Mayordomo, M - Den Anfang hoeren Leserorientierte Evangelienxegese am Beispiel von Mt 1-2 (FRLANT...

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Ph.D. Dissertation on Matthew 1-2 from a reader response point of view, submitted in the University of Bern and published in the prestigious series "Forschungen zu Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments"

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Fr Jos Manuel Gonzlez Moreno und die spanischen evangelischen Gemeinden in Deutschland MOISS MAYORDOMO MARN Den Anfang hren: Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthus 12 VANDENHOECK & RUPRECHT IN GTTINGEN Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schrage und Rudolf Smend 180. Heft der ganzen Reihe Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme Mayordomo-Marn, Moiss: Den Anfang hren: leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthus 12 / Moiss Mayordomo Marn. Gttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten undNeuen Testaments; H. 180) Zugl.: Bern, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-525-53864-2 Publiziert mit Untersttzung des Schweizerischen Nationalfonds zur Frderung der wissenschaftlichen Forschung 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Gttingen. Printed in Germany. Das Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwendung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Gttingen. Elektronische PDF-Version 2008; seitenidentisch mit Printversion,aber nicht absolut zeilenidentisch; kleinere Druckfehler wurden korrigiert mit freundlicher Genehmigung vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Vorwort In der vorliegenden Arbeit versuche ich, leserorientierte Impulse der neueren LiteraturwissenschaftfrdieExegesederEvangelienfruchtbarzumachen. Da ich mich bei einem solchen interdisziplinren Spagat auf das Glatteis des Dilettantismusbegebe,isteinRisiko,dasichausLiebezurSachegerneauf mich zu nehmen bereit bin. Aber nicht nur die Komplexitt sprachlicher u-erungen, wie sie uns in den biblischen Texten entgegentritt, sondern auch die Herausforderungen, vor denen wir in Kirche und Gesellschaft stehen, machen einen multidimensionalen Zugang zur Bibel notwendig. Die Arbeit wurde im Mrz1997abgeschlossenundimDezemberdesgleichenJahresvonderE-vangelisch-TheologischenFakulttderUniversittBernalsDissertationan-genommen.FrdenDruckhabeichnochneuerschieneneLiteraturberck-sichtigtundinsbesonderediehermeneutischenberlegungenamEndeder Arbeit stark ausgebaut. WhrendderletztenfnfJahrehabeneineReihevonMenschendasEnt-stehendieserArbeitindankenswerterWeisegefrdert:AnersterStellemchte ich meinem Doktorvater Prof. Ulrich Luz ein ganz herzliches Danke-schnaussprechenfrumfassendeUntersttzung,dialogischeOffenheit, scharfsinnige Kritik, menschliche Begleitung und fr die vielen Freirume zur eigenenForschung,dieermirinderbisherigenZeitalsseinAssistentge-whrt hat. Den beiden Berner Professoren Samuel Vollenweider (Neues Tes-tament)undPeterRusterholz(Germanistik)dankeichfrZweit-undDritt-gutachten und fr ihren Beitrag zum Gelingen einer fr mich sehr anregenden Doktorats-Disputation.WeiterhinmchteichmeineLehrernichtvergessen, diemichindasStudiumdesMatthusevangeliumssowieinFragender Hermeneutik ein- und weitergefhrt haben: Dr. Donald Verseput (USA), Prof. GrahamN.Stanton(London,jetztCambridge)undProf.FrancisWatson (London). Fr eine Reihe weiterfhrender Gesprche danke ich den ehemali-genStudienkolleg/innenJuanLuisGarcs,MichaelHummel,MargitSiegel und Stephan Ellinger. Die Professoren Ernst Axel Knauf und ChristophBar-ben-Mller (beide Bern) haben die Arbeit mit einem kritischen Auge durchge-lesen und wertvolle Anregungen zur Verbesserung gemacht. Der mhevollen ArbeitdesKorrekturlesenshabensichStephanEllingerundOlafWamuth unterzogen. Beiden mchte ich ganz herzlich dafr danken. Frau Renate Har-tog und Dr. Reinhilde Ruprecht sind mir mit vielen geduldigen Hinweisen bei der Herstellung der Druckvorlage zur Seite gestanden. Fr die Aufnahme der DissertationindieFRLANT-ReihemchteichdenbeidenHerausgebern, 6Vorwort Prof. Wolfgang Schrage und Prof. Rudolf Smend, aufrichtig danken. Schlie-lichgiltmeinDankderLang-Stiftung,derEmilBrunner-Stiftungunddem SchweizerischenNationalfondszurFrderungderwissenschaftlichenFor-schung fr die grozgige Gewhrung von Druckkostenbeitrgen. WeitjenseitsallerDankesformelnmchteichmeineEltern,Esperanza MarnundTeodoroMayordomo,erwhnen,diemichfrhandasLesender Bibelheranfhrten.MeinerFrauHelgafrdasgeduldigeErtragenmeiner geistigenundkrperlichenAbwesenheitenzudanken,erscheintimRahmen eines Vorworts wo sich ein solcher Dank zu einem formspezifischen Topos verfestigt hat beinahe banal. Da sich aber Formkriterien und ehrlicher Dank nicht widersprechen mssen, tue ich es trotzdem: Muchsimas gracias! Unser Sohn,Esteban,erinnertemichdurchseinenunbndigenSpieltriebimmer wiederdaran,daesDingeimLebengibt,diewichtigersindalseine Dissertation.Erzwangmichdamitoftzudem,wasichamntigstenhatte: Kreativpausen!DurchdieTochter,Milena,diewhrendderZeitder Dissertation geboren wurde, erlernte ich die rtselhafte Kunst, mit einer Hand zutippenundmitderandereneineinjhrigesKindzubeschftigen.Siehat die Arbeit in der letzten Phase mit ihrer Lebensfreude begleitet. JosManuelGonzlez,PastorinDuisburgundlangjhrigerFreund,hat mich bereits vor meinem Studium mit seiner Begeisterung fr wissenschaftli-cheExegeseangestecktmitFolgenbisheute!IhmseidaherdieArbeit gewidmetzusammenmitdenspanischenevangelischenGemeindenin Deutschland, die mir Freirume zum theologischen Denken jenseits jeglicher Art von Verdacht oder Mitrauen gewhrten. Da etliche Freunde meine Fa-milieundmichberJahremitkleinerenundgrerenBetrgenuntersttzt haben, soll nicht dem Vergessen anheimfallen. Ihnen allen gilt mein tief empfundener Dank. Bern, Himmelfahrt 1998 Moiss Mayordomo Marn Inhalt I. Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese ........................11 1.Hinfhrung zum Thema.................................................................11 1.1 Von Blindgeborenen und Elefanten........................................11 1.2 Der lange Weg vom Text zum Leser ......................................18 1.3 Grundanliegen der Rezeptionskritik .......................................23 1.4 Zur vorliegenden Arbeit .........................................................25 2.Forschungsgeschichtliche Stationen...............................................27 2.1 Erste Stimmen........................................................................29 2.2 Michael Riffaterre (*1924): Der Archileser ............................32 2.3 Gerald Prince: Der Erzhladressat oderdas narrative Publikum...........................................................36 2.4 Peter J. Rabinowitz: Das vierfach geteilte Publikum...............38 2.5 Stanley Fish (*1938), Phase I (bis 1976):Der informierte Leser .............................................................41 2.6 Umberto Eco (*1932): Der Modell-Leser ...............................46 2.7 Hans Robert Jau (*1921): Die sthetische Erfahrungim Rahmen der Rezeptionsgeschichte.....................................51 2.7.1 Literaturgeschichte als Provokation.............................52 2.7.2 Die Mngel der Provokation........................................54 2.7.3 Die sthetische Erfahrung: Poiesis, Aisthesisund Katharsis ..............................................................57 2.7.4 Ein Sonderfall der Katharsis: Die Interaktion zwischen Held und Leser.............................................58 2.7.5 sthetischer Genu und biblische Erzhlliteratur.........60 2.7.6 Der Horizontbegriff.....................................................62 2.8 Wolfgang Iser (*1926): Die Interaktion zwischen Text und Leser ......................................................................................65 2.8.1 Der implizite Leser als Ausweg aus den Aporien klassischer Interpretationsnormen................................66 2.8.2 Von Repertoire und Strategien: Der Text zwischen Welt und Leser ............................................................68 2.8.3 Von wandernden Blickpunkten, Kohrenzbildung und passiven Synthesen: Eine Phnomenologie des Lesens73 2.8.4 Von Leerstellen und Negationspotentialen:Der Raum zwischen Text und Leser.............................75 2.8.5 Versuch einer Wrdigung............................................78 8Inhalt 2.9 Exkurs 1: Der implizite Autor ............................................ 80 2.9.1 Die Vorlufer des impliziten Autors ........................ 80 2.9.2 Wayne C. Booth und die Geburt desimpliziten Autors..................................................... 81 2.9.3 Das Fortleben des impliziten Autors in der aktuellen Erzhltheorie ............................................... 83 2.10 Jonathan Culler (*1944): Der kompetente Leser .................... 97 2.10.1Von der Erklrung von Texten zur Erklrung literarischen Verstehens .............................................. 97 2.10.2Literarische Kompetenz: Auf der Suchenach dem Ideal-Leser.................................................. 99 2.10.3Kritische Wrdigung Cullers....................................... 100 2.11 Stanley Fish, Phase II (ab 1976):Die Auslegungsgemeinschaft................................................. 103 2.11.1Die anti-formalistische Reise................................... 103 2.11.2Interpretive Communities: Von Konventionen, Situationen, Institutionen, Glaubensberzeugungen, Macht und Rhetorik .................................................... 107 2.11.3Warum man Stanley FISH nicht kritisieren kann.......... 113 2.12 Exkurs 2: Die Wirkung von Textenin der antiken Literaturtheorie................................................ 120 2.12.1Poetik ......................................................................... 121 2.12.2Rhetorik...................................................................... 125 2.12.3Geschichtsschreibung ................................................. 128 2.12.4Biblische Literatur ...................................................... 129 3.berlegungen zu einem operativen Modell fr die rezeptionskritische Evangelienexegese.......................................... 132 3.1 Der Ort des lesenden Subjekts ............................................... 135 3.1.1 Vor dem Text (diachron): Die modernen, empirisch greifbaren Leser/innen ................................................ 136 3.1.2 Vor dem Text (synchron): Die zeitgenssischen, intendierten oder historischen Leser/innen .................. 138 3.1.3 Der encodierte oder implizite Leser ............................ 142 3.1.4 Schlufolgerung.......................................................... 143 3.1.5 Ein offenes Problem: Das Geschlecht des Lesers ..... 144 3.2 Die Interaktion zwischen Text und Leser/in........................... 147 3.3 Die Kompetenzen der Leser/innen......................................... 151 3.3.1 Der Wissensstand der Leser/innen............................... 151 3.3.2 Das Verhltnis von Erstlektrezu jeder weiteren Lektre............................................ 153 3.3.3 Das Problem der Intertextualitt.................................. 