Medien- und Massenkommunikation: Begriffe und Modelle · McLuhan (1911 -1980), die Menschen lebten...

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http://www.mediaculture-online.de Autor: Kübler, Hans-Dieter. Titel: Medien- und Massenkommunikation: Begriffe und Modelle. Quelle: Hans-Dieter Kübler: Kommunikation und Medien. Eine Einführung. Münster 2003. S. 91-129. Verlag: LIT Verlag. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags. Hans-Dieter Kübler Medien- und Massenkommunikation: Begriffe und Modelle Inhaltsverzeichnis 1. Digitale Revolution und “Informationsgesellschaft” ....................................................... 2 2. Ein kurzer Abriss der Mediengeschichte....................................................................... 5 3. ‘Neue Medien’ – neue Schlagwörter........................................................................... 14 4. Diverse Medienbegriffe............................................................................................... 17 4.1. Der universale Medienbegriff............................................................................... 17 4.2. Der elementare Medienbegriff............................................................................. 19 4.3. Der technische (oder technologische) Medienbegriff .......................................... 20 4.4. Der kommunikations- und organisationssoziologische Medienbegriff ................ 22 4.5. Der kommunikativ-funktionale Medienbegriff...................................................... 23 4.6. Der systemische Medienbegriff........................................................................... 24 5. Ende der Massenkommunikation?.............................................................................. 25 6. Typen medialer Kommunikation.................................................................................. 29 7. Von der Öffentlichkeit zur ‘audience polarization’?..................................................... 32 8. Definitionen und Dimensionen von Massenkommunikation ....................................... 37 1

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Autor: Kübler, Hans-Dieter.

Titel: Medien- und Massenkommunikation: Begriffe und Modelle.

Quelle: Hans-Dieter Kübler: Kommunikation und Medien. Eine Einführung. Münster 2003.

S. 91-129.

Verlag: LIT Verlag.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.

Hans-Dieter Kübler

Medien- und Massenkommunikation:Begriffe und Modelle

Inhaltsverzeichnis

1. Digitale Revolution und “Informationsgesellschaft”.......................................................2

2. Ein kurzer Abriss der Mediengeschichte.......................................................................5

3. ‘Neue Medien’ – neue Schlagwörter...........................................................................14

4. Diverse Medienbegriffe...............................................................................................17

4.1. Der universale Medienbegriff...............................................................................17

4.2. Der elementare Medienbegriff.............................................................................19

4.3. Der technische (oder technologische) Medienbegriff..........................................20

4.4. Der kommunikations- und organisationssoziologische Medienbegriff................22

4.5. Der kommunikativ-funktionale Medienbegriff......................................................23

4.6. Der systemische Medienbegriff...........................................................................24

5. Ende der Massenkommunikation?..............................................................................25

6. Typen medialer Kommunikation..................................................................................29

7. Von der Öffentlichkeit zur ‘audience polarization’?.....................................................32

8. Definitionen und Dimensionen von Massenkommunikation.......................................37

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8.1. Das bewährte Modell der Massenkommunikation Gerhard Maletzkes...............37

8.2. Eine Weiterentwicklung: das “Modell elektronisch mediatisierter

Gemeinschaftskommunikation”...................................................................................40

8.3. Eine aktuelle Definition für mediale Kommunikation...........................................42

9. Objektivität, Universalität, Aktualität, Periodizität: Wie angemessen sind heute noch

die klassischen publizistischen Kriterien?.......................................................................451. Digitale Revolution und “Informationsgesellschaft”

Industriegesellschaften wie die unsrige – so wird in zahlreichen Diagnosen und

Zukunftsentwürfen immer wieder betont – befinden sich in einem gravierenden Umbruch,

wandeln sich – nach derzeit gängigen Schlagwörtern – in “Medien”-, “Informations-”

und/oder “Wissensgesellschaften”: Dabei bleibt meist unentschieden, ob diese

Entwicklung – im Sinne eines historischen Evolutionsmodell – als generelle Optimierung

und Steigerung, also als Fortschritt zu werten ist oder ob es sich um eine offene

Transformation mit Chancen, aber auch Risiken und Nachteilen, zumindest für bestimmte

Regionen in der Welt und für bestimmte soziale Gruppen handelt. Hervorgerufen werde

dieser Wandel durch die immensen Potenziale der Informations- und

Kommunikationstechnologien, die am Ende des 20. Jahrhunderts zu Schlüsselindustrien

avancieren, nicht nur Information, Kommunikation und Verkehr gründlich umwälzen,

sondern selbst zu mächtigen Faktoren für Produktion und Wertschöpfung werden. Schon

scheint die Informations- und Kommunikationsbranche die bislang führende

Automobilindustrie im Umsatz überrundet zu haben, und immer mehr Menschen arbeiten

in den so genannten tertiären bzw. quartären Sektoren der hochentwickelten

Volkswirtschaften, in Dienstleistungs-, Medien- und Informationsbranchen (Bell 1985;

Steinbicker 2001; Castells 2001; 2002; 2003).

Von den westlichen Industrienationen aus werden Information, Kommunikation, Verkehr

und Wissensproduktion, Innovation und Medien weltweit organisiert und betrieben, eben

globalisiert, so dass sich die Visionen des kanadischen Medienphilosophen Marshall

McLuhan (1911 -1980), die Menschen lebten künftig in einem “globalen Dorf”, zumindest

technisch einlösen. Dass sich diese Dorfgemeinschaft in ihrer sozialen Konstellation und

in ihrem praktischen Handeln angesichts drückender, sich ständig verschärfender

Ungleichheiten und Benachteiligungen, angesichts offenbar unabwendbarer Krisen und

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Konflikte, angesichts aggressiver werdender fundamentalistischer Strömungen und sogar

militanten Widerstands gegen die hegemoniale amerikanisch-europäische, ‘weiße’

Lebensweise kaum verwirklichen dürfte und die relevanten Zonen eher heterogenen,

anonymen und risikoreichen ‘cities’ gleichen, scheint dem – zumindest verbalen – Ideal

des digitalen Dorfes keinen Abbruch zu tun (Huntington 1996).

Zentraler technischer Antrieb dieses Wandels ist zum einen die Digitalisierung, d. h. die

rasche und letztlich totale Umwandlung aller Informations- und Kommunikationsprozesse

in computertaugliche Codes und Formate, zum anderen die globale Vernetzung via

Satelliten und Internet, womit die um den Globus zirkulierenden Daten blitzschnell

verbreitet, gespeichert und bearbeitet werden. Räumliche Entfernungen werden

tendenziell aufgehoben, und auch zeitliche Verzögerungen schrumpfen auf Bruchteile, die

“Transportmetapher” (Meckel 2001, 26) habe ausgedient; der utopische Traum, dass jede

(r) mit jeder (m) auf dieser Welt verbunden ist und in Kontakt treten kann, dass

Informationen unbegrenzt verfügbar und mindestens symbolischer Austausch unbegrenzt

und mit nur minimalen Kosten jederzeit und überall hin möglich sind, könnte wahr werden.

Die bislang noch getrennten, sich aber über den digitalen Modus angleichenden

Techniken der Mikroelektronik, der Telekommunikation, der Netzwerke und des

Rundfunks konvergieren zu Multimedia – wie das Schlagwort dafür heißt –, ohne dass

deren künftige materielle und mediale Optionen alle schon erkennbar sind. Möglich wird

jedenfalls die Aufhebung der Einseitigkeit, wie sie für die etablierte Massenkommunikation

vom Sender zum Empfänger charakteristisch ist, möglich wird also Interaktivität, die

ähnlich wie bei der personalen Kommunikation jeden Teilnehmer technisch

gleichberechtigt kommunizieren lässt. Möglich wird auch die vielfältige Kombination aller

denkbaren Zeichensysteme, also von Schriften, Grafiken, Tönen, statischen und

bewegten Bildern, und deren je individuelle Komposition in so genannten Hybridmodi und

-medien, so dass professionell produzierte Programme nur noch Optionen darstellen, die

auf Bedarf abgerufen, aber auch jeweils verändert werden können.

Dadurch dürften sich ebenso überkommene Besitz- und Produktionsstrukturen in der

Medienbranche allmählich verändern: Ältere Produktionsformen wie traditionelle

Buchverlage und -handlungen mögen an Umsatz und kulturellem Gewicht verlieren, da

Gedrucktes verdrängt und schriftliche Informationen über elektronische Netze angeboten

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bzw. kommuniziert werden. Auch der professionelle Journalismus wandelt sich, löst sich

zumindest in vielerlei Facetten auf, so dass angestammte Ressorts und Redaktionen

erodieren (Weischenberg u. a. 1994; Altmeppen u. a. 2000). Mit ihnen konkurrieren

Konzepte und Produktionen elektronischer Software, und zwar sowohl als fixierte

Programme wie auch als in den Netzen flottierende Anwendungs- und

Navigationssoftware, um die immensen Datenmassen zu handhaben und aufzuspüren.

Auch sämtliche Formen informatorischer Dienstleistung bis hin zu Public Relations und

Werbung verzeichnen Verschiebungen in ihren Formaten und wechselnde

Wachstumsraten. Schließlich nehmen Optionen zu, ganze Wirklichkeitsbereiche

multimedial zu reproduzieren, zu simulieren bzw. zu virtualisieren, so dass sie nicht mehr

unmittelbar erfahren werden müssen, und elektronische Vergegenwärtigungen oder

Entwürfe von ihnen vielfach faszinierender, womöglich sogar echter erscheinen als die

realen Vorlagen. In unzähligen Computerspielen werden diese virtuellen Welten

(“cyberspaces”) paradigmatisch vervollkommnet, aber auch in der Industrie, im Design,

der Architektur, dem Städtebau, in der Kosmetik (bis hin zum Friseur), der Medizin und in

Konsumbereichen (wie Möbel, Schneidereien etc.) werden sie zunehmend eingesetzt.

In abstrakten Termini gesprochen, multiplizieren, vernetzen und durchdringen sich die

Medien, ihre Funktionsweisen werden vielfältiger und hybrid auf digitaler Basis, sie

reichen in alle gesellschaftlichen und alltäglichen Bereiche hinein, verändern und/oder

übernehmen Aufgaben und Tätigkeiten. Diese werden immer weniger direkt, materiell und

zwischen Menschen erledigt, sondern mediatisiert durch technische Lösungen und

medialisiert durch elektronische Repräsentationen, und unter den obwaltenden

ökonomischen Konstellationen werden damit sowohl diese Tätigkeiten rationalisiert,

beschleunigt und intensiviert, als auch neue Produkte erzeugt und neue Märkte

erschlossen werden. Die Programme bzw. die Software dafür werden zugleich universell

wie individuell, sie sind jeweils flexibel zu modellieren und zu handhaben, damit passende

Lösungen möglich werden. Dass bei solch einschneidendem Wandel die kuranten

Begriffe nicht mehr allgemein und überzeugend auf Dauer festgeschrieben werden

können bzw. jeweils neue erprobt oder ältere mit neuen Inhalten ventiliert werden,

versteht sich. Dadurch verlieren auch bislang anerkannte Fachtermini und Modelle an

Gültigkeit und Relevanz, so dass manche von ihnen nur noch unter Vorbehalt und nicht

mehr mit uneingeschränkter Nachhaltigkeit anzusehen sind. Schon ein Reflex darauf ist,

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dass sich nicht mehr unbeirrt von “Massenkommunikation” sprechen lässt, sondern

inzwischen breitere und weniger belastetere Begriffe wie “Medienkommunikation” oder

“mediale Kommunikation” vorgezogen werden (Krotz 1995; Kübler 2000a).

2. Ein kurzer Abriss der Mediengeschichte

Bei soviel Zukunftsgewandtheit und auch -unsicherheit empfiehlt es sich, sich knapp

mediengeschichtlicher Marksteine zu versichern, um sowohl relevante Veränderungen

erkennen zu können als auch historische Kontinuitäten festzuhalten und aus beiden

Perspektiven theoretische wie begriffliche Orientierungen zu gewinnen. Denn

“paradoxerweise bleibt die Vergangenheit das nützlichste analytische Werkzeug für die

Bewältigung eines konstanten Wandels” (Hobsbawm 2001, 35). Rückblickend werden

inzwischen mindestens drei große Phasen der Mediengeschichte angesetzt, die

insgesamt die immense Beschleunigung, Verdichtung und Vervielfältigung der

Medienentwicklung erkennen lassen:

Mit der Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts beginnt die erste

Phase der Mediengeschichte (sofern der Mediengriff eine technische Komponente

berücksichtigt und nicht universell verstanden wird). Gutenbergs Erfindungen bewirken die

Mechanisierung der Schriftproduktion durch die Herstellung, den Guss wieder

verwendbarer, “beweglicher” Lettern, der Druckerschwärze sowie der Verwirklichung in

der Setzerei; sie setzt aber auch die Produktion neuen Trägermaterials, des Papiers,

voraus, beschleunigt die mechanische Vervielfältigung durch die Druckerpresse und lässt

erste professionelle Medienproduzenten (Drucker, Setzer, Binder, Verleger) entstehen.

Ihre Genialität liegt also weniger in einer technischen Erfindung als in der Kombination

und zweckorientierten Ausrichtung verschiedener Techniken, die teilweise schon bekannt

sind, um das Ziel und den Bedarf einer rekursiven Reproduktionsweise, der

Mechanisierung und Verbreitung der Schrift, zu erfüllen. Außerdem begünstigt sie die

weitere Herausbildung spezieller, allmählich anerkannter Wort- und Schriftproduzenten,

der Autoren und Journalisten. Ferner etablieren sich vielfältige Distributionswege

(Messen, Buchverkauf, Kolporteure) und textliche Diversifizierungsformen der zunächst

aufwendig herzustellenden Druckmedien (Buch und seine Gattungen, Flugblatt, Kalender,

Heft, Zeitung, Zeitschrift etc.).

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Entlang den Verkehrswegen entstehen vergleichsweise rasch weitere Druckereien,

gewissermaßen werden sie die ersten Nachrichtenstationen. Auf Messen – etwa in

Frankfurt/M. später in Leipzig – werden die Drucke fassweise feilgeboten, Kolporteure

tragen sie im Bauchladen durch die Lande, die `aktuellen', rasch verderblichen

Geschichten werden als Flugblatt, Spruchbild, Heft, Kalender und andere Gebrauchstexte

verhökert und dem leseunkundigen Publikum vorgelesen. Aus ihnen entwickeln sich

allmählich die periodischen Druckmedien, in der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts die

ersten Zeitungen (dokumentiert ab 1609 in Wolfenbüttel (Aviso) und in Straßburg

(Relation), ab 1650 die Einkommenden Zeitungen als erste Tageszeitung in Leipzig).

Etwa 60 bis 70 Zeitungen gibt es im deutschsprachigen Raum, mit einer geschätzten

Gesamtauflage von 20.000 bis 30.000 Exemplaren pro Erscheinungsintervall und einer

hochgerechneten Leserschaft von 200.000 bis 300.000 Menschen. Zeitschriften, gelehrte

wie populäre, kommen vorzugsweise im 18. Jahrhundert hinzu und verkörpern Ansporn

und Geist der Aufklärung, den Aufbruch der Wissenschaften wie die Herausbildung des

Bürgertums als nunmehr selbstbewusste, tonangebende Klasse. Verbreitung und

Rezeption befördern Qualifizierungen (allmähliche Verbreitung der Lesefähigkeit,

Bildungsanstrengungen) und Profilierung des Publikums sowie einzelner Gruppen in ihm

wie der Frauen, der ‘niederen Stände’ und der Jugend; sie regen auch zu neuen

Gesellungsformen, in den Lesegesellschaften und bürgerlichen Salons, an (Hunziker

1988, 5; Wilke 2000a).

Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich die zweite Phase der Medienentwicklung markieren;

es beginnt die Phase der Massenmedien: zunächst mit der Rationalisierung der

Produktion von Druckmedien durch Schnell- (seit 1811) und Rotationspresse (seit 1848)

und der automatischen Zeilensetzmaschine Ottmar Mergenthalers (1854-1899), der

Linotype, seit 1883. Es folgen erstmals ‘neue Medien’, die weitere Kommunikationsformen

ermöglichen und die vorhandenen diversifizieren: Die Fotografie erlaubt seit Ende der

1830er Jahre die mechanische Reproduktion von Wirklichkeit in Bildern, bald nach Beginn

des 20. Jahrhunderts lassen sie sich auch im massenhaften Druck reproduzieren, und es

entstehen Pressefotografie und Fotojournalismus (“Illustrierte”). Die Telegrafie (durch

Samuel Morse seit 1840) beschleunigt und verdichtet seit Mitte des 19. Jahrhunderts die

Nachrichtenübermittlung und erzeugt die Vorstellung wie den Anspruch von Aktualität und

den weltumspannenden Informationsaustausch. Ein Markt für Nachrichten formiert sich

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allmählich, den sich Nachrichtenagenturen wie Reuters (England), Havas (Frankreich)

und das Wolff’sche Telegrafenbüro (Deutschland) um 1870 oligopolistisch aufteilen und

so erstmals Konturen globaler Nachrichtenkartelle erkennen lassen (Wilke/Rosenberger

1991; Wilke 1993; 2000b; Prokop 2001, 198ff).

