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Mauss, Buddhismus, Devianz
Festschrift für Heinz Mürmel zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Thomas Hase, Johannes Graul, Katharina Neef, Judith Zimmermann
diagonal-Verlag Marburg 2009
98 Steffen Ritzmann
, . Paris 1925 (Dt.: Das Gedächtnis und Halbwachs. Maurice, Les cadres soBcia,u_x dl9e616a) memoJre.
· di en er m · y k .. seine sozialen Be ngung ' . Paris 19
41 (Dt: Stätten der er un--, La topographie legendaire des Evangiles en Terre samte. ,
digung. Konstanz 2003). , tation collective de Ja mort. in: Annee H rtz Robert Contribution a une etude sur Ja represen
e · ·. S 48-138. · · sociolog1que 10 (1907). ·
1 "t' ligieuse in: Revue ph1losoph1que
-, La preeminence de Ja main droite - Etude sur Ja po an e re '
34 (1909), S. 553-580. . . R d'histoire des religions 33 (1912), S. 115-. B Etude d'un culte alpestre. m. evue Samt esse -
' 180. . . . ·ere des societes eskimo. Etude de morphologie Mauss. Marcel. Essai ~ur !es van_at10ns s~~~6~n;Dt.: Über den jahreszeitlichen Wa_ndel der Eski-
sociale, in: Annee soc10log1q_ue 9 ( . 1 Morphologie. in: Ders .. Soziologie und Anthro-sellschaften - eine Studie zur sozia en moge_ M . 1989. S. 183-278). . . polog1e. Frankfurt am am . making and competition, m: Amencan
. D The dynamogenic factors m peace Tnple~~:;:71:;1 Ps;~hology 10 (1898), S. 507-533.
Hubert Seiwert
Post-durkheimianische Religion?
Überlegungen zum Kontrast moderner und vormoderner Religion im Anschluss an Charles Taylor
Heinz Mürmel, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat als akademischer Lehrer Generationen von Studierenden geprägt und damit zugleich auch das Profil der Religionswissenschaft an der Leipziger Universität seit der Neugründung des Instituts im Jahre 1993. Zu den nachhaltigen lmpulsen, die von seiner Lehre und Forschung ausgehen. gehört ohne Zweifel die religionswissenschaftliche Rezeption der Durkheim-Tradition. Es ist deshalb angemessen, Heinz Mürmel mit einem Beitrag zu ehren, der zumindest terminologisch auf die Religionstheorie Emi!e Durkheims Bezug nimmt. kh werde deshalb bei den folgenden Überlegungen zum Unterschied zwischen modernen und vormodernen Religionsformen eine Typologie aufgreifen, die der Philosoph Charles Taylor entwickelt hat. Taylor interpretiert die moderne westliche Religionsgeschichte als Übergang von »paleo-durkheimianischen« zu »neo-« und »post-durkheimianischen« Gesellschaftsformationen. l
Es ist nicht nur dieser recht oberflächliche Bezug zu Durkheim, der diesen Beitrag mit Heinz Mürmel verbindet, sondern auch das Misstrauen gegenüber soziologischen und philosophischen Religionstheorien, deren empirische Basis sich auf die neuere europäische und nordamerikanische Geschichte beschränkt. Darin unterschied sich die Durkheim-Schule, ähnlich wie Max Weber, vom Trend der gegenwärtigen Soziologie, dass ihr Blick auf Religion über moderne westliche Gesellschaften hinausging. kh werde dieses methodische Prinzip aufgreifen und zu zeigen versuchen, dass auf diese Weise auch die Sicht auf moderne Religionen verändert wird.
Religion und Moderne
Das Verhältnis von Religion und Modeme gehört zu den zentralen Fragen der Ku!- turtheorie, seit sich die Erkenntnis verbreitet, dass sich die Erwartung einer allge
meinen Säkularisierung mit der Folge des allmählichen Verschwindens von Reli-
Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt am Main 2002; Ders .. A secular age, Cambridge. Mass. 2007.
100 Hubert Seiwert
gion nicht erfüllt.2 Das Selbstverständnis der europäischen Modeme als eine von den Fesseln religiöser Tradition und irrationalen Glaubens befreite neue Epoche der Menschheitsgeschichte hat an Plausibilität verloren, nachdem erkennbar ist, dass zumindest außerhalb Europas dieses Modell von Modeme weder normative noch empirische Geltung beanspruchen kann. Wenn sich in so unterschiedlichen modernen Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten von Amerika, Iran und China kein Verschwinden von Religion abzeichnet, lässt sich der Schluss nicht vermeiden, dass das Verhältnis von Religion und Modeme anders zu bestimmen sein muss als durch die Erwartung einer fortschreitenden Säkularisierung.
Nun könnte man es bei der Erkenntnis belassen, dass es in modernen Gesellschaften weiterhin verschiedene Formen von Religion gibt und nichts darauf hindeutet dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. Da die These eines fortschrei~enden und allgemeinen Bedeutungsverlustes von Religion als Folge sozialer, ökonomischer und wissenschaftlicher Modernisierung empirisch nicht bestätigt wird, läge es nahe, die These einfach aufzugeben. Wir könnten folgern, dass die Modeme als Epoche sich möglicherweise in vieler Hinsicht grundsätzlich von vormodernen Epochen unterscheide, nicht jedoch in religiöser Hinsicht. Religion wäre aus dieser Sicht ein Element menschlicher Kultur, das zwar historisch vielgestaltig ist, dessen Variabilität jedoch nicht als evolutionäre Sequenz zu deuten ist - als Epiphänomen sozialen, ökonomischen oder politischen Wandels. Die Beobachtung, dass Religion in der Gegenwart kollektives und individuelles Denken und Handeln beeinflusst, wäre nicht mehr als die Bestätigung eines historisch hinreichend bekannten Befundes und gäbe wenig Anlass zu theoretischen Erörterungen über die Rolle von Religion in modernen Gesellschaften. Die Existenz und Wirkung von Religion in der Modeme erscheinen nicht erklärungsbedürftig, solange wir darin den Normalfall kultureller Formationen sehen.