156 Inhalt9 3.3.4 Ein offenes Problem: Wissenschaftliche und naive Lektren.........................................................162 3.4 Ganzheitliche Reaktion der Leser/innen .................................163 3.5 Vom privaten Genu zur Hrgemeinschaft.............................166 3.6 Exkurs 3: Das Problem der Intention des Autors.....................170 3.6.1 Das traditionelle Interesse der Exegese am Autor ........170 3.6.2 Die literaturwissenschaftliche Debatte um die Intention des Autors ....................................................175 3.6.3 Grenzen und Mglichkeiten autorialer Exegese ...........182 3.7 Zusammenfassung undpraktisch-methodische berlegungen.....................................187 3.7.1 Zusammenfassung.......................................................187 3.7.2 Praktisch-methodische berlegungen..........................188 II. Rezeptionskritische Auslegung von Matthus 1-2 ..............................196 1.Der Sinnhorizont des Textes im Spiegel der eigenen Lektre.........196 1.1 Analyse im Vorfeld der Lektre .............................................196 1.2 Analyse der eigenen Reaktion ................................................198 2.Der Sinnhorizont des Textes im Spiegelder hypothetischen Erst-Rezeption.................................................203 2.1 Die literarische Funktion narrativer Anfnge..........................203 2.2 Von Abraham bis Jesus (Matthus 1) .....................................206 2.2.1 Die berschrift (1,1) ...................................................206 2.2.2 Die Genealogie (1,2-17) ..............................................217 2.2.3 Exkurs 4: Die Erwhnung der Frauen aus rezeptionskritischer Sicht.............................................243 2.2.4 Die Geburtsgeschichte (1,18-25) .................................250 2.3 Von Betlehem bis Nazaret (Matthus 2) .................................271 2.3.1 Allgemeine berlegungen...........................................271 2.3.2 Lektre........................................................................276 2.4 Zusammenfassende berlegungen zurhypothetischen Erst-Rezeption ...............................................321 2.5 Exkurs 5: Form- und gattungsgeschichtliche Analyseder Geburtsgeschichte ............................................................330 2.5.1 Geburts- und Kindheitsgeschichten im Judentum.........332 2.5.2 Ein Motiv-Inventar......................................................333 2.5.3 Die Bedeutung einzelner Motive .................................334 2.5.4 berlegungen zur Geschichte der Gattung...................335 2.5.5 berlegungen zur Terminologie ..................................338 2.5.6 Ergebnis......................................................................341 2.5.7 Tabelle: Geburtsgeschichten groer Gestalten .............342 10Inhalt 3.Hermeneutische Abschlureflexion............................................... 346 3.1 Exkurs 6: Theoretische berlegungen zum Problemder Wirkungsgeschichte......................................................... 347 3.2 Jesus der Jude........................................................................ 351 3.3 Gottes Vorsehung als Verheiung seines Mit-Seins ............... 356 III.Kritische Rckschau und hermeneutischer Ausblick.......................... 366 1.Mglichkeiten und Aporien rezeptionskritischer Evangelienexegese........................................................................ 366 2.Die hermeneutische Funktion und Bedeutungder Erst-Rezeption ........................................................................ 368 3.Die Grenzen adquaten Verstehens ............................................... 375 3.1 Vorfragen .............................................................................. 376 3.2 Sprachliche Kriterien als Grenzmarkierungen........................ 377 3.3 Das Problem einer sachgemen Exegese.............................. 383 3.4 Die Wahrheitsfrage................................................................ 388 3.5 Zum Abschlu....................................................................... 392 IV.Literaturverzeichnis........................................................................... 393 1.Abkrzungen ................................................................................ 393 2.Quellen ......................................................................................... 394 3.Matthus-Kommentare.................................................................. 398 4.Weitere Literatur........................................................................... 400 V. Register (in Auswahl)........................................................................ 443 1.Stellenregister ............................................................................... 443 2.Griechische Begriffe ..................................................................... 444 3.Autoren und Personen................................................................... 445 4.Themen......................................................................................... 446 I. Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese 1. Hinfhrung zum Thema DieSchriftsagt:eineshatGottgeredet,zweihabeichvernommen, denn die Machtist bei Gott (Ps 62,12); ein Schriftvers hat verschiedene Deutungen, nicht aber ist eine Deutung aus verschiedenen Schriftversen zuentnehmenUndwieeinHammerFelsenzersplittert(Jer23,29), wiederSteindurchdenHammerinvieleSplitterzerteiltwird,ebenso zerfllteinSchriftversinvieleDeutungen.BabylonischerTalmud, Sanhedrin 34a = Goldschmidt VIII, 593 DennwieeineQuelleaufkleinemRaumwasserreicheristunddurch mehrereBchefrgrereFlchendieBewsserungbesorgtalsjeder einzelneBach,derauchvondieserQuelleaussichweitberdasLand ergiet,soltderBerichtdeinesSachverwalters[=Gen1-2],derso vielenAuslegernntzlichseinsollte,trotzseinesgeringenSprachauf-wandes ganze Strme klarer Wahrheit hervorsprudeln; daraus kann dann einjederfrsichdasWahre,soweiteresinbezugaufdieseInhalte vermag,entnehmen, der eine dies, derandere das. Augustin, Confessi-ones 12,27.37 = Flasch/Mojsisch, 359f 1.1 Von Blindgeborenen und Elefanten InSavatthilebteeinsteingewisserKnig.DieserrichteteeinesTagesdasWortaneinenseinerLeute:Gehe,undbringealleBlindgeboreneninSavatthianeinemOrtzusammen.Soseies,Majestt,antwortetederManndemKnig,und er nahm alle Blindgeborenen, so viel ihrer in Savatthi waren, mit sich und begab sich zumKnigundsprachzuihm:Majestt,alleBlindgeborenen,dieesinSavatthi gibt,habeichversammelt.Sozeigedenn,befehleich,denBlindgeboreneneinen Elefanten! So sei es, Majestt, antwortete der Mann dem Knig, und er zeigte den BlindgeboreneneinenElefanten:SoisteinElefant,ihrBlindgeborenen.Einigen zeigteerdenKopfdesElefanten,einigendasOhr,einigendenZahn,einigenden Rssel,einigendenRumpf,einigendenFu,einigendasHinterteil,einigenden SchwanzundeinigendasbehaarteSchwanzende.NachdemnunderMannden Blindgeborenen den Elefanten gezeigt hatte, begab er sich zum Knig und sprach zu ihm: Majestt, die Blindgeborenen haben sich einen Elefanten angesehen; verfahret nun, wie Ihr es fr gut befindet! DabegabsichderKnigzudenBlindgeborenenundsprachzuihnen:Blind-geborene, habt ihr euch den Elefanten angesehen? Ja, Majestt, wir haben uns den 12Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese Elefanten angesehen. Sagt, ihr Blindgeborenen, wie ist denn ein Elefant? Die un-terdenBlindgeborenen,diesichdenKopfdesElefantenangesehenhatten,sagten: Majestt,wieeinKesselisteinElefant.Die,diesichdasOhrangesehenhatten, sagten:WieeineWorfel.Die,diesichdenZahnangesehenhatten,sagten:Wie eine Pflugschar. Die, die sich den Rssel angesehen hatten, sagten: Wie die Stange amPfluge.Die,diesichdenRumpfangesehenhatten,sagten:WieeinKornspei-cher.Die,diesichdenFuangesehenhatten,sagten:WieeinPfeiler.Die,die sichdasHinterteilangesehenhatten,sagten:WieeinMrser.Die,diesichden Schwanzangesehenhatten,sagten:WieeineKeule.Die,diesichdasbehaarte Schwanzendeangesehenhatten,sagten:Majestt,wieeinBesenisteinElefant. Und unter dem Geschrei So ist ein Elefant, ein Elefant ist nicht so! wurden sie mit den Fusten gegenseitig handgemein. Der Knig aber war darber hchst ergtzt. Diese kleine Geschichte ist als wissenschaftstheoretische Parabel transparent1: InunsererAnnherunganeinbestimmtesObjekt(inderTheologieundder LiteraturwissenschafthandeltessichdabeimeistensumschriftlicheTexte) sindwirnichtinderLage,esunmittelbar(alsoohneHilfs-mittel)inseiner gesamtenKomplexittzuerfassen.DieseerkenntnistheoretischeSehbehin-derungspiegeltsichetwaindemBegriffdeshermeneutischenZirkels2

oderinderDiskussionumdieMglichkeiteinervoraussetzungslosenExe-gese3wider.WennichamAnfangdieserArbeiteineausgesprochen methodenskeptischePositionbeziehe,danngewinicht,umdieseLagezu beklagenodergarummichmitdenfolgendenAusfhrungenalsWegweiser 1 Es handelt sich um eine (von mir leicht gekrzte und zusammengefate) Erzhlung aus dem buddhistischen Lehrgut (Udana 5,5).Buddha schlietmit der Sentenz:Esstreiten sich und geraten in Widerrede die Menschen, die nur einen Teil sehen. 2MitdemBegriffdeshermeneutischenZirkelsverbindetdiemoderneHermeneutikein Axiom, das wohl auf Friedrich AST (1778-1841) zurckgeht: Das Grundgesetz alles Verste-hensundErkennensist,ausdemEinzelnendenGeistdesGanzenzufindenunddurchdas Ganze dasEinzelne zu begreifen;jenes dieanalytische, dieses diesynthetischeMethode der Erkenntnis.(GrundlinienderGrammatik,HermeneutikundKritik[Landshut,1808]75; zitiertnachH.-G.GADAMER,G.BOEHM,Seminar:PhilosophischeHermeneutik[stw144; Frankfurta.M.,1976],116).F.D.E.SCHLEIERMACHER(1768-1834)hatdiesenGrundgedan-ken aufgenommen: berall ist das vollkommeneWissen in diesem scheinbaren Kreise, da jedesBesonderenurausdemAllgemeinen,dessenTeilesist,verstandenwerdenkannund umgekehrt. (Hermeneutik und Kritik [1838]; Frankfurt a.M., 51993, 95; vgl. 329). In Weiter-fhrung dieses Ansatzes spricht H.-G. GADAMERvon der hermeneutischenSpirale (Wahr-heitundMethode[GesammelteWerke1;Tbingen, 51986],270-81=1.Aufl.[1960], 250-60;s.a.VomZirkeldesVerstehens,[1959]HermeneutikII[GesammelteWerke2; Tbingen, 21993], 57-65). Fr eine sprachlogische Kritik, die vor allem die fehlende Przisi-onhermeneutischerSprachebemngelt,vgl.W.STEGMLLER,DersogenannteZirkeldes Verstehens, Das Problem der Induktion Der sogenannte Zirkel des Verstehens (Darmstadt, 1974), 63-88. 