Insgesamt werden in den ersten beiden Phasen der Mediengeschichte Daten bzw.

Informationen analog codiert, d. h. sie werden für den Transport, die Speicherung

und/oder für die Präsentation von einem materiellen Zustand in einen anderen verwandelt.

Ende des 19. Jahrhunderts werden die fotografischen Bilder beweglich, der Film entsteht

und bewirkt als bald attraktives, unterhaltsames Massenmedium eine spezielle, sich rasch

monopolisierende Industrie, zunächst in New York, später in Hollywood (Ebd., 240ff).

Zusammen mit der sich rasant entwickelnden und sich beschleunigenden

Zeitungsproduktion formieren sich in Deutschland die ersten Medienkonzerne (z. B.

Hugenberg, Ullstein, Scherl u. a.), die Märkte und Köpfe zu beherrschen trachten. Die

Telegrafie wird (ab 1897 durch Guglielmo Marconi) drahtlos und wandelt sich Anfang der

20er Jahre zum ersten elektromagnetischen Programmmedium, dem Hörfunk. Seit den

1870er Jahren (durch Johann Philipp Reis, 1861, und Alexander Graham Bell, 1876)

lassen sich Laute und Geräusche elektrisch über Leitungen transportieren, das Telefon

wird das erste, sich schnell verbreitende technische Transportmittel für direkte, personale

Kommunikation – wobei allerdings seine spezielle Nutzung nicht gleich feststeht, sondern

sich erst allmählich herausschält (Flichy 1994, 137ff).

Neben den technischen Innovationen wird der private Konsum immer wichtiger.

Endgeräte kommen in die Haushalte, sie dienen der Verbreitung (Emission), Speicherung

wie der adressatenorientierten Gestaltung medialer Botschaften. Der durch die

nationalsozialistische Propagandapolitik forcierte und billig verbreitete “Volksempfänger”

wird zu einem solchen Massenartikel, so dass sich innerhalb von fünf Jahren, von 1934

bis 1939, die Teilnehmerzahlen von fünf auf zehn Millionen verdoppeln. Die Medien bzw.

ihre privaten Endpunkte veralltäglichen sich, sie konstituieren und popularisieren den

Prozess der Massenkommunikation insofern, als über sie die öffentlichen,

professionellen, eben journalistischen Mitteilungen empfangen werden, die den

Rezipienten über das alltägliche Kommunikationsverhalten hinaus keine zusätzlichen

Fähigkeiten abverlangen (Hunziker 1988, 6). Die wachsende Werbung wird zum

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Katalysator zwischen Medienindustrie, -inhalten und Konsum. Die Produktion der Geräte

industrialisiert sich zunehmend und benötigt entsprechend Investitionskapital: Nach dem

Walzenphonographen (1877) von Thomas A. Edison (1847-1931) und der Schellackplatte

(1897) entwickelt sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die

Tonaufzeichnung auf Schallplatte zum ersten populären Musikmarkt, der allerdings erst

mit der Langspielplatte (1947) zur ansprechenden Qualität und erforderlichen Kapazität

gelangt.

Ebenfalls in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts werden die ersten privat nutzbaren

Fotokameras zur Marktreife entwickelt: 1888 die Kodak-Boxkamera, 1895 die Pocket

Kodak Kamera, sie geht als erste in Massenserie; danach folgt die 8-mmFilmkamera (ca.

1926). Für den Audiosektor werden das Tonbandgerät (ca. 1935), der

Tonkassettenrecorder (ca. 1963) verfügbar; sie haben mit C(ompact)D(isc)Recorder (seit

1981) und D(igital)A(udio)T(ape) (seit 1986) ihre digitale Weiterentwicklung erfahren.

Davor noch verbreitet sich seit den frühen 50er Jahren das Fernsehen. Seit 1967 wird es

farbig, und seit Mitte der 80er Jahre lässt es nicht mehr nur über terrestrische

Frequenzen, sondern auch über Kabel und Satellit verbreiten. Dadurch erhöht und

internationalisiert sich sein Kanalangebot erheblich; in Deutschland wird es zudem

privatisiert, so dass die nach 1945 von den Alliierten Siegermächten eingeführte Struktur

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zum “dualen System” transformiert. In dieser Struktur

konkurriert der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der nach grundlegenden Urteilen des

Bundesverfassungsgerichts für die “Grundversorgung” unverzichtbar verantwortlich ist

und sich vornehmlich aus Gebühren aller Rundfunkteilnehmer trägt, mit

privatkommerziellen Anbietern, die einen weniger anspruchsvollen und umfassenden

Programmauftrag zu erfüllen haben und sich ausschließlich aus Werbeeinnahmen

finanzieren. Auch für das Fernsehen steht in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts die

digitale Übertragung an, die seit 1996 technisch möglich ist. Seit März 2003 wird seine

Einführung zunächst in Berlin, dann auch anderswo erprobt. Bis 2010 soll es

flächendeckend eingeführt sein. Seine private Reproduktion bewerkstelligen Videotape

bzw. Videokassette, Videorecorder (seit ca. 1967) und Videokamera (seit ca. 1978), die

ebenfalls vor ihrer digitalen Transformation – etwa durch die DVD (digital versatile disc) –

stehen.

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Die dritte Phase der Mediengeschichte lässt sich etwa ab den 1940er Jahren ansetzen:

Aus dem jahrhundertealten Streben der Menschen, mechanisch rechnen, Daten und

Zahlen speichern zu können, entwickeln Pioniergeister wie Alan M. Turing (1912-1954) ab

1936 und Konrad Zuse (1910-1995) ab 1937 die ersten Universalrechner bzw.

Relaiscomputer. 1945 wird mit ENIAC der erste Röhrencomputer gebaut, Mitte der 50er

Jahre entstehen integrierte Schaltkreise in Halbleitertechnik, ab Ende der 60er Jahre

Teleprocessing und Mikroprozessoren. Mit den 70er Jahren beginnt die Revolution des

Personal Computers durch Microsoft (ab 1975) und Apple (ab 1976), in den 80er Jahren

werden die Kapazitäten bis hin zum 486er PC enorm gesteigert. Mit I(ntegrated)S(ervices)

D(igital)N(etwork) steht ab 1985 erstmals ein Leitungsnetz zur Verfügung. In den 90er

Jahre lösen Pentium-Prozessoren die hergebrachten Chip-Rechner ab, und mit dem

Internet steht nun einem ständig wachsenden Publikum ein weltweiter Daten-Highway zur

Verfügung. Vernetzte Computer lösen zunehmend den solitären PC mit Festplatte und

Disketten ab.

Die technische Entwicklung des Internet beginnt Ende der 60er Jahre – und zwar wie bei

den meisten Medien im militärischen Kontext (Kühler 1986; Eurich 1991). Die atomare

Aufrüstung der beiden Supermächte, ihr Wettlauf im Weltall sowie die wachsende

Notwendigkeit eines weltumfassenden Information- und Kommandonetzes lassen das

Pentagon, das amerikanische Verteidigungsministerium, nach einer neuartigen

Vernetzung suchen, die weitgehend vor feindlichen Angriffen schützt und auch noch nach

dem befürchteten atomaren Erstschlag funktionieren würde. Es vergibt dafür an seine

1958 eigens dafür gegründete Unterbehörde – genannt “DAPRA” (Defence Advanced

Research Project Agency) – einen Projektauftrag, die daraufhin bis 1969 das APRANET

entwickelt. Ende 1969 wird Telnet (Telecommunication Network), der erste Vorläufer von

Online-Medien, installiert. Es arbeitet erstmals nach dem neuartigen Client-Service-

Prinzip, wonach jeder Rechner jeden anderen als Terminal benutzen kann. Mit dem

Anfang Juli 1972 entwickelten Programm FTP (File Transfer Protocol) ist es vollends

erreicht, dass zwei Rechner quasi miteinander kooperieren können, ohne dass der eine

zum Terminal des anderen degradiert wird. Damit steht weltweit eine völlig dezentrale,

beliebig kombinierbare Vernetzung zur Verfügung, die zudem die Daten nur

portionsweise, gewissermaßen in kleinen Paketen, übermittelt: das Internet – als

Sammelbegriff für die nun wachsenden diversen Dienste. Ihre Ausschaltung hätte nicht

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mehr durch zentrale Schläge bewerkstelligt werden können. Doch die inzwischen

eingetretene politische Entspannung mit der Beendigung des Kalten Krieges reduziert die

militärischen Bedarfe und ermöglicht zivile Nutzungen. Schon 1971 bedienen sich mehr

als dreißig US-amerikanische Universitäten des APRANET für ihre

Kommunikationszwecke.

Der Durchbruch als privates Online-Medium kommt, als über dieses Netz ebenfalls

Anfang der 70er Jahre elektronische Post (E-Mail) verschickt werden kann. Ab 1983 wird

mit TCP (Transmission Control Programm) die einheitliche Adressierung der Rechner, das

erste “echte Netzvernetzungsprotokoll”, möglich (Winter 2000, 284ff). Ebenfalls im Jahr

1983 gibt das Pentagon das Internet vollends für die zivile Nutzung frei, überall entstehen

lokale Netze, und auch erste kommerzielle Nutzungen werden erprobt. Der gewaltige

Boom verlangt immer weitere Standardisierungen, mit der Einführung des Domain-Name-

Systems und dem eigenen Internet-Protokoll (IP), das mit TCP verkoppelt wird, eröffnen

sich ab 1984 weitere Nutzungsmöglichkeiten von E-Mail und Usenet, über das

Nachrichten getauscht werden können. Sprunghaft steigt nun die Zahl der Hosts – das

sind Rechner mit zentralen Dienstleistungen für alle Netzteilnehmer bzw. für das Netz:

1984 sind es noch um die 1000, 1992 bereits ca. 772.000, die in ca. 17.000 Domains in

4526 Netzwerken aus 42 Ländern in das Internet integriert sind (Ebd., 287). Doch ihre

ausschließliche textbasierte Nutzung ist bis dahin vornehmlich eine Sache für Experten

und Freaks, die sich mit den jeweils erforderlichen Befehlssystemen auskennen. Ab 1992

ändert sich diese Beschränkung grundsätzlich: Das World-Wide-Web (WWW) oder der

WWW-Browser machen das Internet benutzerfreundlich, und diese Instrumente stehen

deswegen heute – zumindest im alltäglichen Verständnis – als Synonym für alle Dienste

des Internet. Die Entwicklung des WWW wird im europäischen Kernforschungszentrum

(CERN) in der Schweiz von einem Forscherteam unter der Leitung von Tim Berners-Lee

vollbracht, das sein Ziel, Computerdaten den Nutzer leichter zugänglich zu machen, mit

dem seit längerem bekannten Konzept nichtlinearer Hyper-Texte verwirklicht. Dafür

müssen zusätzlich zu TCP/IP ein Hyper Text Transfer Protocol (HTTP), eine neue

Seitenbeschreibungssprache Hyper Text Markup Language (HTML) sowie eine neue, auf

dem IP aufbauende Adressierung, ein Universal Resource Locater (URL), entwickelt

werden. Mit ihnen wird eine nichtlineare, individuell optionale Strukturierung von Daten

möglich, die mit einer URL hinterlegt werden und mittels Mausklick anzusteuern und zu

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laden sind. Außerdem lassen sich Verweise oder “Links” individuell nutzen: 1992 wird

deshalb zum Startjahr der breiten und individuellen Internet-Nutzung weltweit, nicht zuletzt

weil in diesem Jahr mit der Gründung der Internet Society (ISOC) eine globale Instanz zur

verantwortliche Koordinierung und Standardisierung tätig werden kann. Sie hat aber

keinerlei Eigentums- oder Interventionsbefugnis.

1993 konstruiert der 22jährige Student Mark Andreessen den WWW Browser, X-Mosaic,

später Netscape genannt. Über seine benutzerfreundliche Bedienungsoberflächen

können nun auch Bildinformationen aus dem Internet abgerufen werden. Seine Nutzung

wird neben E-Mail von den damals schon über zehn Millionen Teilnehmern am häufigsten

wahrgenommen, denn Internet ist nun nicht mehr das Medium für Experten, sondern

verbreitet sich rasant in Beruf und Alltag. 1994 überrunden die kommerziellen Hosts

(.com) die Zahl der wissenschaftlichen (.edu), und ihre Gruppe wächst seither am

schnellsten, so dass die Hosts inzwischen einige zig Millionen zählen. Ebenso haben

WWW-Sites alle anderen Netzdokumente an Zahl und Umfang um das Vielfache

überrundet, so dass das WWW heute als das größte “Massen”-Medium weltweit gelten

kann. Im Jahr 2001 sollen weltweit rund 400 Mio. Menschen über einen Internet-Zugang

verfügt haben, allerdings vorwiegend in westlichen und westlich orientierten Ländern.

Längst ist Netscape nicht mehr der einzige Web-Browser. Sein heftigster Konkurrent ist

seit Ende 1997 der Explorer, den der PC-Monopolist Microsoft technisch verspätet, aber

marktwirksam ins Rennen schickte. Daneben existieren noch etliche kleinere, die ihre

spezielle Leistungsfähigkeit haben. Immens sind die Erwartungen, grandios die

Prognosen, die dem so genannten E-Business, bald als “new economy” gefeiert, mit

diesen universellen, zugleich beliebig spezifizier- und individualisierbaren Online-

Kommunikations- und Interaktionsnetzen zugeschrieben werden: Eine gänzlich neue,

eben nicht mehr materielle, sondern auf immateriellen Datentransfer und

Informationsaustausch beruhende Infrastruktur – und dies zudem weltweit – wird

annonciert, die Wirtschaft, Handel, Politik, Alltag, Konsum und Freizeit grundlegend

umkrempelt.

Am auffälligsten ist dieser Boom inzwischen bei der mobilen Telefonie – vulgo: Handy –

ersichtlich. Nach technischen Vorläufern seit den 50er Jahren schafft den Durchbruch das

digitale zellulare Netz (GSM = Groupe Spécial Mobile, ein Zusammenschluss von

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Telekommunikationsfirmen aus 26 europäischen Ländern) seit Ende der 80er Jahre in

fast 200 Ländern zugleich: 1992 gehen die beiden Konkurrenten D 1 (Telekom) und D 2

(Mannesmann) auf den Markt. Die Zuwachsraten explodieren in wenigen Jahren, so dass

inzwischen bei etwa 40 Mio Teilnehmern eine Sättigung erreicht sein dürfte. Mit dem

neuen Kapazitätsstandard UMTS (Universal Mobile Telecommunications System), deren

Lizenzen die Anbieter in Deutschland für fast 50 Milliarden € vom Staat ersteigern

müssen, sucht die Branche die Integration von Computer, Internet, Video und Telefonie,

mindestens auf dem handlichen Display zu erzielen.

Inzwischen haben etliche dieser Visionen konjunkturelle Dämpfer erlitten; die “new

economy” gilt als gescheitert oder hat sich als zwar nützlicher, aber nicht substituierender

Faktor der Wirtschaft erwiesen, den die “old economy” zur weiteren Expansion,

Fusionierung und Effizienzsteigerung integriert. Mit Daten und Werbung allein lässt sich

wohl auf Dauer keine eigenständige, immense Wertschöpfung betreiben, wie viele

Internet-Anbieter – nicht zuletzt die ‘online’ gegangenen Medienbetreiber selbst –

erfahren müssen. Gleichwohl sind WWW und Internet aus dem gewerblichen wie privaten

Alltag nicht mehr wegzudenken und werden ihre technischen wie kommunikativen

Weiterentwicklungen gewärtigen, wenn auch nicht mehr in der Rasanz und den

gigantischen Ausmaßen, wie ihnen vor wenigen Jahren noch prognostiziert wurde

(Kubicek 1998; Münker/Roesler 1997; 2002).

Aus medientechnischer Sicht besteht weitgehend Einigkeit, dass mit Gutenbergs

Drucktechnik und den daraus folgenden Veränderungen für Schrift, Kommunikation und

Kultur die erste Kommunikationsrevolution erfolgt ist, über deren strukturellen

Auswirkungen seither unentwegt räsoniert wird, nicht zuletzt aus heutiger Sicht, mit Blick

auf die anstehenden Transformationen: nicht nur hinsichtlich der Entstehung des

modernen Literaturmarktes, der Entwicklung der Printmedien und der Verbreitung der

Lesefähigkeit, sondern auch und vor allem hinsichtlich der Herausbildung der

Wissenschaften, von Tradition und der Kultur – etwa der Renaissance der Antike –, der

Formierung des Bürgertums und seiner politischen Forderungen nach Öffentlichkeit und

Demokratie sowie der Entwicklung individuellen Bildung bis hin zu Fähigkeiten der

sequenziellen Wahrnehmung und des logischen Denkens.