Zumindest gibt es für eine Religionswissenschaft, die gewohnt ist, Religionen historisch und komparativ in den Blick zu nehmen, keinen Grund, die Modeme als religionsgeschichtlichen Sonderfall zu behandeln. Gewiss ist das religiöse Leben im heutigen Europa anders als im Europa des Hochmittelalters; aber es ist auch anders als das religiöse Leben im heutigen Indien. Es gibt viele Formen von Religion, und eine vergleichende Perspektive fördert Unterschiede zwischen Kulturen und Epochen ebenso zutage wie Ähnlichkeiten. Jede historische Konstellation ist zu-
2 Vgl. zum Beispiel Talal Asad, Formations of the secular. Christianity, Islam, modernity, Stanford 2003; Ulrich Beck, Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt am Main 2008; Friedrich Wilhelm Graf. Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005: Mark Lilla. The stillborn God. Religion, politics, and the modern West. New York 2007: Peter Sloterdijk, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main 2007.
Post-durkheimianische Religion? 101
gleich einzigartig und Beispiel allgemeiner Strukturen. Dies gilt auch für die Rolle von Religion in modernen Gesellschaften. Als Problem - und damit als in besonderer Weise erklärungsbedürftig erscheint Religion in der Modeme nur, wenn wir unterstellen, dass der historische Prozess, dessen Ergebnis die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften sind, grundsätzlich neue Bedingungen individueller und kollektiver Existenz hervorgebracht habe, durch die Religion nicht mehr in gleicher Weise wirksam werden könne wie in vormodernen Gesellschaften. Nur unter dieser Voraussetzung ließe sich vermuten, dass Religion unter den Bedingungen der Modeme ein historischer Sonderfall sei, der sich grundsätzlich von vormodernen Religionsformen unterscheide.
Die Säkularisierungsthese ist die radikalste Ausprägung der Annahme, dass mit der Herausbildung der europäischen Modeme eine Transformation der conditio humana ausgelöst worden sei, die für Religion im historisch bekannten Sinne keinen Platz mehr lasse. Obwohl die Erwartung eines fortschreitenden und allgemeinen Bedeutungsverlustes von Religion für die absehbare Zukunft widerlegt zu sein scheint, fällt es schwer, die These einer religionsgeschichtlichen Sonderstellung der Modeme einfach aufzugeben. Zu tief verwurzelt sind im Selbstverständnis der europäischen Modeme die historischen Erzählungen über die epochale Bedeutung der Emanzipation des Denkens und Handelns von den Vorgaben religiöser Autorität, als dass darin nur eine kontingente Episode der europäischen Geschichte gesehen werden könnte. Die historische Sinnbildung weist der europäischen Modeme nicht nur eine für die globale Entwicklung der Menschheit einzigartige Bedeutung zu, sie verknüpft deren Genese auch untrennbar mit der Befreiung des Denkens von einer vermeintlich religiös bedingten Unaufgeklärtheit. Das Selbstverständnis der europäischen Modeme als neue Epoche der Menschheitsgeschichte ist deshalb eng verknüpft mit dem Bewusstsein religionsgeschichtlicher Diskontinuität.3
Ich werde im Weiteren die Hypothese verfolgen, dass das Bewusstsein einer religionsgeschichtlichen Diskontinuität in erheblichem Maße nicht nur die Wahrnehmung und Deutung von Religion in modernen Gesellschaften geprägt hat und noch prägt,4 sondern darüber hinaus auf falschen Annahmen über Religion in vormodernen Gesellschaften beruht. Säkularisierungstheorien, die den Niedergang von Religion als eine Folge der Modernisierung erwarten, sind nur eine extreme
3 Das Bewusstsein eines Bruchs mit der Vergangenheit d. h. der historischen Diskontinuität, ist konstitutiv für den Begriff der Modeme. V gL dazu Peter Wagner, Modernity: History of the concept. in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Amsterdam 200L S. 9949-9954; Paul Nolte, Modernization and modemity in history, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Amsterdam 2001, s. 9954-996 l.
4 Vgl. dazu Hubert Seiwert, Religion in der Geschichte der Modeme. in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 3 (1995), S. 91-101.
102 Hubert Seiwert
Form des Postulats. dass die Modeme eine fundamentale Zäsur der Religionsgeschichte bedeute. Eine schwächere Form besteht in der erwähnten Annahme, dass unter den Bedingungen moderner Gesellschaften Religion in anderer Form auftrete als in vormodernen Gesellschaften. Damit wird eine evolutionäre Typologie von Religion impliziert die es erlaubt, die Säkularisierungsthese zu entschärfen. Die religionsgeschichtliche Diskontinuität die Modeme bedeutet nach diesem Verständnis nicht mehr das Ende von Religion, sondern die Entstehung neuer Formen von Religion und damit zugleich das Ende vormoderner Religionsformen.
Paleo-, Neo- und Post-Durkheimianische Sozialformen
Charles Taylor rekonstruiert die Geschichte der neuzeitlichen Säkularisierung der westlichen Kultur als einen vielschichtigen Prozess, in dessen Verlauf sich die Beziehung von Religion und Gesellschaft grundlegend verändere. Er entwickelt dazu drei idealtypische Formationen, die er als »paleo-durkheimianisch«, »neo-durkheimianisch« und »post-durkheimianisch« etikettiert. Der Bezug zu Durkheim ist dabei eher rhetorisch, wobei der Name des französischen Soziologen für die Einheit von Religion und Gesellschaft steht. Dieses »paleo-durkheimianische« Modell ist nach Taylor im vormodernen Europa zu finden, d. h. im durch die katholische Kirche geprägten Mittelalter. Er beschreibt diese vom1oderne Epoche als eine Welt, in der die Gegenwart Gottes unvermeidbar schien. in der die natürliche Welt von göttlichem Wirken durchdrungen und die soziale Ordnung in Gott gegründet war. Es war eine »verzauberte« Welt, in der Geister, Dämonen und moralische Kräfte wirkten.5 In einer verzauberten Welt bestehe ein starker Gegensatz zwischen dem Sakralen und dem Profanen. wobei das Sakrale in bestimmten Orten. Zeiten und Personen gegenwärtig ist.6 Es ist nicht nur diese Trennung von sakral und profan, die auf Durkheims Begriff von Religion verweist, sondern vor allem auch die Verbindung des Sakralen mit der Gesellschaft. In der paleo-durkheimianischen Formation schließt die Verbindung mit dem Sakralen die Zugehörigkeit zu einer Kirche ein, die im Wesentlichen mit der Gesellschaft identisch ist. Die Gesellschaft wacht über die Einhaltung der religiösen Vorschriften und zwingt den Einzelnen notfalls mit Gewalt zur Integration in die soziale Gemeinschaft der Kirche.7
Wie die Bezeichnung »paleo-durkheimianisch« signalisiert, sieht Taylor in diesem Typus von Religion eine historisch frühe Formation. Es dürfte keine Fehlinterpretation sein, von einem »vormodernen« Muster des Verhältnisses von Religion