3 Nach wie vor grundlegend:R. BULTMANN, Ist voraussetzungsloseExegesemglich? [1957]GlaubenundVerstehen(UTB1762;Tbingen, 41993)III,142-50;s.a.G.N. STANTON, Presuppositions in New Testament Criticism, New Testament Interpretation, ed. I.H. Marshall (Exeter, 31985), 60-71. Hinfhrung13 aus einer vermeintlichen Krise anbieten zu wollen4. Vielmehr soll jene Hal-tungdesavouiertwerden,diedenDialogunterBlindenunntigerschwert: dasdogmatischeBeharrenaufeinemliebgewordenenundinstitutionellak-zeptiertenAuslegungsparadigma,dasallenanderenmethodischenZugngen mit apriorischer Skepsis begegnet und diesen nur dann eine Existenzberechti-gungzubilligt,sofernsiesichbequemanderPeripheriedeseigenenMetho-denkanonsein-,oderbessernochunterordnenlassen.DieSuchenacheiner lebensfhigen Wahrheit wird kaum dadurch erleichtert, da eine Methode mit dem Anspruch auftritt, den Sinn eines Textes voll und ganz verbrauchen zu knnen.EinesolcheVorstellungmagzwaralsmotivierendeUtopieeinen pragmatischen Wert haben, geht aber von einem Textverstndnis aus, bei dem der Text in etwa einer Fruchtschale gleicht, die nach Verzehr ihres Inhaltes beraubt getrost weggeworfen werden kann5. Demgegenbergeheichdavonaus,dainderExegeseeinWegderher-meneutischenKohrenzbildungbeschrittenwird,beidemunterschiedliche BetrachtungsweisenzuverschiedenenModellenfhrenknnen6.DieTatsa-che, da manche Modellesich imRahmen der eigenen Perspektivitt gegen-seitig ausschlieen, bedeutet jedoch nicht, da sie auf einer anderen, hheren Wahrnehmungsebenenichtzusammengefgtwerdenknnten7.Methoden- 4SkeptischePositionendurchziehendiegesamtePhilosophiegeschichte,angefangenbei denSophisten,Sokrates,KoheletberCicero,Augustin,Erasmus(gegenLuthersspiritus sanctus non est Scepticus), Montaigne, Pascal, Hume und Hamann bis hin zu Popper, Feye-rabend,Gadameru.v.a(vgl.R.M.POPKIN,Skepticism,EncPh7[1967],449-61).Ichwill abernichtnuralteundmodernePhilosophenaufzhlen,sondernausdrcklichauchaufden Apostel Paulus verweisen: Seiner berzeugung nach fhren alle unsere jetzigen Formen der Welt-undGotteserfassungimmernurzueinerTeilerkenntnis(hek mrou),dasiemittelbar undunscharfsindwiederBlickineinenantikenSpiegel(1Kor13,9-12).DerGrunddafr liegt nicht einfach darin, da das menschliche Denken durch die Snde vernebelt wre,son-derndarin,daimHinblickaufdaskommendeZeitalterwelchessichfrPaulusalsdas Vollkommene (t tleion) zu erkennen geben wird das Jetzt fragmentarisch und unvoll-stndig erscheint. Seine Skepsis ist also nicht anthropologisch, sondern eschatologisch mo-tiviert.DenSprungausdemhermeneutischenZirkeld.h.derBlickvomTeil(mro)auf die Ganzheit (tleion) wird erst die onenwende bringen. 5 Vgl. W. ISER, Der Akt des Lesens (UTB 636; Mnchen, 31990), 13f. 6EinModellisteinereduzierte,wenigerkomplexeodereinfacherzuhandhabende Form,dieandieStellekomplexerund/odernichtunmittelbarbeobachtbarerObjektberei-che oder Originale gesetzt wird (E. GLICH,W.RAIBLE,Linguistische Textmodelle [UTB 130; Mnchen, 1977], 15). Nach H. STACHIOWAK,Gedanken zu einerallgemeinen Theorie derModelle, StGen 18 (1965), 432-463 sind die Kennzeichen eines jedenModells das Ab-bildungs-,dasVerkrzungs-unddasSubjektivierungsmerkmal;d.h.einModellbildetzwar ein Objekt ab, da es aber nicht alle seine Merkmale integrieren kann, hat es zwangslufig eine verkrzende,abstrahierendeFunktion.DieRelevanzkriterienfrdieeinzubeziehendenEle-mentesindschlielichvondensubjektivenInteressendesforschendenIndividuumsabhn-gig. Gerade deswegen knnen zum gleichen Gegenstand verschiedene Modelle gebildet wer-den. 7 Wie man leicht einem Allgemeinlexikon entnehmen kann, gelangt die Quantenphysik je nachAnordnungdesExperimentszuunterschiedlichenaberdurchauskomplementrenBe-14Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese skepsismudahernichtdazufhren,daaufdenGebrauchmethodischre-flektierterFragestellungenganzundgarverzichtetunddadurchdieExegese einer intersubjektiv8 zugnglichen Sprache beraubt wird, sondern mndet in diesemFallindasBemhenumeineIntegrationunterschiedlicherBetrach-tungsweisen. Methoden sind bewhrte Dialogregeln ber Texte, die Konsens ohne Zwang und Dissens ohne Feindschaft ermglichen sollen9. Sie sind wie Meinstrumente,dieihreAnwender/innennurdaserkennenlassen,wasin-nerhalb ihrer Reichweite liegt. Die Multiplizierung von Fragestellungen kann dahernureineBereicherungfrdieAuslegungundschlielichauchfrdie Ausleger/innen selbst darstellen. An diesem Punkt scheint mir die anglo-amerikanische Exegese insgesamt risikofreu-diger,theoriebewuterundinnovationsbereiteralsdiedeutschsprachigezusein.DiemeistenenglischsprachigenMethodenlehrenderletztenfnfzehnJahrebeziehenausdrcklichneueMethodenmitein,ohnedieseausderWartegngiger ExegeseinFragezustellen10.DieseinternationaleDiskussionhatdeutlicheSpuren im Dokument der Ppstlichen Bibelkommission ber Die Interpretation der Bibel in derKirchehinterlassen11.ErsteAnzeichensolcherIntegrationsversucheinder deutschsprachigenntl.ExegesefindensichindenMethodenlehrenvonWilhelm

schreibungsmodellen(Welle-Teilchen-Dualismus).DamitistdieErfassungeinesGegens-tandesauch im Falle der sogenannten exakten Wissenschaften vomBeobachter und seiner Betrachtungsweiseabhngig.Vgl.etwaWernerHEISENBERG(1901-1976),DasNaturbild derheutigenPhysik,DieKnsteimTechnischenZeitalter,hg.BayerischeAkademieder schnenKnste[JahrbuchGestaltundGedanke3;Mnchen,1954],67:DieNaturwissen-schaft steht nicht mehr alsBeschauer vor der Natur, sondern erkennt sich selbst als Teil die-ses WechselspielszwischenMensch und Natur. Die wissenschaftlicheMethode des Ausson-derns, Erklrens und Ordnens wird sich der Grenzen bewut, die ihr dadurch gesetzt sind, da derZugriffderMethodeihrenGegenstandverndertundumgestaltet,dasichdieMethode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann. 8ZurProblematikdesIntersubjektivitts-Begriffesvgl.N.LUHMANN,Intersubjektivitt oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, AF 54 (1986), 41-60, bes. 49. 9 G. THEISSEN, Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt: Pluralismus in Exe-gese und Lektre der Bibel, Pluralismus und Identitt, hg. J. Mehlhausen (Gtersloh, 1995), 130. 10Vgl.etwaC.TUCKETT,ReadingtheNewTestament(London,1987),R.MORGAN,J. BARTON,BiblicalInterpretation(OxfordBibleSeries;Oxford,1988);E.P.SANDERS,M. DAVIES, Studying the Synoptic Gospels (London, 1989); J.C. ANDERSON, S.D. MOORE (Eds.), MarkandMethod(Minneapolis,1992);S.L.MCKENZIE;S.R.HAYNES(Eds.),ToEachits OwnMeaning:AnIntroductiontoBiblicalCriticismsandtheirApplication(Louisville, 1993);S.E.PORTER;D.TOMBS(Eds.),ApproachestoNewTestamentStudy(JSNT.S120; Sheffield,1995);J.B.GREEN(Ed.),HearingtheNewTestament(GrandRapids;Exeter, 1995);S.E.PORTER(Ed.),HandbooktoExegesisoftheNewTestament(NTTS25;Leiden, 1997). 11PPSTLICHEBIBELKOMMISSION,DieInterpretationderBibelinderKirche(Cittdel Vaticano, 1993). Auf den Seiten 43-71 wird in vorbildlicher Knappheit ber rhetorische, nar-rative,semiotische,kanonische,jdische,wirkungsgeschichtliche,soziologische,kulturanth-ropologische, psychologische, befreiungstheologische und feministische Bibelauslegung refe-riert. Hinfhrung15 EGGER12, von Klaus BERGER13 und von Horst Klaus BERG fr den Bereich der prak-tischenTheologie14.DasWerkvonGerdTHEISSENdarfindiesemZusammenhang nichtunerwhntbleiben,weilernebendenherkmmlichenhistorisch-kritischen VorgehensweisenganzunterschiedlichemethodischeAkzentegesetzthat,voneiner literaturwissenschaftlichorientiertenFormgeschichtebersoziologischehinzupsy-chologischenFragestellungen15.IneinemkleinenprogrammatischenAufsatzhat HelmutMERKLEINeinentheoretischenEntwurffreineintegrativeBibelausle-gungvorgelegt16undschlielichinseinemKommentarzum1. Korintherbriefer-probt17.Erversucht,textwissenschaftliche(Linguistik,Rezeptionssthetik,Sprech-akttheorie), geschichtliche (Text-, Literar-, Redaktions-, Traditions-, Form- und Gat-tungskritiksowieSoziologie)undtheologischeFragestellungenzuverbinden.Als einenBeitragzueinerintegrativenAuslegungverstehtauchBerndWILLMESsein ModelleinerextremenExegese18.EshandeltsichhierbeiumeinenaufVollstn-digkeit hin angelegten Versuch, synchrone und diachrone Methoden sinnvoll mitein-anderzuverbinden,wobeidieTaxonomiedermglichenArbeitsschrittederartaus-fhrlichgeratenist,daeineAnwendungnuraufkleineTexteinheitenmglicher-scheintundselbstindiesemFallediemeistenAusleger/innenberfordertseinwer-den.Diese einzelnenVorstsse machen bereits deutlich, da integrative Interpretati-oneninderZukunftamehestenalsErgebniseinerintensivenZusammenarbeitzwi-schen verschiedenen Forscher/innen denkbar sind. Wegweisend ist in dieser Hinsicht das bereits 1975 (!) verffentlichte Sammelwerk Exegesis: Problmes de mthode et exercises de lecture, das auf eine Vorlesungsreihe zurckgeht, die von den Universi-tten Fribourg,Genve,Lausanne und Neuchtel 1972/73 organisiert wurde und an-hand der Lektre von Gen 22 und Lk 15 das Gesprch zwischen historisch-kritischen undhumanwissenschaftlichenAuslegungsparadigmensucht19.TrotzderTeilnahme einiger namhafter Gelehrter (z.B. F. Bovon, P. Ricur) ist das Echo auf dieses wich-tigeWerk,soweitichsehe,rechtgeringgeblieben.DenFortschrittderTheoriedis-kussioninderexegetischenFachweltdokumentiertdasExperimentderNewTestamentSocietyofSouth-Africa,Lk12,35-48ausvierzehnverschiedenen 12 Methodenlehre zum Neuen Testament (Freiburg, 21990). 13 Exegese des Neuen Testaments (UTB 658; Heidelberg, 21984). 14EinWortwieFeuer(Mnchen;Stuttgart,1991).Vgl.dieAufstzeinK.WEGENAST u.a., Bibelauslegung: Experimente, Methoden, EvErz 35/H. 3 (1983), 197-299. 15Vgl.UrchristlicheWundergeschichten(StNT8;Gtersloh, 51987);StudienzurSozio-logiedesUrchristentums(WUNT19;Tbingen, 31989);PsychologischeAspektepaulini-scherTheologie(FRLANT131;Gttingen,1983).Esbleibtzuhoffen,dadieseArbeiten nicht nur Anzeichen eines methodischen Eklektizismus sind, sondern einmal in einem metho-disch-hermeneutischenGesamtentwurfmnden;vgl.seinenArtikelMethodenkonkurrenz, 127-140, wo er 137f berzeugend fr eine polyvalente Exegese pldiert. 16IntegrativeBibelauslegung?MethodischeundhermeneutischeAspekte,BiKi44 (1989),117-23.hnlichunterdemStichwortholographischeExegeseD.L.BARR,E-lephantsandHolograms:FromMetaphortoMethodologyintheStudyofJohnsApoca-lypse, SBL.SP 25 (1986), 400-12. 17 Der erste Brief an die Korinther: Kapitel 1-4 (TK 7/1; Gtersloh; Wrzburg, 1992). 18ExtremeExegese:berlegungenzurReihenfolgeexegetischerMethoden,BN53 (1990), 68-99. 19 Hg. F. BOVON, G. ROUILLER (Neuchtel, 1975). 16Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese Blickwinkeln auszulegen20. Leider stehen die einzelnen Interpretationen noch zu un-verbundennebeneinander,einabschlieenderIntegrationsversuchfehlt.InderVor-gehensweise hnlich prsentiert sich der Sammelband Zankapfel Bibel21. Anhand der AuslegungvonMk6,30-44werdenhistorisch-kritische(Marguerat),fundamentalis-tische(Lerle),evangelikale(Bittner),feministische(Jornod),materialistische(Fs-sel)undtiefenpsychologische(Kaufmann)ZugngemiteinanderinsGesprchge-bracht.DasAngebotanSichtweisenistzwarnichtsoreichhaltig,dafrwirdaber ineinemabschlieendenKapiteldieIntegrationverschiedenerSchwerpunktever-sucht22.WasRolfRENDTORFFfrdieatl.Wissenschaftkonstatierthat,giltm.E. ganzallgemeinfrdengesamtenBereichbiblischerExegese:[I]nscholarshipthere is no heresy. We should rather practice and accept methodological pluralism.23 Die berlebenschancen einer an ihren Abnutzungserscheinungen krnkelnden historisch-kritischenMethodesindohnesolcheVersucheeinerumfassenden Methodenintegration eher als gering einzuschtzen. Die Rede vom berleben klassischerInterpretationsweisenscheintheutenichtbertriebendramatisch. Zwar haben Vertreter einer evangelikal-konservativen Position etwas zu frh ihr Ende eingelutet24, aber vor allem sind es die Anwender/innen historischer Kritikselbst,diemitsteigendemProblembewutseinberdiepraktisch-theologischen,hermeneutischenundsystematischenBegrenzungendieser Methodenachdenken,ihrenichtunproblematischeRolleimkumenischen DialogzurRedebringenundaufihreInfragestellungdurchformalistische, strukturalistische,tiefenpsychologischeundandereAuslegungsparadigmen 20 Vgl.Neotestamentica 22 (1988). Die verschiedenen Fragestellungen sind:reader-res-ponse,materialistisch,holistisch,narratologisch,wirksthetisch,traditionsgeschichtlich, rhetorisch,befreiungstheologisch,soziologisch,psychologisch,dekonstruktionistisch,em-pirisch-rezeptiv, syntaktisch und systematisch-theologisch. 