für zwei Jahre Jura und Nationalökonomie in Ber-lin und besuchte eine Handelshochschule. Auf der Grundlage einervon 1911 bis 1915 erfolgten Ausbildung an einem Lehrerseminartrat er in seiner Heimat in den Schuldienst ein und wurde 1924 nachSchleswig-Holstein versetzt. Hier arbeitete er an Volksschulen inMölln, Wewelsfleth und Alvesloe, ehe er am 1. 4. 1931 eine Stelle ander Schleswiger Wilhelminenschule erhielt.

Blum trat der NSDAP am 23. 11. 1925 mit der Mitgliedsnummer22345 bei, wurde kurz darauf SA-Sturmführer und wirkte als viel-beschäftigter „Gauredner“ in ganz Schleswig-Holstein. Zugleichamtierte er als Kreisleiter des Nationalsozialistischen Lehrerbundesund war für einige Wochen Kreisamtsleiter, wobei er für die Gleich-schaltung der Sparkassen und der Wirtschaftsverbände zuständigwar.73 Mit der Kommunalwahl im März 1933 gehörte er der Stadt-

69 Ritter, Herting, S. 83.

70 Hierzu die Aufsätze von Ritter,Herting, passim.

71 Ritter, Herting, S. 94 ff.

72 Weiterhin erwähnenswert, aber beiweitem nicht so bedeutend waren der seitdem Frühjahr 1932 aktive RegierungsratDr. Dehning, der kurz nach der Machtüber-nahme 2. Bürgermeister in Altona wurdeund der Ortsgruppen-Betriebszellenwartdes „Kampfbundes erwerbsloser National-sozialisten“, Julius Feddersen, der nach ei-nem Konkurs von der Wohlfahrtsunterstüt-zung lebte, Almut Ueck, Politische Ent-wicklung, S. 21.

73 SN 29. 5. 1933.

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verordnetenversammlung an, die ihn in der ersten Sitzung zum Bei-geordneten wählte.

Am 11. 8. 1933 übernahm er für den aus dem Amt entlassenenlangjährigen Bürgermeister Dr. Oscar Behrens bis zum 24. 10. dieAmtsgeschäfte. Zum 15. 4. 1934 wurde er als Schulrat nach Olden-burg (Holstein) berufen. Blum, der „Alten Garde der NSDAP“ an-gehörend, zählte im 2. Weltkrieg zu denjenigen Schleswig-Holstei-nern, die Gauleiter Hinrich Lohse mit in die Zivilverwaltung desReichskommissariats Ostland mitnahm. Bis wenigstens 1944 war erdort als Oberregierungs- und Schulrat tätig. Sein weiteres Schicksalist unbekannt.74

Der gelernte Handlungsgehilfe Hans Bernsau, geboren am22. 10. 1905 in Iserlohn, verkörperte den brutalen und zu jedemRaufhandel bereiten nationalsozialistischen Kämpfer. Zusammenmit Meyer-Quade übte er auf die desillusionierten und überwiegendaus jungen Leuten und Arbeitslosen bestehenden Anhängern undSA-Abteilungen große Anziehungskraft aus und wurde von diesengerade wegen seiner rücksichtlosen Härte bei der symbolischen Er-oberung des „feindlichen Terrains“ besonders geschätzt. In das Bild,dass die Schleswiger NSDAP-Führung von sich selbst nach außenvermittelte, passte der einem politischen Landsknecht ähnelndeBernsau allerdings wenig hinein. Er war arbeitslos und unterschiedsich damit von der Mehrzahl der örtlichen Funktionsträger, die wiePaulsen, Straub, Herting und Blum gesellschaftlich anerkannt warenoder wie Meyer-Quade zumindest in einer gesicherten bürgerlichenExistenz lebten.

Bernsau kam um 1926 nach Schleswig, das genaue Datum seinesParteieintritts ist unbekannt. Die niedrige Mitgliedsnummer 47984verweist jedoch auf eine sehr frühe Zugehörigkeit. Im Sommer 1926wurde er Kreisgeschäftsführer der NSDAP. Ein Jahr später zählte erzu den Mitgründern der Schleswiger SA, löste Meyer-Quade imHerbst 1927 und erneut am 25. 8. 1928 als NSDAP-Ortsgruppenlei-ter ab. 1931 avancierte er zum Geschäftsführer des NSDAP-Bezirks„Nord-Ost“, wo er wiederum eng mit Meyer-Quade zusammenarbei-tete.

Aufsehen erregte Bernsau in Schleswig, abgesehen von den übli-chen Plänkeleien mit den politischen Gegnern, vor allem durch ei-nen Zwischenfall am Domziegelhof am 1. Mai 1931. Im Hotel „Ho-henzollern“ hatten die Gewerkschaften zur jährlichen Maifeier ein-geladen. Bernsau drängte zusammen mit einigen ihn begleitendenNationalsozialisten in den Saal, wurde aber von den die Veranstal-tung überwachenden Schutzpolizisten zurückgewiesen. Kurze Zeitspäter begehrte der von ihm geführte Trupp Einlass in eine zweiteMaiveranstaltung in der Zentralherberge. Der Aufforderung des Wir-tes, vorher die Parteiabzeichen vom Revers zu entfernen, kam nie-mand nach. Die Versammlung forderte die NSDAP-Störer daher auf,sofort die Räume zu verlassen, was Bernsau im Unterschied zu sei-nen Begleitern nicht befolgte. Er soll im Gegenteil die Versamm-lungsteilnehmer beschimpft haben und wurde daraufhin von Mit-

74 GA SlFl Abt. 9/419, Abt 11/316;BDC-SSO, Heinrich Blum; SN 23. 4.,25. 4. und 8. 6. 1934.

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gliedern des sozialdemokratischen Jungbanners auf die Straßezurückgedrängt. Hier soll sich der erregte Wortwechsel noch einigeZeit fortgesetzt haben, ehe Bernsau sich fluchtartig zurückzog. Vonden aufgebrachten Kontrahenten verfolgt, gab er aus seiner Pistoleeinen Schuss ab, der allerdings niemand verletzte. Auf der Fluchtquer durch die ganze Stadt wurde er eingeholt und erheblich ver-letzt. Erst die von besorgten Einwohnern herbeigerufene Polizeikonnte die Ruhe und Ordnung wieder herstellen.75

Aus Furcht, durch Bernsaus impulsives Verhalten selbst in Miss-kredit zu geraten, zog Schleswigs NSDAP-Führung zwei Tage spä-ter weitreichende Konsequenzen. Bernsau wurde in einem eilendsanberaumten Disziplinarverfahren unterstellt, die Vorfälle provoziert

Hans Bernsau, Kreisgeschäftsführer derNSDAP im Kreis Schleswig 1926-1931 (GA SIFI)

75 Schilderung des Vorfalles nach der Be-richterstattung in SN 2. 5., 4. 5 und 5. 5.1931 sowie SVZ 2. 5. und 4. 5. 1931.

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zu haben und am 4. Mai 1931 aus der Partei ausgeschlossen. Ob die-se Maßregelung allerdings vollzogen wurde, ist nicht zu klären. Ver-mutlich ging es nur darum, die von dem Geschehen sichtlich ge-schockte Bevölkerung zu beruhigen und Stärke gegenüber Diszi-plinlosigkeiten in den eigenen Reihen zu demonstrieren. So hieß esauch folgerichtig in einer am 4. Mai 1931 in den Schleswiger Nach-richten veröffentlichten Erklärung:

„Die Leitung der Ortsgruppe Schleswig der NSDAP hat den bis-herigen Bezirks-Geschäftsführer Bernsau sofort nach Bekanntwer-den des nächtlichen Zusammenstoßes am Domziegelhof aus derPartei ausgeschlossen. Ob er später anderen Ortes je wieder in dieBewegung aufgenommen werden kann, wird von der gerichtlichenKlärung des Vorfalles abhängig gemacht. Doch sind die Satzungender NSDAP in diesem Punkt sehr streng.“

Bei der Gerichtsverhandlung wenige Wochen später war Bernsauwieder ganz in seinem Element. Wiederholt provozierte er die Rich-ter und nutzte jede sich ihm bietende Gelegenheit, seine politischenGegner zu verleumden. Die Verhandlung musste sogar unterbrochenwerden, da er in brauner Uniform erschienen war und damit gegendas bestehende Uniformverbot verstoßen hatte. WidersprüchlicheZeugenaussagen führten schließlich zum Freispruch. Damit dürfteBernsau, so die ihm gewogenen Schleswiger Nachrichten in einer

Umbenennung des Schleswiger Amalienplatzes in „Hans-Bernsau-Platz“am 25. 8. 1934 (GA SIFI)

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abschließenden redaktionellen Bemerkung, „wieder automatisch indie nationalsozialistische Partei aufgenommen worden sein“.76

Dennoch trat er in Schleswig nicht mehr öffentlich hervor. Erverzog zunächst nach Flensburg und wurde im Oktober 1931 zumneuen Bezirksgeschäftsführer der NSDAP-Bezirksleitung „Nord-West“ mit Wohn- und Dienstsitz im nordfriesischen Viöl ernannt.Mehrfach trat er in dieser Funktion auf Parteiversammlungen imUmland auf.77 Im Januar 1932 erteilte ihm Flensburgs Polizeipräsi-dent Rosborg Redeverbot, da er „als Hetzredner übelster Sorte be-kannt und auch wegen Vergehens gegen das Republik-Schutz-Ge-setz vorbestraft ist“.78

Der genaue Zeitpunkt seiner Rückkehr in seine GeburtsstadtIserlohn, in der er am 15. oder 18. Januar 1933 bei einer Auseinan-dersetzung mit politischen Gegnern erschossen wurde, ist unbe-kannt. In der Todesanzeige stilisierte die Schleswiger NSDAP-Führung Bernsau zum „Märtyrer der Bewegung“, der „stets als eiser-ner Kämpfer in vorderster Front“ gestanden und „seine Treue zumNationalsozialismus und seinen Führer mit dem Tode“ besiegelthabe. Auf Beschluss der städtischen Kollegien wurde der Amalien-platz im Oktober 1933 in „Hans-Bernsau Platz“ umbenannt. Aucheine Straße in der sog. „SA-Dankopfer-Siedlung“ am Kolonnenwegtrug seinen Namen, bis nach Kriegsende als eine der ersten Maßnah-men des Magistrats wieder die alten Bezeichnungen eingeführt wur-den.79

Zum engeren Führungskreis der Schleswiger NSDAP zählt wei-terhin Ferdinand Jans. Dieser war der Partei vergleichsweise spät am1. 9. 1932 beigetreten und amtierte als „Führer“ des „Kampfbundeserwerbsloser Nationalsozialisten“. Jans wurde am 11. 9. 1898 alsSohn eines Müllergesellen in Flensburg geboren. Von 1905 bis 1914besuchte er die Volksschule und trat nach der Entlassung eine kauf-männische Lehre an, die er 1917 beendete. Anschließend leistete erseinen Militärdienst und kam erst im August 1919 aus französischerGefangenschaft in seine Heimatstadt zurück. Es folgten zahlreicheAnstellungen als Handlungsreisender bei unterschiedlichen Arbeit-gebern. Der Versuch einer selbständigen Existenz in Schleswigscheiterte im August 1930. Fortan war Jans arbeitslos und schlosssich der nationalsozialistischen Erwerbslosenbewegung an, wo erdie Funktion eines Orts- und später auch Kreisbetriebszellenobman-nes übernahm. Besonders aktiv trat er beim Streik der SchleswigerWohlfahrtserwerbslosen im Mai 1932 hervor.

Zum Streik kam es, nachdem der Magistrat infolge eines Be-schlusses des Kreisausschusses eine Kürzung der Unterstützungssät-ze um 20 % angekündigt hatte. Zwar wurden die alten Sätze nachsofort einsetzenden Protesten für zwei Wochen zunächst weiter ge-zahlt und in Verhandlungen zwischen Gewerkschaftskartell, Landratund Magistrat eine einvernehmliche Lösung gesucht. In dieser Si-tuation versuchte jedoch die NSDAP die Gunst der Stunde für sichzu nutzen, rief ihre Mitglieder zum Streik auf und scheute dabeiselbst die enge Kooperation mit den im Alltag ansonsten heftig

76 SN 29. 6. 1931, weitere Bericht-erstattung auch in SVZ 29. 6. 1931.

77 Schleibote (SB) 1. 10. 1931.

78 Landeskriminalpolizeistelle Flensburg27. 10. 1931 und 7. 1. 1932, LAS309/22864.

79 SN 20. 1. 1933, 6. 10. 1933, 12. 4. 1937, 20. 6. 1939; zur Umbenen-nung 1945: Almut Ueck, Die Praxis derStraßennamengebung in Schleswig nachdem II. Weltkrieg, in: BSSt 28 (1983),S. 141 ff.

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bekämpften Kommunisten nicht. Der Streik verfolgte vor allem agi-tatorische Ziele. Das Ziel wurde vollkommen verfehlt, denn auch dievom Streikkomitee eingeleiteten Verhandlungen mit dem Magistratführten zu keinem besseren Ergebnis für die Wohlfahrtserwerbslo-sen. Dennoch gelang der NSDAP mit dieser Aktion ein Achtungser-folg, zeigte es sich doch, dass die SPD bisherige Sympathien unterden Arbeitslosen eingebüßt hatte.80

Im September 1932 erhielt Jans die Mitgliedsnummer 1391675.Zum 15. 7. 1933 erfolgte eine feste Anstellung als Kreisbetriebsge-meinschaftsleiter im Deutschen Arbeiterverband des Baugewerbesdes Kreises Schleswig. Danach wurde er Kreiswalter der DAF undals solcher von Bürgermeister von Baselli am 27. 11. 1935 zum eh-renamtlichen Beigeordneten in der Stadt Schleswig berufen. SeineEntlassung aus diesem Ehrenamt erfolgte am 24. 5. 1945. Jans wur-de von den Briten interniert und am 18. 3. 1948 durch das Spruchge-richt Bielefeld zu 2000 RM Strafe verurteilt, die durch die 31 Mona-te währende Internierungshaft als abgegolten angesehen wurde.Nach Berücksichtigung aller Milderungsgründe wurde auch Jans imanschließenden Entnazifizierungsverfahren in die Kategorie IV –Mitläufer eingestuft.81

Otto Weyhe, SA-Obersturmführer und Führer der Flieger-Orts-gruppe Schleswig, trat der NSDAP um 1927 mit der Mitgliedsnum-mer 88584 bei. Weyhe wurde am 16. 11. 1896 in Möllmark, KreisFlensburg geboren. Zum Ingenieur ausgebildet, führte er in Schles-wig seit 1927 eine Werkstatt in der Langen Straße, die Mühlsteinefabrizierte. Auch er wurde als „Alter Kämpfer“ im Artikel derSchleswiger Nachrichten am 14. 2. 1934 genannt. Vor 1933 fristeteWeyhe ein Leben am unteren Rande des Existenzminimums. DieNSDAP-Ortsgruppenleitung sorgte daher Ende 1933 für eine An-stellung beim Luftschutzbund, wodurch er regelmäßig aus derStadtkasse entlohnt wurde. Im November 1935 fand er für ein Jahrals Oberaufseher beim Bau des Flugplatzes Schleswig-Land Ver-wendung. Zudem wurde er zum Ratsherrn ernannt. Dieses „Mandat“musste er aufgrund verschiedener Verfehlungen, darunter wegenFahrens unter Alkoholeinfluss und damit in Zusammenhang stehen-dem tätlichem Widerstand gegen die Staatsgewalt im Januar 1938aufgeben. Ebenso schwer wog ein kurz zuvor aufgedeckter Betrugs-vorwurf gegenüber der Stadtverwaltung.