5 Vgl. Taylor, Secular age, S. 25 f.
6 Vgl. Taylor. Formen des Religiösen, S. 58 f.
7 Vgl. Taylor, Secular age, S. 486.
Post·durkheimianische Religion? 103
und Gesellschaft zu sprechen. Der Prozess der Säkularisierung führe stufenweise zu einer Ersetzung der paleo-durkheimianischen Religionsform durch neue Konstellationen, die für die Neuzeit und Modeme typisch sind. Betrachten wir zunächst den »~eo-durkheimianischen« Typus. der sich vor allem in den anglophonen protestantischen Gesellschaften herausgebildet habe. Anders als unter paleo-durkheimi~~schen Bedingungen ist die Einheit von Kirche und Gesellschaft aufgegeben, r~ligiöse Zugehörigkeit ist eine Folge freiwilliger. individueller Entscheidung, die mcht durch staatliche Zwangsmittel erzwungen werden kann. Die typische Erscheinungsform dieser neo-durkheimianischen Formation ist die Denomination, d. h. der freiwillige Zusammenschluss der Gläubigen, um die individuellen religiösen Vorstellungen in einer Gemeinschaft zu verwirklichen.8 Taylor weist darauf hin, dass diese Konstellation des Denominationen-Pluralismus, in der alle religiösen Gem~nschaften ~leichermaßen Optionen der individuellen Wahl am besten gedeihe, wenn eme Trennung von Kirche und Staat bestehe. Allerdings könne das protestantische Modell gleichwohl zu einer religiösen Aufladung des Staates führen, indem das politische Gemeinwesen als Verwirklichung eines göttlichen Planes verstanden werde. In einer solchen Gesellschaft zu leben heiße, in einer Gesellschaft z~ leben, in der Gott gegenwärtig ist. weil die Menschen Gottes Plan folgen.9 Unter diesen Bedingungen, die Taylor exemplarisch in den Vereinigten Staaten und im England des 19. Jahrhunderts verwirklicht sieht, kann also die Gesellschaft weiterhin eine sakrale Bedeutung besitzen, wenn auch in anderer Form als in den paleo-durkheimianischen Konstellationen katholischer Länder, in denen das Sakrale durch die Kirche definiert werde. Die neo-durkheimianische Formation kenne zwar nicht die exklusive Verbindung einer Denomination mit der Gesellschaft. aber es bestehe durchaus das Bewusstsein, zu einer weiteren, die Denominationen übergreifenden »Kirche« zu gehören, die sich teilweise in der moralischen Gemeinschaft des Staates ausdrücke.! O
Während das paleo-durkheimianische Muster des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft für Taylor typischerweise unter den vormodernen Bedingungen des katholischen Mittelalters gegeben ist. wird das neo-durkheimianische Modell durch die religiösen Verhältnisse der Frühmoderne in den anglophonen Staaten des 19. Jahrhundert exemplifiziert. Gemeinsam ist beiden, dass die moralische Ordnung der Gesellschaft und des Staates eng mit religiösen Vorstellungen verknüpft ist. Das Neue der neo-durkheimianischen Formation sieht Taylor in der Pluralisierung religiöser Optionen und der Lösung des Sakralen von der Institution einer einhei~ liehen Kirche und der Bindung an bestimmte Orte. Zeiten und Handlungen.
8 A. a. 0„ S. 449-453.
9 Vgl. a. a. 0, S. 446-449: Ders., Formen des Religiösen, S. 59-61. 10 Vgl. Taylor, Secular age. S. 454 f.
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Die Möglichkeit religiöser Wahl, die im Denominationalismus der neo-durkheimianischen Formation gegeben ist, habe einen Zuwachs an religiöser Autonomie des Individuums gegenüber der paleo-durkheimianischen Konstellation gebracht. Aber die freie Entscheidung für eine Religion bedeutet noch immer die Identifikation mit einer Gemeinschaft und die Bindung an eine moralische Ordnung, die gesellschaftlich bestimmt ist. In diesem Sinne handelt es sich um eine »durkheimianische« Situation. Erst in der »post-durkheimianischen« Formation der Gegenwart sieht Taylor eine vollständige Individualisierung des Religiösen gegeben, einen unbeschränkten religiösen Pluralismus.11 In der post-durkheimianischen Formation ist die Verknüpfung von Religion mit der Gesellschaft aufgehoben. Das religiöse Leben und die religiöse Praxis wird vorn Individuum nicht nur frei, sondern allein unter dem Gesichtspunkt des persönlichen spirituellen .Nutzens gewählt. In der post-durkheimianischen Ära »erscheint der Gedanke, an einer Spiritualität festzuhalten, die sich nicht als dein eigener Weg zu erkennen gibt, als Weg, der dich persönlich bewegt und inspiriert, [ ... ] absurd und widersprüchlich.« 12 Taylor sieht die historischen Wurzeln dieser individualisierten Spiritualität in der Suche nach persönlicher religiöser Erfahrung und emotionaler Gottesbeziehung, die im Pietismus und der deutschen Romantik vorgezeichnet sei.13 Das Streben nach expressiver Authentizität, die frei von Rücksichtnahme auf dogmatische und gesellschaftliche Vorgaben nur durch die Freiheit des anderen begrenzt werde, habe jedoch erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine Breitenwirkung entfaltet. Der wichtigste Katalysator für diese Entwicklung sei die neue individuelle Konsumkultur gewesen, die das Streben nach persönlichem Glück zu einer realistischen Option für den Einzelnen gemacht habe. Dieses individuelle Streben nach Glück nehme die Menschen so stark in Anspruch, dass sie in zunehmendem Maße ihr älteres, an eine Gemeinschaft gebundenes religiöses Leben aufgeben.14 Welches auch immer die Ursachen im Einzelnen gewesen sein mögen, Taylor kommt zu dem Schluss, dass in der Nachkriegszeit eine Verschiebung des sozialen Vorstellungshorizontes stattgefunden habe, der die in den (paleo- und neo-)durheimianischen Konstellationen gegebene Verbindung von Religion und Gesellschaft schwächte und unterminierte und uns immer stärker in ein »post-durkheimianisches Zeitalter« führe.15
Taylors Rekonstruktion der Genese des säkularen Zeitalters, die er in einem _. Werk von mehr als 800 Druckseiten präsentiert, bietet eine neue Sicht von Säkularisierung. Er gehört zu den Theoretikern, die trotz der gegenwärtigen Erfahrung