21 U. LUZ(Hg.), Zankapfel Bibel: EineBibel viele Zugnge (Zrich, 21993). Vgl. auch dasVotumdesTheologischenAusschussesderArnoldshainerKonferenzDasBuchGottes: Elf Zugnge zur Bibel (Neukirchen-Vluyn, 1992). 22Vgl.U.LUZ,SinddieverschiedenenZugangswegezurBibelunvereinbar?Zankap-fel,120-38.DerSchwerpunktdieserBilanzliegtabernichtaufdermethodischen,sondern eher auf der theologisch-hermeneutischen Dialogebene. 23 R.RENDTORFF, The Paradigm isChanging: Hopes and Fears, BibInt 1 (1993), 47. AnstzezueinempluralistischenMethodengebrauchfindensichbereitsbeiRudolf BULTMANN: Aus der Tatsache, da jedes geschichtliche Phnomen vielseitig, komplexist, schlieteraufdiePluralittvonFragestellungen(z.B.geistesgeschichtlich,psychologisch, soziologisch),denenderTextunterliegt(DasProblemderHermeneutik,[1950]Glauben und Verstehen [UTB 1761; Tbingen, 61993], II, 229). 24 So G. MAIER, Das Ende der historisch-kritischen Methode (Wuppertal, 51984; 1. Aufl. 1974), der vor allem das Scheitern der Suche nach einem Kanon im Kanon und die Unverein-barkeit von gttlicher Offenbarung und menschlicher Kritik in den Mittelpunkt seiner Ausei-nandersetzungstellt(s.a.BiblischeHermeneutik[Wuppertal,1990],213-70:Offenbarung undKritik).DaEvangelikaleauchpositivmitderhistorisch-kritischenMethodeumgehen knnen, zeigt z.B. I.H. MARSHALL, Historical Criticism, in Marshall, New Testament Inter-pretation, 126-138. Hinfhrung17 reagieren25. Auch wenn ich mich in dieser Arbeit relativ einseitig umein re-zeptionsorientiertesTextverstndnisbemhe,beansprucheichdamitkeine methodische Totalitt und verstehe daher auch diesen Zugang keineswegs als Ersatzfrhistorisch-kritischeExegese,sondernvieleheralseinenVersuch, dieMglichkeitenauszuloten,dieverschiedenemoderneliteraturwissen-schaftlicheRezeptionsmodellefreineMethodenintegrationbietenknnen. ImbrigenkannnachHansRobertJAUSSdieRezeptionssthetikzwar eineinaugurierende,mitdenherrschendenKonventionendeswissenschaftli-chenBetriebsbrechendeRollebernehmen,nichtaberdenRangeinesauto-nomen Paradigmas beanspruchen, denn sie ist keine autonome, fr die L-sungihrerProblemealleinzureichendeDisziplin,sonderneinepartiale,an-baufhige und auf Zusammenarbeit angewiesene,auf das eigene Tun gerich-tete und darin methodische Reflexion26. Er fordert daher auf, den Streit der Interpretationensozufhren,daernichtimpolitischenKampfumLeben und Tod endigt. Denn im Horizont der sthetischen Erfahrung ist es rechtens, dasichauchverschiedeneDeutungennichtnotwendigwidersprechenms-sen27.IchhaltedahergeradedieFragenachdem Lesernichtfrdenarchi-medischen Punkt, um die historisch-kritische Methode aus den Angeln zu he-ben, sondern fr eine Bereicherung und mgliche Kurskorrektur derselben. 25 Vgl. U. LUZ, Matthew in History (Minneapolis, 1994), 5-22 (The Limits of the Histo-rical-CriticalMethod).Weiterhin:D.DORMEYER,DasVerhltnisvonwilderundhisto-risch-kritischerExegesealsmethodologischesunddidaktischesProblem,JRPd3(1986; ed.1987),111-126;J.A.FITZMYER,HistoricalCriticism:ItsRoleinBiblicalInterpretation andChurchLife,TS50(1989),244-59;F.HAHN,ProblemehistorischerKritik,ZNW63 (1972),1-17;L.KECK,WilltheHistorical-CriticalMethodSurvive?SomeObservations, OrientationbyDisorientation(FSW.A.Beardslee),ed.R.A.Spencer(PThMS35;Pitts-burgh,1980),115-28;D.MARGUERAT,DerReichtumdesfremdenTextes:Einhistorisch-kritischerZugang zur Bibel, in Luz, Zankapfel Bibel, 18-38; A. NATIONS,HistoricalCriti-cism and the Current Methodological Crisis, SJTh 36 (1983), 59-71; F. RAURELL, El mto-do histrico-crtico frente alaslecturas fundamentalistas e integristas de laBiblia, Laur. 35 (1994), 273-318; J. REUMANN, After Historical Criticism, What? Trends in Biblical Interpre-tationand Ecumenical, Interfaith Dialogues, JES 29 (1992), 55-86; W.H.SCHMIDT, Gren-zenundVorzgehistorisch-kritischerExegese:EinekleineVerteidigungsrede,EvTh45 (1985),469-81;H.-J.SCHULZ,Historisch-kritischeEvangelieninterpretationundform-geschichtliche berlieferungskritik: kumenische Chance oder Rckfall in die Zeit der Auf-klrung?MThZ 42 (1991), 15-43; 323-349; Th. SDING, Geschichtlicher Text und Heilige Schrift:FragenzurtheologischenLegitimitthistorisch-kritischerExegese,NeueFormen der Schriftauslegung? Hg. Th. Sternberg (QD 140; Freiburg, 1992), 75-130; A. STOCK, The Limits of Historical-Critical Exegesis, BTB 13 (1983), 28-31. 26sthetischeErfahrungundliterarischeHermeneutik(stw955;Frankfurta.M.,1982), 736f. Zum partialen Charakter dieser methodischen Fragestellung vgl. auch 743-5. 27sthetischeErfahrung,703.Vgl.jetztauchdasneuesteWerkvonJAUSS:Wegedes Verstehens (Mnchen, 1994), 7f: Die berzeugung, da Hermeneutik von Hause aus undog-matischist, weil das Ziel des Verstehens auf ganz unterschiedlichen Wegenerreicht werden kann, bildet den Cantus firmus der hier gesammelten Artikel aus den Jahren 1985 bis 1993. 18Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese 1.2 Der lange Weg vom Text zum Leser IneineretwasschablonenhaftenTypologiemchteichzwischenviergrund-legendenAnsichtenundvierdamitverbundenenErkenntnisklassenunter-scheiden28: Ansicht: Als was betrachte ich einen Text? Erkenntnisklasse: Welche Erkenntnisse gewinne ich daraus? 1.Text als Nachricht:Thematische Lektre Sachbezogen: Was sagt der Text zu einem bestimmten Thema? 2.Text als Symptom:Historische Lektre Autorbezogen: Was sagt der Text ber den Autor und seine Zeit? 3.Text als Gegenstand:Formalistische Lektre Textbezogen: Wie ist der Text in sich selbst beschaffen und wie legt er die Koordinaten seiner Auslegung fest? 4.Text als Proze:Rezeptionsorientierte Lektre Leserbezogen: Wie gestaltet sich die Interaktion zwi-schen Text und Rezipient? Eine solche Auffcherung der einzelnen Funktionsweisen eines Textes ist na-trlich nicht neu: Bereits in der mittelalterlichen Rezeption antiker hermeneu-tischer Grundregeln wurde zwischen operis materia, scribentis intentio, pars philosophiaeundutilitasunterschieden29.FhrendeVertreterdesanglo-amerikanischen New Criticism30 haben hnliche Typologien aufgestellt. So z.B. M. H. ABRAMS31: Anhanddiesergraphischen Darstellungltsichleicht daszentraleDogmades anglo-amerikanischenNew Criticismablesen:dieMit-telpositiondesTextes.Damit sollmehrausgedrcktwer-denalsdieansichbanale Tatsache,dainderprakti-schenAuslegungderText 28 Fr die ersten drei Kategorien vgl. den ausgezeichneten Aufsatz von K. WEIMAR, Der Text, den (Literar)-Historikerschreiben, Geschichte als Literatur, hg. HEggert, u.a. (Stutt-gart, 1990), 29-31. Den AusdruckText als Prozeentnehmeich dem Werk von ISER, Der Akt des Lesens, VII. 29 Vgl. H. BRINKMANN, Mittelalterliche Hermeneutik (Tbingen, 1980), 8-9. In den vier Fragen sind dieMomente erfat, die nach der Anschauung der gegenwrtigenLinguistikei-nenTextkonstituieren:derVerfasser(Sender)inderintentio;derInhalt(dieInformati-on)indermateria;dieArtdesTextesinderZuweisungzueinerparsphilosophiae;der Empfnger in der Frage nach der utilitas. (9) 30 Zum New Criticism s.u. S. 19 und die Seitenzahlen im Register. 31 M.H. ABRAMS, The Mirror and the Lamp: Romantic Theory and the Critical Tradition (London, Oxford, New York, 1953), 6. UNIVERSE(mimetic criticism)WORK(objective criticism)ARTISTAUDIENCE (expressive criticism) (pragmatic criticism)Hinfhrung19 zwangslufig in den Mittelpunkt gert. Vielmehr ist der Text in der Lage, alle Elementemitzufhren,dieseinenSinnkonstituieren,sodaerletztendlich unabhngigvonallenanderenKategorienausgelegtwerdenkann32.DieAn-ordnung,dieichobengewhlthabe,richtetsichnichtnachhierarchischen, sondern ganz grob nach literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten33: DiefrhechristlicheBibelauslegungwarinhohemMaesachbezogen. DiebiblischenTextewurdenbiszurScholastikvorwiegendallegorischund danach immer strker ihrem Literalsinn nach gelesen, aber stets als Belege fr unterschiedlichetheologischeTopoimitdemvorwiegendenZielderBeleh-rungundderAuseinandersetzung34.DiehermeneutischenBestrebungender RenaissanceundstrkernochderAufklrungverhalfendemphilologisch-historischenParadigmazurVorherrschaftberandereZugangsweisenzum Text und lieen damit auch das Interesse an der autorialen Persnlichkeit, ih-rerleitendenIntentionundihremLebenskontextanwachsen35.Erstseitder Wende zum 20. Jh. gelangte das literarische Kunstwerk als autonome, in sich geschlossene und vollkommen strukturierte sthetische Gre durch die The-oretiker/innendesrussischenFormalismus,desanglo-amerikanischenNew Criticism, der die angelschsische Literaturwissenschaft von den spten 30er Jahrenbisindie50erJahrevollkommendominierte,unddesfranzsischen StrukturalismusindenMittelpunkt36.DerTextgaltalsautarkesGebilde, 32 Vgl. zur Kritik E. FREUND, The Return of the Reader (London; New York, 1987), 1-2. IneinerhnlichenArtundWeisewieABRAMSsiedeltW.K.WIMSATT,einerdereinflu-reichsten New Critics, das Gedicht zwischen Dichter und Publikum an, wobei alle Impulse vonderpoetischenTechnikdesGedichtesausgehen(TheVerbalIcon[Lexington,1954], XVII). 33Vgl.einenhnlichenKurzberblickinL.M.ROSENBLATT,TheReader,theText,the Poem (Carbondale, 1978), 2-5. 34 W.G. JEANROND, Theological Hermeneutics (London, 1991), 29-30: Even though the scholasticinterpretersrediscoveredthetextoftheScripturesandtriedtotakeitseriouslyin itself,theirnewinterestwaspredominantlytheologicalaswastheinterestoftheChurch Fathers before them The texts were increasingly reduced to providers of proofs for specula-tive theological thought ventures. In der hermeneutischen Reflexion mittelalterlicher Denker kam der Empfnger eines Werkes kaum in den Blickpunkt (vgl. BRINKMANN, Mittelalterliche Hermeneutik, 6). 35Vgl.P.LOMBARDI,DieintentioauctorisundeinStreitberdasBuchderPsalmen: EinigeThemenderAufklrungshermeneutikinFrankreichundItalien,UnzeitgemeHer-meneutik:Verstehen und Interpretationim Denken derAufklrung, hg. A.Bhler (Frankfurt a.M., 1994), 43-68. Diese grobe Gliederung soll nicht darber hinwegtuschen, da der Autor und seine Intention (im Sinne des griechischen skop) bereitsimMittelalterBercksichti-gung fanden (vgl. BRINKMANN, Mittelalterliche Hermeneutik, 158f), wenngleich nicht in dem Mae wie spter in der Aufklrung. Vgl. zum Problem des Autors den Exkurs o. S. 170ff. 36 Vgl. zum russischen Formalismus V. ERLICH, Russischer Formalismus (Frankfurt a.M., 1987); P. STEINER, Russian Formalism, CHLC 8 (1995), 11-29. Die wichtigsten Texte sind bequemzugnglichinJ.STRIEDTER(Hg.),RussischerFormalismus(UTB40;Mnchen, 41988). Vgl. zur Geschichte und Praxis des New Criticism K.M. NEWTON, Interpreting the Text (New York; London, 1990), 10-39 und zu den wichtigen literaturtheoretischen Stichwor-20Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese dessen Bedeutung weder von der Intention des Autors noch von den Konkre-tisationenseinerLeser/innennochvondensozialenGegebenheitenseiner Entstehung abhngig ist37. In der Praxis des close reading fhrte das beson-ders im New Criticism zu synchronen, an den geschichtlichen Zusammenhn-geneinesWerkesweniginteressiertenAuslegungen,anderenEndeimmer dieglcklicheAufhebungallerSpannungen,ParadoxaundAmbivalenzen stand38. Nachdem nacheinander das Thema, der Autor und das literarische Werk in den Mittelpunkt des hermeneutischen Interesses geraten waren, schien es un-ausweichlich, da schlielich auch die Rezeption Gegenstand wissenschaftli-cherForschungwerdensollte.SofhrtenganzunterschiedlicheForschungs-richtungen zu einem anwachsenden Interesse am lesenden Subjekt und seiner Beteiligung an der Sinnkonstitution: In der Psychologie beschftigtesich die Gestaltpsychologie der sog. Berliner Schule seit den 20er Jahren mit Wahr-nehmungsprozessenmittelsexperimentell-phnomenologischerVorgehens-weisen und gelangte u.a. zu dem Ergebnis, da Wahrnehmung ein Organisie-renundEinordnenineineinheitlichesGanzes(Gestalt)ist39.Grundlegend warenauchdiephilosophischenImpulse,dievonderPhnomenologieHusserlsausgingen,besondersinihrerAnwendungaufdasliterarische KunstwerkdurchdenpolnischenPhilosophenundHusserl-SchlerRoman INGARDEN(1893-1945)40.WichtigeBegriffegehenaufihnzurckwiez.B. Konkretisation,Rekonstruktion,UnbestimmtheitsstelleunddieRede vonderMehrschichtigkeitundpolyphonenHarmoniedesliterarischen Werkes, um so die Dialektik zwischen Unbestimmtheit und Sinndeterminiert-heitzumAusdruckzubringen41.EinwichtigerBeitragfrdietheoretische Grundlegung rezeptionsorientierter Fragestellungen im deutschsprachigen Be-reichstelltdiehermeneutischeTradition,insbesonderediemethoden-skeptischeHermeneutikvonHans-GeorgGADAMER(*1900)dar42.Seine