Nach eigener Auskunft im Entnazifizierungsverfahren sei er derNSDAP nur aus „idealistischen Motiven“ beigetreten, vor allem,weil er auf diese Weise dem von ihm geliebten Segelsport am leich-testen nachgehen konnte. Er behauptete weiter, dass er sich frühzei-tig von der Partei zu lösen begonnen und sein Mandat als Ratsherr1936 freiwillig zur Verfügung gestellt habe, „wegen der Verlogen-heit der nationalsozialistischen Innenpolitik, die Unduldsamkeit undden wachsenden Terror gegenüber Andersdenkender“. Diese Darstel-lung ist wohl ebenso wenig glaubwürdig wie die Behauptung, erhabe beim letzten Volksentscheid vor dem Krieg mit „Nein“ ge-stimmt.82

80 Hierzu: Almut Ueck, Politische Ent-wicklung S. 99 ff.

81 GA SlFl Abt 9/459 sowie LAS460.12/143, Jans, Ferdinand. Spruchge-richtsverfahren wurden unabhängig vonden bekannten Entnazifizierungsverfahrendurchgeführt. Sie richteten sich nicht ge-gen „einfache Parteimitglieder“ sondernorientierten sich nach dem NürnbergerKriegsverbrecherprozess. Betroffen hierwaren also die ehemaligen politischen Lei-ter der NSDAP ab dem Ortsgruppenleiteraufwärts sowie höhere Dienstränge undMitarbeiter der SS des Sicherheitsdienstesund der Gestapo. Verhandelt wurde in derHauptsache in Verfahren wegen Verstößengegen die Menschlichkeit im Zusammen-hang mit dem 2. Weltkrieg. Ausschlagge-bend für eine Verurteilung war nicht derRang des Angeklagten sondern u. a. dieTatsache, ob er von den Verbrechen desNS-Regimes Kenntnis gehabt hatte. DieVerhandlungsorte befanden sich in derNähe der Internierungslager, für Schles-wig-Holstein hauptsächlich Bielefeld undEselsheide, Detlef Korte, „In Schleswigund Umgebung war folgendes bekannt...“.Die NS-Zeit in Schleswig und die Nach-kriegsermittlungen der Polizei, in: Mittei-lungen der Gesellschaft für SchleswigerStadtgeschichte 10 (1995), S. 16 ff.82 GA SlFl Abt 9/494 sowie Personalakte in Abt V 3e/Wsowie LAS 460.12/316, Weyhe, Otto. Er wurde im übrigen am 16. 10. 1948 inKategorie IV – Mitläufer – eingestuft undhatte einen Beitrag zum Wiederaufbau-fonds in Höhe von 100 DM zu entrichten.

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Die Versorgung der „Alten Kämpfer“ im Schleswiger Rathaus. Mit der Macht-übernahme wurden auch in den kommunalen Verwaltungen sämtli-che Dienststellen auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstel-lung des Berufsbeamtentums durchleuchtet. Mitarbeiter wurden aufpolitische Zuverlässigkeit überprüft, gemaßregelt und, im härtestenFall, entlassen. In die frei werdenden Stellen gelangten oft langjähri-ge und verdiente NSDAP-Mitglieder, u. a. solche, die eine niedrigeMitgliedsnummer aufweisen konnten. Die „Alte Garde der NSDAP“sollte bei derartigen Stellenbesetzungen gemäß Runderlass despreußischen Finanzministeriums vom 11. 4. 1934 vordringlich be-rücksichtigt werden. Hinzugerechnet die Gruppe der „Alten Kämp-fer, ist allein für die Stadt Schleswig von 64 Neueinstellungen aus-zugehen, die sämtliche Verwaltungsbereiche und Diensträngeberührten. Den Neueinstellungen voraus ging eine Kündigungswel-le, bei der die NSDAP-Ortsgruppenleitung, insbesondere FerdinandJans als Obmann der Betriebszellenorganisation des Rathauses(NSBO) federführend mitwirkte. Ihm trugen die in die frei werden-den Stellen strebenden Parteimitglieder freimütig Informationenüber die zur Entlassung vorgesehenen Rathausmitarbeiter zu. „Be-denken gegen die Zuverlässigkeit der Gewährsmänner bestehennicht“, hielt Heinrich Blum als kommissarischer Bürgermeister ineinem Vermerk im Oktober 1933 lapidar fest.83

Wenigstens zwölf Arbeiter und Angestellte wurden „wegen poli-tischer Unzuverlässigkeit“, zum Teil mit obskuren Behauptungenvon ihren Positionen entfernt. Betroffen davon waren in erster Liniedie den demokratischen Weimarer Parteien bzw. der Sozialdemokra-tie nahestehenden Mitarbeiter der Stadtverwaltung und der städti-schen Betriebe. Schon am 22. 4. 1933 hatte der neue Magistrat nochunter Vorsitz von Bürgermeister Behrens einstimmig beschlossen,den Rathausmitarbeitern „die Mitgliedschaft zu den marxistischenParteien wie auch jegliche Förderung ihrer Tendenzen im Interesseder reibungslosen Wiederaufbauarbeit zu verbieten“. Erwartet wurdezudem, dass die Beamten und Angestellten „bei ihren EinkäufenKonsumverein und jüdische Geschäfte meiden“ und dass „sämtlicheBilder von Marxisten sofort aus den städtischen Räumen entferntwerden“. Erste Kündigungen erfolgten seit Anfang Mai 1933. Zeug-nisse wurden den auf diese Weise gemaßregelten Mitarbeitern nurauf Anforderung ausgestellt. Außerdem sollten darin nur Zeit undOrt ihrer Beschäftigung festgehalten, eine Leistungsbeurteilung abernicht vorgenommen werden. Bis August 1933 waren im Rahmenvon Eilverfügungen bereits acht SA- und zwei SS-Männer als Er-satzkräfte in die Stadtverwaltung nachgerückt. Bis Ende Juli 1936kamen weitere 18 bewährte Parteimitglieder hinzu, davon wurdenzehn in festen Positionen untergebracht. Zum Stichtag 28. 7. 1936waren 28 zusätzlich in Dauerstellung im Rathaus sowie bei den städ-tischen Betriebswerken und der Stadtsparkasse, weitere 15 wurdenbevorzugt und vorübergehend in der Tiefbauabteilung beschäftigt.Zum Jahresende 1938 war das Problem der Unterbringung und Ver-sorgung endgültig gelöst. Dabei wurden acht zuvor im Angestellten-

„Für die Garde darf es keine Hin-dernisse geben.“

83 GA SlFl Abt. V.7.2/2; vgl. auch die inder Abt. V.7.2 enthaltenen Wiedergutma-chungsanträge der seinerzeit entlassenenBeschäftigten.

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bzw. Arbeiterverhältnis befindliche „Alte Kämpfer“ in das Beamten-verhältnis überführt.84

Die für die Neueinstellungen in Betracht kommenden NSDAP-Mitglieder verfügten als „Alte Kämpfer“ zwar offiziell über hohesAnsehen in der Partei. Dennoch war ihre Beschäftigung nicht unum-stritten. Im Mai 1933 etwa warnte Kreisleiter Meyer-Quade auf ei-ner regionalen NSDAP-Kreistagung davor, dass „die alten Kämpferund Parteigenossen von den neu eingetretenen an die Wand gedrücktwerden“. Sein Nachfolger Ernst Kolbe attestierte ein Jahr später aufeiner weiteren Tagung der Kreisleitung im Vergleich mit den späterzur NSDAP gestoßenen Mitgliedern, dass diese „den Geist der altenKämpfer, für die es keine Hindernisse gegeben habe“ nicht kennenwürden.85

Zu den auf diese Weise vermittelten Schleswiger NSDAP-Funk-tionsträgern zählte ungeachtet seiner hohen Mitgliedsnummer497767 auch Bruno Steen, geboren am 27. 7. 1889 als Sohn desSchleswiger Gymnasiallehrers Prof. Julius Steen. Bruno Steen lebtewährend der gesamten Zeit der Weimarer Republik in wirtschaftlichunsicheren Verhältnissen. Einer angesehenen Lehrerfamilie ent-stammend, besuchte er die Schleswiger Domschule, die er 1909 mitdem Reifezeugnis verließ. Nach einem Praktikum in Hannover undCharlottenburg bei Berlin begann er 1911 ein Maschinenbau- undElektrotechnikstudium in Danzig und setzte dieses in Hannover fort.1913 trat er freiwillig in das erste Luftschiff-Bataillon in Berlin ein,das er unfallbedingt nach einem halben Jahr wieder verlassen muss-te. Es folgte die Fortsetzung des Studiums, das er kurz nach Kriegs-ausbruch Ende 1914 bis zur Entlassung im Dezember 1918 unter-brechen musste. Später lebte Steen vorwiegend von Gelegenheitsar-beiten. Von 1919 bis 1922 arbeitete er als Korrespondent bei derVictoria-Versicherung und anschließend bis November 1925 in derWerbeabteilung bei Siemens und Halske bzw. der AEG in Berlin.1925 kehrte er nach Schleswig zurück und betrieb im Haus seinerMutter, Lange Straße 12, eine kleine Druckerei. Vermutlich war sei-ne Wohnung Zentrum des örtlichen Propagandaapparats derNSDAP, in dem zahlreiche Druck- und Flugschriften hergestelltwurden.86

Der NSDAP-Ortsgruppe trat Steen am 1. 4. 1931 bei und wurdeschon ein Jahr später in die Ortsgruppenleitung aufgenommen. Zum8. 9. 1932 erfolgte die Berufung zum Ortsgruppenleiter. Am 10. 4.1934 stieg er zum Personalamtsleiter der NSDAP im Kreis Schles-wig auf. Beide Positionen, die zudem seine wirtschaftliche Existenzsicherten, behielt er bis zum 1. 7. 1934. Bevor er im SchleswigerRathaus Verwendung fand, übernahm er noch das Amt eines örtli-chen Kreiswalters des Reichsbundes der deutschen Beamten. Trotzfehlender Verwaltungsvorkenntnisse und der dafür eigentlich not-wendigen Laufbahnprüfung erfolgte zum 1. 4. 1935 die Verbeam-tung zum Stadtobersekretär. Damit entsprach die Stadt Schleswigvoll dem Führerwunsch, für die „Alten Kämpfer“ Beamtenstellendes unteren und mittleren Dienstes bereit zu stellen.87 Steen über-

84 Magistratsprotokolle 22. 4. 1933, 4. 5. 1933, 29. 6. 1933 (mit einer Listeder entlassenen Mitarbeiter), GA SlFl Abt.7/14; Vermerk vom 28. 7. 1936, GA SlFlAbt V.5/63; Tätigkeitsbericht des Haupt-amtes der Stadt Schleswig für das Jahr1938, GA SlFl Abt. 9/1035 sowie diverseWiedergutmachungsakten der entlassenenMitarbeiter, GA SlFl Abt. V 7.2.

85 Schleibote 29. 5. 1933 und 14. 5 1934.

86 Hierzu und zum Folgenden: BDC-SSO,Bruno Steen; GA Sl-Fl Abt. 12/367, sowieAbt. V.4z/23.

87 Hierzu auch, die Rolle der beamtetenSpitzenkräfte in Regierungs- und Oberprä-sidium beschreibend: Danker, Oberpräsi-dent, S. 32.

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nahm dabei die Leitung des kommunalen Omnibusbetriebs, den sog.„Schleswiger Stadtverkehr“ bis zur Entlassung durch die britischeMilitärregierung am 4. 6. 1945. Nach der Entnazifizierung und derEinstufung in Kategorie IV – Mitläufer – wurde er mit einer Kür-zung der ihm zustehenden Pensionsansprüche in den Ruhestandversetzt. Mehrfache Beschwerden und weitere Revisionsverfahrensicherten ab Juni 1951 jedoch seine vollen Pensionsansprüche. Steenstarb am 25. 12. 1968 in Schleswig.

Als Ortsgruppenleiter trat Steen, der in dieser Funktion auch anden Sitzungen des unter Vorsitz seines Dienstvorgesetzten, des Bür-germeisters, tagenden Beigeordneten teilnahm, wenig hervor. Erhabe sich zwar „stark für den Nationalsozialismus eingesetzt“, dendamaligen „Parteikampf“ habe er jedoch nach Zeugenaussagen„sachlich geführt“, hieß es in seiner Entnazifizierungsakte. Zudemhabe er den Schleswiger Sozialdemokraten Hermann Vorbroockzweimal „aus den Händen der Gestapo frei bekommen“. Im Falle derVerfolgung der seit 1877 in Schleswig wohnenden jüdischen Fami-lie Weinberg, der 1933 widerrechtlich und zunächst sogar erfolg-reich die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, sei eraber „über die zulässigen Grenzen hinausgegangen“. Steen war sein-erzeit vom kommissarischen Bürgermeister Herting, der berauschtvom nationalsozialistischen Rassenwahn an den in der Stadt angese-henen Brüdern Max und Bernhard Weinberg ein Exempel statuierenwollte, zu einem für die Ausweisung notwendigen Gutachten aufge-fordert worden. In seiner nur sieben Zeilen umfassenden Stellung-nahme vermochte er zwar keine Bedenken gegen die Familie vorzu-bringen. Statt dessen zitierte er aber wörtlich den Punkt 4 des Partei-programms der NSDAP, in dem es hieß, dass Staatsbürger nur derje-nige sein könne, der Volksgenosse sei. Volksgenosse könne aber nurder sein, „wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf die Konfes-sion. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“88

In dem als reinen Verwaltungsvorgang bearbeiteten Verfahrenhatte Steen Max Weinberg zudem öffentlich „als Judenbengel“ be-schimpft. Damit sei er „als Beamter nicht mehr tragbar“, zumal erseine Position in der Stadt Schleswig „nur seiner langjährigenParteizugehörigkeit und seinem Amt in der Partei zu verdanken hat“,urteilte der „Berufungsausschuss für die Entnazifizierung und Kate-gorisierung im Landgerichtsbezirk Flensburg“ am 22.11. 1948.89

Ebenso wie Steen wurde auch der später zum Stadtsekretär be-förderte Ernst Ramcke mit einem Arbeitsplatz im Rathaus versorgt.Er war bei seiner Einstellung in den städtischen Verwaltungsdienstbereits 47 Jahre alt. Ramcke wurde am 4. 8. 1886 als Sohn des ausEllerbek stammenden Regierungssekretärs Franz-Hermann Ramckegeboren. Mit sechs Jahren kam er auf die „Bittorfsche Schule“, vonder er 1896 in die Friedrichsberger Realschule umgeschult wurde.Mit Abschluss der Tertia wurde er an die Friedrichsberger Volks-schule zurückverwiesen, die er dann zeitgleich mit der Konfirmationzu Ostern 1902 verließ.90 Sein wesentlich bekannterer Bruder warder am 24. 1. 1889 ebenfalls in Schleswig geborene spätere Wehr-

Linke Seite:Abb. 10: Schleswigs ObergruppenleiterBruno Steen wird als „Alter Kämpfer“ beider Stadtverwaltung untergebracht. (GA SIFI 12/367)

88 Die Familie Weinberg verlor am 3. 4. 1934 in Schleswig die deutscheStaatsbürgerschaft, erhielt diese nacherfolgreichem Widerspruch jedoch am 17. 9. 1935 ohne jegliche Begründungwieder zurück. Max Bernhard und Bern-hard Weinberg überlebten als „Halbjuden“den Krieg. Hierzu: Erich Koch, Was nützteinem die Assimilation, wenn man Horwitzoder Weinberg heißt. Schicksale jüdischerFamilien in Schleswig, in: Paul, Gillis-Carlebach, S. 369 ff..89 GA SlFl Abt.12/367.