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Ob man die Phase ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in der

sich die modernen Massenmedien – also Massenzeitung, Kinofilm, Hörfunk und

Fernsehen – formieren und – zusammen mit dem Modell der Massengesellschaft – das

Phänomen der Massenkommunikation, also der technischen, einseitigen, diffusen

Verbreitung professioneller Medienprodukte an ein “disperses” Massenpublikum,

konstituieren, als zweite Kommunikationsrevolution, aufwerten oder eben nur als

technische Weiterentwicklung, mithin als Elektrifizierung, Kombination sowie

optoelektrische Integration von Texten, Tönen und Bildern registrieren will, wird

unterschiedlich beurteilt. Jedenfalls prägt die Massenkommunikation die moderne

Gesellschaft, Kultur und Kunst nachhaltig, erzeugt Standarisierung, transnationale

Uniformität wie neue Ausdrucksformen, lässt die parlamentarische zur Mediendemokratie

mutieren, katapultiert die Medienindustrie mit an die Spitze ökonomischer Wertschöpfung,

bringt eine Vielzahl von Medienberufen hervor und expandiert Werbung zum

omnipräsenten Ferment für Konsum, aber auch für viele anderen Lebensbereiche, vom

Sport bis hin zur Kunst.

Mit der Entwicklung der Mikroelektronik, Telekommunikation und weltweiten Vernetzung

ist die dritte Kommunikationsrevolution voll im Gang. Technisch löst sie die analoge

Übertragung durch die digitale ab, die unbegrenzte Speicherung und Übertragung,

egalitäre Konversion in alle Formate und beliebige Multimedialität, Interaktivität und

permanenten Rollentausch, Echtzeit und Virtualität ermöglicht.

Kommunikationssoziologisch hebt sich die überkommene Dualität von interpersonaler und

Massenkommunikation auf, das Massenpublikum segmentiert nicht nur in spezielle

Zielgruppen, am PC und Internet individualisiert es sich in einzelne User, die ebenso via

E-Mail, Homepages, Chatrooms und Newsgroups kommunizieren wie sie weiterhin

professionelle Produkte rezipieren; als MUDs (Multi User Dungeos) beteiligen sie sich an

(Rollen)Spielen und virtuellen Welten.

Immer kleiner, flexibler, leistungsfähigen und billiger werden die elektronischen Geräte,

bis sie letztlich in andere Geräte integriert oder gar in menschliche Körperteile implantiert

werden: Vom gigantischen Zentralcomputer führt die Entwicklung durch ständig

steigenden Kapazitätszuwachs, gleichzeitige Verkleinerung der Hardware, enorme

Komplexitätssteigerung der Software, durch Preis- und Kostenreduzierung zum isolierten

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PC, dann zu den digitalen Netzen und endlich zur möglichst vollständigen, automatisierten

(“intelligenten”) Schnittstelle bzw. Integration aller Informations- und

Kommunikationsaufgaben durch Multimedia, worin nicht nur PC und Medien konvergent

einbezogen, sondern womit künftig auch weitere ‘informative’ bzw. wissensbasierte

Dienstleistungen bewerkstelligt werden, wie es der Gründer von Microsoft, Bill Gates (u. a.

1995; 1997), in seinen eigenem Haus, mehr noch in seinen Visionen antizipiert.

Immer rasanter vollziehen sich auch Innovationen und Verbreitungen: Brauchte es noch

38 Jahre, bis 50 Mio. Menschen ein Radio-Apparat hatten, 13 Jahre, bis sie über ein

Fernsehgerät verfügten, so dauerte es nur noch drei Jahre, bis es 50 Mio. Internet-Nutzer

gab. Dennoch existieren die meisten Medien aller drei Phasen nebeneinander und

werden genutzt. Mit jedem neuen technischen Schub haben sich funktionale

Differenzierungen insbesondere in der Nutzung und entsprechend in den Formen und

Inhalten ergeben, aber keines der substanziellen Medien ist gänzlich verschwunden.

Deshalb sieht die Kommunikationswissenschaft für den Medienwandel die von dem

Historiker Wolfgang Riepl (1913) als so genanntes “Grundgesetz der Entwicklung des

Nachrichtenwesens” der Antike früh formulierte Erkenntnis bestätigt, wonach ein neues

Medium ein altes nicht gänzlich verdrängt, sondern sich jeweils neue komplementäre

Funktionen und Nutzungsweisen ergeben (Lerg 1981; Kiefer 1989; Berg/Kiefer 1996, 19;

Kiefer 1998, 90; Peiser 1998, 159). Allerdings ist diese These nicht unbedingt auf ein

spezielles Medium bezogen (Faulstich 2002b, 159f), weshalb etliche ihrer technischen

Formate, die zeitbedingt sind, von leistungsfähigeren, robusteren, flexibleren und

billigeren abgelöst werden: Tonwalze, Schellackplatte, Tonband, Videoband, Lochkarte

und Lochstreifen gibt es nicht mehr oder kaum noch. Langspielplatte, Mikrofilm,

Mikrofiche oder 5,25-Zoll-Disketten sind schon fast abgelöst, auch der Film als Kunststoff-

und Zelluoidstreifen in Kamera und Projektor ist von der digitalen Aufzeichnung bedroht,

ebenso dürfte es bald der Videokassette ergehen (Flichy 1994; Gabriel 1997; Hiebel 1997;

Faßler/Halbach 1998; Hiebel u. a. 1998).

3. ‘Neue Medien’ – neue Schlagwörter

Angesichts dieser medientechnischen Vielfalt, des Tempos und der Offenheit ihrer

Entwicklung versteht man Kommunikation immer weniger als personalen Austausch,

unmittelbar zwischen Personen und ohne technische Hilfsmittel, sondern vornehmlich

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medial, und betont oder beklagt die anhaltende Mediatisierung (Mittelbarkeit) oder

Medialisierung aller Lebensbereiche. In den öffentlichen Diskussionen und Darstellungen

überbieten sich folglich ständig modische Schlagwörter, die meist wenig analytische

Substanz haben und nicht selten wieder verschwinden: Lauteten sie in den achtziger

Jahren noch ‘neue Medien’ – gemeint waren damals die neuen Übertragungswege für

Hörfunk und Fernsehen, nämlich Kabel und Satellit, die freilich zu jenen neuen

Organisationsformen und Besitzverteilungen, zur dualen Rundfunkstruktur in Deutschland,

führten –, so sind spätestens seit den 90er Jahren sämtliche elektronischen

Komponenten im Gespräch: zunächst der Personal Computer (PC) und neue opto-

elektronische Speicherträger wie CD, CD-ROMs, mitunter auch schon CD-Videos oder –

heute – DVDs (digital versatile disc), inzwischen sind alle digitalen Formen technisch

denkbar oder schon erprobt: für die Fotografie und für Video, künftig auch für Hörfunk

(digital audio broadcasting [DAB]) und fürs Fernsehen (digital video broadcasting [DVBI).

Hinzu kommen digitale, weltweite und dezentrale Übertragungswege mittels Kabel,

Satelliten oder auch Funkstrecken, die sich in Etiketten wie Vernetzung, Online, E-Mail,

Internet, Multimedia niederschlagen und Transformationen bewirken oder/und

befürchteten lassen. Sie beeindrucken oder irritieren durch Schlagwörter wie

Globalisierung der Kommunikation, Datenautobahn (“information highways”), Interaktivität,

vernetztes Denken, virtuelle Welten, Cyberspace, “global village”, die gleichwohl ständig

mit wechselnden Bedeutungen gefüllt werden und in den öffentlichen Konjunkturen auf-

und absteigen. Letztlich wollen sie – ob spektakulär oder gelassen – anzeigen, dass sich

in den Kommunikations- und Verkehrsformen zugleich Grundlegendes wie Radikales

ändert und sich dadurch die Gesellschaft neu formiert. Wie man diese Veränderungen

bewertet, hängt letztlich von der Position und der Einschätzung ab, die man zur Technik

und zum sozialen Wandel einnimmt.

Sucht man terminologischen Halt, erweist sich wohl der Begriff des Mediums immer noch

als der grundlegendste, mindestens markanteste: Mit ihm wurde bislang die personale,

direkte Kommunikation von der Massenkommunikation kategorial getrennt. Gleichzeitig

wurde die Phase seit dem Aufkommen der Massenmedien von der Epoche des

Buchdrucks davor geschieden und als die der Massenkommunikation bezeichnet, die

primär von den einseitigen Verteilmedien bestimmt wurde und wird. Allerdings wird diese

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duale Abgrenzung längst nicht von allen geteilt, wie in den Kap. 6.5 und 6.7 skizziert wird.

Gerade jene jüngsten Entwicklungen animieren dazu, universelle, überzeitliche, jedenfalls

technikferne Medienbegriffe zu kreieren und durchzusetzen bzw. Kultur- oder gar

Weltgeschichte vorzugsweise als Mediengeschichte begreifen zu wollen.

Mit dem Computer, der Digitalisierung und Vernetzung geht die begriffliche Dualität der

beiden Kommunikationsformen zumindest insofern zu Ende, als die neuen

Medientechnologien personale und mediale Kommunikation auf neue und vielfältige

Weise miteinander verknüpfen, letztlich verschmelzen. Diese Tendenz verfolgten zuerst

das Telefon und seine Erweiterungen durch Bildschirmtext als zweiseitig, interaktiv

nutzbare Vermittlungsmedien. Die sich nun verbreitenden Online-Medien, vor allem

Internet, vervielfältigen und vervollkommnen sie.

Ob Internet ein Massenmedium ist oder zu einem wird, ist letztlich wiederum

Definitionssache. Von seiner explodierenden Nutzung, mittlerweile auch von mancher

publizistischen Wirkung her (etwa nach der Verbreitung des Reports von Kenneth W.

Starr 1998 anlässlich der Lewinsky-Affäre von US-Präsident Bill Clinton) lässt es sich als

Massenmedium ansehen und wird auch so bereits bezeichnet (Kübler 2000c). Aber es

hält mehr Optionen als die klassischen Verteilmedien parat, da es auch andere, nicht

publizistische Leistungen und Dienste integriert und damit kommunikative Vermittlungen

ermöglicht. Seine Nutzungsbreite reicht von der Herstellung privater Kontakte mittels E-

Mail, der Einrichtung spezieller Kommunikationskreise, sogenannter Intranets, meist für

gewerbliche Zwecke, der Inanspruchnahme durch mehr oder weniger geschlossene

Foren und Newsgroups, bis hin zur Realisierung nichtpublizistischer Dienste wie Online-

Banking, Online-Shopping, Online-Ordering etc., in die jedoch zunehmend Werbung als

öffentliches Element eingelagert ist. Diese Dienste begründen zivilrechtliche, nicht

medienrechtliche Beziehungen unter den Teilnehmern, und viele überkommene

Rechtsfragen wie der Schutz der Verbraucher und die Urheberschaft für geistige Produkte

sind noch nicht befriedigend geklärt, zumal nicht mit der erforderlichen internationalen

Geltung. Deshalb suchen Gesetzgeber und Juristen nach passenden Regeln und

Vereinbarungen (ARD/ZDF-Arbeitsgruppe 1997, 29ff; vgl. die jeweils aktuellen

Staatsverträge über Rundfunk und Mediendienste, zuletzt 1. Juli 2002, sowie

Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz vom 22. Juli 1997, vgl. Telemediarecht

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2002); für die Europäische Union strebt die EUKommission eher wirtschaftspolitische,

sprich: deregulierende Fassungen an, die alle Medien eher als Wirtschafts- denn als

Kulturgüter sehen. Damit ergeben sich nicht unerhebliche Divergenzen zwischen

nationalen und europäischen Regelungen (Meckel/Kriener 1996; Dörr 2002).

4. Diverse Medienbegriffe

Wie bereits ausgeführt, sind Definitionen und Qualitäten der Medienbegriffe recht

vielfältig, von Extremen, Reichweiten und Widersprüchen gekennzeichnet, beeinflusst

vom Verständnis von Kommunikation und Wirklichkeit, wie sie ihrerseits solche

Auffassungen prägen (Leschke 2003, 12ff). Über die bereits genannten Typen hinaus

seien hier folgende Medienbegriffe paradigmatisch aufgeführt. Sie lassen sich –

erwartungsgemäß (Faulstich 2002b, 20) – nicht ganz trennscharf voneinander abgrenzen,

sind teils unabhängig voneinander, teils konkurrieren sie miteinander; aber sie lassen sich

auch nicht mit einem Federstrich vereinheitlichen oder in einer vorgeblich alles

umfassenden Definition normativ unterbringen (Ebd., 26).

4.1. Der universale Medienbegriff

Die universelle Bedeutung von Medien ist bereits umrissen worden; sie findet sich sowohl

in sprachlich-linguistischen, allgemein philosophischen, aber auch transzendentalen-

esoterischen Kontexten. Für die medientheoretische Diskussion stieß der kanadische

Medienphilosoph Marshall McLuhan in den 60er Jahren mit seinen weltweit verbreiteten

Bestsellern heftige Debatten mit säkularen Ausmaßen an; aber sein Medienbegriff als

“Erweiterung des Menschen”, womit er auf anthropologische Sichtweisen auf das

“Mängelwesen Mensch” (A. Gehlen) angespielte, setzte sich weit weniger durch,

wenngleich inzwischen seine Thesen wieder aufgegriffen wurden und sogar eine

fortgeführte “Tradition des McLuhanismus” konstatiert werden kann (Balten u. a. 1997;

Ludes 1997, 77ff; Kloock/Spahr 2000, 39ff).

In den philosophischen und kulturgeschichtlichen Diskursen tauchen solch universelle

Medienbegriffe immer wieder auf, wenn ihre Begründungen und Erklärungen aus

vielfältigen Quellen genährt werden. Je stärker sich Medienwissenschaft als

eigenständige Disziplin zu konturieren versucht, um so ausführlicher und genauer suchen

ihre Vertreter in früheren philosophisch und kulturgeschichtlich geprägten Diskursen

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medientheoretisches Denken zu rekonstruieren (Bohn u. a. 1988; Großklaus 1997;

Faulstich 2002b, 69ff; Leschke 2003). So hat etwa der Mannheimer

Medienwissenschaftler Jochen Hörisch als universale Kulturgeschichte eine dreiteilige

“Poesie” der Religion, des Geldes und der Medien entworfen (1992, 1998, 1999) und

entwickelt darin – ` ontosemiologisch”, d. h. zugleich seins- wie zeichenbezogen –

zentrale Tendenzen abendländischer Kultur- und Weltentwicklung: Als universelles

Paradigma gilt ihm die äußere Form der Scheibe, die der Hostie, der Münze wie der CD

(ROM) zu eigen sei, ihre jeweilige historische Vorherrschaft indiziere jeweils kulturelle wie

kultische Gewichtungen. Die Medienhistoriker Wulf R. Halbach und Manfred Faßler (1998)

unterscheiden zwischen Medien, die

a) als Vermittlung einer unerfahrbaren, göttlichen und religiös gefassten ‘Außenwelt’ nach‘Innen’ dienen

b) als Vermittlung zwischen ‘Wirklichkeit’ und ‘Schein’, Wahrheit und Trug gelten

c) als kulturell abhängiger Teil sozialer Selbstbeschreibung benutzt werden und

d) als autonome Systeme der scheinhaften Realitätserzeugung auftreten; darunter fallendie so genannten Massenmedien wie Zeitung, Film, Radio und Fernsehen(Halbach/Faßler 1998, 35; Hickethier 2002, 172).

Auf W. Faulstichs (2002b) universelle Medien- bzw. Menschheitsgeschichte und

dementsprechend auf seinen weiten Medienbegriff, der vom schlichten “Mensch-Medium”

bis zu komplexen systemtheoretischen Kategorien wie Kanal, Organisation, Leistung und

gesellschaftliche Dominanz alles einzuschließen vorgibt, ist bereits

hingewiesen worden (Kap. 5.4). Auch sämtliche poststrukturalistische Wirklichkeits.

konzepte oder oben als “kulturwissenschaftlich” bezeichnete Medientheorien rekur' rieren

auf wie immer gefasste universelle Medienbegriffe: Für den tschechischen

Medientheoretiker Vilém Flusser (1920- 1991) sind Medien unterschiedslos technische

Apparate, der Telegraf und der Fotoapparat ebenso wie gegenwärtig die digitalen

Systeme; sie haben jeweils weitreichende kulturelle Folgen, ja zeitigen neue

gesellschaftliche Formationen, nunmehr: die “telematische” Gesellschaft, die Flusser als

völlig vernetzte und dialogische, aber nun zur eigentlich menschlichen hochlobt (Rosner

2000). Auch der französische Architekt und Kulturkritiker Paul Virilio (geb. 1932) sieht mit

den “elektromagnetischen Übertragungsmedien” eine “völlig neue ‘Weltordnung’” (Klook

2002, 136) entstehen, aber eine, die die Menschen ihrer Räumlichkeit beraubt, ihnen

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Nähe und reale Präsenz blockiert. Verschaltet und enträumlicht , leben sie in “atopischen

Tele-Gemeinschaften” oder in einer “teleoptischen Meta-Polis”, ausgeliefert den

Dynamiken und Formierungen der Medien (Ebd., 152ff). Hingegen sieht der Berliner

Kulturwissenschaftler Friedrich A. Kittler (geb. 1943) Medien eher funktional, als Mittel, die

in historisch unterschiedlicher Potenzialität “Speichern, Übertragen und Verarbeiten von

Information leisten” (Spahr 2002, 167), dadurch aber die Entsubjektivierung des

Menschen vorantreiben und diverse Wirklichkeiten ausdifferenzieren. Erst mit dem

Computer kulminiert diese Tendenz, er ist das eigentliche “Maschinensubjekt”, der sich

gegenüber dem Menschen verselbständigt (Ebd., 200f).