tenintentionalfallacyundaffectivefallacyT.EAGLETON,EinfhrungindieLiteratur-theorie (Sammlung Metzler 246; Stuttgart, 1992), 59-109. 37hnlicheGedankenausphilosophischerSichtbereitsbeiR.INGARDEN,Dasliterari-sche Kunstwerk (Tbingen, 41972), 6-17 (= 3-5). 38 An den westlichen, deutschsprachigen Hochschulenwurdenach 1945 unter demBeg-riffderWerkimmanenzeinehnlicheAuslegungspraxisbetrieben,dereneinflureichster Vertreter E. STAIGER (*1908) war (s.u. S. 52). 39 Vgl. E.-G. WEHNER,Berliner Schule, LPs 1 (21980), 253f; W.METZGER, Ganzheit Gestalt Struktur, ebda, 662-9; P.G. ZIMBARDO, Psychologie (Berlin, 41983), 319-22. 40 Vgl. Das literarische Kunstwerk. Zu INGARDEN vgl. R. WARNING, Rezeptionssthetik alsliteraturwissenschaftlichePragmatik,Rezeptionssthetik,hg.R.Warning(UTB303; Mnchen, 1975), 10-2. 41 Vgl. Das literarische Kunstwerk, 25-30.261-70.395-9. 42WahrheitundMethode.VereinzeltuertsichGADAMERhierauchzumVorgangdes Lesens:[A]lles verstehende Lesen scheint immer schoneine Art vonReproduktion und In-terpretation.Betonung, rhythmische Gliederung und dergl. gehren auch demstillsten Lesen Hinfhrung21 DarlegungenzudenBegriffenderWirkungsgeschichte,derApplikation undderHorizontverschmelzungwieseinPldoyerfreineWiederherstel-lung der Rhetorik sind grundlegend fr die philosophische Beschftigung mit derFragenachderWirkungliterarischeruerungen43.Innerhalbder SprachphilosophieundderLinguistikhabensichForschungsrichtungenwie diePragmatikoderdieSprechakttheorieimmerstrkerderdynamischen Wechselwirkung zwischen den linguistischen Zeichen und deren Realisierung durch einen Empfnger zugewandt44. DieLiteraturwissenschaft,inderenNaturesliegt,besondersempfnglich frImpulseausanderenDisziplinenzusein,bliebselbstverstndlichnicht unberhrtvondieserallgemeinenTrendwendeindenGeisteswissenschaf-ten45.Dennochgabesauchgenuininnerdisziplinre(wiebrigensauchuni-

an[D]ieLiteratur[hat]einebensoursprnglichesDaseininderLektre,wiedas Epos im Vortrag desRhapsoden oder dasBild im Anschauen seinesBetrachters Der Beg-riffderLiteraturistgarnichtohneBezugzudemAufnehmenden.(165f)InallemLesen geschieht eine Applikation, so da, wer einen Text liest, selber noch in dem vernommenen Sinndarinist.ErgehrtmitzudemText,denerversteht.Immerwirdessosein,dadie Sinnlinie,diesichihmbeimLeseneinesTexteszeigt,notwendigineineroffenenUnbe-stimmtheitabbricht.(345)LesendesVerstehenistnichteinWiederholenvonetwasVer-gangenem, sondern Teilhabe an einem gegenwrtigen Sinn. (396) Vgl. auch in Hermeneutik II, 17-21. 43E.IBSCH,HermeneutikundEmpirikimUniversittsbetrieb,Rezeptionsforschung zwischenHermeneutikundEmpirik,hg.E.Ibsch,D.H.Schram(AmsterdamerBeitrgezur neueren Germanistik 23; Amsterdam, 1987), 3: Von der Einfhlungshermeneutik eines Dil-theyan, ber die Aneignungshermeneutik, so wie Gadamersie reprsentiert, bis hinzur kri-tisch-pragmatischen Hermeneutik von Habermas ist die Rolle des lesenden bzw. forschenden Subjekts in seinem Eigenwert ja stetsGegenstand derReflexion gewesen und niemals prob-lemlosaufgegangeninderRolledesAutorsDieRezeptionssthetikJauscherPrgung stellt denn auch eine Entwicklung dar, die zumindest seit der Aneignungshermeneutik erwar-tet werden konnte. 44Vgl.B.SCHLIEBEN-LANGE,LinguistischePragmatik(UB198;Stuttgart,1975);M. BRAUNROTH, u.a. Anstze und Aufgaben der linguistischen Pragmatik (Frankfurt a.M., 1975); Th. LEWANDOWSKI, Linguistisches Wrterbuch (UTB 201/300; Heidelberg, 31979; 31980), II, 587-9;III,902-8.DiePionierwerkederSprechakttheoriesindJ.L.AUSTIN,ZurTheorieder Sprechakte(HowtodothingswithWords)(Stuttgart, 21979);J.R.SEARLE,Sprechakte (Frankfurt a.M., 1971). Zur exegetischen Anwendbarkeit vgl.H.C. WHITE(Ed.), Speech Act Theory and Biblical Criticism (Semeia 41; Atlanta, 1988); J.E. BOTHA, Jesus and the Samari-tan Woman: A Speech Act Reading of John 4:1-42 (NT.S 65; Leiden, 1991) und D. NEUFELD, Reconceiving Texts as Speech Acts: An Analysis of I John (BibInt.S 7; Leiden, 1994). 45AufdieVerbindungzurGestaltpsychologiehabenhingewiesen:EAGLETON,Einfh-rung, 48;M. DAVIES, Reader-ResponseCriticism,A Dictionary of Biblical Interpretation, ed.R.J.Coggins,J.L.Houlden(London,1990),579.BeiISERistdieBezugnahmeauf INGARDENebensooffensichtlichwiebeiJAUSSdieaufGADAMER.Esistdaherdurchaus sachgerecht, wenn EAGLETON(Literaturtheorie, 19-58) oder R.C. HOLUB, P.J. RABINOWITZ, Reader-Oriented Theories of Interpretation, CHLC 8 (1995), 253-403 die Rezeptionstheorie imZusammenhangmitPhnomenologieundHermeneutikbesprechen.WasdieSemiotik betrifft,sohabensichausgewieseneSemiotikerwieECOoderBARTHESausdrcklichdem Leser zugewandt. J.CULLERsieht den Grund dafr darin, da bei demVersuch, die fr die Produktion von Sinn zustndigen Strukturen und Codes zu beschreiben, die Aufmerksam-22Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese versittspolitische) Grnde fr diesen Paradigmenwechsel46: Die romantische Auslegungspraxis des ausgehenden 19. Jh.s hatte die alte Disziplin der Rheto-rikdurchdieneueWissenschaftdersthetikersetzt47undorientiertesich grundstzlichanderPersnlichkeitdesVerfassers48.DieseGewichtunglt sichimbrigensehrgutanderApotheosedesGeniebegriffsimdeutschen Idealismusablesen49.Wiebereitserwhnt,wurdezwarderAutorimNew CriticismausdemliteraturwissenschaftlichenDiskursverbannt,dieser ThronsturzkamaberkeineswegsdemLeserzugute.DerBegriffdervoll-kommenen Autonomie verlagerte sich vielmehr vom Knstler auf das Kunst-werk50. Mit dem Stichwort der affective fallacy wurde der Leser fr lngere Zeit erfolgreich daran gehindert, in den Vordergrund zu treten51. In einem viel zitierten Satz bestimmen W.K. WIMSATTundM. BEARDSLEY diesogenannte affective fallacy als a confusion between the poem and its results (what it

keit auf den Lesevorgang und dessen Mglichkeitsbedingungen gelenkt wird (Dekonstrukti-on [Rowohlt Enzyklopdie 474; Reinbek bei Hamburg, 1988], 34). 46 Vgl. die rckblickenden berlegungenzweier an diesem Paradigmenwechsel beteilig-ter Forscher: JAUSS, sthetische Erfahrung, 19-22; ISER, Akt des Lesens, I-IV. Zu den univer-sittspolitischenBedingungeninderdamaligenBundesrepublikvgl.W.ISER, LiteraturwissenschaftinKonstanz,GebremsteReform(FSGerhardHess),hg.H.R.Jau, H. Nesselhauf (Konstanz, 1977), 181-200. 47 Vgl. M.V. WEELE, Reader-Response Theories, Contemporary Literary Theory, ed. C. Walhout, L. Ryken (Grand Rapids, 1991), 129f. 48StellvertretendfrdieRomantikseiSCHLEIERMACHERgenannt,demesinderAusle-gungdarumgeht,damansichaufderobjektivenundsubjektivenSeitedemUrheber gleichstellt (Hermeneutik und Kritik, 94; vgl. zum Problem dieser Gleichstellung GADAMER, Wahrheit und Methode, 195f). Die von ihm stark betonte psychologische Dimension der Aus-legung verfhrt auf zweifache Weise: Das eine ist, den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verstehen, das andere, die einzelnen Teile desselben aus dem Leben des Autors zu begrei-fen. Jenes ist das, woraus sich alles entwickelt, dieses ist das in einem Werke am meisten Zu-fllige.BeidesaberistausderpersnlichenEigentmlichkeitdesVerfasserszuverstehen. (185) 49Vgl.dieknappeDarstellungbeiGADAMER,WahrheitundMethode,48-66(1.Aufl.: 39-56) und J. RITTER, Genie, HWP 3 (1974), 279-309. Eine erschpfende historische Dar-stellung bietet J. SCHMIDT, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945 (2 Bde; Darmstadt, 1985). Vgl. besonders das erste Kapi-tel Geschichtliche und begriffliche Voraussetzungen im berblick (1-60). 50 ROSENBLATT,Reader, Text, Poem, 3. K.R.MANDELKOW, Probleme der Wirkungsge-schichte,[1970]SozialgeschichteundWirkungssthetik,hg.P.U.Hohendahl(Frankfurt a.M.,1974),83-85hatdaraufhingewiesen,daindersthetischenTheorievonFriedrich SchlegelbiszumNewCriticismderBegriffdesautonomenKunstwerksdieFragenach seiner mglichen Wirkung und sozialen Funktion unmglich machte. 51W.K.WIMSATT,M.BEARDSLEY,TheAffectiveFallacy,inWimsatt,TheVerbalI-con,20-39.281f.Sowohlautor-alsauchleserorientierteKritikerhabensichnachhaltigmit diesem Aufsatz auseinandersetzen mssen, wie z.B. E.D. HIRSCH, Jr. Validity in Interpretati-on (New Haven; London, 1967), 11-14; ISER, Akt des Lesens, 48-50; S. FISH, Is There A Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities (Cambridge, Mass.; London, 1980), 42-52. Hinfhrung23 isandwhatitdoes)(21).Dasharmonistische,aufvollkommeneKohrenz hinangelegteProjektdesNewCriticismerwiessichjedochalsunzurei-chendfrdenUmgangmitdenuerstkomplexenliterarischenWerkender Moderne(bes.JamesJoyce).VieledieserWerkelassenofteinekonsistente Ich-Figur, eine lineare Handlung und berhaupt jedwede Kohrenz vermissen. IndieserNotsituationkommtderLeserunweigerlichinsSpiel.Besonders in der franzsischen Tradition zeigte sich bald, da die Analyse schwieriger WerkederModerneohneBezugnahmeaufdenLeserunddenLesevorgang nichtauskommt52.MitanderenWorten:DortwodasliterarischeWerkauf eine lineare Handlung und einen Helden verzichtet, wird das lesende Subjekt selbstzumaktivenHeldenderGeschichte.NebendenobengenanntenEnt-wicklungen in den anderen Geisteswissenschaften wurde somit das Aufkom-menrezeptionskritischerFragestellungenganzentschiedendurchdieBe-schftigung mit Werken der literarischen Avantgarde begnstigt53. 1.3 Grundanliegen der Rezeptionskritik54 Der Paradigmenwechsel zum Leser hin kndigt sich ab dem Anfang der 60er JahreinBezeichnungenwiereader-responsecriticism,subjectivecriti-cism,transactivecriticism,affectivestylistics,Rezeptionssthetiko-derWirksthetikan.AndersalsimFalledesNewCriticismlassensich rezeptionsorientierteTheoriemodellenichtuntereinereinheitlichenthemati-schen Gestalt subsumieren, was nicht zuletzt auch an den ganz unterschiedli-chen Entwicklungslinien liegt55. Es ist daher kaum mglich, von einer homo-genentheoretischenKonzeptionauszugehen56.MitentsprechenderVorsicht 52CULLER,Dekonstruktion,41.JAUSS,sthetischeErfahrung,119:DieseEntwicklung dermodernenKnsteistdurchdietraditionelleDarstellungssthetiknichtmehrangemessen zu begreifen. Ihr Verstndnis erfordert die Entwicklung einer Rezeptionssthetik. 53Dasheitallerdingsnicht,daLesermodellenuranhandvonTextenvonJoyceoder Beckettentwickeltwordenwren.AutorenwieJohnBunyan(1628-1688)oderJohnMilton (1608-1674)standenvonAnfanganebensoimBlickfelddesInteresses(vgl.W.ISER,Der implizite Leser [UTB 163; Mnchen, 21979], 13-56 oder S. FISH, Surprised by Sin: The Rea-der in Paradise Lost [New York, 1967]). 