90 Hierzu und zum Folgenden: Personalakte, GA SlFl Abt V.4r/65.

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machtsgeneral Hermann Bernhard Ramcke. Dieser wurde 1950 inFrankreich wegen des Vorwurfs, für Kriegsverbrechen in seinemBefehlsbereich Brest verantwortlich gewesen zu sein, zu fünf JahrenGefängnis verurteilt. Nach der Rückkehr bereiteten ihm die Schles-wiger 1951 einen rauschenden Empfang. Auch später hat BernhardRamcke aus seiner Gesinnung bei Auftritten in rechtsgerichtetenOrganisationen nie einen Hehl gemacht.91

Ernst Ramcke arbeitete nach Beendigung der Schule als Schreib-gehilfe und leistete ab Oktober 1903 seine Wehrpflicht im „Lauen-burgischen Feld-Artillerie Regiment“ in Rendsburg. Es folgte eineAusbildung zum Buchhalter in mehreren Etappen. Eine erste Anstel-lung fand er bei der Regierung in Aachen, bevor er im August 1914eingezogen wurde. Nach dem Weltkrieg kämpfte er in einem Frei-korps und wirkte bei der Niederschlagung von kommunistischenAufständen in Mitteldeutschland mit. Schließlich kam er nachSchleswig zurück, wo er bei der Pensionsregelungsbehörde bis zuderen Auflösung im März 1924 angestellt wurde. Ein anschließen-der Versuch als selbständiger Kolonialwarenhändler im elterlichenHaus in der Bahnhofstraße scheiterte im November 1925 schon nachwenigen Monaten. Fortan war er arbeitslos und lebte von der Er-werbslosenfürsorge. Ramcke war seit 1921 verheiratet und hatte, inder Straße „Kleinberg“ wohnend, zwei Kinder.

Nach eigenen Angaben im Lebenslauf soll Ramcke der NSDAPzusammen mit Ernst Hasse, Dr. Paulsen und Hans Rieck bereits am12. 10. 1922 beigetreten sein. Wegen des geschäftlichen Konkurseshabe er sich im Dezember 1925 zwar abmelden müssen, jedoch wei-terhin in der Ortsgruppe mitgearbeitet. In den NSDAP-Unterlagentauchte sein Name mit der Mitgliedsnummer 88585 am 1. 5 1928 er-neut auf. Er wurde Mitglied der SA, in der er, zum Obersturmführerbefördert, den Schleswiger Sturm 23/86 leitete. Ramcke agierte zu-dem als Kreisredner der Partei und Kreisberufswalter der DAF undzählte, geehrt mit dem goldenen Parteiabzeichen, zur „Alten Garde“.

Wegen seiner Verdienste in der Partei wurde er, der als gelernterBuchhalter wenigstens über eine gewisse Vorbildung verfügte, am26. 6. 1933 in der Schleswiger Stadtkasse angestellt. Gemeinsammit Bruno Steen zählte er im übrigen zum Umfeld der Denunzian-ten, die seit Mai 1933 systematisch an Entlassungen aus politischenGründen in der Stadtverwaltung mitwirkten.92 Nach nur einem Jahrwurde sein Besoldungsdienstalter neu berechnet und eine Gehaltser-höhung bewilligt. Besondere Berücksichtigung fand seine Mitglied-schaft in der NSDAP, die bei dieser Gelegenheit auf den 1. 11. 1925– das Datum seines wegen finanzieller Probleme eigentlich vollzo-genen Parteiaustrittes – vordatiert wurde. Mit Rücksicht auf sein Al-ter erfolgten bis 1938 noch zwei weitere, für ihn positive Neuberech-nungen. Obwohl er nie eine Laufbahnprüfung vorzuweisen hatte,wurde Ramcke zum 31. 3. 1938 als Verwaltungssekretär mit dem Ti-tel „Stadtsekretär“ verbeamtet.

Aus Ramckes Personalakte geht weiter hervor, dass er häufigund unentschuldigt dem Dienst ferngeblieben sei. Dies ist wohl zum

91 Ramcke starb 1968. Hierzu GA SlFl,Personendokumentation; Christiansen,Schleswig und die Schleswiger, S. 48;Bernhard Ramcke, Vom Schiffsjungen zumFallschirmjägergeneral, Berlin 1944.

92 Hierzu die Wiedergutmachungsakten,GA SlFl Abt. V 7.2.

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großen Teil auf sein Engagement im örtlichen Parteiapparat zurück-zuführen, außerdem war er mehrfach zu Schulungen abkommandiertworden. Im März 1944 musste er aufgrund eines Verfahrens wegenUnzucht an einem minderjährigen Mädchen vom Dienst suspendiertwerden, das ihm nach verworfener Revision eine einjährige Gefäng-nisstrafe einbrachte. Mit Hilfe Schleswiger Parteifreunde konnte ersich jedoch dem Haftantritt entziehen, wurde im September 1944kurzerhand nach Kiel versetzt, um dann anschließend als Aufsehereines kleinen „Ausländerlagers“ beim Bau des sog. Friesenwalls insbesetzte Dänemark abkommandiert zu werden. Von hier kehrte ernach Kriegsende zurück und lebte, vom Dienst weiterhin suspen-diert, in Schleswig.

Zur „Alten Garde“ zählt auch Franz Victor Freiherr Baselli vonSüßenberg, der als Nachfolger von Dr. Adolph Herting in Schleswigmit dem Amt des Bürgermeisters belohnt wurde. Beamter sei er „le-diglich durch seine Bindungen zur NSDAP geworden“, hielt die

Franz von Baselli, Bürgermeister von Schleswig 1934-1936 (GA SIFI)

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Kreisverwaltung Oldenburg bei der später ungeklärten Versorgungseiner Witwe im Januar 1949 fest.93 Folgerichtig ist sein Name in derListe derjenigen Personen verzeichnet, die im Zuge der Existenzsi-cherung und Karriereplanung verdienter Parteimitglieder von derStadt Schleswig beschäftigt wurden.94

Franz von Baselli stammte aus einer deutschvölkisch orientiertenFamilie und wurde am 12. 6. 1896 als Sohn des Rechtsanwalts undNotars Carl Freiherr Baselli zu Süßenberg und dessen aus St. Peters-burg stammenden Ehefrau Karoline, geb. Steiner in Pinneberg gebo-ren. Der Vater war bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Pinnebergkommunalpolitisch engagiert und amtierte als Stadtrat und stellver-tretender Bürgermeister. Er war zudem Mitglied des antisemitischen„Deutsch-Sozialen Vereins“ im damaligen 6. schleswig-holsteini-schen Reichstagswahlkreis.95

Sohn Franz besuchte in Pinneberg die Volksschule und kamanschließend an die Realgymnasien in Elmshorn und Altona, wo er1914 das Abitur machte. Bis zu einer Verwundung im Jahr 1915leistete er im Dragoner-Regiment Nr. 17 seinen Militärdienst. Da-nach fand er im Felddienst des Infanterie-Regiments 359 bis Kriegs-ende Verwendung. Dem Vorbild des Vaters nacheifernd, studierte erseit Ostern 1919 an den Universitäten in Kiel und Hamburg Jura. InKiel gehörte er für einige Monate einer Verbindung an, dem Korps„Saxonia“. Außerdem wurde er Mitglied antirepublikanischer Ge-heimbünde, der „Organisation Escherich – Orgesch“ und der „Orga-nisation Consul“. Eine Mitgliedschaft in der DNVP währte bis 1928.

In den Staatsdienst trat er 1921 als Gerichtsreferendar ein undamtierte anschließend als sog. Hilfsrichter. Die juristische Staatsprü-fung bestand er 1926 in Berlin. Anschließend arbeitete er als Rechts-anwalt, wahrscheinlich in der väterlichen Praxis. In Pinneberg wur-de er am 1. 1. 1931 mit der Mitgliedsnummer 413336 in die NSDAPaufgenommen, wo er als Ortsgruppenleiter sofort Karriere machte.Nach der Kommunalwahl 1933 amtierte er als ehrenamtlicher Stadt-rat und stellvertretender Bürgermeister. Seinen Beruf als Rechtsan-walt schien er in diesen Jahren kaum ausgeübt zu haben. Über dieseJahre hieß es bei seinem Abschied aus Pinneberg: „Seiner offenen,schlichten und gewinnbringenden Persönlichkeit ist es nicht zumwenigsten zu verdanken, dass die nationalsozialistische Bewegungin unserer Stadt so stark Fuß fassen konnte. Nicht unerwähnt bleibendarf hier seine Tätigkeit als stellvertretender Bürgermeister. MehrereMonate leitete er im vergangenen Jahr als verantwortlicher Führerdie Geschicke unserer Stadt. Neben der Ortsgruppenführung konnteer diesen Ehrenposten nur ausfüllen unter Hintansetzung seines Be-rufes.“96

Die Gemeindeordnung von 1933, die für verwaltungsleitendePositionen in den Kommunen nur noch ausgebildete Fachleute wieetwa Juristen vorsahen, verhalf Baselli zum Bürgermeisteramt inSchleswig, in das er am 22. 1. 1934 von Kreisleiter Ernst Kolbe mitden Worten er sei „ein alter Vorkämpfer der Idee Adolf Hitlers“ ein-geführt wurde. Weiter kommentierte die Zeitung seine Berufung:

93 Schreiben der Kreisverwaltung Olden-burg vom 20. 1. 1949, GA SlFl Abt.9/423.

94 GA SlFl Abt. V.5/63.

95 zum Vater: Johannes Seifert, Pinne-berg zur Zeit des Nationalsozialismus“,Norderstedt 2000, S. 66.

96 SN 6. 2. 1934.

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„Der NSDAP gehört Pg. v. Baselli seit 1930 an. Bereits ein Jahr spä-ter wurde er infolge seiner Tatkraft und Hingabe zum Ortsgruppen-leiter der Stadt Pinneberg ernannt, wo er auch in organisatorischerHinsicht Vorbildliches leistete.“97 Am 1. 7. 1934 trat er die Nachfol-ge von Ortsgruppenleiter Bruno Steen an, der ja zwischenzeitlich inder Stadtverwaltung untergebracht worden war und dort als Unter-gebener des Bürgermeisters zu arbeiten hatte. Zweifelsohne solltendurch diesen Austausch mögliche Konflikte zwischen Partei undVerwaltung von vornherein ausgeschlossen werden.98

Ferner wurde von Baselli im Januar 1936 zum Gauamtsleiter fürKommunalpolitik bestellt, verlor allerdings wegen der Neuorganisa-tion der Schleswiger NSDAP seine Ortsgruppenleiterposition. Inseiner neuen Funktion trug er wesentlich dazu bei, dass nationalso-zialistische Verwaltungsgrundsätze entsprechend der 1935 revidier-ten Gemeindeordnung in allen Kommunen des Landes umgesetztwurden. Nicht zuletzt wegen der dabei erzielten Verdienste erfolgteauf Fürsprache von Gauleiter Lohse zum 8. 11. 1937 seine Verset-zung auf den Posten eines Oberbürgermeisters in Cottbus, wo er biszum Jahresende 1944 amtierte.99 Seit Anfang 1945 gilt von Baselli,dessen Todesdatum später auf den 19. 11. 1945 festgelegt wurde, alsverschollen. Sein Nachfolger wurde der Jurist und bis dahin als Bür-germeister in Eckernförde tätige sowie spätere schleswig-holsteini-sche Ministerpräsident Helmut Lemke.NSDAP-Funktionsträger im Kreis Schleswig. Die Reihe der „Alten Kämp-fer“ im Kreis Schleswig ist vor allem im Umfeld der Gemeinde Tolkanzusiedeln. Hier lebte u. a. Albert Zerrahn, der bei der Gründungdes dortigen NSDAP-Stützpunktes im Winter 1924/25 bereits im50. Lebensjahr stand und ebenso wie sein Sohn Wilhelm der „AltenGarde der NSDAP“ zuzurechnen ist. Albert Zerrahn wurde am9. 3. 1876 als Sohn eines Fischermeisters in Plau (Mecklenburg) ge-boren. Um die Jahrhundertwende verzog er beruflich bedingt an denLangsee, wo er heiratete und auf einem am See gelegenen Grund-stück ein Haus baute, für das er 1908 eine Konzession als Ausflugs-lokal mit dem Namen „Waldlust“ erhielt. Als gelernter Fischermei-ster pachtete Zerrahn die Fischrechte für den Langsee sowie für an-dere Gewässer in Schleswig-Holstein. Den Weltkrieg erlebte er alsSoldat in Flandern. In der Revolutionszeit schloss er sich dem „Völ-kisch-Sozialen Block“ an und trat mit der Mitgliedsnummer 7642der NSDAP am 1. 4. 1925 als zweites Mitglied im Kreis Schleswigbei. Schon am 1. März desselben Jahres hatte er den SchleswigerArzt Dr. Paulsen zur Gründungsversammlung der NSDAP in Schles-wig-Holstein begleitet. Zerrahns „Waldlust“ gilt als „Keimzelle derBewegung“ im Landkreis, wie es in einer Überschrift in den Schles-wiger Nachrichten im Jahre 1936 lautete: „Hier wohnten die Redner,von hier aus ging es in die Dörfer und Städte der Umgebung.“Zerrahn gehörte zudem der SA an, wurde lokaler Sturmbannführerund übernahm von 1928 bis zu seinem Tod als Nachfolger deswegen seiner Berufsausbildung verzogenen Sohnes die Leitung derNSDAP-Ortsgruppe Tolk.100

97 SN 23. 1. 1934.98 SN 3. 7. 1934.99 Vgl. hierzu Basellis Grundsatzrede beider Einführung der neuen Gemeinderäte inSN 30. 9. 1935 sowie den Bericht überseine Verabschiedung SN 1. 11. 1937.

„Mit eiserner Disziplin demFührer folgen.“

Albert Zerrahn, Gründungsmitglied derOrtsgruppe Tolk 1925 und Angehöriger der „Alten Garde“ (LAS Abt. 399.4 Nachlass Beeck)

100 Hierzu: BDC-PK Albert Zerrahn sowiePeter Rasmussen, Die Dorfchroniken vonBrekling, Nübel und Berend, Ms. 1978/79,S. 80 f; zur „Waldlust“ als „Keimzelle derBewegung“, SN 12. 7. 1936.