Auch in kunstbezogen Debatten und Analysen spielt der universale Medienbegriff eine

ständig wachsende Rolle, seit etwa ab den 60er Jahren Videokunst entstand und sich als

neue Option anbietet, Wirklichkeit und ihre künstlerische Wahrnehmung zu visualisieren,

sie aber auch in frei flottierenden, ‘virtuellen’ Bildern zu simulieren oder zu imaginieren

(Pörksen 1997; Pias u. a. 1999; Baumann/Schwender 2000; Haustein 2003). Inzwischen

gelten sie als paradigmatische Repräsentanzen inter- oder transkultureller Art, die hybrid,

d. h. unendlich vielfältig kombiniert und fusioniert, global und enträumlicht, virtuell und

abstrakt weltweite Medienkunst (nicht zuletzt im Sinne der Visionen McLuhans)

konstruieren, sie auch unentwegt transformieren und transzendieren. Dabei deutet der

Begriff der Medienkunst abermals auf terminologische Unsicherheit hin; denn ein Medium

braucht Kunst für ihre Veranschaulichung immer, seit Menschen ihre ersten Eindrücke auf

Stein oder Holz festgehalten haben; wenn nun Medienkunst prototypisch für die

Technisierung, Medialisierung und Digitalisierung der gegenwärtigen Kunst sein soll, will

diese Begriffschöpfung auf das (vermeintlich) Neue und Andersartige dieser Kunst

hinweisen, ohne sich allerdings hinreichend der Tradition und Kontinuität zu versichern.

4.2. Der elementare Medienbegriff

Bleibt der Medienbegriff explizit oder mindestens nachvollziehbar auf symbolische

Dimensionen, zumal auf menschliche Konstrukte kommunikativer Interaktionen in der

Wirklichkeit begrenzt, lässt er sich als elementar kennzeichnen (wobei viele Entwürfe

heute in der Nachfolge McLuhans diesen Unterschied nicht erkennen oder wahrhaben

wollen). Der elementare Medienbegriff wurzelt zum einen in der Zeichentheorie, also in

der grundlegenden Definition des Zeichens als einer willkürlichen, nur konventionell

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festgelegten Relation zwischen Ausdruck und Inhalt, zwischen Bezeichnendem und

Bezeichnetem und in den Modalitäten seiner Verwendung (Pragmatik). Zum anderen

rekurriert dieser Begriff auf die generelle Sprach- und Kommunikationsfähigkeit des

Menschen, wodurch er sich als Lebewesen von allen anderen unterscheidet, also auf die

Sprach- und Kommunikationskompetenz, wie sie Wilhelm von Humboldt, nach ihm Noam

Chomsky und Jürgen Habermas als theoretischen Begriff formuliert haben (siehe Kap.

2.7). Danach sind alle Entäußerungen oder Manifestationen von Geistigem medial, weil

sie mittels eines Zeichensystems artikuliert und damit materialisiert werden. Das

essenziellste Zeichensystem des Menschen ist die Sprache, aber auch Gestik, Mimik,

Laute, Töne und Bilder gelten – ungeachtet ihrer technischen Formierungen – als Medien.

Solche Sichtweisen werden heute wieder betont, wenn darüber geforscht und

experimentiert wird, ob und wie menschliche Fähigkeiten der Kognition und Artikulation

von Computern imitiert und übernommen werden können, etwa die elektronische

Erkennung von Sprachen, die automatische Übersetzung von einer Sprache in die andere

oder gar die automatischen Ausführungen von Tätigkeiten, wie es in den Konzepten der

Künstlichen Intelligenz angestrebt wird. Aus ihnen resultiert auch die etwas nachlässige

oder euphemistische Rede von der Dialogfähigkeit des Computers, weil seine

Zeichenerkennung und -verarbeitung mit der des Menschen gleichgesetzt wird (Dreyfus

1985; Michie/Johnston 1985; Vulner 2000)

4.3. Der technische (oder technologische) Medienbegriff

In der eigentlichen Mediengeschichte (Hiebel u. a. 1999; Wilke 2000a) nimmt der

technische Medienbegriff seinen Ausgang bei Gutenbergs Druckerpresse, also bei der

mechanischen Vervielfältigung von Sprache und Schrift, universalhistorisch könnte er

auch bei besagter Erfindung der Schrift angesetzt werden. Vorrangig sind mit ihm die

material-technischen Zeichenträger bzw. Mittler als Medien gemeint, freilich sowohl die

Trägermaterialien wie die Vervielfältigungsfaktoren, wodurch immer wieder

Überschneidungen wie Verwechselungen auftreten: also das Papier ebenso wie die

Drucklettern, der Zelluloidstreifen und der Projektor für den Film, die elektromagnetischen

Wellen, später das Breitbandkabel und die Satellitenschüssel für Hörfunk und Fernsehen

wie die Empfangsgeräte, die Radio- und Fernsehapparate ebenso wie die Speicher- und

Verteilformen, also Videoband und -kassette, das Tonband und Schallplatte bzw. CD,

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beim Computer: die Festplatte, Diskette, die CD-ROM wie ISDN und Netze für die Online-

Optionen. “Multimedia” annonciert die Verschmelzung von Computertechnik

(Mikroelektronik), Telekommunikation und Netztechnologie, wobei aus Sicht des

Rezipienten noch nicht entschieden ist, ob künftig der Fernsehapparat mit Tastatur und

Online-Anschluss das zentrale Medium (oder Terminal) und damit eher die

Unterhaltungsofferten im Vordergrund stehen oder der PC, der dann hochauflösende

Bilder, Hifi- und Stereo-Qualität für Töne und Sprache haben muss, aber eher der

Informationsrecherche und -vermittlung dient, oder ob die beiden Systeme zwar technisch

miteinander integriert werden können, aber funktional getrennt bleiben.

Der moderne technische Medienbegriff, der dann mit theoretischer – etwa

funktionalistischer oder systemtheoretischer – Unterfütterung auch zum technologischen

erweitert werden kann, rekurriert auf die nachrichtentechnischen Entwicklungen, wie sie

C.E. Shannon und W. Weaver mit ihrer Mathematischen Theorie von Kommunikation

(1949; 1976) initiiert haben. Sie konzentrieren sich bekanntlich auf Material, Form und

Qualität der Übertragung, des Transfers, versuchen zum einen deren Eigenschaften zu

messen und zu optimieren, zum anderen jeweils neue Formen, Materien und Systeme für

den Informationsaustausch zu entwickeln: von der drahtgestützten zur drahtlosen, der

satelliten- zur netzbasierten und derzeit wieder zur “wireless” Übertragung. Dabei sind

neben technischen ökonomische und nicht zuletzt sicherheitsspezifische Aspekte von

Bedeutung, wie die Entwicklung des Internet von einem militärischen, dezentralisierten

Informationssystem im Kalten Krieg, über seine kollektive, gemeinwirtschaftliche Nutzung

als Campus- und Wissenschaftsnetz in den 60er und 70er Jahren bis hin zum

kommerzialisierten Endverbraucher-Service mittels des World Wide Web (WWW) seit den

80er Jahren exemplifiziert. Entsprechend wird heute zwischen Hardware und Software,

also zwischen Technik und Programm unterschieden, unterteilt in Betriebssysteme und

Anwendungsprogramme, wobei letztere inzwischen noch einen großen Bereich des so

genannten “content” einschließen. Der technische Medienbegriff bezieht sich dabei auf

die Hardware, von der Software sind es allenfalls noch die Betriebssysteme, weil diese

Einfluss auf die Anwendungsprogramme nehmen, nicht nur in technischer Hinsicht,

sondern auch als Bedingungen und Strategien des Marktes.

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Wenn universelle Medientheorien in der Nachfolge McLuhans vornehmlich aus

technischer Sicht argumentieren, mithin gewissermaßen einer technischen Determination

von Kultur und Wirklichkeit das Wort reden, in warnender oder euphemistischer Weise,

wie es etliche bekanntlich tun, implizieren sie stets auch eine technologische

Präjudizierung von Medien. Natürlich lässt sich bei den modernen Mediensystemen eine

solche Implikation nie ganz ausschließen, sie wäre angesichts einer anhaltenden

Technisierung von Lebenswelt und Alltag sogar irreführend; es kommt allerdings darauf

an, wie die Gewichte verteilt sind und wie Folgen und Wirkungen verursacht gesehen

werden.

4.4. Der kommunikations- und organisationssoziologische Medienbegriff

Wiederum seit Gutenberg verlangen und bewirken die jeweils neuen Technologien

spezielle betriebliche Organisations- und Arbeitsformen, Berufe und Tätigkeiten:

Papiermühlen, Setzereien und Druckereien entstehen, Verleger, Drucker, Kolporteure und

Buchhändler vertreiben die Drucke auf den Messen. Verlage und Grossisten im heutigen

Verständnis gründen sich erst später, seit dem 18. Jahrhundert. Zeitungen und

Zeitschriften erfordern ebenfalls Druckereien, Verlage, Distributionssysteme, ermutigen

die Gründung von Lesegesellschaften, -kabinetten und -zirkeln, Kinofilme verlangen neue

Abspielstätten, zunächst einfache Läden, dann – mit bürgerlichem Prestige – prachtvolle

Kinos, befördern Konzerne, mächtige Produktions- und Verleihformen, Auswahl- und

Promotionsstrategien von Schauspielern, Hollywoods “Starsystem” zum Beispiel, und

Hörfunk und Fernsehen erwirken Sendeanstalten in verschiedenen Rechts- und

Eigentumsformen: privatwirtschaftliche, öffentlichrechtliche und staatliche (Wilke 2000a;

Prokop 2001).

Unter den Anforderungen moderner Medientechnologien und hoher Kapitalinvestitionen

haben sich inzwischen intermediale Konzerne gebildet, die sämtliche medialen

Verbreitungsformen in ihren Betrieben oder in ihren Besitzstrukturen vereinen und “cross

ownerships” formieren. Sie vermarkten Stoffe und Stars multi- oder transmedial und

steuern jeweils ihre Vermarktungskampagnen weltweit. Etliche Konzerne sind nicht

ausschließlich in der Medienbranche angesiedelt, sondern stammen aus der Energie-,

Elektronik-, Bau-, Versorgungs- und Nahrungsmittelbranche. Mittlerweile vereinnahmen

sie von den Filmstudios in Hollywood bis zu den Telefonleitungen und Computernetzen,

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von der Papierherstellung und CD-Fabrikation bis hin zu den Buchclubs und Live-

Konzerten ihrer Popstars, von der Werbebranche bis hin zur Freizeitindustrie und

Tourismusbranche alles: Microsoft, AOL Time Warner Inc., Walt Disney Co., Viacom Inc.,

News Corporation Ltd., Murdoch, Vivendi und die Bertelsmann AG rechnen zu diesen

“Global Players”, die inzwischen den Kommunikationsmarkt der Welt beherrschen (Schulz

1997a; Hachmeister/Rager 1997, 2002; Johns 1998).

4.5. Der kommunikativ-funktionale Medienbegriff

Jede Kommunikation – auch die mediale – realisiert kommunikative Funktionen. Mithin

lässt sich auch jedes Medium in dieser kommunikativen Funktionalität beschreiben, bzw.

es lassen sich ihm kommunikative Funktionen attestieren. Sie werden dabei mit den

verschiedenen Komponenten der Medien verknüpft – mit den Apparaten ebenso wie mit

den geistigen Produkten, mit den elementaren Zeichendimensionen wie mit den

gesellschaftlichen Organisationsformen – und wandeln sich im Laufe der Geschichte.

Außerdem haben sich in der Kulturgeschichte und in der sozialen Gegenwart bestimmte

Kommunikationsfunktionen herausgebildet bzw. werden von den Medien wahrgenommen

oder ihnen zugeschrieben, die bei modernen Gesellschaften längst zum soziokulturellen

Gefüge und Bewusstsein gehören: etwa die Konstitution, mindestens die Präsentation von

Öffentlichkeit, die Integration heterogener Gruppen und Interessen, Information, Kritik und

Kontrolle als Faktoren demokratischer Willensbildung, die Anregung von

Bildungsprozessen, die Versorgung mit Unterhaltung und Amüsement, die Verbreitung

von Werbung etc.

Ferner werden einzelnen Medien besondere kulturelle, ästhetische Optionen attestiert:

Dem Fotoapparat schreibt man zu, dass er Ausschnitte von Realität auf dem Negativ

ablichtet, festhält und damit materialisiert. Spätestens seit Walter Benjamins (1963;

Kloock/Spahr 2000, Off) Ausführungen über die dadurch bewirkte Reproduzierbarkeit von

Kunst gelten Singularität und Aura des Kunstwerks als aufgekündigt. Aber vermutet wird

auch, dass diese Medientechnik ein neues Sehen bewirkt hat (Monaco 2002; Schnell

2000). Den Film mit seinen bewegten Bildern rühmt man wegen seiner speziellen

Sprache, also wegen seines expressiven und ästhetischen Vermögens. Das Fernsehen

universalisiert gewissermaßen die audiovisuelle Reproduktion von Wirklichkeit und

banalisiert sie zugleich, da es keinen Lebensbereich mehr vor der elektronischen

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Repräsentation verschont. Das Internet kann als Hybridmedium sämtliche kommunikative

Funktionen vereinnahmen, hat sich bislang eher als Informations- und Austauschmedium

durchgesetzt, aber löst zugleich traditionelle Formen mündlicher Kommunikation ab und

erweitert sie. Die Kernfunktionen der Massenmedien, etwa die von Zeitung, Radio und

Fernsehen, hinsichtlich aktueller Information und populärer Unterhaltung könnte es

technisch auch usurpieren, hat sie jedoch in der breiten Nutzung noch kaum angetastet

und wird sie wohl auch nicht in absehbarer Zeit. Gleichwohl gilt der Trend, dass Medien

immer mehr und komplexere kommunikative Funktionen übernehmen, so dass sich immer

schwerer trennen lässt, welche Eigenschafts- und Funktionszuschreibungen für das

jeweilige Medium vorrangig sind. Letztlich entscheiden darüber die unterschiedlichen und

mit der Entwicklung auch wechselnden Nutzungsgewohnheiten.

4.6. Der systemische Medienbegriff

Einen theoretischer Ausweg aus diesem real verursachten, aber theoretisch zugespitzten

Definitionswirrwarr sehen viele zeitgenössische Betrachtungen nur noch darin, den

Medienbegriff so auszudehnen, wie überhaupt menschliche Erkenntnis reicht (und sie

nähern sich damit dem eingangs aufgeführten universalen Medienbegriff an): Die einen

argumentieren von einer medien- und technikkritischen Haltung aus – der Semiotiker und

Kulturkritiker Umberto Eco (1986) nennt sie die “Apokalyptiker” –, und sie sehen die

Wirklichkeit weitgehend oder schon gänzlich mediatisiert, die “virtuelle Realität” mithin

schon als realer an als die wirkliche. Eingangs sind sie als “kulturwissenschaftliche

Medientheorien” bereits skizziert (Kloock/Spahr 2000; Engell u. a. 1999) oder als

unwissenschaftliche “Pseudotheorien” abgewertet worden (Faulstich 2002b, 26ff). Die

anderen verbreiten eher Technik- und Medieneuphorie und prophezeien deren

ungeahnten Potenziale, mit denen sich die natürlichen Begrenztheiten des Menschen

überwinden lassen und die Individuen selbst Teile von Mediensystemen werden.

So prangert etwa der Mediendesigner Nobert Bolz (1995) bedenkenlos den historisch

mühsam errungenen “Humanismus” als zentrales Hemmnis für die erforderliche

Modernisierung an und fordert für die Zukunft ein “antihumanistisches Menschenbild”,

ohne dass er hinreichend expliziert, was er darunter versteht, auch ohne dass er erst

recht gründlich bedenkt, was ein solches Postulat in einer durchaus nicht humanen Welt

anrichten könnte. Umgekehrt verdächtigt der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler

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Claus Eurich (1998) die öffentliche Diskussion, sie erhebe die Medien zum universalen,

übermächtigen Mythos und schreibe ihnen “quasireligiöse” Bedeutungen zu.