11 Vgl. Taylor, Formen des Religiösen, S. 91.
12 A. a. 0. S. 90.
13 Vgl. Taylor, Secular age, S. 488 f.
14 Vgl. Taylor, Formendes Religiösen, S. 92.
15 A. a. 0., S. 95.
Post·durkheimianische Religion? 105
eines globalen Bedeutungszuwachses von Religionen an der These einer fortschreitenden Säkularisierung moderner Gesellschaften festhalten. Die individualisierte Spiritualität des post-durkheimianischen Zeitalters ist für ihn nicht gleichbedeutend mit Säkularisierung, sondern die diesem Zeitalter entsprechende Form von Religion, ein Restbestand gewissermaßen in einer weitgehend säkularen Welt. Denn die Folgen der Individualisierung seien messbar im zahlenmäßigen Anstieg der Atheisten und Religionslosen, d. h. in einer zunehmenden Säkularisierung der Gesamtgesellschaft. !6 Die Säkularisierung der modernen Gesellschaft ist eine historische Gegebenheit, aber Taylor interpretiert diese Entwicklung als eine Verlustgeschichte: als Verlust an gemeinschaftlicher und traditionsgebundener Religion zugunsten einer anspruchslosen Spiritualität, »die sich oft im bloßen Wohlgefühl und im Oberflächlichen erschöpft.«17 Er verkennt jedoch nicht, dass auch in modernen Gesellschaften gemeinschaftliche Formen von Religion weiterhin bestehen, und schließt nicht aus, dass sie in Zukunft wieder an Bedeutung gewinnen.18
Die als paleo-, neo- und post-durkheimianisch etikettierten Formationen sind nach Taylor Idealtypen der Beziehung von Religion und Gesellschaft.19 Wie die Präfixe »pa\eo«, »neo« und »post« signalisieren, wird dabei eine gewisse zeitliche Sequenz unterstellt. »My claim is [ ... ] that our history has moved through these dispensations, and that the latter [d. h. post-Durkheimian] has come to colour more and more our age.«20
Moderne Religion
Taylors Idealtypus der post-durkheimianischen Formation reiht sich ein in Versuche, die Formen des Religiösen in der Gegenwart zu bestimmen. Je nach Gusto kann man diese neuen Formen von Religion entweder als einen Aspekt der Säkularisierung werten21 oder als Ausdruck eines mit der Modeme verbundenen Wandels
16 Ebd.
17 Taylor, Formen des Religiösen, S. 99.
18 A. a. 0., S. 95-101; Ders., Secular age, S. 533-535.
19 Es ist nicht ganz klar, auf welche Gegenstände sich die Prädikate »paleo-, neo- und postdurkheimianisch« genau beziehen. Taylor spricht u. a. von »rules« (vgl. Secular age, S. 486), »dispensations« ( S. 487 et passim). aber auch von »post-Durkheimian world«. »post-Durkheimian society« und »post-Durkheimian age« (S. 516). Da es dabei offensichtlich immer um die Rolle von Religion geht, scheint der gemeinsame Nenner der drei Typen in einer jeweils unterschiedlichen Formation oder Gestaltung des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft zu bestehen.
20 Taylor, Secular age, S. 487.
21 So z.B. Bryan Wilson. Secularization, in; Encyclopedia of Religion. Bd. 12, Detroit u. a., 22005 [1986], S. 8214-8222.
106 Hubert Seiwert
von Sozialform von Religion.22 I.n jedem Fall aber gilt die post-durkheimianische · KonsteUation als ein Typus, der sich im Verlauf des sozialen und kulturellen Wandels seit dem 19. Jahrhundert in westlichen Gesellschaften herausgebildet hat Robert Bellah dürfte der erste gewesen sein, der eine Theorie der Evolution von Religion formuliert hat, die für die Modeme die Entstehung einer neuen Form von Religion annimmt.23 Die Idee, dass die »moderne Religion« einen religionsgeschichtlich neuen Typus von Religion repräsentiere, hat ihre Entsprechung in der Vorstellung, dass die moderne Gesellschaft ein historisch neuer Typus von Gesellschaft sei. Tatsächlich sind die religiösen Veränderungen in modernen westlichen Gesellschaften ebenso wenig zu übersehen wie ihre tiefgreifenden sozialen. ökonomischen, politischen und kulturellen Transformationen.
Was die Besonderheiten der religiösen Situation der Modeme angeht. stimmen die meisten Theoretiker trotz gewisser Unterschiede im Einzelnen in den wesentlichen Punkten überein. Neben der Trennung von Religion und Staat, die eine Säkularisierung der staatlichen Ordnung mit sich bringe. werden in der Regel die Entstehung eines religiösen Pluralismus, die Privatisierung religiöser Entscheidungen und die Individualisierung religiöser Sinnsuche als Merkmale moderner Religion genannt.24 Dies entspricht im Wesentlichen der Konstellation, die Taylor als neound post-durkheimianische Formationen beschreibt. Als wesentlicher Faktor für die Herausbildung dieser modernen Konstellation gilt die zunehmende funktionale Differenzierung der Gesellschaft. durch die Religion ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz verloren habe.25 Die Trennung von Religion und Staat ist ein zentraler Aspekt der funktionalen Differenzierung. Staatliche Rechtsordnung und religiöse Gebote fallen auseinander und der Staat fungiert nicht mehr als Instanz zur Durchsetzung religiöser Konformität. Religiöse Zugehörigkeit kann unter diesen Bedingungen nicht mehr erzwungen werden, sondern ist das Ergebnis freiwilliger Entscheidung.26 Die langfristige Folge dieser Konstellation ist eine Diversifizierung des religiösen Feldes und der Verlust religiöser Homogenität der Gesellschaft. Damit ist eine religiös und weltanschaulich plurale Situation gegeben, die dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, zwischen verschiedenen religiösen und nichtreligiösen
22 Exemplarisch dafür: Thomas Luckrnann. Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991(englisch1967).
23 Vgl. Robert Bellah, Religious evolution, in: American Sociological Review 29 (1964), S. 371-374. Vgl. auch Rainer Döbert, Systemtheorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme. Zur Logik des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus. Frankfurt am Main 1973. S. 131-139. Döbert schließt sich zwar eng an Bellah an. aber interpretiert die Optionen »moderner Religion« industrieller Gesellschaften im Habermas'schen Sinne als rationale Weltdeutung.