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Im April 1932 kandidierte er – allerdings erfolglos – auf derNSDAP-Liste für den preußischen Landtag, nicht ohne zuvor die ob-ligatorische Verpflichtungserklärung zu hinterlegen, mit der er aufEhrenwort gelobte, das „von Adolf Hitler und den preußischenWählern übertragene Mandat zum preußischen Landtag stets imSinne meines Führers“ auszuüben. Erfolgreicher für ihn verliefendie Kreistagswahlen 1929 und 1933, bei denen er auf Platz sechsbzw. 13 der NSDAP-Liste gewählt wurde. Albert Zerrahn gehörteaußerdem dem Gemeinderat von Brekling an und amtierte seit 1936als Bürgermeister seiner Heimatgemeinde. 1933 wurde er trotzöffentlicher Proteste zudem Amtsvorsteher des Amtes Nübel. Als„Träger des goldenen Ehrenzeichens“ der Partei verstarb AlbertZerrahn am 26. 7. 1938 an den Folgen eines Herzinfarkts in seinemHaus.101

Sein ältester Sohn Wilhelm Zerrahn, der zu den Mitgründern derTolker NSDAP-Ortsgruppe zählte, wurde am 15. 6. 1904 in Brekling

Wilhelm Zerrahn, Gründungsmitglied derOrtsgruppe Tolk 1925, Angehöriger der„Alten Garde“ in SS-Uniform (BA-Berlin, BDC-RS)

101 Kreisblatt Schleswig, 1929, S. 135,1933, S. 25; Todesanzeigen und Artikel inSN 27. und 28. 7. 1938

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geboren. Wilhelm Zerrahn trat der Partei am 13. 7. 1925 bei und er-hielt die Mitgliedsnummer 7643. In Nübel besuchte er die Volks-schule, die er im 15. Lebensjahr verließ. Auf Anraten strebte er einenhöheren Schulabschluss an, um seinen Jugendtraum vom Beruf ei-nes Försters zu verwirklichen. Infolge eines Jagdunfalls, bei dem eram rechten Auge verletzt wurde, musste er diesen Plan aufgeben undmachte eine Ausbildung zum Fischermeister, die er im November1934 erfolgreich abschloss. Er amtierte anschließend für einige Jah-re als Landesfachwart für Fischerei und gehörte dem Vorstand desLandesfischereiverbandes Schleswig-Holstein an.

Seit 1923 betätigte sich Wilhelm Zerrahn politisch. Zunächst trater der von Max Tönnsen gegründeten Jungbauernschaft bei undwurde ein Jahr später Mitglied im rechtsgerichteten JungdeutschenOrden, dem er allerdings nur kurze Zeit angehörte. Außerdem war erMitglied des Völkisch-Sozialen Blocks, der später in der NSDAP

Wilhelm Zerrahn, Tolk, wird die ununter-brochene Mitgliedschaft als Voraussetzungfür die Anerkennung als Mitglied der„Alten Garde“ bescheinigt. (BDC-SSO, Wilhelm Zerrahn)

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aufging. Mit Gründung des Tolker Stützpunktes wurde er derenOrtsgruppenleiter bis 1928, trat in die SA ein und baute die Orts-gruppe der Hitler-Jugend auf. Von 1929 bis 1931 an amtierte er alsHJ-Bezirksführer, eine Funktion, die er aus familiären Gründen auf-gab. 1932 kandidierte er ebenso erfolglos wie sein Vater auf derNSDAP-Liste für den preußischen Landtag. Er war zudem seit 1929Mitglied im Gemeinderat und wurde als Nachfolger des Vaters 1935Amtsvorsteher des Amtes Nübel.

Wilhelm und Albert Zerrahn waren eng mit Hinrich Lohse be-freundet. 1929 und 1933 wurde Wilhelm als Vertreter des KreisesSchleswig zum Parteitag der NSDAP nach Nürnberg beordert undnahm in den folgenden Jahren auf Provinzebene an zahlreichen„Führertagungen“ teil. Im Mai 1931 erfolgte unter der Mitglieds-nummer 11820 sein Eintritt in die SS, in der er zielgerichtet Karrieremachte. 1934 wurde er zunächst SS-Oberscharführer in Flensburg.Bis 1937 amtierte er als SS-Brigadeführer in der 50. SS-Stabs-abteilung und seit November 1937 im SS-Stab. Im Dezember 1940erfolgte die Berufung zum SS-Gruppenführer. Im April 1941 zumSD-Gruppenführer befördert, stieg er kurze Zeit später zum Ober-gruppenführer im Reichssicherheitshauptamt auf. Am 25. 2. 1943wurde er zum Militärdienst an die Ostfront abkommandiert, wo er,ähnlich wie sein jüngerer Bruder Fritz, Ende Juni 1944 als vermisstgemeldet wurde.102

Zu den einflussreichsten NSDAP-Protagonisten im Kreis Schles-wig zählte Otto Franz Wilhelm Gestefeld, zugleich Gründungsmit-glied der Ortsgruppe Tolk und seit März 1933 in höchste ehrenamt-liche Positionen innerhalb der Selbstverwaltung des Kreises Schles-wig aufgestiegen. Er wurde am 7. 11. 1884 in der Gemeinde Hütten,Kreis Eckernförde, geboren. Nach bestandener Reifeprüfung amRealgymnasium in Rendsburg studierte er zunächst acht SemesterJura. Das Studium brach er jedoch ab und leistete seinen Militär-dienst beim Seebataillon in Kiel. Bis zum Beginn des Ersten Welt-kriegs arbeitete er auf verschiedenen Gutsbetrieben. Die Kriegszeitverbrachte er im Lazarettdienst, später war er wiederum als Be-triebsinspektor in der Landwirtschaft tätig. Von 1922 an hielt er sichbei seinem Schwager auf dessen Gut Katharinenhof in der Nähe vonTolk auf. Hier knüpfte er Kontakte zum Verwalter der Spar- undDarlehenskasse in Tolk, der Gestefeld nicht nur anlernte, sondernihn trotz fehlender Ausbildung als Nachfolger empfahl. 1923 wurdeer zum Rendanten gewählt.103

Der NSDAP trat Gestefeld mit der niedrigen Mitgliedsnummer7637 am 1. 3. 1925 bei. Er fungierte im Wechsel mit Wilhelm undAlbert Zerrahn als Tolker Ortsgruppenleiter und wurde seit 1929 alssog. Gauredner geführt. 1934 wurde er in die „Alte Garde derNSDAP“ aufgenommen. Seine Frau Anna Gestefeld, geboren am3. 6. 1889 in Kiel, folgte ihm einige Tage später unter der Mitglieds-nummer 7638. Anna Gestefeld, geb. Reincke, gründete in Tolk eineOrtsgruppe des „Deutschen Frauenordens“ (Rotes Hakenkreuz) undbekleidete zudem 1933 für einige Monate das Amt einer „NS-Kreis-

102 BDC-SSO, BDC-RS und BDC-PK,Wilhelm Zerrahn,

103 BDC-OPG, Otto Gestefeld und BDC-SSO, Otto Gestefeld sowie: GA SlFl Abt. B0.2/8, Walter Schulz, Chronik Tolk, ms.1995 ff.

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frauenschaftsleiterin“. 1924 kandidierte Gestefeld erstmals erfolg-reich bei der Gemeinderatswahl. Am 12. 1. 1925 wurde er Gemein-devorsteher und am 17. 12. 1929 einstimmig wiedergewählt. DasMandat wurde 1933 erneut bestätigt. Zugleich ernannte ihn LandratMeyer-Quade im Mai zum Amtsvorsteher in Tolk. In den Kreistagzog Gestefeld mit vier weiteren Nationalsozialisten erstmals imDezember 1929 ein. Am 27. 4. 1933 wurde er nach dem NSDAP-Wahlerfolg Kreisdeputierter, amtierte als stellvertretender Landratund gelangte über die Liste in den am 12. 4. ebenfalls neu gewähltenProvinziallandtag.

Gestefeld galt als ehrgeizig und selbstherrlich. Seine politischeKarriere war eng mit dem Aufstieg der NSDAP im Kreis Schleswigverwoben. Dabei schreckte er selbst vor kleineren Betrügereien undGesetzesverstößen nicht zurück, wenn sie denn ihm und der Sache

Otto Gestefeld, Ortsgruppenleiter in Tolk,stellvertretender Landrat im Kreis Schles-wig und Angehöriger der „Alten Garde“ (Geheimes Staatsarchiv, Stiftung Preußi-scher Kulturbesitz, Rep. 77, Nr. 5472)

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dienlich waren. Öffentliches Aufsehen erregte er erstmals im Jahre1932, als er einige Landwirte seiner Gemeinde zum Steuerstreikermunterte. Aufgrund seiner Kenntnisse über deren Vermögensver-hältnisse attestierte er säumigen Steuerzahlern sogar wirtschaftlicheNotlagen, wovon vor allem seine Parteifreunde, darunter auchAlbert Zerrahn, profitierten. Zudem trug er in dieser Zeit dazu bei,dass mehrere Gemeinden seines Einflussbereiches die jährliche Ge-meindesteuerumlage an den Kreis aus politischen Gründen verwei-gerten. Dieses Fehlverhalten führte im Frühjahr 1933 nicht nur zuäußerst peinlichen Nachfragen, sondern drohte sogar die gesamte re-gionale Parteiführung in Verruf zu bringen. Die über diese Vorgängeinformierte Kreisleitung gab Gestefeld anfangs zwar noch Rücken-deckung, musste jedoch im Frühsommer 1933 zusammen mit derGauleitung mehrfach eingreifen, um ein Ausufern der Steuerverwei-gerungskampagne zu unterbinden. Landrat Meyer-Quade sah sichgezwungen, die Betroffenen im Mai 1933 zur pünktlichen Zahlungaufzufordern, da heute, „da der Kreis tatsächlich von Nationalsozia-listen geführt und seine Institutionen von Nationalsozialisten kon-trolliert werden, die beste Garantie dafür gegeben (sei), dass die ein-kommenden Gelder – wie übrigens im großen und ganzen auchfrüher nicht – nicht verpulvert würden“. Hieran schienen sich jedochnicht alle gehalten zu haben, denn noch im April 1934 schuldetendie Gemeinden dem Kreis weiterhin 177000 RM. Auf einer Kreis-tagung der NSDAP in Schleswig warnte Gauleiter Lohse dahernochmals mit den Worten: „Wer den Staat nicht sabotieren will, mußseine Steuern zahlen.“ Selbst der spätere Landrat Hans Kolbe hatte inseiner Amtszeit weiterhin mit der Zahlungsunwilligkeit mancherGemeinde zu kämpfen.104

Anfang 1933 geriet Gestefeld in den Verdacht der Urkundenfäl-schung. Er habe, so der Vorwurf des ehemaligen Aufsichtsratsvorsit-zenden der Spar- und Leihkasse in Tolk, Willy Thießen, Unterschrif-ten gefälscht und damit bekannte NSDAP-Mitglieder zu ungerecht-fertigten Krediten verholfen. Um Thießen als lästigen Belastungs-zeugen loszuwerden, denunzierte Gestefeld ihn beim NSDAP Gau-gericht und erreichte dessen Parteiausschluss wegen „Verbreitungunwahrer Gerüchte“. Erst als Gestefeld selbst wegen weiterer, nichtmehr zu verheimlichender Betrügereien erneut verdächtigt wurde,gelang Thießen im Juni 1935 nach Einschaltung höchster Parteikrei-se eine teilweise Rehabilitation. In diesem Strafverfahren, über dasnoch zu berichten sein wird, wurde Gestefeld zu drei Jahren undzwei Monaten Zuchthaus, einer Geldstrafe und drei Jahren Ehrver-lust verurteilt. Zugleich hatte er sich aus allen Partei- und Ehrenäm-tern zurückzuziehen. Nach der Haftentlassung arbeite er seit März1939 im Hochofenwerk in Lübeck-Herrenwyk. Mit Fürsprache sei-ner alten Freunde in der Gauleitung suchte er im Oktober 1940 umWiederaufnahme in die Partei nach, was aber mit letztem Schreibenaus der Reichskanzlei vom 31. 3. 1941 mit der Begründung, dasseine „Wiederaufnahme in die Partei als den Orden der Besten desdeutschen Volkes“ nicht möglich sei, abschlägig beschieden wurde.

104 Hierzu: Schleibote 29. 5. 1933, 20. 4. 1934, 14. 5. 1934 sowie SN 12. 9. 1957.

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In Lübeck wurde Gestefeld auch entnazifiziert und im Oktober 1948in die Kategorie IV als Mitläufer eingestuft.105

Auch Erich Hasse, geb. am 16. 11. 1893 als Sohn eines Regie-rungsbeamten in Schleswig, zählte zum harten Kern der regionalenNSDAP, die wegen ihrer Parteizugehörigkeit Karriere machten.106

In seiner Heimatstadt besuchte er zunächst die private „Bittorfsche-Schule“ und anschließend die Friedrichsberger Realschule. 1913 trater in die kaiserliche Marine ein, erlebte den Krieg an mehrerenFrontabschnitten und wurde Anfang 1919 zur 2. Unterseebootflottil-le versetzt. Nach der Entlassung trat er der „Schwarzen Reichswehr“bei und nahm am Kapp-Putsch im März 1920 teil. Danach wandte ersich dem „Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund“ zu, aus demer 1923 wieder austrat und Mitglied der NSDAP wurde.

Im selben Jahr bestand er an der Staatlichen Seefahrtsschule inFlensburg das Examen und fand anschließend als Schiffsoffizier auf

Erich Hasse, SA-Sturmbannführer in Schles-wig (SN 24.2.1934)

105 Entnazifierungsakte (Blattsamm-lung) im Archiv der Hansestadt Lübeck.Gestefeld starb am 11. 12. 1962,Standesamt III Lübeck-HerrenwykNr. 87/1962. Für freundliche Mitteilun-gen danke ich Herrn Wiehmann. Zumgescheiterten WiederaufnahmeantragBDC-SSO, Otto Gestefeld.106 BDC-SSO, Erich Hasse sowie GA SlFl Abt H 1/168, Abt 9/454und SN 4. 5. 1936.

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verschiedenen Reichspostschiffen und Passagierdampfern der RouteHamburg-Mexiko Beschäftigung. Dabei ließ er seine Parteimitglied-schaft ruhen, die er aber nach Aufhebung des NSDAP-Verbots undnach Schleswig zurückgekehrt am 17. 5. 1926 mit der Mitglieds-nummer 36429 wieder aufleben ließ. Gleichzeitig trat Hasse in dieSA ein und amtierte von 1929 – 1930 als Sturmführer.