Besonders die soziologische Systemtheorie rekurriert in abstrakter Hinsicht auf einen

systemischen Medienbegriff, wie er von dem Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann

(1927-1998) paradigmatisch entwickelt wurde (Luhmann 1996). Die Systemtheorie

begreift Gesellschaft als autoreferenzielles (d. h. als auf sich selbst bezügliches und sich

selbst erzeugendes) System, das als “Letztelement” auf Kommunikation beruht. Mit ihr

grenzt sich jedes System vom anderen ab, so dass sich bestimmen lässt, was zu einem

System gehört und was zu dessen Umwelt. Außerdem stiftet Kommunikation Sinn und

sinnhafte Grenzen und reduziert wie erhält innerhalb des Systems Komplexität. Dadurch

ist ein System fähig, seine Identität auszubilden und sich als System im Verhältnis zu

seiner Umwelt zu definieren (Görke/Kohring 1996, 16f; Schmidt 1994, 592ff).

Den Begriff des Massenmediums im engeren Sinn fasst die Systemtheorie eher

instrumentell, nämlich als technisches Verbreitungsmittel, das “keine Interaktion unter

Anwesenden zwischen Sender und Empfänger” zulässt (Luhmann 1996, 5;

Görke/Kohring, 1996, 18). Massenmedien verkörpern ein eigenes System, dessen Code

als zeitliche Dimension definiert wird und sich – entsprechend dem systemtheoretischen

Informationsbegriff – aus der Differenz von Information und Nichtinformation ergibt. Dieser

nicht sehr explizite, letztlich kryptisch bleibende Medienbegriff ist von systemtheoretisch

orientierten Kommunikationswissenschaftlern (wie U. Saxer, M. Rühl, K. Merten,

B.Blöbaum [1994] und S.J. Schmidt) aufgegriffen und unterschiedlich weiterentwickelt

worden, so dass inzwischen ebenfalls nicht mehr von einem konsistenten systemischen

Medienbegriff ausgegangen werden kann (vgl. Donges/Meier 2001). Diese Varianten sind

bereits angesprochen worden oder werden gegebenenfalls im weiteren Verlauf dieses

Buches vorgestellt.

5. Ende der Massenkommunikation?

In Umbruchzeiten bestehen gemeinhin alte und neue Strukturen nebeneinander, so dass

eingeführte und aktuelle, womöglich kaum überdauernde Begriffe miteinander

konkurrieren. Dabei gelingt es kaum, sie jeweils voneinander exakt zu trennen bzw. zu

entscheiden, welcher Begriff sich jeweils wie durchsetzt und welcher nicht. So wurde

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schon wiederholt prognostiziert, dass die inzwischen klassischen Massenmedien abgelöst

würden und zumindest theoretisch überholt seien.

Trotzdem erfreuen sie sich in ihren überkommenen wie auch in ihren jüngsten Formen

noch erheblicher, kaum eingeschränkter Resonanz: Radio und insbesondere Fernsehen

haben mit der Erweiterung ihrer Übertragungskapazitäten durch Kabel und Satellit sogar

eine enorme Expansion und quantitative Vervielfältigung erfahren, so dass sie jetzt –

zumindest hinsichtlich der Nachfrage durch das Publikum – mehr als jemals zuvor

Massenmedien sind. So erreicht etwa der Marktführer RTL in Deutschland mit einem

durchschnittlichen Marktanteil von rund 20 Prozent in Spitzenzeiten fünf bis sechs

Millionen Zuschauer, manche besonders populären Unterhaltungssendungen wie Rate-,

Quiz- und Starshows sowie große Sportübertragungen fesseln sogar über 16 Millionen an

den Bildschirm – Publikumszahlen, die denen in den 60er Jahren nicht nachstehen, als

die beiden öffentlich-rechtlichen Programme mit ihren “Straßenfegern”, den berühmten

Kriminalreihen wie das Halstuch oder Stahlnetz, noch Reichweiten um die 80 Prozent

erzielten. Wenn spektakuläre Ereignisse, sogenannte “media events” wie die

Fußballweltmeisterschaft oder die Begräbniszeremonie für die englische Prinzessin Diana

über den Bildschirm flimmern, schlägt das Fernsehen weltweit gut zweihundert Milliarden

Zuschauer in seinen Bann (Hickethier 1998; Klinger u. a. 1998; Burkart 2002, 362ff; Imhof

u. a. 2002).

Dennoch wird schon länger das Ende der Ära der Massenkommunikation angekündigt:

“There never was such a mass society before and probably will never be once again”,

konstatiert der amerikanische Kommunikationsforscher Ithiel de Sola Pool bereits zu

Beginn der 80er Jahre (1983, 259 zit. nach Maletzke 1987, 247), und andere stimmen ihm

zu (Burkhart/Hömberg 1997, 79 u. 87; Jarren/Donges 1997; 2002). Gemeint ist damit

zweierlei: Zum einen habe sich die Massengesellschaft als soziale Basis der

Mediennutzung verabschiedet, zumindest löse sie sich zusehends auf; zum andern

ermöglicht gerade die erwähnte Vervielfältigung und Spezialisierung der elektronischen

Medien die Diversifizierung und Segmentierung des Publikums, so dass ein

Massenpublikum wie früher kaum mehr erreicht werden könne.

Sicherlich ist der Begriff des Massenmediums an das Konzept der Massengesellschaft

gebunden, das zu Beginn dieses Jahrhunderts entsteht. Mit der Industrialisierung,

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Urbanisierung, Verelendung der unteren sozialen Schichten sowie der Erosion personaler

Strukturen und traditioneller Wertorientierungen löst sich die herkömmliche

Gesellschaftsordnung offensichtlich auf, die auf formellen, verwandtschaftlichen

Bindungen und normativen, organischen Beziehungen geruht hat. An ihre Stelle treten

situative, indifferente soziale Konstellationen, die sich entsprechend unterschiedlicher

Gegebenheiten und Zwecke bilden: über Arbeit, Wohnung, Bildung, Freizeit, funktionale

Organisationen, Situationen des Alltags und altersspezifische Interessen. Sie erzeugen

aber keine überdauernden, ganzheitlichen und emotionalen Bindungen mehr. Auch die

Massenmedien rechnen zu diesen Faktoren. Insbesondere besetzen sie – so die

Annahme – das durch die Bindungslosigkeit entstandene emotionale wie wertbezogene

Vakuum und können so die Menschen, die sich wie Atome abstoßen und anziehen, also

‘atomistisch leben’, nachhaltig steuern oder manipulieren: Wie subkutane Injektionen

(“hypodenmic needles”) stoßen die Medienbotschaften angeblich in das Unterbewusste

der Rezipienten vor, Treibriemen (“transmission belts”) gleich umschlingen sie sie mit

ihren Verlockungen – und was dergleichen mehr an verbalen Anleihen aus

Naturwissenschaften und Technik bemüht wurde (Naschold 1969).

Unterstützung erfahren diese Sichtweisen von der konservativen Gesellschafts- und

Kulturkritik. Spätestens seit Gustave Le Bons (1841 – 1931) Psychologie der Massen

(1895) ist “Masse” zum Synonym für attavistische Instinkthaftigkeit und irrationale

Beeinflussbarkeit, für den Verlust von Individualität und Mitte geworden. Der Soziologe

Ferdinand Tönnies (1855 -1936) formuliert 1887 mit der Trennung von Gesellschaft und

Gemeinschaft ein prägendes Paradigma der Gesellschaftstheorie und -politik. Er wertet

die (Massen)Gesellschaft als rationale Lebensführung (mit “Kürwillen”, eine der Willkür

nachempfundene Wortschöpfung) ab, da sie sich zum Ideal der durch innere, seelische

Verbundenheit der Mitglieder (dem “Wesenwillen”) prinzipiell zusammengehaltenen

Gemeinschaft “wie ein künstliches Gerät oder eine Maschine [verhalte], welche zu

bestimmten Zwecken angefertigt wird, zu den Organsystemen und einzelnen Organen

eines tierischen Leibes” (Tönnies 1935, 125, zit. nach Kunczik 19792, 18).

Es gehört wohl zu den verhängnisvollsten, mindestens mitzuverantwortenden Folgen

solchen wissenschaftlichen Denkens, dass sich die Nationalsozialisten seiner mentaler

Grundlagen bedienten, beliebige theoretische Versatzstücke herausgriffen und mit ihnen

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das perfideste Regime des Massenterrors und die grausamste, perfekteste Maschinerie

der physischen Massenvernichtung rechtfertigten (siehe Rammstedt 1986): Gerade jene

Massenpsychologie, die a priori die Schlechtigkeit der Masse postuliert und zugleich nach

der Herrschaft ruft, die diese im Zaum hält, warnen die Soziologischen Exkurse (Institut

für Sozialforschung 1956, 74), die in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Frankfurter

Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Max Horkheimer (1895 -1973) und

Theodor W. Adorno (1903 – 1969) entstehen, wird selbst ein Mittel der Verführung. So

lesen sich Hitlers Deklamationen über die Masse und ihre Beeinflussung wie eine billige

Kopie Le Bons. Massenpsychologische Gemeinplätze verdecken jene die Massen

manipulierende Demagogie, in deren Dienst sie selbst stehen.

In den USA ist der Begriff ‘mass’ nicht derart tiefgründig und ideologisch besetzt,

wenngleich die europäische Diskussion, vor allem aber die aufkommenden totalitären

Bewegungen Besorgnis erregen. Eher wird ‘Masse’ funktionalistisch gesehen als relativer

Indikator für jenen Grad der erreichten Industrialisierung und Urbanisierung, für die

fortschreitende soziale Nivellierung und Erosion, aber auch als Ausdruck für die als

unumkehrbar erachtete Isolierung des Individuums aus den überkommenen Strukturen

wie Verwandtschaft, Tradition, Religion oder ständischer Position. Zunehmend – so die

verbreitete Diagnose – vereinzeln die Individuen, leben isolierten Atomen ähnlich in

wechselseitiger Anonymität, als “einsame Masse” und sind Einflüssen, zumal gezielt von

außen ansetzenden wie den Medien schutzlos ausgeliefert (Riesman 1958).

In die deutsche Sprache wird der Begriff ‘Massenkommunikation’ in den 60er Jahren

durch die schlichte Übernahme des angloamerikanischen ‘mass communication’

eingeführt – und die ideologischen Implikationen des mitteleuropäischen Masse-Begriffs

bleiben wohl anfangs unbedacht. Seither debattiert man über seine missverständliche

Semantik und hat auch schon für seine Abschaffung plädiert (Merten 1977, 145; Merten

1986, 111). Aber seine internationale Gebräuchlichkeit lässt ihn überleben – bis er nun

wohl von dem unverfänglichen, aber auch breiteren der Medien oder der medialen

Kommunikation abgelöst wird, weil die realen Entwicklungen – wie skizziert – dahin

tendieren.

Falsch sei von Anfang an gewesen, kritisierte der amerikanische Soziologe Herbert

Blumer (1966, 30, zit. nach Kunczik 19792, 18f), der Massengesellschaft zu unterstellen,

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“dass [sie] nicht Lebensordnung, sondern Auflösung einer Lebensordnung bedeutet”.

Immerhin erkennen viele Zeitgenossen die Massengesellschaft als unausweichliche

Durchgangsphase zur modernen, demokratisch organisierten Industriegesellschaft. Dabei

haben empirische Indikatoren die vielfach apostrophierte Vermassung und Vereinzelung

der Menschen nicht so zwingend und umfassend nachgewiesen, wie es die theoretischen

Entwürfe und kritischen Sichtweisen behauptet haben. Vielmehr macht man bald

neuartige, funktional bedingte soziale Strukturierungen in den vermeintlich amorphen

sozialen Gebilden aus, die soziale Gruppe wird quasi ‘wiederentdeckt’, korrekter: als unter

anderen Bedingungen entstandene Primärformation der modernen Gesellschaft erkannt –

übrigens nicht zuletzt durch Erhebungen von Kommunikationsforschern, allen voran Paul

F. Lazarsfeld (1901-1976) und seinen Mitarbeitern im Präsidentschaftswahlkampf von

1940 (Lazarsfeld/Berelson/Gaudet 1969; Langenbucher 1990). Allmählich verstummt die

Rede von der Massengesellschaft, mindestens relativieren sich die pessimistischen

Untertöne. In Deutschland geschieht dies erst in den 60er Jahren, nachdem in der

Nachkriegszeit trotz der ideologisch-propagandistischen Perversion des Massenbegriffs

durch die Nationalsozialisten erneut Vereinzelung, Entfremdung, “Vermassung”, “Verlust

der Mitte” und Anonymität beschworen worden sind.

In der Medienforschung entspricht der Theorie der Massengesellschaft die These von der

allmächtigen Wirkungs- und Manipulationsmacht der Massenmedien, die sich allerdings

bis heute – trotz der Verabschiedung von der Massengesellschaft – in allerlei Versionen

hält. Diese Prämisse unterstellt (nach wie vor), dass die ständig einflussreicher

werdenden (Massen)Medien auf die Individuen fast ungehindert einwirken können, da

ihnen andere Orientierungen und Wertungen, die etwa als schützende Hüllen oder gar als

Gegenkräfte fungieren könnten, fehlen. Erst als die neuen funktionalen Gliederungen und

Netzwerke in der Gesellschaft entdeckt werden und man zugleich erkannt hat, dass auch

die Kommunikation über Medien mehrstufige Prozesse der Verbreitung durchläuft und

etwa sogenannte Meinungsführer (opinion leaders) oder Experten bei der Resonanz und

Akzeptanz von Neuigkeiten Einfluss haben oder soziale Netzwerke bestehen, über die

sich die Medienbotschaften vielfältig verbreiten, aufladen und bewerten, relativiert sich die

Annahme über die Wirkungsmacht der Medien. In den 60er Jahren verkehrt sie sich sogar

in ihr Gegenteil: nämlich in die Annahme von der weitgehenden Ohnmacht der Medien.

Bis heute lassen sich manche Kontroversen auf diese grundsätzliche, unterschiedliche

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Einschätzung der Wirkungsmacht von Medien zurückführen (Naschold 1969, 78ff; Schenk

1978, 16ff; 1987; 2002b, 24ff)

6. Typen medialer Kommunikation

Versteht man Kommunikation – gleich ob unmittelbar oder medial vermittelt – als

Obergriff, verkörpert Massenkommunikation eine Teilmenge oder spezielle Form von ihr,

wie verbreitet, beherrschend und attraktiv sie inzwischen auch ist. Daneben bzw. ihr in der

Geschichte vorgängig und anthropologisch grundlegend existiert die personale,

unmittelbare oder face-to-face-Kommunikation, die ja gleichwohl – angesichts der

beschriebenen, verschiedenen Medienbegriffe – vermittelt sein kann. Demnach müssen

unterscheidende Kriterien gefunden werden, und unzählige Definitionen und

Abhandlungen sind dafür vorgelegt worden. Sie können hier nicht alle rekapituliert

werden, und sie brauchen es auch nicht mehr in extenso, da sich infolge der skizzierten

Entwicklungen die Grenzen und Spezifikationen zwischen den beiden paradigmatischen

Formen von Kommunikation zusehends verwischen.

Pragmatisch läßt sich aber weiterhin unterscheiden zwischen

– den klassischen, öffentlichen, professionell produzierten Massenmedien, die sich nachwie vor einseitig, an ein breites, nicht eindeutig identifiziertes, “disperses” Publikum(s.u. Kap. 6.8.1) wenden und auch als so genannte Verteil- und Programm-Medienbezeichnet werden,

– und den individuell, online, also ausschließlich digital nutzbaren, interaktiven Medien,über die sowohl einzelne Partner, also im Dialog, miteinander kommunizieren (z. B. E-Mail, News- und Chat Groups), als sich auch über Server und Datenbanken spezielleDienstleistungen (z. B. Online-Banking, Online-Shopping) und Informationen abrufenlassen.

– Gewissermaßen zwischen diesen beiden Typen sind sämtliche Speichermedienanzusiedeln, die ursprünglich analog funktionierten, heute aber digitale medialeKonversionen ermöglichen, so dass alle Produkte der klassischen Massenmedien foto-elektronisch verfügbar sind: also vornehmlich CD, CD-ROM, CD-Video und DVD.