24 Vgl. lose Casanova, Public religions in the modern world, Chicago 1994. S. 17-39.
25 Vgl. Niklas Luhmann, Funktion der Relgion. Frankfurt am Main 1977, S. 242-248.
26 Vgl. Taylor. Formen des Religiösen. S. 64.
Post-durkheimianische Religion/ 107
Optionen zu wählen. Religion wird im doppelten Sinne privatisiert. indem die religiöse Entscheidung zur Privatsache wird und zugleich die Ausübung von Religion auf den Bereich der privaten Lebensführung begrenzt wird. ln einem weiteren Schritt wird es möglich, aus dem Angebot des religiösen und spirituellen Marktes frei zu wählen, ohne sich an eine institutionalisierte Form von Religion zu binden. Diese im Taylor"schen Sinne post-durkheimianische Konstellation geht damit über die Privatisierung der Entscheidung zwischen verschiedenen Religionen hinaus. Es kommt zur [ndividualisierung von Religion, indem subjektive religiöse oder spirituelle Erfahrungen und Präferenzen eine individuelle Kombination von Elementen unterschiedlicher Traditionen erlauben. Damit tritt neben die in Kirchen und Gemeindebildungen institutionell manifesten Formen von Religion eine im sozialen Gefüge gewissermaßen unsichtbare Religion in Form von individueller Religiosität oder Spiritualität.27
Wir können an dieser Stelle die Frage vernachlässigen. durch welche spezifischen Entwicklungen der Modeme die gerade skizzierte Veränderung der Sozialformen von Religion ausgelöst wurden. Es kommt mir hier darauf an. dass der Wandel der Beziehung von Religion und Gesellschaft, der von Taylor als Entstehung von neo- und post-durkheimianischen Formationen beschrieben wird, als eine spezifisch moderne Entwicklung gilt und insofern das religionsgeschichtlich Neue der Modeme markiert. Gewiss ist der soziale Bedeutungsverlust kirchlich institutionalisierter Religion in der europäischen Modeme ein gradueller Prozess, aber es ist unbestreitbar. dass die von Taylor als paleo-durkheimianisch etikettierte Situation einer weitgehenden Einheit von kirchlicher und gesellschaftlicher Mitgliedschaft im heutigen Europa nicht gegeben ist. Weniger eindeutig ist jedoch die
· Interpretation dieses empirischen Befundes. Dabei ist es nicht entscheidend. ob der Rückgang institutionalisierter Religion im modernen Europa als »Säkularisierung« bezeichnet wird oder stattdessen von neuen Sozialformen der Religion in Gestalt individualisierter Religiosität und Spiritualität gesprochen wird. In beiden Fällen wird die religionsgeschichtliche Sonderstellung der europäischen Modeme nicht in Zweifel gezogen. Diese Interpretation bezieht ihre Plausibilität vor allem aus dem durch historische Erzählungen verfestigten Bild der Modeme, in dem der Bruch mit der religiösen Tradition als Voraussetzung moderner Lebensform dargestellt wird. Deshalb verliert diese [nterpretation auch an Überzeugungskraft, sobald der Blick auf die außereuropäische Modeme uns erkennen lässt, dass es durchaus möglich ist, moderne Lebensformen, die geprägt sind von Industrialisierung. Urbanisierung, naturwissenschaftlicher Erkenntnis und technologischer Entwicklung mit traditionellen Formen von Religion zu vereinbaren. Die religiöse Lage im heutigen
27 Vgl. Luckmann. Unsichtbare Religion. Zu Spiritualität vgl. Hubert Knoblauch, Einleitung: Soziologie der Spiritualität. in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 13 (2005). s. 123-131.
108 Hubert Seiwert
Europa ob wir sie als säkularisiert oder religiös individualisiert begreifen ist nicht repräsentativ für moderne Gesellschaften, und deshalb kann auch in Zweifel gezogen werden. dass es sich um eine spezifisch moderne Formation handelt.
vormoderne Religion
Charles Taylors Typologie religiöser Formationen beschreibt die Entstehung einer post-durkheimianischen Situation individualisierter Religiosität als Ergebnis eines historischen Prozesses. Aus der Tatsache, dass in der europäischen Neuzeit die Sequenz paleo-. neo- und post-durkheimianischer Formationen durchlaufen wurde, lässt sich allerdings keine allgemeine Tendenz gesellschaftlicher oder religiöser Entwicklung ableiten. Taylors Typologie schließt nicht aus, dass die Typen sich überlagern, also gleichzeitig vorkommen können. Das Auftreten hochgradig individualisierten Formen von Religiosität erscheint nur dann als spezifisch moderne Konstellation, wenn wir unterstellen, dass sie in vormodernen Gesellschaften nicht gegeben sei. Allgemeiner formuliert bedeutet dies. dass es nur dann sinnvoll ist, von »moderner Religion« zu sprechen, wenn wir sie mit »vormoderner Religion« kontrastieren.
Worin aber unterscheidet sich vormoderne Religion von moderner? Offensichtlich können sich die Unterschiede nicht auf das beziehen, was zum definitionsgemäßen Kern jeder Form von Religion gehört. Denn sofern wir unterstellen, dass es sowohl in der Modeme als auch in der Vormoderne Religion gibt. müssen in beiden Fällen die Bedingungen erfüllt sein, die definitionsgemäß zu Begriff Religion gehören. Dies gilt unabhängig davon, auf welche Weise wir »Religion« definieren. Wie wir gesehen haben, betrifft die Unterscheidung zwischen moderner und vormoderner Religion in erster Linie die soziale Erscheinungsform von Religion. Es wird unterstellt, dass bestimmte Konstellationen der Beziehung von Religion und Gesellschaft für moderne Gesellschaften typisch seien: funktionale Differenzierung mit der Trennung von Religion und Staat; religiöser Pluralismus mit der Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Optionen: Privatisierung und Individualisierung von Religion ohne feste Bindung an institutionalisierte Formen von Religion.