Seit dieser Zeit lebte er als Kapitän in Schleswig und fuhr imDienst der Reederei von Hugo Stinnes im Bereich der Nord- undOstsee. Im Juli 1933 musterte Hasse endgültig ab und wurde imSeptember von Landrat Meyer-Quade als Betriebsdirektor derKreisschifffahrt eingesetzt. Im Zuge der Kampagne zur Unterbrin-gung der „Alten Garde“ wurden mit ihm auch G. Knutzen undH. Reincke, beide seit 1930 bzw. 1931 in Schleswiger SA- bzw. SS-Stürmen aktiv, eingestellt. Vom 10. 9. 1935 bis zum 7. 5. 1936amtierte er zudem als unbesoldeter Beigeordneter in Schleswig, eine

Ernst Kolbe, NSDAP-Kreisleiter 1933/34und Angehöriger der „Alten Garde“ (SN 24.2.1934)

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Funktion, die er wegen der Versetzung als Obersturmbannführer zur„Marine-Brigade 4“ in Kiel aufgeben musste. 1938 wohnte ErichHasse in Kiel und wurde im selben Jahr allerdings erfolglos auf der„Liste des Führers“ für die Wahl des „Großdeutschen Reichstages“vorgeschlagen. 1965 wohnte er unter der Berufsbezeichnung„Kapitän“ wieder in Schleswig.107

Der spätere Schleswiger Kreisleiter und Angehörige der „AltenGarde der NSDAP“ Ernst Kolbe entsprach wie Bernau oder Meyer-Quade dem Typus des kampferprobten, in der Auseinandersetzungvor keiner Gewaltanwendung zurückschreckenden Haudegens. Erwurde am 13. 4. 1904 als Sohn eines Landwirts in Langenhorn,Kreis Husum geboren, wo er auch die Schule besuchte. Mit der Mit-gliedsnummer 22340 trat er am 23. 11. 1925 der NSDAP-Ortsgrup-pe in Altona bei. Er kam wahrscheinlich zu Beginn des Jahres 1930nach Schleswig. Seit Ende der zwanziger Jahre war Kolbe arbeitslosund trat in Schleswig auch der SA bei, in der er sich als Sturmführeran zahlreichen Aktionen beteiligte. Am 17. 2. 1934 übernahm er alsNachfolger von Meyer-Quade die Funktion eines NSDAP-Kreis-leiters für den Kreis Schleswig und amtierte zudem in Personalunionals hauptamtlicher, d.h. bezahlter Kreisgeschäftsführer. Ende 1934wurde er er nach einer umstittenen Säuberungsaktion der KappelnerNSDAP-Ortsgruppe auf Betreiben von Gauleiter Lohse nach Altonaversetzt.108

Von dort kam er 1938 als Gaupersonalwalter nach Kiel und einJahr später zur Personalabteilung der dortigen DAF-Geschäftsstelle.Kolbe gehörte außerdem der SS an und ging mit der BesetzungDänemarks als Hauptscharführer nach Kopenhagen, wo er als Ge-stapo-Mitarbeiter tätig war. Er kam im Zuge einer Aktion dänischerWiderstandskämpfer, beim sog. Sturm auf das „Shellhuset“, demGestapo-Hauptquartier in Kopenhagen, am 21. März 1945 umsLeben.109

Kolbes Skrupellosigkeit wurde besonders deutlich bei den imZuge der „Machtergreifung“ inszenierten „Schutzhaftmaßnahmen“politisch Andersdenkender und bei weiteren Verfolgungsaktionen,die, wie es in einem nach 1945 gegen seinerzeitige Mittäter ange-strebten NSG-Verfahren (Verfahren wegen nationalsozialistischerGewalttaten) weiter hieß, „im Kreis Schleswig damals fast an derTagesordnung“ gewesen seien.110 Schauplatz einer dieser vomFlensburger Landgericht später untersuchten Vorfälle war die kleineGemeinde Börm bei Schleswig. Dabei handelte es sich um die„planmäßige Verfolgung eines politisch Andersdenkenden“, wie dieAnklageschrift gegen die damaligen Tatbeteiligten vermerkte.111

Hier hatte der Bauer Johann K. beim jährlichen Reiterfest imApril 1933 abfällige Bemerkungen über die NSDAP gemacht unddabei die Hakenkreuzfahne als „Mistlappen“ bezeichnet. Aus Angstvor Strafe entschuldigte sich K. jedoch am nächsten Tag beim Orts-gruppenleiter und wollte die Angelegenheit mit der Zahlung einesGeldbetrages bereinigen. Dieser versuchte nun, von ihm eine höhereSumme herauszupressen. Die darauf folgende verbale Auseinander-

107 Nachfolger von Hasse als Beigeord-neter wurde Wilhelm Seeland, zu diesemZeitpunkt von Kiel nach Schleswig abge-ordneter Sturmhauptführer der SA-Standar-te 8. Seeland wurde am 1. 6. 1910 inSchleswig geboren und absolvierte eineAusbildung zum Schlachter. 1929 wurdeer arbeitslos, trat in die SA und NSDAP einund widmete sich, wie er in seinemLebenslauf ausdrückt, „ausschließlich derArbeit in der Bewegung“. In Kiel führte ernach 1933 verschiedene SA-Einheiten.1938 wurde er zur Marinestandarte 55 inBrunsbüttelkoog versetzt und gab seineBeigeordnetentätigkeit in Schleswig auf,GA SlFl Abt. 9/456.

108 Hierzu Vorgang in LAS 301/4512

109 BDC-SSO Kolbe, Ernst, vgl. auchIZRG Dokumentation: Kreisleiter sowie SB 1. 12. 1934, SN 4. 1. 1935.

110 Hierzu und zum Folgenden LAS 354/794.

111 Über die Einstellung des Verfahrensvgl. auch FT 6. 9. 1950 unter der Titel-meldung „Endlich Ruhe nach 17 Jahren.“

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setzung muss so heftig gewesen sein, dass K. einige Tage späterAnzeige bei der Schleswiger Kreisleitung erstattete, diese aber aufDrohung des zuvor über den Vorgang unterrichteten LandratsMeyer-Quade wieder zurückzog.112 Zur Warnung, in dieser Sachenichts weiter zu unternehmen, rückte Kolbe am 14. August mit eini-gen Helfern nach Börm aus. Über diese Aktion wurde zuvor Meyer-Quade informiert. Bei K. wurden die Fensterscheiben eingeschla-gen, anschließend drang der SA-Trupp ins Haus ein und misshandel-te K. im Beisein der Ehefrau. Dabei soll Kolbe aus seiner Pistole so-gar Schüsse abgegeben haben. Anschließend nahm er K. in Schutz-haft, verfrachtete ihn in die Schleswiger Moltkekaserne, wobei erauf dem Weg dorthin erneut verprügelt wurde. Gezeichnet von denSchlägen, wurde er am nächsten Tag mit der Auflage entlassen, sich

Erst nach Widerspruch wird SchleswigsKreisleiter Ernst Kolbe als Mitglied der„Alten Garde“ anerkannt. (BDC-SSO, Ernst Kolbe)

112 Meyer-Quade war zusätzlich vomOberlandjäger Tietjen in Kropp am 3. 7.1933 in Kenntnis gesetzt worden. In sei-nem Vermerk berichtete er nicht nur überdie Stimmung der Bevölkerung sondern un-terrichte diesen auch darüber, dass Gewalt-taten gegen K. zu befürchten wären, LAS 320 SL-L/166

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zehn Tage nicht zu Hause sehen zu lassen. Auch in einem weiterenFall soll Kolbe, dieses Mal gemeinsam mit Kreisbauernführer ErnstHansen, Eichtal, einen sich seinen Anordnungen widersetzendenArbeiter schikaniert haben.

Ernst Hansen, geb. am 22. 6. 1902 in Klappholz, war seit 1933Kreisbauernführer. Er gründete im Dezember 1929 die NSDAP-Ortsgruppe Twedt, östlich von Schleswig, mit 31 Mitgliedern undwurde deren Ortsgruppenleiter. Hansen besuchte die Volksschule inTwedt von 1909 bis 1912, kam von dort auf die Schleswiger Dom-schule, die er 1919 mit der Obersekundareife verließ. Danacherfolgte eine Ausbildung zum Landwirt, wobei er als Absolvent derSchleswiger Landwirtschaftsschule wohl auch mit dem dort tätigenMeyer-Quade in Kontakt kam. 1927 übernahm er den elterlichenHof Eichtal bei Grumby. Der NSDAP trat der später als „Alter Par-teigenosse“ ausgezeichnete Hansen mit der Mitgliedsnummer104304 am 1. 11. 1928 bei. 1931 rückte er zum Kreisfachberater fürLandwirtschaft auf, im folgenden Jahr erfolgte der Beitritt in die SA,die er als Scharführer 1936 „mangels Interesse“ wieder verließ. SeitMärz 1933 vertrat er die NSDAP im Kreistag. Die im selben Jahrerworbene Position eines Kreisbauernführers musste er im Oktober1944 wegen seiner Einberufung zur Fahrersatzabteilung inNeumünster aufgeben. Nachfolger bis Mai 1945 wurde der spätereSchleswiger Kreispräsident Jürgen Thee aus Hüsby.113

Kreisbauernführer Hansen war als Redner gern gesehener Gastbei Tagungen, öffentlichen Versammlungen und Feierlichkeiten wieetwa den jährlichen Erntedankfesten.114 Er verstand sich vor allemals Vertreter berufsständischer Interessen und organisierte die vomReichslandwirtschaftsminister Walter Darré ausgerufenen „Erzeu-gungsschlachten“ im Kreis Schleswig. Seine Berufskollegen mahnteer ständig, „mit eiserner Disziplin und Pflichterfüllung dem Führer(zu) folgen und ihm ein freudiges Ja (zu) sagen, dann statten wir nureinen kleinen Teil jener Dankbarkeit ab, die wir dem Führer undseinem Werk schuldig sind.“115 Nicht zuletzt deshalb wurde Hansennach Kriegsende für mehr als zwei Jahre interniert. Im üblichen Ent-nazifizierungsverfahren erfolgte eine erste Einstufung in die Katego-rie IV – Mitläufer. Im Rahmen der periodischen Überprüfung wurdeer dann im Januar 1951 als „Entlasteter“ eingestuft.

Zusammen mit weiteren regionalen NSDAP-Größen stand Han-sen nach dem Krieg im Mittelpunkt eines NSG-Verfahrens, in demseine Rolle bei einem Vorfall in der Gemeinde Idstedt im Juni 1933näher beleuchtet wurde. Er habe, so der Vorwurf, zu den Organisato-ren eines „Prangermarsches“ gezählt, bei dem ein von lokalen NS-Größen misshandelter Arbeiter, dem ein Schild mit der Aufschrift„Ich bin ein Wucherer und Halsabschneider“ umgehängt und querdurch die Stadt Schleswig getrieben worden war.116

Der betroffene Arbeiter August S. hatte seinerzeit einem vor demKonkurs stehenden Landwirt seiner Heimatgemeinde Geld geliehen.Dabei wurden die Rückzahlungsmodalitäten notariell festgelegt.Nachdem diese Vereinbarung aufgrund der anhaltend schlechten

113 E-Akte in LAS 460.12, Thee, Jürgen

114 Vgl. etwa SN 10. 1. 1935, 19. 2.1935, 13. 5. 1936, 4. 10. 1937, 28. 3.1938, über seine aktive Zeit vor 1933vgl. LAS 301/4556.

115 So bei einem Landvolkappell in Kap-peln, SB 29. 3. 1938.

116 Vgl. hierzu und zum Folgenden LAS354/945.

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Ertragslage nicht eingehalten werden konnte, ließ S. die ihm alsSicherheit übertragene Ernte beschlagnahmen. Sein Kontrahentbeschwerte sich daraufhin bei Landrat Meyer-Quade und der Kreis-bauernschaft in Schleswig, die S. zum Verhör ins Landratsamt vor-lud. Vom Landrat alarmiert, erwartete ihn dort die gesamte NSDAP-Kreisleitung und einige SA-Männer mit Ernst Kolbe, Bruno Steenund Ernst Ramcke an der Spitze. Auch nachdem ihn Kreisbauern-führer Hansen heftig bedrängt habe, verzichtete er nicht auf seineAnsprüche, hieß es. Er wurde festgenommen, geschlagen und dann,wie oben geschildert, von einem SA-Trupp durch die Straßen ge-führt. Obwohl der Vorfall von allen damals Beteiligten nach Kriegs-ende eingeräumt wurde, erfolgte eine Einstellung des Verfahrens ge-gen Hansen. Weder Zeugen noch Beschuldigte vermochten sich an

NS-Prominenz auf dem Motorschiff„Jochen Meyer-Quade“ (SN 26.4.1934)

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Einzelheiten zu erinnern. Bemerkenswert ist zudem, dass alle Betei-ligten die Urheberschaft auf die im Weltkrieg verstorbenen Meyer-Quade und Kolbe schoben und sich damit wesentlich zu entlastenversuchten. Die Affäre Otto Gestefeld. Auch in der Kreisverwaltung und bei kreis-eigenen Betrieben versuchten die bekannten NSDAP-Funktionsträ-ger Fuß zu fassen und ihnen genehme bzw. aus den eigenen Reihenstammende Männer in wichtige Positionen zu schieben. Dabei ge-langte der schon erwähnte Führer des Schleswiger SA-Marine-Sturms Erich Hasse im September 1933 als Abteilungsdirektor derKreisschifffahrt zu den Kreisverkehrsbetrieben. Ebenso versuchtedie Kreisleitung Einfluss bei Stellenbesetzungen in der Kreisspar-kasse zu nehmen. Hier musste die Nachfolge des im September1933 entlassenen langjährigen Direktor Oluf Jensen117 geregeltwerden. Otto Gestefeld als Kreisdeputierter und Landrat Meyer-Quade schlugen den früheren Rendanten der Kreditbank in LeckChristian Petersen vor. Petersen, kurz zuvor nach Groß-Brebel beiSüderbrarup verzogen, gelangte im Juli 1933 in den Kreditaus-schuss der Kreissparkasse, wurde zugleich mit der kommissarischenLeitung beauftragt, musste jedoch wegen früherer Verfehlungen inseiner alten Wirkungsstätte in Leck ein Jahr später wieder ausschei-den.118

Der vakante Direktorenposten sollte daraufhin auf Vorschlag desneuen Landrats Roland Siegel mit dem bisherigen stellvertretendenLeiter der Stormaner Kreissparkasse Alfred Miethke zum 1. Sep-tember 1934 wieder besetzt werden. Miethke, am 7. 3. 1903 in Kielgeboren und zum höheren Sparkassendienst ausgebildet, trat seinePosition nach der erforderlichen Bestätigung durch den Kreisaus-schuss am 16. August an. Trotz ausgezeichneter Referenzen ent-sprach er offenbar nicht den Vorstellungen der NSDAP-Kreislei-tung. Gestefeld, der schon bei der Entlassung Jensens maßgeblichbeteiligt war, hatte ihn auf der ersten Verwaltungsratssitzung als„politisch unzuverlässig“ bezeichnet und für eine sofortige Entlas-sung gesorgt. Erst nach Siegels energischem Eingreifen konnteMiethke seine bis zur Erreichung des Ruhestandes in den 1960erJahren währende Tätigkeit zum 15. September 1934 erneut aufneh-men.119

Gestefeld, der bisher geschickt und nahezu unbehelligt die Fä-den im Hintergrund gesponnen hatte, hatte sich offenbar verkalku-liert. Seine Position wurde zudem durch eine Betrugsaffäre in demvon ihm geleiteten Tolker Geldinstitut nachhaltig erschüttert. Diedabei gegen ihn erhobenen Vorwürfe ließen sich nicht mehr ver-heimlichen und erschütterten die gesamte NSDAP-Kreisleitung. Sieverdeutlicht, mit welcher, zum Teil sogar mit krimineller Energiegepaarten Rücksichtslosigkeit einzelne NSDAP-Funktionsträgerversuchten, ihre im Frühjahr 1933 gewonnenen Pfründe abzusi-chern. Der Fall kam ans Licht im Zusammenhang mit der Entlas-sung des als Leiter der Schleswiger Kreisverkehrsbetriebe tätigenHeinrich Struck im Herbst 1933, der seit seinem Dienstantritt 1927

„Seine ehrenlose Gesinnung hatsich schon in seinem Vorlebengezeigt.“

117 Der am 6. 7. 1886 in Tondern gebo-rene Oluf Jensen leitete die Kreissparkasseseit deren Gründung im Jahre 1917. Ergalt in seiner Tätigkeit als ausgesprochenversierter Fachmann. Seine Pensionierungerfolgte gemäß § 6 des Gesetzes zur Wie-derherstellung des Berufsbeamtentums we-gen „meiner feindlichen Einstellung zumNazismus“, wie er in seinem Entnazifizie-rungsfragebogen im Jahre 1947 glaubhaftversicherte. Jensen blieb anschließend fürca. zwei Jahre ohne Beschäftigung undohne Einkommen, bis er 1935 in Bad Se-geberg Pächter einer dort ansässigenZuckerwarenfabrik wurde. Im Februar1943 gelangte er in den Vorstand der Se-geberger Volksbank. Im Entnazifizierungs-verfahren schon frühzeitig als „Entlaste-ter“ in die Kategorie V eingestuft, kandi-dierte er bei den ersten Kommunalwahlenim Oktober 1946 auf der CDU-Liste erfolg-reich für den Kreistag, LAS 460.13/178,Jensen, Oluf118 Chronik der Kreissparkasse Schles-wig-Flensburg, Band 1; Petersen wurde imAugust 1934 zum Revisor der NSDAP-Gau-leitung in Altona bestellt, Landrat 22. 8.1934, LAS 320 Sl-K/63. Der von derKreisleitung für den Direktorenpostenebenso vorgesehene Bankbevollmächtigteder Schleswig-Holsteinischen Bank in Itze-hoe, Peters, erhielt seine Bewerbungsun-terlagen zurück, Vermerk BürodirektorPlath, 29. 9. 1934, ebd.119 Vermerk zum Verhalten des Kreisde-putierten Gestefeld von Landrat Siegel,30. 10. 1934, GA SlFl Abt 0.2/; hierzuauch: LAS 460.12/197, Miethke, Alfred.Miethke starb am 3. 5. 1974 in Schles-wig.