54DadieLiteraturwissenschaftderzeitberkeineverbindliche,allgemeingltigeNo-menklatur verfgt, nehme ich mir die Freiheit, in Anlehnung an in der Exegese gelufige Be-zeichnungen wie Form- oder Literarkritik in diesem Falle von Rezeptionskritik zu reden. 55 Stark vereinfachend knnte man sagen, da in Frankreich der Umgang mit der literari-schenAvantgardeunddiestarkestrukturalistischeTradition,imdeutschsprachigenRaum mehrdiephilosophisch-hermeneutischenFragenundimangelschsischenRaumschlielich die Impulse aus der Linguistik und der Sprachphilosophie strker tonangebend waren. 56Vgl.S.R.SULEIMAN,VarietiesofAudience-OrientedCriticism,TheReaderinthe Text, ed. S.R. Suleiman, L. Crosman (Princeton, 1980), 3-45. 24Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese lassen sich die Grundprmissen in etwa auf den folgenden kleinsten gemein-samen Nenner bringen: 1. Positiv: a) Texte sind als polyvalente Gebilde grundstzlich auf die Lek-tre ausgerichtet. Sie sind daher keine autonomen Gegenstnde, die unabhn-gigvomAktdesLesensmitSinnbehaftetsind.b) DerSinneinesTexteskonstituiert sich erst durch die aktive Teilnahme des Rezipienten am Lesepro-ze.DieInterpretationhatsichdahervornehmlichmitderInteraktionzwischenTextundLeserzubeschftigen.c) DaLesen,phnomenologisch betrachtet,einzeitlichesEreignisist,habenAusleger/innendiezeitlichse-quentielle Anordnung des Textes zu beachten, ohne den Text mittels Konkor-danzen,Tabellen,Gliederungenusw.inrumlicheKategorienaufzulsen57. d) SinnvollesLesensetztdiekonventionelleBeherrschungbestimmter Kompetenzen voraus. Dabei ist vor allem an sprachliche, aber auch an soziale und intertextuelle Kenntnisse zu denken. e) Sinnkonstitution zielt auf irgend-eine Art der Kohrenzbildung58. 2. Negativ:a) DieprivilegiertePositionderAutorswirdentwedereinge-schrnkt oder gnzlich unterdrckt, aber in jedem Fall gilt die autoriale Inten-tion nicht mehr als Gltigkeitskriterium fr die richtige Auslegung59. b) Auch die oft damit einhergehende Vorstellung von der absoluten Sinndeterminiert-heit literarischer Werke wird aufgegeben. Zwar knnen einzelne Auslegungen frwahrscheinlichergehaltenwerden,aberdieKriterienfrdieGrenzen derInterpretation(ECO)mssenmitvielBedachtformuliertwerden.Inder Praxis ist man daher recht vorsichtig, wenn es darum geht, eine andere Inter-pretation mit einem Anathema zu versehen. Auf der Grundlage dieser gemeinsamen berzeugungen werden eine Reihe unterschiedlicher Fragen diskutiert: 1. Wie sehr sind Leser/innen an der Sinn-konstitutionbeteiligt?WiesehrsindsiedurchdieIntentiondeshistorischen AutorsoderdurchdenTextselbsteingeschrnkt?Gibteseinengoldenen MittelwegzwischenSinndeterminiertheitundradikalemPluralismus? 2. WelchenEinfluhabensozio-politischeodergeschlechtlicheFaktorenauf 57 Damit richtet man sich gegen dieallgemeine Verrumlichung der Textinterpretation in der formalistischenTradition, die Verstehen sehr stark von aufwendigen Worthufigkeits-tabellen,Gliederungen,StrukturdiskussionenundDiskursanalysenabhngigmachen.M.E. dokumentiertdieseinderntl.ExegeseauchnichtunblichePraxiseinegewisseVerlegen-heit:FrdenwissenschaftlichenVerzehrvonTextenscheinthnlicheszugeltenwiefr den Verzehr von Speisen: Was man strukturieren, teilen und in Stcke zergliedern kann, lt sich besser bewltigen. Die Verrumlichung des Textes in der Exegese ist wahrscheinlich ein notwendigerSchritt,umdieTextezuzhmenundingeordneteBahnenzubringen,aberes handelt sich dabei primr um Hilfskonstruktionen fr den oder die Ausleger/in, und nicht um ontologische Eigenschaften des Textes. 58 Der Begriff der Kohrenzist natrlich umstritten. Vor allem ist zu fragen, ob Koh-renz eine Eigenschaft des Textes (wie im New Criticism) oder eine Wahrnehmungsaktivitt der Leser/innen ist. 59 Zur Intention des Autors vgl. u. S. 170ff. Hinfhrung25 denLesevorgang?3. WelchenAnspruchaufAutorittoderwelchenherme-neutischenVorsprunghatder/dieprofessionelleAusleger/ingegenbereiner naivenLeserschaft?604. InwelchemVerhltnisstehtdieErstlektrezuje-derweiterenLektre?5. VonwelchemLesermodellistauszugehen?Voneinemempirischen,einemhistorisch-zeitgenssischenodereinemtextimma-nenten?6. WieverhaltensichverschiedeneLeserkonstruktezueinander,be-sondershermeneutischeundempirisch-psychologischeModelle?7. Wielt sichdieGrenzevoneinerakzeptablenodermglichenzueinerunak-zeptablen oder unmglichen Lektre beschreiben? 8. Welche Rolle spielen psychologische, sozialgeschichtliche und rhetorische Faktoren in der Interak-tion Text-Leser? Bevor von dieser eher grobmaschigen Orientierung zur genaueren Diskus-sioneinzelnerModellebergegangenwerdenkann,mchteichimText-Leser-KontinuumgrundstzlichzweiSchwerpunkteunterscheiden:Aufder einenSeitedesKontinuumsstehenjeneTheoriekonzepte,diestrkervom Text ausgehen61, am anderen Ende die, die aus ganz verschiedenen Interessen heraus derart die Lektre in den Mittelpunkt stellen, da der Beitrag des Tex-tesbeiderSinnkonstitutiongegenNullzustrebendroht62.Damitistauchin etwadieWasserscheidezwischenStrukturalismusundPoststrukturalismus bestimmt: Whrend die einen den Leser von hierarchischen und relativ genau vorhersehbarenTextstrategiengelenktsehenwollen,unterliegtfrdieande-renderLeserkeinemZwangmehrundkannsichinnerhalbdesTextesnach Beliebenalshomosignificansbettigen.HieristdannderAutonomiebegriff im Sinne eines Befreiungsideals gnzlich auf das lesende Subjekt bergegan-gen. 1.4 Zur vorliegenden Arbeit DievorliegendeArbeitverfolgtzweiInteressen:1. SiemchteimRahmen einer methodenpluralistischen Perspektive der theoretischen Frage nach einer rezeptionskritischenAuslegungderEvangeliennachgehen.Einigeliteratur-wissenschaftlicheModellesollendaherdargestelltundkritischgewrdigt 60Wennmanbedenkt,dakeinTextjeverfatworden[ist],umphilologischvon PhilologenoderhistorischvonHistorikerngelesenundinterpretiertzuwerden(JAUSS, sthetische Erfahrung, 688), drngt sich diese Frage ganz von selbst auf. 61Hierwrenz.B.derSemiotikerECO,derPhnomenologeISERundderNarratologe PRINCE zu nennen. 62 An erster Stelle sind hier natrlich die radikalen dekonstruktionistischen Lektren zu nennen,aberauchpsychologischeInterpretationenoderauchempirischeUntersuchungen zumkonkretenLeseverhaltenverschiedenerGruppen.AuchvielefrommeBibellektren sind so stark von der eigenen religisen Erfahrung gesteuert, da der Text nicht mehr in sei-ner Fremdheit wahrgenommen werden kann. 26Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese werden63,umschlielichzueinereigenenmethodischreflektiertenVorge-hensweise zu gelangen, die sich auf die Auslegung der Evangelien bertragen lt64. Da die spezifische Eigenart dieser Texte Fragen aufwirft, die in der s-kularenLiteraturwissenschaftnichtoderkaumbehandeltwerden,sinddann auchFragekomplexezubehandeln,dieforschungsgeschichtlichnichtvorbe-reitet worden sind. 2. Die Anwendung eines rezeptionskritischen Modells auf die Texteinheit Mt 1-265 hat nicht nur werbenden Vorfhrcharakter, sondern verstehtsichzugleichauchalsexegetischerBeitragzurwissenschaftlichen DiskussionumeinVerstndnisdiesesTextes.Forschungsprobleme,diesich aus der historisch-kritischen Lektre des Textes ergeben, sollen daher aus ei-ner rezeptionskritischen Perspektive neu durchdacht werden. Die Begrenzung aufMt1-2hatreinarbeitskonomischeGrnde.ImIdealfallwrezwardas Evangelium als Ganzes auszulegen, aber da eine rezeptionskritische Betrach-tung nirgendwo anders als am Anfang eines Textes einsetzen kann, ergab sich mit 2,23 ein gnstiger Punkt, um die Lektre anzuhalten66. In einer kritischen RckschausollenzumAbschlueinigehermeneutischeProbleme,diesich aus der Arbeit ergeben, bedacht werden67. 63 Siehe unten S. 27ff (Abschnitt I.2). 64 Siehe unten S. 132ff (Abschnitt I.3). 65 Siehe unten S. 196ff (Abschnitt II). 66 Um grere Textblcke aus der Sicht der Rezeption bearbeiten zu knnen, ist zuknftig sicherlichnochbereineVereinfachungderVorgehensweisenachzudenken.Aberderzeit mssendieMglichkeitenundProblemeanhandeinermglichstausfhrlichenBeschfti-gung mit dem Text erst eruiert werden. 67 Siehe unten S. 366ff (Abschnitt III). 2. Forschungsgeschichtliche Stationen ZuweilenistderlngereWegderschnellere,nichtalleinweilerdas ZielmitgrererSicherheiterreichenlt,sondernauchweilerdie Mglichkeiterffnet,miteinemreicherenErfahrungsschatzdortanzu-kommen[.] Umberto Eco, Lector in fabula. Mnchen, 1987, 31 Man mu nicht durch jede Pftze waten, um zu wissen, da es geregnet hat.J.Schmidt,DieGeschichtedesGenie-Gedankens.Darmstadt, 1985, XIII Diese beiden Zitate geben die Pole an, zwischen denen sich der folgende the-oretischeberblickbewegensoll:Ausfhrlichkeit,ohnedenAnspruchauf Vollstndigkeit.UnsereForschungsreisekannnichtanjedemDorfStation machen,sondernmchteineinzelnenkritischen Momentaufnahmendiverser Theoriemodelleimmeta-sprachlichenDschungelorientieren,Strkenund SchwchenimVergleicherkennbarmachenundschlielicheinigeMglich-keiten fr die Exegese erffnen1. Obwohl besonders im anglo-amerikanischen Raum Lesetheorien unter der Bezeichnung reader-response criticism auf die AuslegungderEvangelienzurAnwendungkommen,wollteichbewutbei denTheoriekonzeptenderskularenLiteraturwissenschaftansetzen,umun-abhngig von der teilweise sehr eingeschrnkten bibelexegetischen Rezeption eigeneWegegehenzuknnen.Dadurchergibtsichnatrlicheingewisser berschuanTheorie:AllesaufdieAuslegungderEvangelienoderbeson-dersdannaufdasVerstndnisvonMt1-2zubertragen,wasinderAusei-nandersetzungmitdensehrkomplexenWerkenderliterarischenModerne undPostmodernezurSprachekommt,kmeeinemtheoretischenOverkill gleich.IchwollteaberbewutdiesestheoretischeMehrbeibehalten,weil eineumfassendeOrientierungnichtnurdieMglichkeiten,sondernauchdie Grenzen der bertragbarkeit erkennen lassen kann. Da manche forschungs-geschichtlichbedeutsameHaltestellendennochausgelassenodernurkurz besichtigtwerdenknnen,hngtteilsmitdenallzugroenSchwierigkeiten ihrerexegetischenAnwendbarkeitundteilsauchmitmeinerbegrenzten Kompetenz zusammen. So bersteigt z.B. eine fundierteAuseinandersetzungmit den verschiedenenModel-leneinerpsychologischorientiertenLeserforschung,insbesondereabermitden 1 Zwei wichtige Sammelbnde mit klassischen Beitrgen sind: J.P. TOMPKINS (Ed.), Rea-der-ResponseCriticism(Baltimore;London,1980)undWARNING(Hg.),Rezeptionssthetik. Beide sind fr eine Orientierung zu diesem Forschungsgegenstand unerllich. Sehr zu emp-fehlenistauchderSammelbandvonSULEIMAN/CROSMAN,TheReaderintheText,dervor allem Originalbeitrge wichtiger Theoretiker/innen abdruckt. 28Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese wichtigenImpulsenvonDavidBLEICH2undNormanN.HOLLAND3,beiweitem meinefachlicheKompetenz4.DergesamteBereichderempirischenRezeptionsfor-schung5kannnichtsystematischgewrdigtundausgewertetwerden,weildasher-meneutische und das empirische Paradigma derzeit noch so stark auseinanderlaufen, da eine sinnvolle Verbindung sicherlich nicht im Rahmen einer neutestamentlichen Arbeit gewagt werden kann6. Anders steht es mit dem Werk des franzsischen Semi-otikers Roland BARTHES (1915-1980): Als eine fhrende Gestalt der modernen Lite-raturwissenschaft hat er sich an verschiedenen Stellen zum Thema Lesen geuert. SeinwichtigsterBeitragjedochistangesichtsderKonsequenz,mitderersicheiner wissenschaftlichenFachspracheverweigert,frdiehermeneutisch-methodischeRe-flexion,dieindieserArbeitangestrebtwird,vongeringemWert7.Inscheinbarzu-sammenhangslosenFragmenten,ExkursenundAphorismenzuLektre,Lustund TextentwirftersoetwaswieeineErotikdesLesensfrdenspeziellenUmgang mitdenWerkenderliterarischenAvantgarde.DastreibendePrinzipdieserLektre ist der Wille zurWollust eines ganz und gar hedonistischen Lesers, den BARTHES selbst pervers nennt, weil es fr ihn zur Maximierung seines Lustgewinns keinerlei Grenzengibt8.EinsolcherpostmodernerLeseristmethodischnichtfabar,seine VerbindungzumTextunvorhersehbarundseineAktivittennichtinFachsprache, sondern hchstens in literarischer Prosa beschreibbar. 