Meinhard Stark Frauen im Gulag -...

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Meinhard Stark

Frauen im GulagAlltag und Überleben 1935 bis 1956

ISBN-10: 3-446-20286-2ISBN-13: 978-3-446-20286-3

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Die Abfolge des Tages glich sich mehr oder weniger in allen Lagern.Wecken, Morgenappell und Arbeitsausgabe, Zwangsarbeit,Einnahme der kargen Verpflegung, Abendappell und Nachtruhe – daswaren die immer wiederkehrenden Stationen des Alltags.»Immer dasselbe«, faßt Emilie B. den Tageslaufzusammen, »arbeiten, nach Hause, wiederarbeiten.«158 »Arbeit, Schlaf, Essen, Waschen,Verrichtung der Notdurft« waren die »kollektivenHandlungen«, die über Jahre das Leben der Häftlingeausmachten.159 Irmgard Schünemann beschreibt in ihrenmündlichen Erinnerungen einen Lagertag ihrer zehnjährigen Haft:»Früh um 5.00 Uhr wurden wir geweckt. Dann konnten wiruns waschen. Es gab solche langen Tröge, worin wir uns ein bißchenwaschen konnten. Anziehen. Manchmal war es aber so kalt, daß wirin Sachen geschlafen haben. Dann haben wir unser Stück Brotgekriegt. Früh. Und dann ging’s zum Arbeitsappell. Da haben wirdann ewig gestanden, bevor wir aus dem Lager rausgelassen wurden.Mit Musik wurden wir rausgelassen. So ein Hohn! Mit einemBlasorchester. Und da standen wir und standen. Brigadeweise wurdenwir gezählt und rausgelassen, mit dem Brigadier. Der Weg zur Arbeitwar ziemlich weit. Und unterwegs, muß ich sagen, die Männer sindda umgefallen wie die Fliegen. Die haben ja dasselbe Essenbekommen wie wir: Wassersuppen mit dreckigen Kartoffelschalendrin. Kartoffeln hatten die selber nicht, die brauchten sie für die RoteArmee. Es war ja Krieg. Wir waren die letzten. Was wir bekommenhaben. Und das Stück Brot. Das hat uns vielleicht am Leben gehalten.Auf dem riesengroßen Fabrikgelände wurden wir wieder gezählt. Zuessen gab es dann erst wieder zur Mittagspause. Das Brot gab’s nurin der Baracke. Das haben wir früh gekriegt, und da mußten wir unsnun was aufheben, das wir zur Suppe gegessen haben. Man war ewighungrig, muß ich sagen. Daß wir da überhaupt noch Arbeit leistenkonnten, das ist für mich heute noch ein Wunder. Aber wir haben esgeschafft, und Schwerstarbeit. Nicht nur Erdarbeiten, sondern auchmit Beton. Bei Wind und Wetter mußten wir Karren mit Mörtel aufeinem dünnen Brett über eine weite Strecke schieben. Und dieSachen, die wir anhatten, die waren ja oft noch feucht. So ging dasbis abends. Dann wurden wir wieder alle gezählt und ins Lagerreingelassen. Dann hatten wir manchmal Schuhwerk an, aus Stoff

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Frauen im Gulag | Meinhard Stark