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zur NSDAP ein gespanntes Verhältnis hatte.120 Strucks Entlassungentpuppte sich letztlich als Racheakt seines Amtsvorgängers FranzLiedig, der selbst nach einem Disziplinarverfahren wegen des Vor-wurfs der Untreue und Bestechlichkeit als Kreisbahndirektorzurücktreten musste, aus Altersgründen bis zur Pensionierung imOktober 1934 aber weiter beschäftigt wurde. Liedig fühlte sich un-gerecht behandelt und erhob mit Unterstützung der NSDAP-Kreis-leitung gegen den damaligen Kreisausschuss schwerste Vorwürfe.Dieser hätte unter der „unheilvollen“ Führung des sozialdemokrati-schen Kreistagsabgeordneten Flatterich gestanden, wie er in einemBeschwerdebrief im März 1934 ausführte. Struck habe ihn zudemständig schikaniert. Er selber habe erst „neue Hoffnung geschöpft,als endlich einige Nationalsozialisten in den Kreistag gewählt wur-den und einer von diesen (Herr Gestefeld) in den Kreisausschuss ge-langte. Es dürfte begreiflich sein und mir nicht zum Nachteil ange-rechnet werden können, dass ich in der Überzeugung, dass der Na-tionalsozialismus mehr Verständnis für die Ergreifung von Maßnah-men zur Verhinderung des fortschreitenden Verfalls des Verkehrsun-ternehmens des Kreises haben würde, mich einige Male an HerrnGestefeld gewandt habe im Gegensatz zu Herrn Struck, der immerHilfe und Unterstützung bei Herrn Flatterich gesucht hat, bis dieserHerr endlich gezwungen wurde, sein unheilvolles Wirken im Kreis-ausschuss aufzugeben und in der Versenkung zu verschwinden, hießes.“121

Gestefeld sah in diesem Zwist eine willkommene Gelegenheit,um eine eigene und Struck bekannte Straftat zu vertuschen. Als Lei-ter der Tolker Sparkasse hatte er nämlich in zwei Jahresbilanzen einegegenüber den Kreisverkehrsbetrieben bestehende Frachtschuldnicht aufgeführt und zur Verschleierung dieses Tatbestandes unge-deckte Schecks ausgestellt. Im September 1933 erreichte GestefeldStrucks Entlassung mit dem fadenscheinigen Argument, er sei„überfordert und menschlich zur Führung des Betriebs nicht geeig-net“. Struck protestierte und erreichte in einem Aufsehen erregenden,ja sogar in den regionalen Zeitungen dokumentierten Arbeits-gerichtsprozess im April 1934 seine Wiedereinstellung. In diesemVerfahren kamen auch erstmals die gegen Gestefeld gerichteten Be-trugsvorwürfe öffentlich zur Sprache.122

Meldung des Schleiboten am 3.3.1934über die Wiedereinstellung von Kreisbahn-direktor Heinrich Struck

120 Heinrich Struck wurde am 7. 9.1896 in Schülldorf geboren. In Rendsburgbesuchte er das Realgymnasium von 1907– 1914 und kam von dort direkt zumKriegseinsatz an verschiedenen Frontab-schnitten. 1919 machte er an der Luisen-städtischen Oberrealschule in Berlin dasAbitur nach und studierte anschließend anden technische Hochschulen in Hannoverund München. Das Studium schloss er1923 als Dipl. Ingenieur ab. 1925 be-stand er seine Staatsprüfung als Maschi-nenbauer und wurde zum Regierungs-Bau-meister ernannt. 1927 wechselte er zuden Schleswiger Kreisverkehrsbetrieben,deren Leitung er mit Unterbrechung der er-neuten Einberufung zur Kriegsmarine von1939 bis 1945 auch nach Kriegsende fort-setzte. LAS 460/1380. Pressedokumenta-tion in: GA SlFl Abt H 1/157; zur Ge-schichte der Kreisverkehrsbetriebe: MalteBischof, Infrastrukturmotor oder Wirt-schaftsbetrieb? Die Schleswiger Kreisbahn,in: Matthias Schartl (Hg.), Schiene-Straße-Schiff. 100 Jahre Verkehrsbetriebe desKreises Schleswig-Flensburg, Schleswig2001, S. 45 ff, bes. S. 57 ff121 Gemeint war damit der erzwungeneRückzug Flatterichs im Frühjahr 1933. DerVorgang befindet sich in einer unverzeich-neten Personalakte des KreisbahndirektorFranz Liedig in GA SlFl.122 SB 17. 2. 1934, 24. 2. 1934, SN3. 3.1934; zum Arbeitsgerichtsprozess:Urteil vom 2. 31934, GA SlFl, Abt.B0.2/8 sowie Zeugenaussagen im Entna-zifizierungsverfahren Struck in LAS460/1380.

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Vor dem Arbeitsgericht traten neben Gestefeld die gesamteSchleswiger NSDAP-Führungsriege als Zeugen auf. Darunter be-fanden sich Ex-Landrat Meyer-Quade, der ehemalige Ortsgruppen-leiter und kommissarische Schleswiger Bürgermeister HeinrichBlum sowie Kreisbauernführer Ernst Hansen. Die Richter attestier-ten Struck zwar „ein gestörtes Verhältnis“ zu einzelnen Mitarbeitern.Als Dienstvorgesetzter sei er oft „unfreundlich und bullerig“ gewe-sen, hieß es. Eine Entlassung lasse sich damit jedoch nicht rechtfer-tigen. Die Zeugen hätten wissentlich falsch ausgesagt und die Beleg-schaft negativ beeinflusst. Gestefeld habe während einer von ihmanberaumten Betriebsversammlung wenige Tage vor dem Prozesssogar bewusst „Stimmungsmache“ gegen Struck betrieben, die an-wesenden „Gefolgschaftsmitglieder“ zu einer illegalen Unterschrif-tenaktion genötigt und darüber hinaus wichtige Zeugen bestochen.Die Ursache für seine „feindliche Einstellung“ lag nach Auffassungdes Gerichts „in der Angelegenheit mit den ungedeckten Schecks“.

Die NSDAP-Gauleitung, der diese Affäre nicht verborgen blei-ben konnte, war anscheinend schon frühzeitig alarmiert. Um den indiesem Zusammenhang als Mitwisser kompromittierten und sicht-lich überforderten Meyer-Quade zu schützen, wurde dieser bereitsEnde November 1933 als Landrat abberufen und als SA-Führer nachNiedersachsen abkommandiert. Um die Partei vor weiterem Anse-hensverlust zu bewahren, holte Gauleiter Lohse den Verwaltungsju-risten und über die Parteischiene in hohe Positionen beförderten Dr.Roland Siegel aus dem preußischen Innenministerium als neuenkommissarischen Landrat nach Schleswig. Siegel hatte den Auftrag,die Angelegenheit ohne weiteres Aufsehen zu klären.

Roland Siegel wurde am 10. 11. 1902 in Kiel geboren. Nach demSchulbesuch in Kiel, Saarbrücken, Cottbus und Berlin legte er 1922an der Lauenburgischen Gelehrtenschule in Ratzeburg die Reifeprü-fung ab und studierte anschließend in Freiburg/Breisgau und KielRechts- und Staatswissenschaft. Nach dem Examen wurde er als Ge-richtsreferendar in Gettorf und Regierungsreferendar in Schleswig,sowie bei den verschiedenen Kommunalverwaltungen ausgebildetund 1929 nach bestandener Prüfung zum Regierungsassessor er-nannt.

Anschließende berufliche Tätigkeiten führten ihn nach Ost-preußen, ehe er im Dezember 1932 als höherer Verwaltungsbeamterzur politischen Abteilung des Berliner Polizeipräsidenten versetztwurde. Hier gelangte er nach dem 30. Januar 1933 als Personalde-zernent in eine Schlüsselposition und wirkte als enger Mitarbeiterdes nationalsozialistischen Polizeipräsidenten Konteradmiral a. D.von Levetzow bei der politischen Säuberung des Beamtenapparatesmaßgeblich mit. Anfang Mai erfolgte eine Beförderung ins preußi-sche Innenministerium. Am 1. 10. 1933 wurde er zum Regierungsraternannt. Wenig später suchte er als Anwärter um Aufnahme in dieSS nach, die jedoch nicht vollzogen wurde. Anfang 1935 bekleideteer außerdem für 18 Monate den Posten eines Kreisamtsleiters fürKommunalpolitik in seiner neuen Wirkungsstätte in Königsberg.

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Obwohl Siegel nach 1945 wiederholt seine fachliche Kompetenzhervorhob und zu recht auf vorhandene Konflikte mit örtlichenParteiebenen hinwies, verdankte er seinen Karrieresprung in ersterLinie seiner Zugehörigkeit zur NSDAP, der er während seines erstenKönigsberger Aufenthalts bereits am 1. 3. 1932 mit der Mitglieds-nummer 1072199 beigetreten war. Als bewährter Verwaltungs-beamter kam er zum 1. 12. 1933 nach Schleswig. Am 17. 3. 1934empfahl der Kreisausschuss dem Regierungspräsidenten einstim-mig, ihn als Landrat zu bestätigen. Zunächst noch freundlich emp-fangen, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen regionalerParteiführung und ihm zusehends. Nachdem allen deutlich gewor-den war, dass der von seinen nationalsozialistischen Idealen über-zeugte und allem Anschein auch noch äußerst schneidig auftretendeSiegel seinen Auftrag ohne Rücksicht auf Personen auszuführen ge-

Dr. Roland Siegel, Landrat des KreisesSchleswig 1934 (SN 15.1.1934)

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dachte, versuchte der verzweifelt um seine Existenz kämpfendeGestefeld die Stimmung gegen den neuen Landrat zu schüren.123

Als eine seiner ersten Amtshandlungen forderte Siegel Gestefeldzur sofortigen Stellungnahme zu den Vorwürfen des Arbeitsgerichtsauf. Kurz darauf bemerkte er in einem kurzen Bericht an Regie-rungspräsident Anton Wallroth, dass in Gestefelds Verhalten „wohleine eines Beamten nicht würdige Handlungsweise vorliegen dürf-te“ und schon zwei Wochen später bat er darum, Gestefeld als Amts-und Gemeindevorsteher unverzüglich abzuberufen, da dieser „vonder Mehrheit der Bevölkerung im Kreis, darunter alten Parteigenos-sen, abgelehnt wird“.124

Eine Versammlung in Tolk hatte ihm dazu Veranlassung gege-ben. Hier hatte der Aufsichtsratsvorsitzende der lokalen Sparkasse,Peter Thießen, Gestefeld öffentlich der Urkundenfälschung bezich-tigt. Ein anwesender Gemeindevorsteher hatte ihn sogar als einen„Lumpen“ bezeichnet. Da Siegel zu diesem Zeitpunkt selbst nochnichts gegen Gestefeld zu unternehmen wagte, beschloss er, ihn miteinem Kunstgriff aus der Defensive zu locken. Aus Selbstschutz-gründen legte er ihm nahe, Anzeige wegen übler Nachrede zu stel-len. Er könne es „als Vorgesetzter nicht verantworten, dass einermeiner Gemeindevorsteher in der unglaublichsten Weise, wie hiergeschehen, beleidigt würde“. Gestefeld hingegen setzte auf Zeit, ver-traute auf seine Freunde in der Gauleitung und wollte seine Reaktionzunächst mit diesen absprechen. Als er nach erneuter Mahnung Sie-gels wiederum nicht reagierte, erstattete der Landrat nun selbst beimzuständigen Flensburger Landgericht Strafanzeige gegen Thießenmit der Bitte „um beschleunigte Behandlung, da durch die Beleidi-gung sowohl das persönliche Ansehen als auch die Autorität einesMannes (nämlich Gestefelds, M. S.), der zahlreiche Ehrenämter ver-waltet, geschädigt wird“.125

In den folgenden Wochen erreichten zahlreiche Beschwerdebrie-fe sogar die NSDAP-Reichsleitung in München, in denen weitereVerfehlungen Gestefelds benannt wurden. Breklings Gemeindevor-steher Medau etwa klagte über die „Eigennützigkeit und Eigen-mächtigkeit einzelner führender Parteiangehöriger unseres Kreises,die nach meiner Meinung der Idee des Nationalsozialismus direktzuwiderläuft“. Zudem bezichtigte er Meyer-Quade, sich als Landratzu wenig um seine Amtsgeschäfte gekümmert zu haben. In einemBrief an die Kreisleitung drohte der zwischenzeitlich mit der Abset-zung als Gemeindevorsteher gemaßregelte Medau an, die Angele-genheit öffentlich zu verbreiten, wenn Gestefeld „nicht umgehendvon seinen sämtlichen Ämtern abgesetzt“ werde.126

Trotz der von der Flensburger Staatsanwaltschaft eingeleitetenUntersuchung hatte die von Siegel eingeweihte Gauleitung im Ok-tober 1934 immer noch keine Konsequenzen gezogen. Noch hieltGauleiter und Oberpräsident Lohse seinem einstigen Weggefährtenund „alten Kämpfer“ Gestefeld die Treue. Sichtlich verärgert überausbleibende Reaktionen – hinzu kam, dass Lohse trotz zahlreicherBitten mehrfach Gesprächstermine verweigert hatte – listete Siegel

123 LAS Abt. 460.12/24, Siegel, Ro-land, SN 19. 3. 1934, GA SlFl Abt. B2.0/207 sowie BDC-OPG, Roland Siegel.

124 Hierzu und zum Folgenden die land-rätlichen Berichte sowie das Landgerichts-urteil gegen Gestefeld vom 9. 8. 1935,GA SlFl Abt. B 0.2/8. Siegel beschritt da-mit den Dienstweg, es ist aber davon aus-zugehen, dass er zudem die Gauleitung,insbesondere Lohse ebenso informierteund auch weiterhin über den Stand derDinge auf dem Laufenden hielt.