All diese Formen werden heute analytisch unscharf zu Multimedia zusammengefasst,

wobei ausschließlich digitale, also computerbasierte Formate gemeint sind, die zugleich

interaktiv, vernetzt und damit hybrid sind. Dass der Begriff all diese Komponenten nicht

unbedingt zu fassen vermag, kümmert dabei wenig. Denn – prinzipiell und

zeichentheoretisch betrachtet – ist schon der Film multimedial, nämlich kombiniert aus

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(Film)Bildern, Texten, Geräuschen und Musik, auch wenn seine Zeichen noch analog und

materialisiert gespeichert sind. Deshalb kann er seine Bilder und Töne nur in festen

Sequenzen veranschaulichen und nicht – wie die digitalen Versionen – in potenziell

beliebiger Folge und Kombination. Auch können analoge Speichermedien keine meta-

kommunikativen Optionen anbieten, mit denen die Zeichencorpora vielfältig erschlossen,

verknüpft und über “Links” verbunden werden. Solch kommunikative Mehrwert-

Funktionen, die der Nutzer (“user”) mit geeigneter Software durchführen kann,

ermöglichen besagte interaktive Komponenten. Als Hyper-Kapazitäten – als Hypertexte

oder gar Hybridmedien – eröffnen sie vielfältige, fast individualisierte

Nutzungsmöglichkeiten, die jeden User nicht mehr als abhängigen Rezipienten, sondern

als selbstbestimmenden Kommunikator erscheinen lassen; mindestens die einschlägige

Werbung feiert ihn so, und gewiss sind künftig dafür noch weitere technische

Innovationen zu erwarten (Berghaus 1994; Gabriel 1997; Münker/Roesler 1997; 2002).

Vermutlich werden daher künftig noch andere Bezeichnungen als Multimedia auftauchen,

um sowohl die sich noch erhöhende Vielfalt von Medien als auch mögliche funktionale

Differenzierungen und Novitäten begrifflich zu fassen.

Medial bzw. mittelbar wird durch sie auf verschiedene Weise (ursprüngliche)

Kommunikation, d. h. das unmittelbare Gegenüber und die gemeinsame

Kommunikationssituation zwischen den Kommunzierenden, wie sie bei der personalen

Kommunikation besteht, aufgehoben: Gemeinsamer Raum, identische Zeit, unmittelbarer

sinnlicher Kontakt und soziales Vis-à-Vis als Kriterien für die Kommunikationssituation

bestehen nicht mehr, sondern werden durch technische Transmissionen oder auch

Suggestionen ersetzt. Jeweils unterschiedlich sind die kommunikativen Funktionen und

Folgen:

– In der fixierten textlichen Kommunikation leistet allein die schriftliche, gedruckteSprache die medialen Übermittlungen; entsprechend ausführlich, abgewogen, präzise,korrekt und verbindlich bis hin zu vielfältigen Redundanzen muss sie gepflegt werden;zusätzliche prosodische und nonverbale Kommunikationsformen wie Tempo,Intonation, Akzent, Mimik, Gestik etc. kann sie nicht transportieren.

– Bei der interaktiven textlichen Kommunikation mittels Online-Vernetzungen machensich Formen mündlicher, umgangssprachlicher Kommunikation bemerkbar, wie siefrüher nur in recht persönlichen und/oder alltäglichen Notizen üblich waren, so dassman bereits von einer neuen, elektronisch gestützten Mündlichkeit spricht, die bei E-Mail, in Chat- und News-Groups gepflegt wird; sie integriert auch mehr und mehr

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illustrative Komponenten, etwa verfügbare Symbole und Piktogramme, in dieelektronischen Texte.

– Mündliche Kommunikation von unterschiedlichen Orten aus, aber bei identischer Zeitwie am Telefon einerseits, im Hörfunk andererseits, übermittelt alle zusätzlichenakustischen Kommunikationselemente, spart jedoch die visuellen aus. Daher sindrückversichernde, rekursive oder meta-kommunikative Redundanzen integriert.Außerdem muss diese Kommunikationsform auf das Hörverständnis und das kognitiveBehaltensvermögen im Kurzzeitgedächtnis des Menschen Rücksicht nehmen, so dasssich spezielle Sprachformen herausgebildet haben: Nähern sie sich beim Telefon starkder mündlichen Kommunikation – allerdings mit jenen rekursiven Elementen – an, istdie Radiosprache hingegen anfangs recht steif, fast normiert gewesen. Inzwischenpflegen die Moderatoren im Radio ebenfalls einen recht legeren Umgangston, der aberim Gegensatz zum Telefon kein dialogisches Gegenüber hat und daher häufigdeplatziert wirkt.

– Kommen bei diesen Formen Bilder hinzu, werden sie also zu Bildtelefon undFernsehen, lassen sich auch Mimik und Gestik übertragen. Beim Bildtelefon dürfte sichdie Übertragung auf die jeweils gerade agierenden Partner konzentrieren, so dass sichder Eindruck einer quasi personalen Situation einstellt, die nur noch der sinnlichenVielfalt der primären Kommunikation entbehrt und die Begrenztheiten der technischenÜbermittlung zu gewärtigen hat. Fernsehen bleibt hingegen an “disperse” Publikagerichtet, ohne Rückkoppelungen, trotz aller suggestiven Bemühungen um scheinbareBeteiligung, die heute üblich sind. Bilder, Texte und Geräusche können sich dabeiunterschiedlich zueinander verhalten: Sie können sich ergänzen und wechselseitigstützen, sie können sich widersprechen oder gänzlich unverbunden sein. Dann kannsich eine Text-Bild-Schere öffnen, die die Rezipienten individuell überwinden müssen(Wember 1976; Winterhoff-Spurk 2001, 155ff; Burkhart 2002, 355ff).

– Erst das Hybridmedium Internet überwindet solche technischen und medialenBegrenzungen, allerdings eher virtuell oder in der Imagination des User. Denn auchder bleibt materiell isoliert vor Bildschirm und Tastatur. Seine quasidialogischenOptionen schafft er sich letztlich in seiner Phantasie selbst, der Rechner bietet ihmdafür nur Daten und Zeichen, die der User mit “real life”, also mit leibhaftigenMenschen, sinnlichen Vorstellungen und emotionalen Anrührungen füllen muss (Turkle1986; 1999).

Alle Medien, seien sie massenkommunikativ oder digital-interaktiv, rekurrieren auf

Zeichen, Daten und Informationen, entweder in gespeicherter oder aktualiter erzeugten

Form. Sie haben mithin getrennte Raum- und Zeitkonstellationen, sie basieren auf

Programme, deren Produktion und Rezeption separiert sind, auch wenn bei den

interaktiven Formen die User selbst wieder zu Produzenten werden können und die

abgerufenen Programme bzw. Informationen weiter gestalten können. Just diese

Trennung haben frühe Medientheoretiker wie Bertolt Brecht (1932) und Hans Magnus

Enzensberger (1970) schon an den traditionellen Medien, Hörfunk und Fernsehen

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kritisiert und deren Überwindung gefordert, so dass der Sprung zu den interaktiv-digitalen

Medien heute zwar technisch enorm ist, sich aber theoretisch nicht so prinzipiell darstellt,

wie es vielfach postuliert wird (Kühler 2002c).

7. Von der Öffentlichkeit zur ‘audience polarization’?

Will man den Demokratisierungsgrad einer Gesellschaft ermessen, ist dafür ein wichtiger

Indikator, wie öffentlich, d. h. wie zugänglich und beeinflussbar die gesellschaftliche

Kommunikation ist, also: welchen Umfang und welche Partizipationschancen das

Publikum besitzt – oder noch anders formuliert: wer aus einer Population zum Publikum

zählt und wie es sich sozial zusammensetzt. Beispielsweise hatten in der antiken Polis,

dem Ideal direkter Demokratie, höchstens zehn Prozent der männlichen Bewohner die

vollen politischen Rechte.

Öffentlichkeit nimmt daher seit der Durchsetzung der bürgerlichen, modernen

Demokratie einen bedeutenden ideengeschichtlichen und verfassungsrechtlichen Rang

ein (siehe auch Kap. 5.3.1). Als kämpferische Losung richtet sie sich gegen die feudale

Arkanpolitik und wird so zum Hebel wie zum Ziel bürgerlicher Emanzipation.

Institutionalisiert wird sie einerseits im demokratischen Parlament, in den publizistischen

Medien realisiert sie sich andererseits zugleich als öffentlicher Diskurs wie als Geschäft,

zwischen öffentlichem Auftrag und Markt. Dadurch verliert Öffentlichkeit allmählich ihre

politische Brisanz und wandelt sich zur diffusen Publizität, letztlich auch zur ebenso

professionellen wie kommerziellen Inszenierung öffentlichen Geschehens: Die

hergebrachte Opposition von privat und öffentlich schwindet zusehends, Intimität wird –

zumal bei prominenten Personen – als besonders pikant für die Öffentlichkeit

herausgestellt. `Öffentliche Meinung' als der empirische Durchschnitt von

Einzelmeinungen wird von der kommerziellen Demoskopie unentwegt erhoben, damit

künstlich konstruiert und als Legitimation für diese oder jene politische Entscheidung

herangezogen (Habermas 1969; 1990; Sennett 1986; Neidhardt 1994).

Moderne, repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Informiertheit,

Willensbildung und Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger; sie wird mithin erst durch

Massenmedien und deren breiten Rezeption möglich, da sie gewissermaßen zwischen

politischem System und Gesellschaft vermitteln. Medien stiften, organisieren, aber formen

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auch die öffentliche Reflexion, Diskussion und Kontrolle einer Gesellschaft. Daher werden

in den staatlichen Verfassungen die Meinungsfreiheit des Einzelnen und die

Pressefreiheit als institutionelle Gewähr gleichermaßen garantiert, die eine ist jeweils der

Maßstab für die andere. Mit den digitalen Medien verwischen sich wiederum öffentliche

und private Kommunikation, nicht nur in faktischer Konkretion, sondern auch in rechtlicher

Hinsicht, weshalb überkommene und bewährte Regularien überdacht und modifiziert

werden müssen. Ob die hergebrachte Medienfreiheit eben auch als gesellschaftliche,

allgemeinpolitische Verantwortung der einschlägigen Profession und Branche, der

Journalisten wie der Verlage, hinreichend integer und funktionstüchtig überleben wird,

scheint vielen fraglich. Bemühungen, dafür Qualitätsmaßstäbe und nicht zuletzt ethische

Orientierungen als professionelle Selbstverpflichtungen aufzurichten, nehmen daher zu

und drängen auf die Einhaltung, mit welchem Erfolg, wird sich zeigen müssen (Wunden

1993; 1996)

Aus prinzipieller, verfassungspolitischer Perspektive nehmen die Massenmedien die

Funktionen der Information, der Meinungsbildung, der Kritik und Kontrolle gewissermaßen

als verfassungsrechtlich geschützte öffentliche Aufgaben wahr, weshalb den Medien

mitunter im Rahmen der anerkannten Gewaltenteilung gewissermaßen die Funktion einer

vierten Gewalt im Staat attestiert wird (Bergsdorf 1980; Branahl 1996; 2002, 17ff;

Kunczik/Zipfel 2001, 84ff). Dabei handelt es sich allerdings eher um eine metaphorische

Übertragung, da die Medien ja nicht den gleichen verfassungsrechtlichen Rang wie die

drei grundlegenden Gewalten, die Legislative, Exekutive und Judikative, haben; immerhin

soll diese Analogie betonen, dass freie, nicht staatlich kontrollierte und genügend

konkurrenzierende Medien wesentliche, für die Demokratie unverzichtbare Funktionen

wahrnehmen. Außerdem sollen die Medien eine Gesellschaft sozial und politisch

integrieren, um ihren Zusammenhalt zu sichern und ihre Mitglieder politisch zu

sozialisieren (Holtz-Bacha 1997, 15). Welchen Anteil die Medien an der politischen

Sozialisation des Einzelnen tatsächlich haben, wird zwar vielfach postuliert, aber exakt zu

ermitteln ist er kaum (Bonfadelli 1981; Saxer 1988; Schorb u. a.1991). Tatsächlich richten

sie ihre Nachrichten und Beiträge vornehmlich an die politisch aktiven Bürgerinnen und

Bürger, sofern sie sich nicht gänzlich an den politischen und wirtschaftlichen Eliten

orientieren.

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Vielfach befürchtet wird inzwischen, dass die bereits skizzierte, anhaltende Diversifikation

der Medien und deren diagnostizierter Verfall als Massenmedien die integrierenden

Funktionen untergraben und damit die Demokratie schwächen: Wenn sich das Publikum

weiter “verstreue” (Hasebrink 1994; Höflich 1995; Klaus 1997), sich in Teilöffentlichkeiten

oder gar unzählige Interessenten- und Nutzergruppen fragmentiere, die nur noch von

Spezialmedien erreicht und bedient werden, könnten wichtige politische Debatten nicht

mehr über die Medien geführt werden, weil ein Großteil des Publikums die bedeutenden

Themen überhaupt nicht mehr mitbekomme. Daher drohe soziale Desintegration oder die

“balkanization of community” (Holtz-Bacha 1997, 21).

Bedenkt man indes, dass sich Lesefähigkeit und populäre Zeitungsproduktion erst in der

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinlänglich verbreiten, Radio und Fernsehen

Produkte des 20. Jahrhunderts sind, dann dauern Massenkommunikation und

repräsentative Demokratie – Phasen der Diktatur müssen subtrahiert werden – etwa 150

Jahre. Sie mögen sich aus der Sicht der Massenkommunikationsforschung nun ihrem

Ende zuneigen oder werden sich zumindest nachhaltig verändern. Dass dabei

vornehmlich die westliche, amerikanisch-europäische Entwicklung betrachtet wird und

nicht der restliche Großteil der Welt, darauf kann hier nur am Rande hingewiesen werden.

Außerdem sehen Optimisten mit den digitalen Medien, vor allem mit dem Internet, eine

neue Phase direkter Demokratie heraufziehen, zumindest die neuerliche Transformation

der repräsentativen Demokratie, da sich nun womöglich die für viele fremd gewordene

repräsentative Mitwirkung in eine digitale Polis wandle, die (elektronisch) unmittelbare

Partizipation und ständigen Dialog ermögliche. Potenziell können die digitalen Online-

Vernetzungen das Publikum vollständig in ‘Echtzeit’ erzeugen, und es mit mehr direkten

interaktiven Optionen ausstatten als jemals zuvor, selbst wenn dieses Publikum nur

virtuell bestünde, weil es individualisiert bleibt. So schwärmte der ehemalige

amerikanische Vizepräsident Al Gore bereits 1994 von einem neuen “Athenischen

Zeitalter”, nun als “globale Informationsstruktur” (Holtz-Bacha 1997). Das repräsentative

Parlament werde “virtuell” oder könne sogar durch periodische Plebiszite abgelöst

werden, sofern alle Bürgerinnen und Bürger online verbunden sind. Die öffentliche Sphäre

demokratisiere sich, wie sich ebenso gesellschaftliche Gruppen und Vereinigungen

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revitalisieren, da sich ihre Mitglieder umstandslos in politische Willensbildungs- und

Entscheidungsprozesse einschalten könnten (Zittel 1997; Leggewie/Maar 1998).

Andere Prognostiker halten die Visionen von der digitalen Demokratisierung für

ideologisches Wunschdenken, denn aus ihrer Sicht verlange die

“Informationsgesellschaft” nicht weniger, sondern mehr staatliche Autorität, um die

heraufziehenden sozialen Verwerfungen und internationalen Risiken zu meistern, um der

befürchteten Erosion der Gesellschaft und der fortschreitenden Relativierung der Normen

zu begegnen. Je mehr Information zur Verfügung stehe, umso mehr Orientierungswissen

und Moral seien erforderlich, und deren Direktiven und Begründungen könnten nur

staatliche Instanzen allgemein verbindlich bereitstellen und vor allem durchsetzen (Metze-

Mangold 1997, 112f; Münker/Roesler 1997).

Offensichtlich ist diese Diskussion mit jener über das Ende der Massenkommunikation

noch nicht genügend verknüpft; diese Diskrepanz belegt erneut die gegenwärtigen

strukturellen Umbrüche wie Inkonsistenzen heutiger Debatten. Es sind mithin mindestens

zwei konträre Modelle, die in ihren Visionen über die Entwicklung von Staat und

Gesellschaft miteinander konkurrieren. Aber beide dürften prinzipiell daran kranken, dass

sie ihre Prognosen relativ eindimensional aus technologischen Tendenzen ableiten und

andere womöglich nicht weniger relevante, aber nicht allein technologiebedingte Faktoren

unterschätzen. Um deren Bedeutung zu erkennen, genügt schon ein Blick in öffentliche

Diskurse und publizierte Prognosen, die nicht primär die Medien ins Blickfeld nehmen: Zu

denken ist etwa an die anhaltenden demographischen Verschiebungen, die die

hochentwickelten Industrienationen immer älter werden lassen, wohingegen die ärmeren

Staaten enormen Bevölkerungsüberschuss verzeichnen; ferner an die sich mit der

Globalisierung verschärfende Arbeitsteilung, an die ungleiche Verteilung von Wohlstand

und die wachsende Unterprivilegierung auf der Welt, an die Umweltproblematik, an

vornehmlich wirtschaftswissenschaftliche Diskussionen über die Veränderungen der

Erwerbsarbeit und das wirtschaftliche Handeln unter technischem, ökonomischem und

globalisiertem Wandel, aber auch an die Erstarkung fundamentalistischer Strömungen,

kultureller Autonomiebestrebungen und separatistischer Bewegungen sowie an vielfältige

Veränderungen in den sozialen Mikrokosmen wie in den Familien und Gruppen, die als

wachsende Individualisierung, Pluralisierung, aber auch als bedenkliche Erosion tradierter

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Fundamente und Normen analysiert werden. All diese Tendenzen und Faktoren mögen

'irgendwie' miteinander zusammenhängen, doch der jeweilige disziplinäre Blickwinkel

entscheidet darüber, welche Zusammenhänge wie gesehen werden (Friedrichs 1997;

Martin/Schumann 1997; Beck 1997, Jarren/Donges 1997; 2002).