Nun ist es so, dass diese Konstellationen zwar in modernen westlichen Gesellschaften zu beobachten sind, aber keineswegs auf diese beschränkt sind. Die neound post-durkheimianischen Formationen, die Taylor für die europäische und nordamerikanische Neuzeit beschreibt, könnten nur dann als typisch moderne Sozialformen von Religion gelten, wenn wir unterstellen, dass in der V ormodeme ausschließlich die paleo-durkheimianische Formation bestanden habe. Diese Annahme mag dann ein gewisses Maß an Plausibilität besitzen, wenn wir die europäische Modeme mit dem europäischen Mittelalter vergleichen. Aber so wenig die europäische Neuzeit und Gegenwart repräsentativ für moderne Gesellschaften
Post·durkheimianische Religion? 109
schlechthin sind, so wenig ist das europäische Mittelalter repräsentativ für vormoderne Gesellschaften. Wir brauchen in der europäischen Geschichte nur etwas weiter zurück zu gehen um zu sehen, dass der Paleo-Durkheimianismus der mittelalterliche Einheit von Kirche und Gesellschaft auf spätantike Formationen folote
0 ' die nach Taylors Typologie als neo- und post-durkheimianisch zu bezeichnen wä-ren. Dafür spricht nicht nur der religiöse Pluralismus der paganen Religionen28 das Nebeneinander von öffentlichen und privaten Kulten, die Verbreitung orientalischer Gottheiten und Kulte mit der Möglichkeit, nach persönlichen Präferenzen unter verschiedenen religiösen Optionen zu wählen sondern gerade auch die Tatsache der Ausbreitung des Christentums im römischen Kaiserreich. So entspricht etwa die spirituelle Biografie des Augustinus weder dem paleo-, noch dem neodurkheimianischen Muster, sondern einer höchst individualisierten religiösen Suche nach spiritueller Erfahrung, die den Kirchenvater auf Umwegen zu der ihm gemäßen Fonn von Religion führte. In den Confessiones erscheint Augustinus auf seinem Weg von der Philosophie Ciceros über den Manichäismus zum Christentum als spiritueller Wanderer post-durkheimianischen Musters, der nach Taylors Charakterisierung für sich nur den Weg akzeptiert. der ihn »persönlich bewegt und inspiriert«.29 Dass diese spirituelle Wanderschaft bei Augustinus schließlich zur Bindung an das institutionalisierte Christentum führte, ändert nichts daran, dass es sich um eine höchst individualisierte Suche nach authentischer spiritueller Erfahrung handelte.
Bereits ein Blick auf die antike europäische Religionsgeschichte also, dass der Kontrast zwischen modernen und vormodernen Religionsformen weniger deutlich ist, als es scheint. Der Verdacht, dass dieser Kontrast eine religionsgeschichtliche Fiktion ist, wird erhärtet, wenn wir die außereuropäische Religionsgeschichte mit den den Blick nehmen. Es lässt sich dann zeigen, dass die meisten der in der europäischen Geschichte als typisch modern angesehenen Formationen von Religion und Gesellschaft in außereuropäischen Kulturen bereits in vormodernen Epochen zu beobachten sind. Ich will dies an einigen Beispielen. vorwiegend aus der chinesischen Religionsgeschichte, erläutern und mich dabei auf drei Punkte konzentrieren: (1) Trennung von Religion und Staat, (2) religiösen Pluralismus und (3) Privatisierung und Individualisierung von Religion.
Im europäischen und nordamerikanischen Kontext gilt die moderne Trennung von Religion und Staat als wichtigstes Beispiel für die funktionale Differenzierung sozialer Teilsysteme. Für die Religion bedeutete diese Trennung einerseits einen Verlust an politischem und gesellschaftlichem Einfluss, andererseits aber auch
28 Vgl. dazu Hans-Josef Klauck. Die religiöse Umwelt des Urchristentums. Bd. 1-2, Stuttgart 1995/96; Jörg Rüpke (Hrsg.), Antike Religionsgeschichte in räumlicher Perspektive, Tübingen 2007.
29 Taylor. Fomien des Religiösen. S. 90.
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einen Gewinn an Autonomie und Freiheit von staatlicher Intervention. Umgekehrt führte die funktionale Differenzierung auch zu einer erhöhten Autonomie des politischen Systems. weil die Gesetzgebung des säk'Ularen Staates von religiösen Normen entbunden und nur noch der Rationalität politischer Entscheidungen unterworfen ist. Natürlich handelt es sich bei der so beschriebenen Trennung von Religion und Staat um ein idealtypisches Konstrukt, das empirisch mehr oder weniger stark angenähert sein kann. Aber auch mit dieser Einschränkung erscheint es zweifelhaft, ob damit ein signifikanter Unterschied zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften benannt ist. Selbst in der westeuropäischen Geschichte ist die funktionale Differenzierung von Kirche und Staat mit einem hohen Grad an Autonomie religiöser und politischer Institutionen kein neuzeitliches Phänomen, wie der mittelalterliche Antagonismus von Papsttum und Kaisertum belegt. Aber es ist immerhin einzuräumen, dass dieser Antagonismus auch Ausdruck politischer Machtansprüche der Kirche war und damit eine scharfe Trennung der Funktionsbereiche fehlte. Mit der Bildung nachreformatorischer Staatskirchen wurde der politische Machtanspruch der religiösen Institutionen zwar beseitigt, allerdings nicht durch eine Trennung von Religion und Saat, sondern durch Einbindung der Kirche in den Staat. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde mit der amerikanischen Verfassung und der Französischen Revolution die moderne Trennung von Kirche und Staat erstmals vollzogen.
Eine vergleichbare Entwicklung gab es in China nicht. Eine funktionale Differenzierung und politischer Institutionen bestand in China seit der Etablierung des Buddhismus und Institutionalisierung des Daoismus zu Beginn des ersten Jahrtausends. fm Unterschied zum römischen Papsttum traten die buddhistischen und daoistischen Institutionen niemals in politische Konkurrenz zum Kaisertum. Eine Trennung von Religion und Staat musste in China nicht vollzogen werden, weil keine Einheit von Religion und Staat bestand. Gewiss hatten die chinesischen Kaiser jeweils persönliche religiöse Präferenzen, so wie auch amerikanische Präsidenten persönliche Präferenzen haben können, doch dies belegt die Privatisierung der religiösen Entscheidung, die selbst dem Kaiser die Freiheit ließ, sich für Buddhismus oder Daoismus zu entscheiden, obwohl das ideologische Fundament der staatlichen Ordnung der Konfuzianismus war.30 Das konfuzianische Staatsmodell aber war eine säkulare Ordnung. deren Verwirklichung allein in menschlicher Verantwortung lag, auch wenn sie ihre Basis in einer unwandelbaren kosmischen Ordnung hatte. insofern war diese Weltsicht nicht völlig ohne Transzendenzbezug31 und ähnelt in mancher Hinsicht christlichen Vorstellungen eines göttlichen
30 Dies ist deshalb bemerkenswert, weil etwa der britische Monarch bis heute nicht die Freiheit hat, einer anderen Religion als der Church of England anzugehören.