2 Vgl. Readings andFeelings (Baltimore, 1978); SubjectiveCriticism (Baltimore, 1978); Intersubjective reading, NLH 17 (1986), 401-21; The Double Perspective (Oxford, 1988). 3Vgl.TheDynamicsofLiteraryResponse(NewYork,1968);PoemsinPersons(New York, 1973); Unity, Identity, Text, Self, in Tompkins, Reader-Response, 118-33; Five Rea-dersReading (NewHaven, 1975);The New Paradigm: Subjective orTransactive?NLH 7 (1975/76), 335-46; Recovering The Purloined Letter:Reading as a Personal Transaction, inSuleiman/Crosman,ReaderintheText,350-70;TheI(NewHaven,1985);TheMillers WifeandtheProfessors:QuestionsabouttheTransactiveTheoryofReading,NLH17 (1985/86), 423-47. 4 Vgl. aber H. RAGUSE, Psychoanalyse und biblische Interpretation (Stuttgart, 1993), bes. 210-20. 5Vgl.frdendeutschsprachigenRaumA.BARSCHu.a.Seminar:EmpirischeLiteratur-wissenschaft (Frankfurt a.M., 1993); N. GROEBEN, Rezeptionsforschung alsempirische Lite-raturwissenschaft(Tbingen,1980);N.GROEBEN,P.VORDERER,Leserpsychologie(Mns-ter,1988);S.J.SCHMIDT,GrundriderempirischenLiteraturwissenschaft(stw915;Frank-furt a.M., 1991). Die Fachzeitschriften Poetics und SPIEL: Siegener Periodicum zur Interna-tionalenEmpirischenLiteraturwissenschaftunddieReiheKonzeptionEmpirischeLitera-turwissenschaft (Opladen: Westdeutscher Verlag) sind dieser Forschungsrichtung gewidmet. 6 Vgl. die Integrationsversuche in IBSCH, Hermeneutik und Empirik, 1-21; Reception Aesthetics versus EmpiricalResearch of ReadersResponse, Etudes deRception; Recepti-onStudies,ed.R.T.Segers(ActesduXIeCongrsdelAssociationIntern.deLittrature Compare; Bern usw., 1993), 41-52. 7 Die Lust am Text (bs 378; Frankfurt a.M., 71992; franz. Original: 1973). 8 BARTHES, Lust, 21f. EAGLETON, Literaturtheorie, 50 kritisiert zu Recht den hermetisch-elitrenCharakterdiesesAnsatzes:DieserselbstgenieerischeavantgardischeHedonismus hat ineiner Welt, in derandere nicht nur anBchern,sondern auch an NahrungMangel lei-den, etwas Beunruhigendes an sich. Vgl. ebd., 127-9 zum sozio-politischen Hintergrund der poststrukturalistischenWendeunterfranzsischenIntellektuellennachderZerschlagungder Studentenrevolten Ende der 60er Jahre. Forschungsgeschichtliche Stationen29 Ein kurzer Hinweis auf das Werk von Jacques DERRIDA (*1930) und der mit sei-nemNamenverbundenendekonstruktionistischenLektremuimRahmendieser Arbeitgengen,dennderfranzsischePhilosophiehistorikerhatankeinermirbe-kannten Stelle explizit eine Lektrestrategiemethodisch entfaltet9.DaDERRIDA sei-ne philosophischen Anschauungen beinahe ausschlielich anhand der kritischen Lek-treandererTexteentwickelt10,ltsichDekonstruktionprinzipiellnurmimetisch auf literarische Werke bertragen. DERRIDAS Projekt ist allerdings viel umfassender: ErversuchtineinersprachlichnichtleichtzugnglichenWeise,diehierarchischen StrukturendesabendlndischenDenkenszusubvertieren,indemdielogischenGe-genstze, auf denen ein solches System basiert,mittels rhetorischerAnalysen umge-kehrtundgeltendeHierarchiendeplaziertwerden.AllesDenkenerweistsichsoals hoffnungslosverwobenineinemLabyrinthunendlicherWidersprche11.Deroder die dekonstruktionistische Leser/in steht vor einer endlosen Schleife von Kombinati-onsmglichkeiten, hat ein ausgeprgtes Interesse fr das Marginale und versucht mit ikonoklastischerBesessenheitgngigeInterpretationenadabsurdumzufhren.Die praktischenKonsequenzenfrdieLiteraturwissenschaftsindsehrweitreichend12, aberfrdiemethodischreflektierteFragenachderMglichkeiteinerleserorientier-tenAnnherungandieEvangelienerbringtDERRIDAdeshalbnichts,weilDe-konstruktionkeinenBeitragzurmethodischenReflexionleisten,sonderndieseviel-mehr berwinden will13. 2.1 Erste Stimmen AusderRckschaulassensichfrjedeForschungsrichtungbahnbrechende Gestalten erkennen. Fr die moderne Rezeptionsforschung knnten sicherlich viele Namen genannt werden, doch mchte ich hier nur drei herausgreifen14: 9DaDERRIDAzumBegrndereinerneuenliteraturwissenschaftlichenSchulewerden konnte, ist das eher zufllige Produkt der nordamerikanischen Derrida-Rezeption im Rahmen desliterarycriticism(vgl.P.ENGELMANN,PostmoderneundDekonstruktion:Zwei Stichwrter zurzeitgenssischen Philosophie, Postmoderne und Dekonstruktion, hg. P. En-gelmann [Stuttgart, 1990], 18). 10 Grundlegend sind seine Werke Grammatologie (Frankfurta.M., 1974) und Die Schrift und die Differenz (Frankfurt a.M., 1977). 11Vgl.J.DERRIDA,Positionen(Wien/Kln,1985),38.88.126;WieMeeresrauschenauf demGrundeinerMuschelPauldeMansKrieg(EditionPassagen20;Wien,1988),108; Randgnge der Philosophie, hg. P. Engelmann (Wien, 1988), 154. 12Vgl.CULLER,Dekonstruktion,200-56.KritischP.V.ZIMA,DieDekonstruktion(UTB 1805; Tbingen, 1994). 13Vgl.aberR.DETWEILER(Ed.),DerridaandBiblicalStudies(Semeia23;Missoula, 1982);S.D.MOORE,MarkandLukeinPoststructuralistPerspectives(NewHaven,1992); PoststructuralismandtheNewTestament(Minneapolis,1994);D.SEELEY,Deconstructing theNewTestament(BibInt.S5;Leiden,1994);G.WARD,WhyisDerridaimportantfor Theology? Theology 95 (1992), 263-70. 14Hervorzuhebenwrenauch:ABRAMS,Mirror,14-21(PragmaticTheories);P.J. ALPERS,ThePoetryofTheFaerieQueene(Princeton,1967);S.BOOTH,AnEssayon Shakespeares Sonnets (New Haven, 1969); W.C.BOOTH, The Rhetoric of Fiction (Chicago, 21983),119-48(Emotions,Beliefs,andtheReadersObjectivity);D.W.HARDING,Psy-30Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese 1. DieangelschsischeLiteraturwissenschaftverdanktihreAnerkennung als akademische Wissenschaft dem grundlegenden Werk von Ivor Armstrong RICHARDS,PrinciplesofLiteraryCriticism15.Eshandeltsichhierbeiumei-nen ganz im Zeichen der Sptromantik stehenden Versuch, die Literaturkritik mit Hilfe psychologischerModellezu einemwissenschaftlichen System aus-zubauen.RICHARDSnimmtgelufigeBegriffederKunststhetikwieFh-len,Denken,Verstehen,Vergngenusw.aufunddeutetsiemittels behavioristischerTheorienalsFunktionendesZentralnervensystems16.Zwei AspekteseinerPrinzipienerscheinenbesondersbedeutungsvollimHinblick auf das sptere Interesse am Akt des Lesens: a) Das literarische Werk steht in einemKommunikationskontextzwischenAutor/inundLeser/in,selbstwenn einesolcheKommunikationvomVerfasseroder derVerfasserinnichtinten-diert ist (64-73). Die Kommunikation ist im wesentlichen gelungen, wenn der KritikerinderLageist,ohneberspanntheitdenjenigenGeisteszustandzu erleben,derfrdasvonihmzubeurteilendeKunstwerkrelevantist(156). Dabei ist sich RICHARDSals Empiriker darber bewut, da Leseerfahrungen nurselteneinandergleichen.VerhngnisvollsindnurjeneMeinungs-verschiedenheiten, die die fundamentalen Merkmale der Erfahrungen berh-ren,jeneMerkmale,vondenenihrWertabhngt(157;Hervorhebungvon Richards).b) DiesthetischeErfahrungvonKommunikationbestehtinder bermittlung von moralischen Werten. Der Wert einer Erfahrung liegt in der OrganisationihrerImpulsezurFreiheitundzurFlledesLebens(174f). DabeisindjeneImpulseamwichtigsten,dieentgegengesetzterNatursind, denn diese aktivieren einen greren Teil unserer Persnlichkeit, als dies bei Erfahrungen definierterer Gefh-lemglichist.Wirhrenauf,einseitigausgerichtetzusein;mehrFacettendesGeistes werdenoffengelegtDaeingrererTeilunsererPersnlichkeitdabeiengagiertist, wchstzurgleichenZeitunsereUnabhngigkeitvonundIndividualittgegenberande-ren Dingen. Wir scheinen sie von allen Seiten zu sehen, sie so zu sehen, wie sie wirklich sind (297). Hier wird das positivistische Erbe des ausgehenden viktorianischen Zeitalters deutlich: Kunst soll dazu dienen, ein von Interessen unabhngiges Menschen-geschlechtheranzubilden.DennochbliebRICHARDSnichteinfachaufder

chological Processes in the Reading of Fiction, BJA 2 (1962), 133-47; A. NISIN, La littratu-re et le lecteur (Paris, 1959; vgl. dazu die Rezension von JAUSS in ASNS 197 [1960], 223ff). 15 I.A. RICHARDS, Principles of Literary Criticism (London, 21926) = Prinzipien der Lite-raturkritik(stw484;Frankfurta.M.,1985).Ichzitiereausderdt.Ausgabe.Vgl.dazu FREUND, Return of the Reader, 23-39 und J. SCHLAEGER, Einleitung, zur dt. Ausgabe von Prinzipien, 7-36. 16 Typisch behavioristisch ist z. B. das Modell von stimulus (Reiz) und response (Reakti-on). Forschungsgeschichtliche Stationen31 Beschreibungsebene eines idealistischen Programms, sondern hat in einem fr seine Zeit ungewhnlichen Experiment die Reaktionen von dreizehn Studen-ten auf die Lektre eines Gedichtes analysiert, um Vorurteile und Vorausset-zungen literarischer Wertung mglichst przise beschreiben zu knnen17. Ins-gesamt hat RICHARDS mehr durch die Fragen gewirkt, die er aufgeworfen hat, als durch seine eigenen Lsungsanstze18. 2. InhnlichenBahnenbewegtsichdiefrheArbeitvonLouiseM. ROSENBLATTLiteratureasExploration19.Sieversuchtdarinbesondersim Hinblickaufden SchulunterrichtModellezuentwerfen,damitSchler/innen individuelleAussagenberihreLektreerfahrungprziserformulierenkn-nen.DaLiteraturhierweiterhinimDiensthumanistischerErziehungsideale steht,gehtesletztendlichdarum,dieSchler/innenzueinerEinstellungzu fhren, in der sich diese Ideale erfllen knnen. In ihren weiteren Publikatio-nenhatsiedenBegriffderLiteraturalsEreignisunterderBezeichnung TransactionalTheoryausgebaut20.LeserundTextsinddabeidynamische PoleeinerTransaktion,dieankeiner Stellegenaufestzumachenist.IhrMo-dell hat fast ausschlielich in jenen Kreisen gewirkt, die sich bewut mit der Frage des Sprach- und Literaturunterrichts beschftigen. 3. Mit dem kleinen Artikel von Walker GIBSON21 bleiben wir weiterhin im BereichderLiteraturdidaktik,jedochhabenwireshiermiteinemAutorzu tun,derganzdeutlichimNewCriticismverwurzeltist.ObwohlseineAr-gumentation uerst knapp und (aus heutiger Sicht) undifferenziert erscheinen mag, ist sie insofern grundlegend fr die weitere Diskussion, als hier die theo-retischeUnterscheidungzwischendemhistorischenAutoreinesWerkes (author)unddemfiktivenSprecherinnerhalbdesliterarischenWerkes (speaker)ihreWiderspiegelungfindetinderUnterscheidungzwischenei-nem empirischen Leser (reader) und einer durch den Text angebotenen Le-serrolle, die GIBSON mit dem Begriff mock reader (etwa Scheinleser) be-zeichnet22. Im Unterschied zu RICHARDS und ROSENBLATT gilt sein Interesse zunchstnichtdemempirischenLeser23,sondernjenemLeserkonstrukt,das durchdasWerkangebotenwirdundindessenRolleempirischeLeser/innen 17 I.A. RICHARDS, Practical Criticism: A Study of Literary Judgement (1929; reprint: New York, 1935). 18 Vgl. die Kritik in FISH, Is There a Text? 52-6 und die insgesamt positivere Wrdigung von J.P. RUSSO, I.A. Richards in Retrospect, CritInq 8 (1982), 743-60. 19 L.M. ROSENBLATT Literature as Exploration (New York, 1937; 41983). 20ThePoemasEvent,ColEng26(1964),123-8;TheReader,theText,thePoem (1978); The Transactional Theory: Against Dualisms, ColEng 55 (1993), 377-86. 21Authors,speakers,readers,andmockreaders,ColEng11(1950),265-9.Ichzitiere nach dem Wiederabdruck in Tompkins, Reader-Response, 1-6. 