125 Strafanzeige an das AmtsgerichtSchleswig vom 13. 7. 1934, GA SlFl Abt.B 0.2/8. zu den im Folgenden geschilder-ten weiteren Vorgängen ebd.

126 An Siegel gerichtete Abschriften Loh-ses vom 25. 9. 1935, LAS 320 Sl-L/133.

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am 30. Oktober in einem elfseitigen Bericht die Verfehlungen minu-tiös auf und leitete diesen dem Regierungspräsidium auf demDienstweg zu. Er halte Gestefeld für „unfähig und unwürdig ein Eh-renamt zu bekleiden“, hieß es schon im ersten Satz. Dieser sei „1. derunzuverlässigste Ehrenbeamte im Kreis, 2. ist er unaufrichtig undwortbrüchig und treibt eine unverantwortliche Hetze, 3. hat dieStaatsanwaltschaft ihn der Urkundenfälschung überführt, 4. hat sichseine ehrenlose Gesinnung auch schon in seinem Vorleben gezeigt.“

Neben dem schon erwähnten Betrugsvorwurf führte Siegel auf,dass Gestefeld auch als Amtsvorsteher schwerwiegende Versäum-nisse anzulasten seien. Er habe der Kreiskasse nicht nur die jährlichvon den Einwohnern bei der Tolker Sparkasse entrichteten Staats-steuern vorenthalten, sondern sie für eigene Zwecke missbraucht.Für die finanziellen Nachteile, die den Gemeinden dadurch entstan-den wären, sei er „persönlich haftbar“. Da sich mittlerweile Amts-und Funktionsträger, aber auch „alte Parteigenossen“ öffentlich be-schwert hätten, bat er nochmals darum, Gestefeld unverzüglich vonallen Positionen abzuberufen und resümierte, dass dieser, „der dasgoldene Parteiabzeichen trägt, Bewegung und Staat im KreiseSchleswig ungeheuer geschadet hat. Die Bevölkerung des Kreiseszeichnet sich durch gerade, aufrechte Haltung aus, und verlangt des-halb mit Recht Gestefelds sofortige Absetzung.“

Die Gauleitung reagierte immer noch nicht, in der Bevölkerunghingegen schlugen die Wogen der Empörung hoch. Ende Oktober1934 erneuerte der ehemalige Amtsvorsteher des Amtes Tolk,Schmidt (Taarstedt) die Vorwürfe in einem anonymen Brief an Loh-se. Schmidt fühlte sich gedemütigt, war er doch von Gestefeld kurzzuvor nach über dreißigjähriger Tätigkeit aus seinem Amt gedrängtworden. Anstatt diesen Klagen nachzugehen, stellte Lohse AnfangJanuar 1935 Strafanzeige gegen Schmidt wegen Beleidigungführender Persönlichkeiten des Staates und der NSDAP. In einemBrief an die Flensburger Staatsanwaltschaft ließ er am 6. April 1935mitteilen, dass Gestefeld seit 1925 in der Partei sei und „die Bewe-gung ihm viel zu verdanken (habe). Ich nehme einen Parteigenossengrundsätzlich solange in Schutz, als Beweise für erhobene Angriffenicht beigebracht werden. Bleiben solche Angriffe immer wiederohne Verfolgung, so müsse die Autorität des Staates und der Parteidarunter empfindlich leiden. Gerade im Kreis Schleswig muss ein-mal gerichtlich unter Beweis gestellt werden, dass die Träger derPartei und des Staates einwandfrei dastehen und ihre Maßnahmen inkeiner Weise das Licht der Öffentlichkeit zu fürchten brauchen.“127

Lohse müssen Gestefelds Verfehlungen aber bekannt gewesensein. Sein späterer Hinweis, dass „die Vorgänge im Jahre 1933 „ohnejeden Einfluss von mir abgerollt sind“, kann nicht mehr als eineSchutzbehauptung sein. Außerdem hatte er ja persönlich für die Ver-setzung des sichtlich überforderten Meyer-Quade nach Niedersach-sen und die Berufung Siegels zum Landrat gesorgt. Noch im April1935 hielt er Gestefeld nach außen hin die Treue und betonte, dassnicht er, sondern „die Partei ihn fallengelassen“ habe. Selbst nach

127 Der Vorgang ist grundlegend doku-mentiert in LAS 301/4511. Alle folgen-den Hinweise und Zitate stammen daraus.

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Gestefelds Verurteilung zu drei Jahren Zuchthaus stellte sich Lohsenochmals bei einem öffentlichen Auftritt im Kreis Schleswig „inherzlichster Kameradschaft“ schützend vor den „Alten Kämpfer“Gestefeld: „Wir sollten uns doch wahrhaft mit anderen Dingen alsmit Dreck befassen, das sind Dinge, die eines Nationalsozialistenunwürdig sind. Die Zeit des Kampfes mit ihrer schönen Kamerad-schaft muss immer unser Vorbild bleiben und sollte verhindern, dassin unseren eigenen Reihen Parteigenossen sich zu schaden suchenund in den Dreck zu ziehen.“128

Der aufrechte Siegel hatte sich jedoch in seinem Aufklärungsei-fer die anfänglichen Sympathien nicht nur in der regionalen NS-Führungsclique, sondern auch bei Lohse eindeutig verscherzt. „So-lange ich Landrat des Kreises Schleswig bin, kämpfe ich für Sauber-keit und Ehre“, hatte er noch am Ende seines Berichts an den Regie-rungspräsidenten festgehalten.129 Seine einst in Berlin mit Hilfe derNSDAP angetretene hoffnungsvolle Karriere neigte sich schnelldem Ende zu. Schon im November 1935, wenige Wochen nach Ges-tefelds Verurteilung, wurde er auf einen Landratsposten in Königs-berg abgeschoben.

Wie es später hieß, sei Lohse Urheber eines gegen ihn „gerichte-ten Kesseltreibens“ gewesen.130 Siegels Verhältnis zum Gauleiterwar zudem noch dadurch belastet, nachdem er beim Röhm-Putschim Juni 1934 die Verhaftung eines Schleswiger SA-Führers trotzhöherer Anweisung verweigert haben soll. Auch bei der Berufungvon Amts- und Gemeindevorstehern soll er zum Unmut der NSDAP-Kreisleitung wiederholt streng nach sachlichen Gesichtspunktenvorgegangen sein und ihm ungeeignet erscheinende Wunschkandi-daten die Ernennung verweigert haben. Dem von der Kreisleitungund der DAF-Ortsgruppe Schleswig vehement zur Umsetzung ange-mahnten Beschluss zur Beschäftigung verdienter NSDAP-Mitglie-der in seiner Kreisverwaltung habe er ebenso nicht in dem geforder-ten Umfange umgesetzt, hieß es.131

Siegel bemerkte später ebenso, dass ihm Lohse sein Vorgehen imFall Gestefeld nie verziehen habe. Deshalb sei er von Parteidienst-stellen weiterhin scharf beobachtet worden. Im Juni 1936 leitete dasNSDAP-Gaugericht Königsberg ein Ermittlungsverfahren gegen ihnein, weil er sich bei einer Pferdemusterung auf dem Hof eines jüdi-schen Gutsbesitzers habe bewirten lassen und dabei in der Uniformeines politischen Leiters aufgetreten sei. Am 6. 7. 1936 erfolgte dieStrafversetzung in den einstweiligen Ruhestand.132 Auch nach seinerVersetzung zur Reichsstraßenverkehrsverwaltung in Breslau habe ersich nach eigener, durch Zeugen bestätigte Aussage mehrfach mitder Partei angelegt. 1942 wirkte Siegel als Bevollmächtigter für denNahverkehr in Düsseldorf, ehe er ein Jahr später zur Wehrmacht andie Ostfront und im September 1943 zur Militärverwaltung in Italieneinberufen wurde. Im Krieg soll er Kontakte zu Widerstandskreisengeknüpft und zur Gruppe der „politisch zuverlässigen Personen“, dienach einem erfolgreichen Putsch für die Übernahme von Regie-rungspositionen geeignet erschienen, gezählt haben.

128 SN 1. 12. 1935.

129 GA SlFl Abt. B 0.2/8.

130 Begründung zum Beschluss desHauptausschusses im Entnazifizierungsver-fahren Siegel vom 17. 8. 1948, LAS 460.12/24, Siegel, Roland.

131 Ebd. sowie Beschwerde der SA-Stan-darte 86 vom 31. 5. 1934, GA SlFl AbtH1/174.

132 BDC-OPG Roland Siegel.

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Nach einer mehrere Monate währenden Internierungshaft wiederin Schleswig wohnend, wurde Siegel im Entnazifizierungsverfahrenam 17. 8. 1948 als entlastet eingestuft. Eine vom öffentlichen Klägerbeantragte Berufung wurde u. a. auch deshalb verworfen, weil er inmehreren Fällen NS-Gegner wie etwa den späteren Referenten imKabinett des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Lüdemann,Bruno Stapenbeck, vor einer Verfolgung bewahrt haben soll.133

Auch der oben erwähnte ehemalige Amtsvorsteher Schmidt ausTolk, gegen den Lohse ja Verleumdungsanzeige erstattet hatte, be-kam den Zorn des Gauleiters zu spüren. Mehrfach schaltete sichLohse persönlich in die Untersuchung, mit der Regierungsvizepräsi-dent Wilhelm Schow beauftragt worden war, ein. Erst im September1935 erreichte Schmidt, beraten von seinem als Rechtsanwalt inSchleswig tätigen Sohn, einen Vergleich. Lohse zog die Anzeige

Anzeige von Amtsvorsteher Schmidt, in derer „Beschimpfungen und Beleidigungen“führender NSDAP-Persönlichkeiten ein-räumt (SN 24.9.1935)

133 Leumundszeugnisse und Urteile imEntnazifizierungsverfahren Siegel, LAS 460.12/24, Siegel, Roland.

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zurück und das Verfahren wurde gegen Zahlung eines „Sühnegel-des“ in Höhe von 2000 RM eingestellt. Außerdem wurde Schmidtaufgetragen, eine Erklärung in den regionalen Zeitungen abzugeben,um sich für seine „beleidigenden“ Äußerungen öffentlich zu ent-schuldigen. Der Hinweis des Sohnes, dass die Angelegenheit da-durch nur weiter verbreitet werde, verhallte ungehört. Lohse wollteein Exempel statuieren und weitere Mitwisser abschrecken. Auchdies mag ein Zeichen dafür sein, wie sehr die Partei im Kreis Schles-wig durch die Affäre Gestefeld belastet worden war.134

Neue Köpfe in Verwaltung und Partei. Der Fall des mächtigen Kreisdepu-tierten und stellvertretenden Landrats Otto Gestefeld beendetegleichsam die erste Phase der nationalsozialistischen Machtübernah-me im Kreis Schleswig. Deutlich wurde, dass die führenden lokalenund regionalen Funktionsträger an dem selbst bei jeder Gelegenheitvorgebrachten hehren Anspruch gescheitert waren, Staat und Ver-

Hans Kolbe, Landrat in Schleswig 1934-1945 in Uniform als Vizeadmiral(Foto um 1927, GA SIFI)

134 LAS 301/4511, die Anzeige erschi-en in SN 24. 9. 1935, in der Schleswig-Holsteinischen Tageszeitung am 27. 9.und in den Flensburger Nachrichten am28. 9. 1935.

„Die Stimmung der Bevölkerunghabe sich wesentlich gebessert.“

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waltung vom Ruch der Korruption und Vetternwirtschaft zu befrei-en. Bemerkenswert, im Falle der Machtübertragung aber durchaustypisch, ist es, dass von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Mehr-heit der administrativen, politischen und gesellschaftlichen Ent-scheidungsträger diesem Treiben tatenlos zusahen und Verfehlun-gen, ebenso wie die Mehrheit der Bevölkerung, als persönliche Ent-gleisungen von Einzeltätern bewerteten. Erst nachdem die Vorwurfevon persönlich betroffenen Amtsträgern öffentlich angeprangertworden waren, reagierte die Gauleitung und lancierte zwei im Kreisbisher unbekannte, jedoch in anderen Funktionen bewährte Persön-lichkeiten auf die vakanten Positionen. Nachfolger Siegels als Land-rat wurde im November 1935 der zwei Jahre zuvor aus dem aktivenMilitärdienst entlassene untadelige Marineoffizier, Vizeadmiral a. D.Hans Kolbe.

Hans Kolbe stammt aus einer alten preußischen Offiziersfamilieund wurde am 11. 5. 1882 in Erfurt geboren. In Sondershausen be-suchte er die Volksschule und kam von dort 1891 auf ein Gymnasi-um in Erfurt. Nach familiären Umzügen setzte er den Schulbesuchin Celle und Wismar fort, wo er 1900 auch die Primarreife ablegte.Anschließend begann er eine Offiziersausbildung in der Marine, inder er in höchste Positionen gelangte. Die Revolutions- und Nach-kriegsjahre erlebte er im Freikorps der „3. Marinebrigade von Lö-wenfeld“. In den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen imGefolge des Kapp-Putsches am 13. März 1920 kämpfte er in führen-der Stellung gegen bewaffnete revolutionäre Arbeitertrupps imRuhrgebiet.135

Danach setzte er seine Offizierskarriere fort und wurde – nun-mehr mit ständigem Wohnsitz in Kiel – bis 1931 mehrfach befördert.Schlagzeilen machte Kolbe im Herbst 1927 bei einer offiziellen Aus-landsfahrt des Kreuzers „Berlin“. Beseelt vom Geist alter Marinetra-dition hatte er als Kommandant vor Auslaufen seines in Kiel liegen-den Schiffes den zufällig auf seinem Gut Hemmelmark bei Eckern-förde weilenden Kaisersohn, Prinz Heinrich von Preußen, zumFrühstück an Bord empfangen. Vom spanischen Cadiz aus wurde erzum Rapport nach Berlin zurückbeordert. Nur das beherzte Eingrei-fen des ihm wohlgesonnenen Reichspräsidenten von Hindenburgund des Reichswehrministers Geßler verhinderte seine in demokrati-schen Zeitungen vehement geforderte Entlassung. Nach der Rück-kehr wurde Kolbe Chef des Stabes der Marinestation Ostsee, Kon-teradmiral und Befehlshaber der Aufklärungsstreitkräfte.