31 V gL Rudolf G. Wagner, Säkularisierung: Konfuzianismus und Buddhismus, in: Hans Joas I Klaus Wiegandt (Hrsg.J, Säkularisierung und die Weltreligionen. Frankfurt am Main
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Planes, der durch menschliches Handeln und den Staat zu verwirklichen ist. Taylor sieht in dieser Konzeption eine Variante der neo-durkheimianischen Formation, für die beispielhaft der konnotierte amerikanische Patriotismus steht, der die amerikanische Ordnung als Verwirklichung eines göttlichen Planes interpretiert.32 Die Idee einer kosmischen oder göttlichen Ordnung, die sich in der staatlichen Ordnung manifestiert, schließt also die Trennung von Religion und Staat nicht aus, eine Trennung, die in der westlichen Modeme gerade in den Vereinigten Staaten vollzogen wurde. In China dagegen besteht diese Trennung seit fast zweitausend Jahren. Die institutionelle Trennung von Religion und Staat stellt somit keine typisch moderne Formation dar.
Gleiches gilt für das Bestehen eines religiösen Pluralismus. In diesem Punkt ist der religionsgeschichtliche Befund noch eindeutiger als bei der Trennung von Religion und Staat Es wurde schon auf die religiös plurale Situation der römischen Spätantike hingewiesen. In China bestanden mit Buddhismus und Daoismus zwei religiöse Traditionen, die dem Einzelnen - vom einfachen Bauern bis zum Kaiser ~ die Möglichkeit der freien religiösen Wahl ließen. Hinzu kommt. dass beide Traditionen in verschiedene Schulen und Richtungen differenziert waren. so dass der religiöse Markt ein breites Spektrum an unterschiedlichen Angeboten umfasste. Insbesondere in Phasen verstärkter globaler Beziehungen während der Tang Dynastie (618-907) und der mongolischen Yuan Dynastie (1279-1368) - wurden zudem durch Migration fremde Religionen nach China gebracht, u. a. Christentum, Islam und Manichäismus. lm modernen Europa wurde eine vergleichbare religiöse Vielfalt erst Ende des 20. Jahrhunderts als Folge globaler Migration erreicht.
Ähnlich würde der Befund ausfallen, wenn wir statt China Indien als Beispiel für vormoderne religiöse Formationen nähmen. Die von Taylor als »paleo-durkheimianisch« bezeichnete Einheit von Kirche und Gesellschaft, die im europäischen Mittelalter und der frühen Neuzeit zumindest annähernd bestand, stellt in universalhistorischer Perspektive eine Ausnahme dar, jedenfalls soweit es sich um Gesellschaften von einiger Größe und Komplexität handelt. Die hohe religiöse Homogenität im mittelalterlichen Europa lässt die nach der Reformation zunehmende religiöse Vielfalt als ein modernes Phänomen erscheinen. Damit wurde in Europa und Nordamerika gewissermaßen nachholend in der Modeme eine Situation geschaffen, die in anderen Kulturen schon in der Vormoderne seit langem bestand.
Das Nebeneinander verschiedener Religionen in einer Gesellschaft bedeutet nicht in jedem Fall. dass damit der Einzelne frei zwischen verschiedenen Optionen wählen kann. Tradition und soziale Kontrolle können die Wahlfreiheit beschränken - sowohl in vormodernen als auch in modernen Gesellschaften. Dies ist insbeson-
2007, S. 224-252. Wagner überbetont m. E. den säkularen Charakter der konfuzianischen Staatskonzeption.
32 Vgl. Taylor, Formen des Religiösen. S. 59-63.
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dere dann der Fall, wenn es um die formelle Konversion zu einer anderen Religion geht, die mit einem Wechsel des sozialen Bezugsfeldes verbunden ist. Weniger stark beschränkt sind individuelle Suchbewegungen, die zu persönlich befriedigenden Formen religiöser oder spiritueller Praxis führen können, ohne dass damit eine feste Bindung an eine institutionalisierte Form von Religion verbunden wäre. Es ist diese Formation individualisierter Religiosität, die Taylor als »post-durkheimianisch« bezeichnet. Die chinesische Religionsgeschichte kann auch hier als Beleg dafür dienen, dass es sich bei der individualisierten Religiosität keineswegs um ein auf moderne Gesellschaften beschränktes Phänomen handelt.
In China war und ist es es üblich, dass dieselbe Person sowohl buddhistische als auch daoistische Tempel besucht und darin zu den Gottheiten betet oder andere rituelle Handlungen vollzieht. Für westliche Beobachter, die an die Zugehörigkeit zu einer und nur einer Religion gewohnt sind, ist diese Praxis irritierend und führt zu der Einschätzung, dass Chinesen traditionell zugleich Buddhisten, Daoisten und Konfuzianer seien oder zumindest sein konnten. Tatsächlich ist dies ein Missverständnis, weil ein Gebet in einem buddhistischen Tempel den Betenden ebenso wenig zum Buddhisten macht wie ein Besuch in Lourdes den Besucher zu einem Katholiken, selbst wenn in beiden Fällen damit die Hoffnung auf Heilung verbunden sein mag. Der Besuch in einem Tempel, die Inanspruchnahme religiöser Dienstleistungen buddhistischer Mönche oder daoistischer Priester und die Verehrung dieser oder jener Gottheiten war in China in der Regel nicht an die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft gebunden, sondern war ein selektiver Gebrauch des verfügbaren religiösen Angebotes entsprechend den individuellen Bedürfnissen. Diese Art von »Patchwork-Religion« war in China schon deshalb die Regel, weil die formale Mitgliedschaft in einer institutionalisierten Religion die Ausnahme war. Nur die wenigsten wurden buddhistische Mönche oder Mitglied einer buddhistischen Laienvereinigung, und noch weniger waren daoistische Priester · oder Mönche. Der religiöse Normalverbraucher im vormodernen China pflegte · eine in hohem Maße individualisierte Religion, die sich je nach Bedürfnis auf die ' rituelle Sicherung diesseitigen Wohlergehens beschränken konnte, aber auch eine anspruchsvolle spirituelle Suche nach individueller Erlösung erlaubte.33 Dieses Muster entspricht recht genau dem post-durkheimianischen Typus, den Taylor für eine neue religiöse Sozialform des 20. Jahrhunderts hält.
Natürlich bestehen in vielerlei Hinsicht deutliche Unterschiede zwischen dem religiösen Leben im vormodernen China und im modernen Europa. So gab es in China neben den institutionalisierten Religionen lokale Tempel und kommunale Formen von Religion, die gewisse Ähnlichkeiten zu Taylors paleo-durkheimiani-
33 Als Beispiel für eher anspruchsvolle religiöse Suche kann die Biographie des Luo Menghong (1443-1527) genommen werden. Vgl. dazu Hubert Seiwert. Popular religious movements and heterodox sects in Chinese history, Leiden 2003, S. 216-235.