22 Diese Argumentationslinie findet sich spter in aller Ausfhrlichkeit in einem Klassiker der modernen Erzhlforschung: BOOTH, Rhetoric of Fiction. 23 Dieser ist wie der historische Autor ganz im Sinne des New Criticism lost in to-days history und daher fr die Auslegung mysterious and sometimes irrelevant (1). 32Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese zu schlpfen haben, wenn sie das Werk verstehen wollen. Daher ist die litera-rischeErfahrungkeinGeschehen,dassichzwischenwirklichenLeser/innen und einem historischen Autor abspielt, oder zwischen ihnen undeinem fikti-venSprecher,sondernbetweensuchaspeakerandaprojection,afictious modificationofthemselves(5)24.GIBSONkannberdieseUnterscheidung schlielich auch ein Kriterium fr die Beurteilung von Literatur formulieren: Ein schlechtes Buch ist einfach eines, mit dessen Scheinleser wir uns nicht identifzieren knnen (5). Damit wendet sich sein Interesse wieder der Litera-turdidaktikunddenempirischenLeser/innenzu.IstLektreimPrinzipein RollenspielunddefiniertsichschlechteLiteraturberdieinnereAblehnung einer Rolle, dann geht es beim Lesen letztendlich um die Suche nach der ei-genen Identitt, also um die Frage: Wer mchte ich sein? (6). Das pdago-gischeAnliegendiesesAnsatzes(wieauchdasvonRICHARDSoderROSEN-BLATT)istinderFolgezeiteherandenRandgedrngtworden.Zwaristdie LeserforschungzuwesentlichkomplexerenModellenundeinerprziseren Terminologie gelangt (der Begriff mock reader ist glcklicherweise nicht in Umlauf gekommen), aber die prinzipielle Unterscheidung zwischen den wirk-lichenLeser/innenundeinemtextuellenLeserkonstruktistnichtmehraus dem rezeptionskritischen Diskurs wegzudenken25. 2.2 Michael Riffaterre (*1924): Der Archileser Die Erforschung literarischen Stils stand immer unter dem Verdacht, das eher zufllige Ergebnis relativ willkrlicher Werturteile einflureicher Literaturkri-tiker/innen zu sein. Zwar sind Rhetorik, Grammatik oder Philologie unerl-lich fr die Stilanalyse, aber der normative Charakter dieser Disziplinen fhrt dazu,daeinStilfaktumnurinderDurchbrechungeinerNormkonstatiert werden kann. Damit erscheint Stil als ein sprachliches Phnomen, das mittels linguistischerMethodennurunzureichenderfatwerdenkann.Ausgehend von diesem Dilemma versucht Michael RIFFATERRE, Professor an der Colum-biaUniversityinNewYork,berdieHinwendungzumRezipientenineine 24 Damit nimmt GIBSON entscheidende Aspekte der literarischen Kommunikation, wie sie spter S. CHATMAN definieren sollte (vgl. Story and Discourse [Ithaca; London, 1978], 151), vorweg. 25EinehnlicheSichtwurdezeitgleichvonR.P.PARKIN,AlexanderPopesUseofthe Implied Dramatic Speaker, ColEng 11 (1949/50), 137-40 vertreten. Sie definiert den impli-zitendramatischenSprecheralstheimpliedfictionalcharacter,notidentifiablewiththe author,whospeaksthepoem(137)undkonstruierthnlichwieGIBSONaucheinintratex-tuellesrezeptivesGegenstck,dassieimpliedaudiencenennt(137).DieseSichtwurde frhvonW.K.WIMSATTrezipiert:Theactualreaderofapoemissomethinglikeareader overanotherreadersshoulder:hereadsthroughthedramaticreader,thepersonwhomthe full tone of the poem is addressed in the fictional situation. (Verbal Icon, XV). Forschungsgeschichtliche Stationen33 neueRichtungvorzustoen26.Bereits1955legteereineStiluntersuchungzu Gobineaus Plejaden vor, bei der er mit dem Begriff des Durchschnittslesers operierte27.DaerinderFolgezeitseinModellgrundlegendrevidierthat,ist imfolgendenbesondersaufseinenprogrammatischenAufsatzKriterienfr dieStilanalyse28wieauchaufseineexemplarischeDurchfhrunginDie BeschreibungpoetischerStrukturen:ZweiVersuchezuBaudelairesGedicht Les Chats29 einzugehen: Da die Suche nach der Intention des Autors die Stilanalyse auf ein zu unsi-cheresTerrainfhrenwrde,erscheintesratsamer,daslesendeSubjektfr die Suche nach stilistischen Merkmalen einzuschalten (39f), denn das stilisti-scheVerfahrenistderartgeplant,daderLeserwederdaranvorbeinoches lesen kann, ohne dadurch auf das Wesentliche gelenkt zu werden (40; vgl. a. 248). RIFFATERRE, der bei diesen berlegungen von empirischen Leser/innen ausgeht, mu natrlich dem Problem der Variabilitt von Lesereaktionen bei-kommen; d.h. er mu eine grundstzlich subjektive Reaktion auf den Stil in einobjektivesAnalyseinstrumentumwandeln(40).FreinachdemMotto Kein Rauch ohne Feuer werteterUrteile einzelner Leser/innen als Signale frdasVorhandenseineinesstilistischenStimulus.Durchihrsubjektives VerhaltenltsichdieobjektiveUrsacheimTextausfindigmachen.Die Leser/innenwerdenzuInformant/innen,whrendderStilforscherihreReak-tionen sammelt und auswertet. Vorzuziehen sind Informant/innen, fr die der Text muttersprachlich ist und die ber gengend Bildung verfgen, um meta-sprachlicheAussagenberdieeigeneLektremachenzuknnen(41).An-statt Reaktionen durch einen Fragebogen in bestimmte Bahnen zu lenken, lt manInformant/innenaufflligeStellenim Text markieren(48)30.Abernicht nur empirische Leser/innen sind wichtig fr diese Art der Stilanalyse, sondern auchvorherigeAuslegungendesTextes,AnmerkungenvonHerausgeber/in- 26InseinemArtikelAufdemWegzueinerlinguistischenDefinitiondesStils,[1961] Strukturale Stilistik (Mnchen, 1973), 97-123 bespricht er verschiedene linguistische Beitrge zurStilforschungundkonstatiertamEnde:DerentscheidendeSchrittzurLsungdesStil-problems wurde getan, als man bei der Untersuchung des literarischen Gebrauchs der Sprache nicht mehr den Standpunkt des Autors einnahm, sondern den desjenigen, an den sich der Stil richtet. (123) 27 Le Style des Pliades de Gobineau (Genf; Paris; New York, 1957). 28UrsprnglichalsCriteriaforStyleAnalysisinWord15(1960),154-74verffent-licht.IchzitierenachderdeutschenbersetzungundberarbeitunginStrukturaleStilistik, 29-59. Der Text ist auch in Warning, Rezeptionssthetik, 163-95 abgedruckt. 29UrsprnglichalsDescribingpoeticstructures:TwoapproachestoBaudelairesLes ChatsinYaleFrenchStudies36-37(1966),200-42erschienen.IchzitiereausStrukturale Stilistik, 232-82. 30 Das Problem der Beeinflussung von Rezeptionsuerungen durch Fragebgen istauch inderempirischenLiteraturwissenschaftvirulent(vgl.J.KRIZ,DimensionendesVerste-hens:VerstehensprozessezwischenSubjektivittundObjektivitt,inIbsch/Schram,Rezep-tionsforschung, 61). 34Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese nen, bersetzungen und eigene Lektren (42f). Die Gesamtheit dieser Aussa-gen fat RIFFATERREin dem Begriff des Archilesers (franz. archilecteur) zusammen31. Der Archileser ist lediglich ein Werkzeug zum Herausarbeiten der Stimuli eines Textes, welches nur im ersten Stadium der Analyse heuris-tisch eingesetzt wird (44). Dabei ist fr die Stilanalyse nicht der Inhalt einzel-nerAussageninteressant,sondernnurdieTatsache,daverschiedeneInfor-mant/innen in der Erwhnung bestimmter Textmerkmale konvergieren (44)32. Erstineinemzweiten,hermeneutischenStadiumkanndazubergegangen werden, den so bestimmten Stimulus rhetorisch zu definieren (44f). Durch die MultiplizierungvonInformant/innenwirdderStreuwertgeringer,extreme PositionenwerdenandenRandgedrngtundeinzelnestilistischeElemente desTextesknnenunabhngigvondensubjektivenWerturteilenderfor-schenden Person analysiert werden. Das Modell des Archilesers ist kein Mit-tel um einen Mehrheitsentscheid fr oder gegen eine bestimmte Auslegung zu erheben, sondern eine Art Wnschelrute in der Hand des Stilforschers. EinweitererAspekt,denRIFFATERREbetont,istderzeitlichlineareCha-rakter der Lektre. Er schreibt: [V]ieleKritikerbeginnendamit,dasEndezukommentierenundzerstrensodie Spannung;oderabersiebenutzenDiagramme,diedasGleichgewichtdesnatrlichen HervorhebungssystemsdesTextesverndernMankannniemalsgenugdieBedeutung einer Lektre betonen, die im Sinne des Textes verluft, d.h., von Anfang bis Ende. Wenn man diese Einbahnstrae nicht beachtet, verkennt man , da das Buch abluft (so wie imAltertumdieSchriftrollemateriellabgerolltwurde),daderTextGegenstandeiner progressivenEntdeckungist,einerdynamischenundsichdauerndvernderndenWahr-nehmung, wobei der Leser mit seinem Vorgehen sieht, wie sein Verstndnis des bereits Gelesenen sich verndert, da jedes neue Element den vorangehenden Elementen eine neue Dimensionverleiht,indemessichwiederholt,ihnenwidersprichtodersieentwickelt Diese Etappen knnen nur studiert werden, wenn der Analytikerim Gedicht die Schilder Einfahrt verboten! nicht berfhrt. (249f)33 Das Modell vonRIFFATERRE hatsicherlich vieleVorzge, aber selbst bei ei-ner begrenzten Anwendung im Bereich der Stilanalyse neutestamentlicher Er-zhlliteraturseheichfolgende Schwierigkeiten:1. DieVerheiung,berden ArchileserderStilanalysezuwissenschaftlicherObjektivittzuverhelfen, erweistsichinderPraxisalstrgerisch.DasletzteWorthabendieStilfor- 31 44: Die fr jeden Stimulus oder fr eine ganze stilistischeSequenz benutzte Informa-torengruppenennenwirArchileser.Vgl.etwadieBestimmungdesArchilesersbeiseiner AuslegungvonBaudelairesLesChats,250f.DerArchileserersetztinseinemModell ausdrcklich den Begriff des average reader (289, Anm. 17). 32Vgl.a.249:WasaneinerReaktiontrbeist,istihrInhaltDieReaktionselbstbe-zeugt objektiv die Verwirklichung eines Kontakts. 33 Damit richtet sich RIFFATERREganz deutlich gegen Strukturalisten wie JAKOBSONund LVI-STRAUSS,dieauseinemSonetteinSupergedichtmachen,dasdemnormalenLeser unzugnglich ist (247). Spter wird ISER das gleichePhnomen mit dem Begriff des wan-dernden Blickpunkts bezeichnen (s.u. S. 73ff). Forschungsgeschichtliche Stationen35 scher/innen: Sie entscheiden, ob eine Reaktion so weit vom historischen Kon-textdesWerkesentferntist,dasiedemBereichpersnlicherBeliebigkeit zugeordnetwerdenkann34.2. DieForderungnachmuttersprachlichenLe-ser/innen (41)35 fhrt im Falle des Neuen Testaments zu einem beklagenswer-tenMangelanInformanten.3. Weiterhinkannwohlkein/emoderne/rLe-ser/in die Reaktion der zeitgenssischen Leser/innen nachempfinden (vgl. 49). DiesesArgumentistvorallemdannentscheidend,wennmandieLeserlen-kunginnerhalbihrergeschichtlichenMglichkeitenzudefinierengedenkt. Versteht man hingegen das literarische Werk alsungeschichtliches, berzeit-liches,transzendentalesGebilde,dannistdieReaktioneinesheutigenInfor-mantengenausobrauchbarfrdieInterpretationwiedieeineszeitgenssi-schenLesers.DaswreallerdingsnichtimSinneRIFFATERRES36. 4. RIFFATERREzhltzwaralsWahlamerikanerzudenwichtigenDenkern desanglo-amerikanischenreader-responsecriticism,aberbeiihmbtder TexteinemaximaleKontrolleberseineLeser/innenaus.Trotzseines BestreitensderReferenzialittvonliterarischenWerken(alsoihrerAbhn-gigkeitvontextexternen Faktoren),hlterTexte freindeutig inihremSinn fixierbar. Es scheint mir aber zweifelhaft, ob sich Leseforschung mit interpre-tatorischen Absolutheitsansprchen vereinbaren lt37. DieKritik,dieRIFFATERREandertraditionellenStilistikgebthat,kann m.E. auf einen ernsthaften Mangel in der zur Zeit blhenden Anwendung rhe-torischerKategorienaufdieBibelexegeseimeinzelnenundaufdieAusle-gungderEvangelienimbesonderenaufmerksammachen.Auchwenndie FlleanLiteraturkaumberschaubarist38,lasseneinigeProbebohrungen durchaus den Schlu zu, da zwar die Kenntnisse antiker und moderner Rhe-torikunddementsprechendauchdasInstrumentariumeinermglichstprzi-senBeschreibungsspracheungeheuerangewachsensind,aberdajeneIn-stanz,diefrdieRhetorikeigentlichrelevantseinsollte,drauenvorder Tr ihr Dasein fristet: das lesende Subjekt. In der Regel begngen sich Rh