8. Definitionen und Dimensionen von Massenkommunikation

8.1. Das bewährte Modell der Massenkommunikation Gerhard Maletzkes

In seinem Pionierwerk Psychologie der Massenkommunikation von 1963 arbeitete

Gerhard Maletzke, seinerzeit wissenschaftlicher Referent am Hamburger Hans-Bredow-

Institut für Medienforschung, den damaligen Stand der empirischen Forschung unter

psychologischer Perspektive auf und definierte Massenkommunikation allgemein so:

Unter Massenkommunikation verstehen wir jene Form der Kommunikation, bei derAussagen

öffentlich also ohne begrenzte und personelldefinierte Empfängerschaft

durch technische Verbreitungsmittel Medien

indirekt also bei räumlicher oder zeitlicher oderraumzeitlicher Distanz zwischen denKommunikationspartnern

und einseitig also ohne Rollenwechsel zwischenAussagendem und Aufnehmendem

an ein disperses Publikum vermitteltwerden

(s.u.)

(Maletzke 1963, 32).

Dispers sei das Publikum der Massenkommunikation deshalb, weil es sich nur von Fall zu

Fall durch gemeinsame Zuwendung an einen gemeinsamen Gegenstand, nämlich die

publizistische Aussage, bilde und daher kein überdauerndes soziales Gebilde sei. Die

Medien erzeugen gewissermaßen dieses Publikum, auch wenn es sich inzwischen

vielfach festgefügt habe, z. B. als Abonnenten, oder sich – bei den elektronischen Medien

– regel- bzw. gewohnheitsmäßig formiere. Seine Mitglieder seien als Individuen räumlich

getrennt, oder sie treffen sich in relativ kleinen, an einem Ort versammelte Gruppen (z. B.

Familien, Freundeskreise oder Peer groups von Jugendlichen, Kinopublikum).

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Äußerlich lasse sich das disperse Publikum durch folgende Kriterien charakterisieren:

durch

– die große Anzahl seiner Mitglieder

– ihre gegenseitige Anonymität

– ihre soziale Inhomogenität, also durch ihre vielfältigen Lebensstandards und -stile, ihreInteressen, Meinungen und Einstellungen, Erfahrungen und Erlebnisweisen

– die Unorganisiertheit und Unstrukturiertheit, so dass keine Spezialisierung von Rollen,“keine [gemeinsamen] Sitte und Tradition, keine Verhaltensregeln und Riten und keineInstitutionen” (Maletzke 1963, 32) ersichtlich sind.

Diese Definition fand Eingang in viele Lehrbücher und wurde hierzulande ein Paradigma

für die moderne Medienforschung, auch wenn manche Kritik an ihr geäußert und manche

Erweiterung und Modifikation vorgenommen wurden. Maletzke veranschaulicht sie auch

grafisch als “Feldschema”. Ein solches Modell zeichnet sich gemäß der allgemeinen Feld-

Theorie des Sozialpsychologen Kurt Lewin (1890-1947) dadurch aus, dass es eine

ganzheitliche Struktur von Phänomenen innerhalb eines sozialen Systems abzubilden

sucht (1951). Diesen Ansatz übertrug Maletzke auf die Massenkommunikation, denn “[ihr]

Beziehungsfeld [ ... ] ist zu verstehen als ein kompliziertes dynamisches System von

Dependenzen und Interdependenzen der beteiligten Faktoren” (Maletzke 1963, 37).

Abb. 1: Schema des Feldes der Massenkommunikation von Gerhard Maletzke, (1963, 41;1981, 14)

In späteren Veröffentlichungen (u. a. 1976, 14f; 1981, 15) erläutert Maletzke das

Feldschema so: Das Schema versucht, folgende Sachverhalte darzustellen:

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– Der Kommunikator (K) produziert die Aussage durch Stoffwahl und Gestaltung. SeineArbeit wird mitbestimmt durch seine Persönlichkeit, seine allgemeinen sozialenBeziehungen (u. a. persönliche direkte Kommunikation), durch Einflüsse aus derÖffentlichkeit und durch die Tatsache, dass der Kommunikator meist in einemProduktionsteam arbeitet, das wiederum einer Institution eingefügt ist. Außerdem mussder Kommunikator die Erfordernisse seines Mediums und des 'Programms' kennenund berücksichtigen, und schließlich formt er sich von seinem Publikum ein Bild, dasseine Arbeit und damit die Aussage und damit endlich auch die Wirkungen wesentlichmitbestimmt.

– Die Aussage (A) wird durch das Medium (M) zum Rezipienten geleitet. Sie muss dabeiden technischen und dramaturgischen Besonderheiten des jeweiligen Mediumsangepasst werden. Der Rezipient (R) wählt aus dem Angebot bestimmte Aussagenaus und rezipiert sie. Der Akt des Auswählens, das Erleben der Aussage und diedaraus resultierenden Wirkungen hängen ab von der Persönlichkeit des Rezipienten,von seinen sozialen Beziehungen, von den wahrnehmungs- undverhaltenspsychologischen Eigenarten des Mediums auf der Empfangerseite, von demBild, das sich der Rezipient von der Kommunikatorseite formt und von dem mehr oderweniger klaren Bewusstsein, Glied eines dispersen Publikums zu sein. Schließlichdeutet der obere Pfeil im Feldschema an, dass trotz der Einseitigkeit derMassenkommunikation ein ‘Feedback’ zustande kommt.

Die genannten relevanten Faktoren der Massenkommunikation werden folgendermaßen

charakterisiert:

– Kommunikator (K): Kommunikator im Rahmen der Massenkommunikation ist jedePerson oder Personengruppe (... j, die an der Produktion von öffentlichen, für dieVerbreitung durch ein Massenmedium bestimmten Aussagen beteiligt ist, sei esschöpferisch, gestaltend oder kontrollierend.

– Aussage (A): Als Aussage bezeichnen wir symbolhafte Objektivationen oderBedeutungsinhalte, die Menschen (als Kommunikatoren) herstellen und gestalten, sodass sie bei anderen Menschen (als Rezipienten) psychische Prozesse verursachen,anregen oder modifizieren können, und zwar Prozesse, die in einem sinnvollenZusammenhang mit der Bedeutung des Ausgesagten stehen.

– Medium (M): Als Medien der Massenkommunikation bezeichnen wir die technischenInstrumente oder Apparaturen, mit denen Aussagen öffentlich, indirekt und einseitigeinem dispersen Publikum vermittelt werden.

– Rezipient (R): Rezipient im Prozess der Massenkommunikation ist jede Person, dieeine durch ein Massenmedium vermittelte Aussage soweit ‘entschlüsselt’, dass derSinn der Aussage dieser Person – zum mindesten in groben Zügen – zugänglich wird.

Außer auf Lewin rekurriert Maletzke für dieses Feldschema und der Beschreibung seiner

Faktoren noch auf andere amerikanische Vorbilder, etwa auf die berühmte “Lasswell-

Formel” (s. u Kap. 7). Deren funktionalistischen Prämissen behält er offensichtlich bei, bis

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hin zur Annahme einer Balance zwischen Kommunikator und Rezipient. Damit lässt

dieses Modell weitgehend ausser Acht, dass sich im Zeitalter professioneller,

hochorganisierter, machtpolitisch verstrickter und vor allem ökonomisch – sprich: auf

Profitmaximierung – ausgerichteter Medienkommunikation die Gewichte zum Nachteil des

Publikums verlagert haben, dass es mithin erhebliche Beeinflussungsmöglichkeiten und

wohl auch Abhängigkeiten gibt; sie werden durch das Modell egalisiert und damit

eskamotiert. Auch bei den Strukturen und Mechanismen der Produktion, also bei den

Kommunikatoren, sind heutzutage mächtige (Inter)Dependenzen – etwa von der Werbung

– und Verflechtungen in besagten weltweit operierenden und viele Branchen

einvernehmende Konzerne zu verzeichnen, so dass auch hierfür die Abbildungen des

Modells zu simpel und einschichtig erscheinen. Immerhin sind zur selben Zeit, als

Maletzkes Buch erschien, die Thesen und Analysen der Vertreter der Frankfurter Schule,

also von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, zur “Kulturindustrie” diskutiert worden.

Sie diagnostizierten kein egalitäres Verhältnis zwischen Medien und Publikum, sondern

eher massive Abhängigkeiten der Rezipienten, einschließlich drastischer

Bewusstseinsmanipulationen (Horkheimer/Adorno 1944; 1969; Adorno 1967: Kausch

1988). An solchen analytischen Diskrepanzen zwischen theoretischen Entwürfen und

empirischen Befunden krankte die Medienforschung lange, wenn sie es nicht bis heute tut

(vgl. etwa Prokop 2001, 2002).

Allerdings gerät letztlich jedes Modell an Grenzen der Darstellbarkeit, vor allem

hinsichtlich der angemessenen Repräsentation gesellschaftlicher Wirklichkeit bzw. realer

Komplexität und insbesondere hinsichtlich der Abbildung dynamischer und informeller

Interdependenzen. Immerhin würdigte kürzlich, anlässlich des 75. Geburtstags Maletzkes,

die gegenwärtige Medienwissenschaft seinen Ansatz und sein Modell nicht nur insoweit,

dass sie “Schule” gemacht und “Medienwissenschaft und Medienpraxis” weithin geprägt

haben, vielmehr auch deshalb, weil sie noch immer genügend heuristisches Potenzial

bergen, um die Grundfrage: “Was heißt heute noch Massenkommunikation?” nicht nur

erneut, sondern auch systematischer zu diskutieren, als dies “weit verstreute

Einzelstudien” und Erkenntnisse gemeinhin vermögen (Fünfgeld/Mast 1997, 11).

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8.2. Eine Weiterentwicklung: das “Modell elektronisch mediatisierter

Gemeinschaftskommunikation”

Ein aktuelle Weiterentwicklung des Feldschemas Maletzkes legen Roland Burkhart und

Walter Hömberg (1997) vor und nennen es “Modell elektronisch mediatisierter

Gemeinschaftskommunikation”. Mit ihm wollen sie einerseits zeigen, dass das

Feldschema “auch unter geänderten Medienbedingungen zum Weiterdenken anregt” und

seine “heuristische Qualität” behält. Zum anderen soll das veränderte Modell den

eingetretenen Veränderungen Rechnung tragen, die Digitalisierung und Vernetzung

erwirken, wozu besonders die tendenzielle Einebnung der “Unterschiede zwischen

Kommunikator- und Rezipientenrolle” gerechnet wird. Allerdings müsse berücksichtigt

werden, dass die Technik nicht zwangsläufig alle funktionalen und sozialstrukturellen

Spezifizierungen aufhebt, sondern diese ebenso sehr, wenn nicht nachhaltiger durch

ökonomische, organisatorische und strukturelle Konditionen bestimmt seien und

womöglich trotz der rasanten technologischen Transformation überdauern. Auch in der

gesellschaftlichen, öffentlichen Kommunikation dürften Arbeitsteilung und

Professionalisierung, Verteilprogramme und Vermittlungsoptionen weiterhin bestehen, die

mit den als offen gedachten Begriffen “Beteiligte” (B) und “organisiert Beteiligte” (OB)

umschrieben sind (siehe Abb. 2).

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Abb. 2: Modell elektronisch mediatisierter Gemeinschaftskommunikation (Burkhart/Hömberg1997, 84)

Auch für dieses Modell lässt sich fragen, ob die strukturellen, zumal ökonomischen

Konditionen, in denen die Beteiligten operieren und produzieren, genügend ausgearbeitet

und vor allem gewichtet sind. Denn die anhaltende Kommerzialisierung medialer

Kommunikation – etwa die immer evidentere Dominanz der Werbung, die weit in die

digitalen, interaktiven Medien hinein reicht – wird kaum berücksichtigt. Somit gaukelt auch

dieses Modell nach wie vor freie Entscheidungsmöglichkeiten für das Individuum in allen

gesellschaftlichen Bereichen vor und begreift es als autonom kommunzierendes. Dabei

wird gerade unter der wachsenden Informations- und Medienfülle immer offenkundiger,

dass Auswahl und Tendenz der Medieninhalte kaum mehr den hehren Zielen der

Informationsfreiheit, nicht einmal dem vielgelobten freien Spiel des Marktes folgen,

sondern dass sie vornehmlich den Maximen der Kostenminimierung, der Eindämmung

des Akzeptanzrisikos, dem Mainstream und dem Profit gehorchen, die von immer

wenigeren, aber ständig größer werdenden Kommunikationskonzernen diktiert werden.

8.3. Eine aktuelle Definition für mediale Kommunikation

Bleibt man in den (formalen, deskriptiven) Kategorien Maletzkes, ohne die Kritik über

ihren Realitätsgehalt hinreichend umsetzen zu können, könnte eine zeitgemäße Fassung,

die die allmähliche Aufweichung der Massenkommunikation und die Mutationen zur

medialen Kommunikation aufgreift, wie folgt formuliert werden:

Unter medialer Kommunikation verstehen wir die (sich mehr und mehr verbreitende) Formder Kommunikation, bei der

Zeichen also Texte, Grafiken, Töne, Bilder

privat oder öffentlich in allen denkbaren Graden und Versionen

durch technische Verbreitungsmittel Medien im weitesten Sinne

analog oder digital und vernetzt also ohne oder mit Unterstützungelektronischer Datenverarbeitung[Computer] und Netzsystemen

anonym, verschlüsselt oder explizitsimultan oder zeitversetzt bei räumlicherDistanz ein- oder wechselseitig

also ohne oder mit Rollenwechsel derKommunizierenden, wobei letzterer auchals Interaktivität bezeichnet wird

an einzelne, mehrere oder viele(Adressaten/Zielgruppen) vermittelt werden.

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Diese Definition versucht den jüngsten Entwicklungen der Medien und der medialen

Kommunikation Rechnung zu tragen. Angesichts der einhergehenden Transformationen

kann sie nicht mehr so eindeutig und dipodisch zwischen personaler und

Massenkommunikation trennen, wie es Maletzke in den 60er Jahren vermochte (siehe

auch Berghaus 1994; Höflich 1995):

Der Begriff der “Aussage” war vermutlich schon immer zu eng und missverständlich, denn

darunter müssen auch Unterhaltung, Service oder Werbung subsumiert werden, die man

gemeinhin nicht als “Aussage” versteht. Jedenfalls hört er sich altertümlich an. “Zeichen”,

der Grundbegriff der Semiotik, ist neutraler und umfasst alle Typen kommunikativ-

medialer Inhalte, auch die, die nicht vorrangig intentional und mit einer Botschaft versehen

sind, sowie auch die, die nicht professionell, also im System der institutionalisierten

Massenkommunikation, sondern von Amateuren, etwa privaten Videoproduzenten und

Internet-Usern, produziert werden. Allerdings muss der Zeichenbegriff jeweils spezifiziert

und konkretisiert werden. Landläufig wird dafür auch der Begriff der Information benutzt –

selten indes mit jenen Relativierungen, die in den Kap. 2.4 und 8.2 ausgeführt sind.

Ebenso kann nicht mehr eindeutig zwischen Öffentlichkeit und Privatheit geschieden

werden, wie bereits apostrophiert wurde (siehe Kap. 5.3.1). In den modernen

Mediengesellschaften vermischen sich Privates und Öffentliches unentwegt, ja es gehört

wohl zu ihren Mechanismen von Herrschafts- und Loyalitätssicherung, zu den Strategien

von Aufmerksamkeitsweckung und Personalisierung, dass mit vielfältigen Graden und

Formen von Öffentlichkeit und Privatheit gespielt, gewissermaßen das Privat-Intime

veröffentlicht, vielfach allerdings auch nur scheinbar, und das Öffentliche als Privates

vergeheimnist und sensationslüstern camoufliert wird.

Die elektronischen Online-Medien vereinen ohnehin zunehmend private und öffentliche

Kommunikation: Das erste Medium war der so genannte Bildschirmtext (seit 1983 in

Deutschland), eine Verbindung von Telefon und Fernsehen. Für ihn musste erstmals ein

Gesetz formuliert werden, das privatrechtliche wie öffentlich-rechtliche Optionen verband.