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scher Formation aufweisen. Auch besaß das chinesische Kaiserreich keine Verfassung, in der die Trennung von Religion und Staat rechtlich kodifiziert gewesen wäre. Es bestanden deshalb auch keine rechtlichen Schranken, die den Staat daran hinderten, die freie Religionsausübung zu beschränken, wenn dies politisch opportun schien. Es wäre absurd zu vermuten, dass die religiöse Situation im modernen Europa sich nicht von der im vormodernen China unterscheide. Schließlich unterscheidet sie sich bereits von der im modernen Nordamerika. obwohl es sich in diesem Fall um Gesellschaften mit ähnlicher kultureller Tradition handelt. Die kulturellen Unterschiede zwischen Europa und China sind evident. Umso bemerkenswerter ist es deshalb, dass einige der in Europa und Nordamerika als typisch modern wahrgenommenen religiösen Sozialformen bereits im vormodernen China nachweisbar sind und vermutlich auch in anderen vormodernen Kulturen Asiens. Da die sozialen Rahmenbedingungen dabei andere waren als in modernen westlichen Gesellschaften, liegt der Schluss nahe, dass die religiösen Sozialformen der westlichen Modeme weniger stark durch spezifisch moderne soziale, ökonomische und politische Faktoren bedingt sind, als gemeinhin angenommen wird. Die Trennung von Religion und Staat, religiöser Pluralismus und individualisierte Religion mögen in Europa neu sein und damit modern erscheinen, sie tragen jedoch nicht das Signum der Modeme als neuer Epoche der Menschheitsgeschichte, sondern eher das einer nacheilenden religiösen Entwicklung Europas.
Die Beobachtung, dass vermeintlich moderne Sozialformen von Religion bereits in vormodernen Gesellschaften bestanden, bedeutet. dass es keinen empirischen Anhaltspunkt für eine grundlegende Veränderung der Form von Religion in der Modeme gibt. In universalhistorischer Perspektive halten sich die strukturellen Veränderungen und Variationen im Rahmen dessen, was aus der Religionsgeschichte bekannt ist. Wenn aber die post-durkheimianische Formation nicht eine Folge spezifisch moderner Bedingungen ist, weil sie bereits in vormodernen Epo
- chen auftritt, wird die Gegenüberstellung von »modernen« und »vormodernen« Sozialformen von Religion inhaltslos. Entsprechend können die paleo- und neodurkheimianischen Varianten auch nicht als spezifisch vormoderne Formationen der Beziehung von Religion und Gesellschaft gelten. Wir müssen vielmehr davon ausgehen. dass unterschiedliche Sozialformen von Religion in allen komplexen Gesellschaften auftreten können und moderne Gesellschaften sich in diesem Punkt nicht von vormodernen unterscheiden. Die relative Bedeutung der einen oder anderen Formation ist historisch variabel, aber es gibt keinen Hinweis auf eine allgemeine und langfristige Entwicklungstendenz. Es ist keine Anomalie der Modeme, wenn gemeinschaftliche Formen von Religion eine hohe soziale Dynamik entfalten, wie wir dies gegenwärtig nicht nur in der islamischen Welt beobachten können. Denn es gibt keinen Grund für die Annahme, dass institutionalisierte Religionen in modernen Gesellschaften Relikte vormoderner Entwicklungsphasen seien, deren soziale Bedeutung immer weiter abnehme. Diese Variante der Säkularisierungs-
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these wäre nicht weniger Ausdruck einer eurozentrischen Sicht der Religionsgeschichte als die Erwartung des zukünftigen Endes von Religion.
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Ute Wegert
Das kollektive Gedächtnis bei den Aleviten
Wenn sich heute Sozial- oder Kulturwissenschaftler mit Identität beschäftigen, tun sie das oft in Verbindung mit Konzepten des Gedächtnisses. Bereits Maurice Halbwachs (1877-1945) hat auf den Zusammenhang zwischen kollektivem Gedächtnis und Gruppenidentität hingewiesen. Beide stehen in einer engen Wechselbeziehung, weil Identität erst durch Erinnerung konstituiert und fundiert wird.! Für Halbwachs ist das kollektive Gedächtnis »wesentlich eine Rekonstruktion der Vergangenheit.«2
Die Rekonstruktion und Re-Interpretation von »Geschichte« nimmt auch im gegenwärtigen Identitätsdiskurs der Aleviten eine herausragende Rolle ein.3 Zentraler Akteur der alevitischen Bewegung in Deutschland ist die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. (AABF), die seit den 1990er Jahren eine erfolgreiche ldentitätsund Anerkennungspolitik4 betreibt und in diesem Rahmen alevitische Identität konstruiert. Ein wichtiges Definitionsmedium stellt in diesem Zusammenhang die von der AABF herausgegebene Zeitschrift Alevilerin Sesi. Die Stimme der Aleviten in Europa dar.
Im Folgenden sollen zunächst einige Grundgedanken der Halbwachs'schen Gedächtnistheorie vorgestellt werden, um sie anschließend auf das Beispiel der Geschichtsschreibung in der Stimme der Aleviten5 anzuwenden.
Vgl. Werner Rammert, Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Thema und Beiträge, in: Werner Rammert, Gunther Knauthe, Klaus Buchenau. Florian Altenhöner (Hrsg.). Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische. soziologische und historische Studien. Leipzig 2001, S. 9-19. S. 14.
2 Maurice Halbwachs, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003, S. 21.
3 Vgl. Karin Vorhoff. »Let's reclaim our history and culture!« Imagining Alevi Community in Contemporary Turkey, in: Stefan Wild/ Werner Ende/ Michael Ursinus (Hrsg.), Die Weh des [slams 38, Leiden 1998. S. 220-252. S. 234.
4 Der AABF ist es gelungen, als Religionsgemeinschaf! im Sinne des Grundgesetzes anerkannt zu werden, alevitischen Religionsunterricht an deutschen Grundschulen einzuführen und das Alevitentum in der deutschen Öffentlichkeit bekannt zu machen (vgl. z.B. Martin Sökefeld, Einleitung: Aleviten in Deutschland -- von takiye zur alevitischen Bewegung, in: Martin Sökefeld (Hrsg.), Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, Bielefeld 2008, S. 7-36).
5 Die Stimme der Aleviten ist der deutschsprachige Teil der Zeitschrift Alevilerin Sesi. Die Stimme der Aleviten in Europa.