Im September 1934 schied er im Alter von 52 Jahren aus „perso-nalwirtschaftlichen Gründen“ als Vizeadmiral vorzeitig aus dem ak-tiven Dienst aus. Ein Engagement im traditionell von der Reichsma-rine beeinflussten Deutschen Seglerverband lehnte Kolbe ab. Stattdessen wurde er am 1. 12. 1934 trotz fehlender Justiz- und Verwal-tungsvorbildung zum kommissarischen Landrat des Kreises Schles-wig ernannt. Voraussetzung hierfür war der Beitritt in die NSDAP,den er zum 1. Oktober vollzogen hatte. Ende Oktober 1936 wurde erGauamtsleiter des Reichskolonialbundes und 1941 „ehrenhalber“

135 Hierzu und zum Folgenden: BDC-SSOHans Kolbe; Nachlass Kolbe, GA SlFl;Personalakte LAS 611/1943; SchleswigerNachrichten 11. 5., 9. 9. und 12. 9. 1957.

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zum Standartenführer des Sicherheitsdienstes der SS ernannt.Außerdem gehörte er als Landrat seit 1935 der Deutschen Jäger-schaft an und war bis 1945 „Kreisführer“ des Deutschen RotenKreuzes im Kreis Schleswig. Kriegsbedingt vertrat er von August1941 bis März 1943 und nochmals vom 26. Januar 1944 an für einweiteres Jahr die einberufenen Eckernförder Landräte Walter Alnorund Peter Matthiesen. Nach der Kapitulation wurde er von den Bri-ten verhaftet und im Lager Gadeland bei Neumünster interniert. Vondort entlassen, kehrte er im März 1946 zunächst nach Schleswigzurück und verzog anschließend in sein Haus nach Hestoft beiUlsnis, wo er am 8. September 1957 verstarb.

Kolbe hatte das in ihn gesetzte Vertrauen mehr als erfüllt. Er war,so schien es, der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt. Als „erfah-rener Admiral“ habe er sich, so hieß es in einer Beurteilung des Re-gierungspräsidenten, „in verhältnismäßig kurzer Zeit in die nichtleichten Verhältnisse seines Kreises eingearbeitet“ und erheblichdazu beigetragen, dass sich „die Stimmung der Bevölkerung durchsein geschicktes Eingreifen wesentlich gebessert“ habe.“ Beispiel-haft dafür ist sein Verhalten bei der umstrittenen Frage der Kreis-steuern, die vor 1933 von einzelnen örtlichen NSDAP-Funktionsträ-gern wie auch Gestefeld verweigert worden waren und auch an-schließend nur schleppend beglichen wurden. Bekanntlich hatte diesim Kreis der loyalen Bürgermeister und Amtsvorsteher erheblicheUnruhe ausgelöst. Kolbe agierte bei der Lösung des Problems äu-ßerst pragmatisch, ließ im Flur des Kreishauses eine Gemeindekarteaufhängen, auf der alle säumigen kommunalen Steuerschuldner roteingekreist waren. Derart am Pranger stehend, sollen schon nachwenigen Tagen, so wird kolportiert, auch die letzten Bürgermeisterihre ausstehenden Beiträge stillschweigend abgeliefert haben.136

Ehemalige Mitarbeiter aber auch die politische Öffentlichkeitwürdigten nach Kriegsende sein „offenes, stets hilfsbereites Wesen“und attestierten ihm einen „aufrichtigen, geraden Charakter“, derihm überall Achtung und Beliebtheit verschafft habe. Außerdem trugsein beherztes Eingreifen dazu bei, dass weder die Schleibrücke inKappeln kurz vor der Kapitulation im Mai 1945 zerstört, noch dieStadt Schleswig vor den anrückenden Briten verteidigt wurde. Erselbst bezeichnete seine Landratstätigkeit als Dienst am Vaterlandmit dem Ziel, „zu helfen, wo er helfen konnte“ und „um Besseres zubewirken“ – eine Standardausrede vieler mit dem Ziel, sich selbstvon persönlicher Verantwortung freizusprechen.

Kaum bekannt ist sein zum Teil rücksichtsloses Verhalten ge-genüber Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zwischen 1941 bis1945. Zwar trug er einerseits dazu bei, dass in der Landwirtschafteingesetzte Ostarbeiter und Polen angemessen versorgt wurden unddeckte, wenn deren Behandlung bei örtlichen Neidern zur Missgunstführte, deren gegen die Bestimmungen verstoßenden Arbeitgeber.Anderseits hatte er Kenntnis von Misshandlungen und kündigte inmindestens einem Fall mehreren, deshalb die Arbeit verweigerndenPolen im Wiederholungsfalle „allerschärfste polizeiliche Maßnah-

136 Hierzu und zum Folgenden: NachlassKolbe sowie Schleibote 29. 5. 1933, 20.4. 1934, 14. 5. 1934;SN 12. 9. 1957.

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men“ an. Ein „aufsässiger“ ukrainischer Fremdarbeiter in Treia kam1942 auf seine Veranlassung hin in das Arbeitserziehungslager Wa-tenstedt bei Braunschweig, wo er wahrscheinlich an den unmensch-lichen Lagerbedingungen verstarb. Zu öffentlichen und widerrechtli-chen Hinrichtungen von polnischen Fremdarbeitern in Sieverstedtbei Flensburg und Dollrottfeld 1941 ließ er zwangsweise mehr als100 Kriegsgefangene aus dem Kreis Schleswig per LKW transpor-tieren. Ebenso hatte Kolbe Kenntnis von einer willkürlichen Exeku-tion polnischer Fremdarbeiter durch die Gestapo bei Kropp im No-vember 1941.137

Kolbe zur Seite als neuer NSDAP-Kreisleiter und stellvertreten-der Landrat stand der schon Anfang 1935 aus Leck nach Schleswigversetzte Kreisleiter von Südtondern Dr. vet. Georg Carstensen. Car-stensen, ein im Kreis Schleswig bis dato vollkommen unbekannterFunktionsträger, wurde am 21. 10. 1882 in Hörup, Kreis Flensburg,

Georg Carstensen, NSDAP-Kreisleiter in Schleswig 1935-1945 (BA-Berlin, BDC-RS)

137 Einzelfälle dokumentiert in: Claus Ol-sen, „Sonderbehandlung“ auf dem Dorfe.Hinrichtungen polnischer Kriegsgefangenerim Raum Flensburg, in: Informationen zurschleswig-holsteinischen Zeitgeschichte36, (1999), 39 ff. Zum Fall des in Waten-stedt verstorbenen ukrainischen Fremdar-beiters. Nils Köhler, „Während des Kriegesweit im fremden Land“. Die Perspektiveder zwangsarbeitenden Polen und „Ostar-beiter“ in Schleswig-Holstein, in: Uwe Dan-ker u. a. (Hg..), Ausländereinsatz in derNordmark. Zwangsarbeitende in Schleswig-Holstein 1939-1945, Bielefeld 2001, S.175 ff, hier. S. 211 f. - Im üblichen Entna-zifizierungsverfahren wurde Kolbe 1948zunächst in der Kategorie 4 eingestuft. Da-bei wurde sein Parteieintritt im Oktober1934 als Voraussetzung für die Berufungzum Landrat gewertet. Der Entnazifizie-rungsausschuss unterstellte, dass ihn dieLeumundszeugnisse nicht vollständig ent-lasten würden, da seine Zeugen selbstführende Ämter in der NSDAP bekleidethätten. Nach Widerspruch wurde er imSeptember 1950 vom Entnazifizierungs-Hauptausschuss des Landes in die Katego-rie V (entlastet) unter Beibehaltung seinerPensionsansprüche eingestuft.

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geboren. Nach dem Schulbesuch in Apenrade und dem Abitur an derFlensburger Oberrealschule studierte er zunächst in München undspäter an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover Veterinärmedi-zin. Im Weltkrieg diente er als Feldhilfsveterinär. 1920 promovierteer in Hannover, um dann wenig später in Leck eine Tierarztpraxis zueröffnen.138

Der NSDAP trat Carstensen am 1. 10. 1930 bei. Trotz der hohenMitgliedsnummer 366787 galt er in Parteikreisen als „Alter Kämp-fer“, da er sich schon vor dem Beitritt offen für die nationalsozialisti-sche Bewegung engagiert hatte und im Landkreis Südtondern vonAnfang in hohen lokalen und regionalen Funktionen tätig war. Eramtierte sofort als Leiter der am 14. 9. 1930 gegründeten OrtsgruppeLeck und bekleidete seit Ende 1932 das Amt des Kreisleiters. Außer-dem vertrat er die NSDAP im Gemeinderat und im 1933 gewähltenKreistag, wo er zum 1. Kreisrat und stellvertretenden Landrat ge-wählt wurde. Auf der konstituierenden Kreistagssitzung am 19. 4.1933 gab er mit Hinweis auf anstehende Personalentscheidungen inden Amtsbezirken bekannt, dass es für ihn bei der Gleichschaltungkeinerlei Kompromisse geben dürfe.

In Schleswig wurde Carstensen Nachfolger des wegen seinesharschen Vorgehens gegen Mitglieder der Ortsgruppe Kappeln kriti-sierten und daraufhin nach Altona versetzten Ernst Kolbe. In dieserPosition amtierte er mit Unterbrechungen bis 1945.139 Im Januar1936 folgte er zudem Bürgermeister von Baselli bis zur Neuorgani-sation im April 1937 in der Position des Schleswiger Ortsgruppen-leiters nach. Mit seiner Ernennung zum Kreisleiter verbunden wardie Berufung zum Ersten Kreisdeputierten und stellvertretendenLandrat. Im April 1938 kandidierte er erfolglos auf der „Liste desFührers“ zum „Großdeutschen Reichstag“. Zwischen September1939 und Mai 1942 diente Carstensen der Wehrmacht als Stabsvete-rinär in Frankreich und Belgien, um dann, wegen Krankheit ausge-mustert, wieder in seine alte Funktion nach Schleswig zurückzukeh-ren. Am 15. 5. 1945 wurde er von den britischen Militärbehördenverhaftet und Anfang Juni 1948 vom Bielefelder Spruchgericht zueiner Strafe von zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verur-teilt, die durch die mehr als dreijährige Internierungshaft als verbüßtgalt. Anschließend kehrte er mit seiner Familie nach Leck zurück.

Das Spruchgericht hielt fest, dass Carstensen aufgrund seinerZugehörigkeit zum regionalen Führungskorps der NSDAP von allenverbrecherischen Handlungen – so etwa von Hinrichtungen auslän-discher Arbeitskräfte im Kreis Schleswig, den in der Folge des 20.Juli 1944 vorgenommenen Verhaftungen in der Stadt Schleswig oderden Transporten von Insassen der Heil- und Pflegeanstalt nach Me-seritz und Bernburg – Kenntnis gehabt haben müsse. Seine eigenenErklärungen seien bei Berücksichtigung seiner „Persönlichkeit, denLebensverhältnissen und des hohen Parteiamtes … seit 1933 so un-glaubhaft, dass die Kammer unbedenklich das Gegenteil annimmt“,lautete es im Urteil.140 Nach bisherigen Erkenntnissen konnte ihmeine direkte Beteiligung an NS-Verbrechen, beispielsweise auch

138 Zu Carstensen LAS 460.12/89;BDC-SSO Georg Carstensen; GA SlFl, Perso-nendokumentation; Hinweise zur Tätigkeitin Leck in: Georg Koester, Chronik desMarktortes Leck, Leck 1990, S. 271 ff.

139 Ab April 1936 wurde er für drei Jah-re von dem zum hauptamtlichen Geschäfts-führer der NSDAP-Kreisleitung ernanntenund am 9. 2. 1909 in Meldorf geborenenkaufmännischen Angestellten Hans AugustAndreas Petersen unterstützt. Petersenwar u. a. in die Ausschreitungen der Po-gromnacht vom 9. zum 10. 11. 1938 inKappeln und in Satrup verwickelt, LAS460.12/215 sowie LAS 354/965 und354/994 sowie LAS 351/748.

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nicht bei der „Reichspogromnacht“ vom 9. November 1938 inFriedrichstadt, Satrup und Kappeln nachgewiesen werden.141

Vor dem Entnazifizierungshauptausschuss erreichte er eineEinstufung als „Mitläufer“ in Kategorie IV. Allerdings hieß es imSpruch dieses Gremiums, dass Carstensen durch seine ununterbro-chene Tätigkeit für die NSDAP den Nationalsozialismus erheblichgefördert habe und für seine Taten voll verantwortlich sei. Zwar seier außer den für sein Amt üblichen Auftritten kaum hervorgetretenund habe dieses vor allem „nicht persönlich gehässig“ ausgeübt. Erhabe es aber versäumt, „die vielfachen politischen Ausschreitungenim Kreis zu bekämpfen und dagegen einzuschreiten, sowie dieschuldigen Mitglieder der Partei und der Gliederungen zur Rechen-schaft zu ziehen.“ Bei dieser Entscheidung wurde wahrscheinlich aufeinen Vorfall in Leck im Juli 1933 Bezug genommen, von dem Car-stensen zumindest Kenntnis haben musste. Bei dieser Aktion wurdeein ortsansässiger Uhrmacher wegen einer angeblichen Verunglimp-fung öffentlich mit einem Schild um den Hals und der Aufschrift„Ich bin der größte Lump, ich habe den Reichskanzler Adolf Hitlerbeleidigt“ durch die Straßen getrieben. Auch in eine Kampagne ge-gen einen weiteren kritischen Geschäftsinhaber in Leck war er allemAnschein nach involviert.142

Carstensen sah seine Aufgabe vor allem darin, den Parteiapparatzu organisieren und für eine reibungslose Umsetzung der ihn errei-chenden Direktiven zu sorgen. Er trat bei Schulungs- und Ausbil-dungskursen für die NS-Gliederungen auf oder bei den regelmäßi-gen gemeinsamen Tagungen der Funktionsträger des Kreises.Außerdem war er als Redner aktiv und repräsentierte die Partei beiden von der Kreisleitung organisierten öffentlichen Großveranstal-tungen.143 Die Einschätzung des Flensburger Tageblatts in einemArtikel zum Abschluss seines Spruchgerichtsverfahren im Juni1948, Carstensens „Wissen um die dem Politischen Führercorps zurLast gelegten Verbrechen (wurde als) nicht allzu hoch bewertet“, istmit Sicherheit nicht zutreffend.144 Neben Kolbe agierte auchCarstensen als ein funktionierendes Rad im verbrecherischen Lauf-werk des NS-Systems. Für die NSDAP im Kreis Schleswig erwiesensich beide als wahrer Glücksgriff. Ihre Amtsführung trug wesentlichmit dazu bei, das sich die von den Machenschaften des „AltenKämpfers“ Otto Gestefeld aufgewühlte Stimmung im Kreis Schles-wig beruhigte.

140 BA Koblenz Z 42 IV/1508. Zu denwiderrechtlichen Hinrichtungen im KreisSchleswig, Olsen, a.a.O., zu den Verhaf-tungen nach dem 20. Juli in Schleswig,Clausen, a.a.O. S. 147 ff.141 Vgl. Philipsen, a.a.O., Bästleina.a.O.

142 LAS 460.12/89. Es ist anzuneh-men, dass Carstensen im Rahmen der übli-chen Überprüfungsrituale letztlich in dieKategorie V eingestuft wurde und damitals entlastet galt. Unterlagen dazu fehlenallerdings.

143 Beispielsweise im Oktober 1942,dazu die Berichterstattung in SN 29. 10.– 2. 11. 1942.

144 FT 8. 6. 1948.

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