Als “Datex J”(seit 1992) ist der ehemalige Bildschirmtext in das Online-Angebot der

Telekom “T Online” integriert worden. Inzwischen offerieren alle Vernetzungen sowohl

privatrechtliche Dienstleistungen wie öffentliche Kommunikationsformen. Im Internet sind

sämtliche Optionen, bisher weitgehend kostenlos, möglich, so dass es am

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offensichtlichsten die anhaltende Transformation und Fusion von Kommunikation

markiert. Zugleich kennt es aber auch Abschottungen, die mindestens formal Privatheit

signalisieren (auch wenn sie technisch überwindbar sind): Die diversen News- und

Chatting-Groups machen sich durch Zugangsschwellen und Accounts begrenzt exklusiv;

Intranets schließen sich noch massiver ab und vernetzen nur bekannte Adressen, etwa

als interne Firmenkommunikation.

Noch sind einige Übertragungswege analog, wie etwa bei den klassischen

Massenmedien. Manche haben bereits beide Varianten wie etwa die gedruckte und die

Online-Zeitung. Hörfunk und Fernsehen stehen unmittelbar vor ihrer Digitalisierung (ab

2003); ihre Verwirklichung ist kein technisches Problem mehr, sondern vorrangig ein

marktstrategisches. Aber die Besitz- und Machtverhältnisse auf den Märkten des digitalen

Rundfunks sind mächtig umkämpft; sie sind weder zwischen den öffentlich-rechtlichen

und den privaten Betreibern noch unter den privaten selbst hinreichend geklärt, wie der in

den 90er Jahren ausgetragene Kampf zwischen den Medienkonzernen Bertelsmann und

Kirch und der Zusammenbuch des Kirch-Imperiums zu Beginn des 21. Jahrhunderts

exemplifizieren.

Wie Zeichen und Daten übertragen und verbreitet werden, hängt von ihrer Funktion und

Publizierbarkeit, also von den entsprechenden Intentionen ihrer Urheber, ab. Insofern

finden sich wiederum alle Varianten, von der Geheimhaltung und/oder Vertraulichkeit bis

hin zur uneingeschränkten Zugänglichkeit und Publizität. Allerdings können ihre Urheber

sie nur noch begrenzt sichern und entsprechend kategorisieren. Denn elektronische

Daten sind tendenziell dechiffrierbar, so dass sich die Grade von Öffentlichkeit und

Zugänglichkeit für die Nutzung und aus Sicht der Technik möglicherweise anders

darstellen als für die Urheber und Verbreiter. Um ihre Interessen kümmert sich das seit

Juli 2003 verschärfte Urheberrecht in der Bundesrepublik (Branahl 2002, 199ff). Doch es

ist nur eine nationale Vorsorge, keine internationale; und außerdem sind rechtliche

Schranken noch lange keine technische, d. h., für entsprechend versierte Interessenten

sind sie letztlich überwindbar.

Elektronische Daten sind allerorts (nahezu) gleichzeitig mit ihrer Schöpfung und Eingabe

verfügbar, so dass nicht nur der Zeitverzug innerhalb der Produktion, der durch diverse

Phasen der Materialisierung und Gestaltung – etwa beim Druck – verursacht wird, wegfällt

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oder zumindest enorm reduziert wird: Letztlich fallen Produktion und Rezeption

zusammen, was mit dem Begriff der “Echtzeit” (Virilio 1996; Kloock 2000, 161ff)

gekennzeichnet wird; beim Internet können sie – wie im personalen Dialog – ständig

wechseln. Vor allem das charakteristischste Kriterium der Massenkommunikation, die

Einseitigkeit des Kommunikationstransfers, wird mehr und mehr aufgehoben –

entsprechend erodiert die Dualität von personaler und Massenkommunikation. Als

Unterscheidung kann nur dienen, ob allein die natürlichen Kommunikationsmittel des

Menschen, also Sprache, Gestik, Mimik, verwendet werden oder ob ein technisches

Medium zum Einsatz kommt. Bei den technischen Medien lassen sich der Grad ihrer

Institutionalisierung und der ihrer Professionalisierung spezifizieren, die man auch als

Grad der Gesellschaftlichkeit fassen kann. So dürften sich weiterhin die klassischen

Massenmedien von der Internet-Nutzung unterscheiden lassen, jedoch kaum mehr durch

ihren Grad der Publizität und Verbreitung. Denn auch das laienhafteste Produkt kann mit

Internet weltweit verbreitet werden und damit verfügbar sein. Ob es allerdings in der Flut

der Daten und Informationen beachtet oder gar rezipiert wird, ist eine ganz andere Frage.

Wenn schon der “Verfall” der bürgerlichen Öffentlichkeit das (ehedem als Ideal

apostrophierte) Publikum erodieren und zu zufälligen Adressaten und Zielgruppen für

diverse Offerten und Dienstleistungen diffundieren lässt (Habermas 1969, 1990), dann

beschleunigen und forcieren die elektronischen Medien diese Umwandlung erheblich, so

dass alle Varianten von Gruppierungen vorkommen. Nur noch bei wenigen entsprechend

publizistisch und öffentlichkeitswirksam aufbereiteten Ereignissen (“Events”) dürften sich

Publika im herkömmlichen Sinne konstituieren und etwa vor dem Fernsehapparat – vor

dem bis dato am weitesten reichenden Massenmedium – versammeln, um danach

ebenso schnell wieder zu verfallen und sich in anderen Formationen zu finden. Auch

wenn Maletzke das Publikum schon als “dispers” charakterisierte, hielt er dennoch am

Begriff des Publikums fest. Für den isolierten Internet-User, aber auch für die Special

Interest-Group einer Zeitschrift, für die von einem Sendebereich eines Hörfunkprogramms

in den anderen gelangenden Autofahrer sowie für die häufig hin und her zappenden

Fernsehrezipienten dürfte der historisch und normativ belegte Terminus des Publikums

auf Dauer wohl kaum mehr passen. Aber ein angemessenerer und vor allem geläufigerer

ist bislang nicht gefunden (Burkhart 2002, 355ff).

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9. Objektivität, Universalität, Aktualität, Periodizität: Wie angemessen

sind heute noch die klassischen publizistischen Kriterien?

Wie sich Massenkommunikation nicht nur formal, sondern auch prinzipiell, zumindest in

als funktional gedachten Normen definieren lässt, daran versucht sich die traditionelle

Publizistikwissenschaft seit jeher auf vielfache Weise (Dovifat 1931; 1976). Eine der

Bemühungen war, inhaltliche wie zeitliche Dimensionen der Massenmedien zu

postulieren, und zwar sowohl im Hinblick auf die Repräsentation von Wirklichkeit als auch

im Hinblick auf ihre Erscheinungsweise als Kriterium für die Dichte und Wiederholbarkeit

von Realitätsrepräsentation. Die höchste Norm dürfte nach wie vor die der Objektivität

sein, die man gemeinhin den Nachrichten attestiert. Sie beanspruchen sowohl die

Produzenten in ihrem professionellen Selbstverständnis, als sie auch die Rezipienten als

Maßstab für die Glaubwürdigkeit und Relevanz der Nachrichten erwarten (Donsbach

1991; Kunczik/Zipfel 2001, 276ff). Im erkenntnistheoretischen Sinn können Nachrichten

jedoch keine Objektivität beanspruchen. Die moderne Nachrichtenforschung hat viele

zweckdienliche und pragmatische Bezugsgrößen für Nachrichten aufgezeigt, die sich aus

der Produktion und den professionellen Standards der Nachrichtenproduzenten ergeben

(Wilke 1984). Im täglichen Produktionsgeschäft wird daher der gleichwohl

aufrechterhaltene Anspruch nach Objektivität als möglichst große Sachlichkeit (gegenüber

dem Sujet), Neutralität (gegenüber einer subjektiven Sicht), Relevanz (als Kriterium für die

Wichtigkeit) und Vollständigkeit (als Kriterium für die angestrebte und erreichte

Umfänglichkeit der Berichterstattung, der sogenannten Nachrichtenlage) übersetzt (Kühler

1979; Wilke 1984; Schütte 1994; Brosius 1995; Hagen 1995).

Nur noch für den seriösen Journalismus dürften auch die anderen Kriterien, nämlich

Universalität (als inhaltliche Reichweite und thematische Umfänglichkeit), Aktualität (als

Kriterium für die Zeitspanne zwischen Ereignis und Berichterstattung) und Periodizität (als

Kriterium für die Erscheinungsweise und damit für die Dichte und Wiederholbarkeit von

Wirklichkeitsrepräsentation) zutreffen, die dennoch von der Publizistikwissenschaft als

wesentliche Charakteristika für Massenmedien mit erheblicher Energie und Akribie zu

definieren versucht worden sind (Merten 1973; Bentele/Ruoff 1982; Bentele/Rühl 1993).

Angesichts der ständig wachsenden Informationsflut kann wohl kein Medium heute mehr

für sich das inhaltliche Ideal der Universalität beanspruchen. Es stammt vornehmlich aus

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früheren Vorstellungen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert mit den enzyklopädischen

Versuchen, das anerkannte Weltwissen zu erfassen und zu strukturieren, tradiert und

dann in die moderne Zeitung und Zeitschrift herangetragen wurden, die als

Repräsentanten und Verbreiter der jeweils aktuellen, mindestens zeitgenössisch

anerkannten Version dieses Weltwissens fungierten. Doch mit der anhaltenden

Wissensexplosion lassen sich kaum mehr Grenzen für das anerkannte Wissen

konturieren, allein schon Gewichtungen dürften schwer fallen, wie das Internet permanent

veranschaulicht. Allein begrenzte ‘Universalitäten’ sind noch – wenn auch mit Vorbehalten

– vorstellbar, deren Selektion und Abgrenzung freilich stets auf dem Prüfstand stehen, oft

aber auch euphemistisch – zu Werbezwecken – behauptet werden. Bei der Zeitung kann

es sich höchstens noch um eine tägliche (oder wöchentliche) Ad-hoc-Universalität

handeln, deren Zustandekommen und Gewichtung ähnlich wie bei der Forschung zu den

Nachrichtenfaktoren (Staab 1990; Schütte 1994; Kunczik/Zipfel 2001, 245ff) überprüft

werden müsste; die Zeitschrift als publizistisches Abbild eines auch nur annähernd

universalen Kosmos ist ausgestorben – oder sie gaukelt sie als surrogative Welt der

Shows und Stars, der Sensationen und highlights vor. Insofern ist der seriöse Anspruch

nach Universalität obsolet geworden; er ist beliebig, unüberprüfbar, lässt sich aber

unentwegt suggerieren.

Pragmatisch lässt er sich nur noch aufrechterhalten, wenn eine bestimmte, selbstgestellte

thematische Reichweite implizit akzeptiert wird. So zeigt beispielsweise die empirische

Nachrichten(wert)forschung, dass Selektion bei der anhaltenden Nachrichtenflut nicht nur

unausweichlich ist, – schätzungsweise maximal 10 Prozent der weltweit verbreiteten

Nachrichten werden jeweils publiziert –, sondern auch, dass sie recht eigenwilligen, wenig

explizierten Kriterien gehorcht (Staab 1990; Schütte 1994; Kunczik/Zipfel 2001, 245ff). Sie

ergeben sich sowohl aus den Konditionen und Prozessen des Nachrichtenmarktes, den

Prämissen und Strukturen des Mediums – beim Fernsehen anders als beim Radio – als

auch aus der beruflichen Sozialisation und der eingeschliffenen Usancen der

Nachrichtenproduzenten, etwa aus dem berühmten journalistischen Gespür und dem

Selbstverständnis als Chronist, mithin aus Markt, Medien und professioneller Mentalität.

Aktualität ist mit der technologischen Entwicklung ständig kurzfristiger geworden: “Live”

avancierte zum attraktivsten Prädikat der elektronischen Medien, weshalb es inzwischen

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ständig beschworen wird, auch wenn es sich insgeheim um eine kontrollierte

Aufzeichnung handelt. Heute wird es sogar von der ‘Echtzeit’ übertrumpft, also von der

Gleichzeitigkeit von Ereignis und Berichterstattung sowie von der Simultaneität medialer

Reproduktion in diversen (multimedialen) Kanälen (Virilio 1992, 1996; Hörisch 1993;

Kloock/Spahr 2000, 133ff). Daneben ist eine Aktualität zweiten oder auch posterioren

Grades – vornehmlich für die Druckmedien – erfunden worden, da die Rasanz der

Produktion die Berichterstattung in den elektronischen Medien sehr verkürzt und ihr

vielfach Hintergrund wie Einordnung zum Opfer fallen. So arbeiten vor allem

ausführlichere und auch wertende Formen des Journalismus – etwa in Magazinen,

Berichten und Reportagen – Hintergründe aktueller Ereignisse auf, avisieren und

beurteilen Entwicklungen und Tendenzen und erschließen Zusammenhänge. Bei

investigativen Vorgehensweisen des Journalismus, bei denen unbekannte Tatsachen

oder geheim gehaltene Machenschaften enthüllt und damit der öffentlichen Diskussion

zugänglich gemacht werden (Ludwig 2002), schaffen die Medien selbst Aktualität, da ihre

Redaktionen bestimmen, wann und wie sie ihre Recherchen und Enthüllungen

veröffentlichen wollen. Die Publikation wird dabei zum Ereignis und kann dann ihrerseits

publizistische Reaktionen und Weiterungen auslösen. Vor allem die wöchentlichen

Magazine – wie SPIEGEL, STERN und FOCUS – sehen in solch einer publizistischen

Aktualität ihre öffentliche Aufgaben, und sie leben auch publizistisch wie ökonomisch von

ihr.

Allerdings sind die Übergänge zur so genannten “Pseudo-Aktualität” fließend, deren sich

besonders populäre Medien mit denen von ihnen initiierten oder gar inszenierten

Ereignissen (“Events”) und “News” unaufhörlich befleißigen. Denn auch besagte

Magazine bauschen oft Pseudo-Ereignisse, Vermutungen und Verdächtigungen

unverhältnismäßig auf und produzieren “Schein-Enthüllungen”, wenn nicht gar

Falschmeldungen (“Enten”). Denn alle Medien müssen und wollen in der heute

verschärften Konkurrenz und Vielzahl Aufmerksamkeit erzeugen, am besten eine, die sie

selbst lancieren und bestimmen, sie setzen sich mithin selbst als Aktualität und Nachricht

und betonen die bereits weit gediehene Selbstreferentialität bzw. Eigenrealität des

Mediensystems. Immer weniger fungiert es nämlich als öffentlicher Mittler zwischen

sozialer Wirklichkeit und Publikum, vielmehr agiert es oft genug als besagte eigene

Realität, die sich dem Publikum als vermeintlich bedeutend und attraktiv aufdrängt.

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Page 49: Medien- und Massenkommunikation: Begriffe und Modelle · McLuhan (1911 -1980), die Menschen lebten künftig in einem “globalen Dorf”, zumindest technisch einlösen. Dass sich

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Die Periodizität, die regelmäßige Erscheinungsweise, wie sie die Printmedien seit dem

17. Jahrhundert allmählich herausbildeten, haben die elektronischen Massenmedien bis

zur sekundengenauen Perfektion hypertrophiert, so dass sowohl feste Zeitrhythmen

entstanden sind, die sich in den Alltag des Publikums eingraviert haben, als sich auch

dadurch weitgehend stabile Publika formieren (Neverla 1992). Diese werden inzwischen

von den “Formatkonzepten” in Radio und Fernsehen weiter perfektioniert: Bestimmte

Publikumsgruppen bekommen gewissermaßen im fixen Zeitkorsett all ihre Nutzerwünsche

befriedigt und sollen möglichst selten ihr bevorzugtes Medium bzw. Programm verlassen.

Unter dem Diktat der Werbung, die ebenfalls solch fixe Zielgruppen-Bindung verlangt,

werden Serien und andere Sendungen sogar im täglichen Rhythmus wie die so

genannten “Daily(Soap)s” angeboten. Programme sind inzwischen starr fixiert, ihre

Änderungen bedürfen jeweils gesicherter Entscheidungen, die vorrangig nach den

Kriterien von Marketing, Resonanz und Akzeptanz getroffen werden und die oft genug

definitive Folgen haben, oder sie erfolgen – im besseren Fall – infolge außergewöhnlicher

Ereignisse. Denn mit den Sendeplätzen sind zugleich erwünschte oder schon einmal

erkämpfte Reichweiten und Marktanteile kalkuliert. Werden diese von den Sendungen

oder ihren Protagonisten nicht erreicht, werden sie umstandslos ausgewechselt. Das

äußere Format bleibt, nur die Figuren und Inhalte werden modifiziert. So firmiert

Periodizität immer weniger als ein publizistisches Kriterium denn als ein Marktkalkül.

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