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und Gummi unten. Da hatten wir schon nasse Füße. Wenn dasgeregnet hatte, sind wir schon mit nassen Füßen auf die Arbeitgekommen. Und im Winter Filzstiefel. Schwer, aber warm waren die.Wir waren doch so dünn, wir haben die kaum schleppen können. Wirkamen dann nach Hause. Da wurde nicht mehr viel gemacht. Es warja schon dunkel. Wir waren zufrieden, als wir wieder auf unserenPritschen lagen. Und das war unser Arbeitstag.«160In den überlieferten Erinnerungen finden sich nicht sehr häufig solchdetaillierte Schilderungen des Lageralltags. »Die graueMonotonie, dieses bleierne Einerlei des Daseins imZwangsarbeitslager«, erklärt Susanne Leonhard, »läßtsich nicht beschreiben.« Das persönliche Leben schrumpfte zueinem »Nichts«, zu einem »Vakuum«,das sich nur schwer schildern läßt.161Elinor Lipper ist neben Irmgard Schünemann eine von jenen Frauen,die einen einzelnen Tag im Lager schildert; ergänzt durch weitereHäftlingserfahrungen.162 Das Schlagen auf einem frei hängendenStück Eisenbahnschiene gab die Signale, nach denen der Tag ablief.Im Sommer läutete der Diensthabende des Lagers zwischen 4.00 und5.00 Uhr, im Winter manchmal später zum Wecken. Brigadierinnenoder Aufseher sorgten für zügiges Aufstehen, zerrten denGefangenen ihre Zudecke vom Leibe oder zogen die, die ihnen zulangsam waren, einfach an den Beinen von der Pritsche.163 Art undUmfang der persönlichen Hygiene hing von den Möglichkeiten undder Jahreszeit ab. Wenn das Wasser nicht gefroren war, konnten sichFrauen mehr schlecht als recht waschen. Elinor Lipper berichtet voneinem Waschraum, wo zudem Fußlappen und Schuhwerk trocknensollten. Die Verteilung und Einnahme der Brotration und des»Kipjatok«, einfachen heißen Wassers, konnte in derBaracke oder der Speisehalle des Lagers erfolgen.164»Vorschriftsgemäß verzehrt man sein Frühstück im kaltenEßraum«, so Elinor Lipper, »auf einer Bank enganeinandergequetscht von einem mehr oder weniger sauberenHolztisch.«165 Nur in den besseren Baracken, erinnert sichLuise Hörmann, gab es für alle Sitzplätze, um das Esseneinzunehmen. Meist waren die übereinanderliegenden Pritschen derOrt, wo die Frauen, teils halb im Liegen die karge Nahrungverzehrten.166 Anschließend hatten die Häftlinge ihre Schlafstelle in

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Ordnung zu bringen, was Elinor Lipper als »heiligeHandlung« beschreibt.167 Im Marschblock von Fünferreihenging es zum Lagertor. »Die Aufseher und Brigadiere habendie verschiedenen Kolonnen überprüft«, erinnert sich Ruth Z.,wir mußten in Reih und Glied stehen, ganz genau, weil wirstückweise abgezählt wurden.«168 »Mehr als eineStunde«, so Elinor Lipper, dauerte gewöhnlich diese Prozedur,die im Winter den Frauen arg zusetzte. Ein »großer Teil vonErfrierungen bei den Gefangenen« fiel nach Elinor Lipper»nicht auf die Arbeit im Freien, sondern auf das Warten beimAus- und Einmarsch.«169Nach der Arbeitsausgabe und der Übernahme durch die bewaffnetenBegleitsoldaten gingen die Häftlingskolonnen zu den vorgesehenenProduktionsorten. Vor allem zum Waldeinschlag oder zum Feldbauhatten die Gefangenen oft kilometerlange Anmarschwegezurückzulegen. Je weiter der Arbeits- vom Lagerort entfernt war,desto geringer die Chance, eine warme Suppe in der Mittagspause zuerhalten. Die Arbeitszeit betrug zwölf Stunden oder mehr und währtenicht selten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.170 Inmechanisierten Werkstätten, vor allem Schneidereien undStickereien, leisteten Frauen im Schichtbetrieb rund um die UhrZwangsarbeit.171 Am Ende des Arbeitstages schleppten sicherschöpfte und ausgehungerte Häftlingskolonnen dem Lager zu. Wieschnell die Gefangenen ihre sehnsüchtig erwartete Abendration zusich nehmen und auf der schmalen Pritsche etwas Ruhe findenkonnten, hing von der Wachmannschaft am Lagertor ab. Erneutkontrollierte und zählte, summierte und prüfte man.Der Abendappell, die Zählung der Gefangenen, beendete denLagertag. Unterschiedlichen Berichten nach fand dieserbarackenweise in oder vor der Unterkunft statt oder aber zentral aufdem Antreteplatz des Lagers. Täglich um 23.00 Uhr, so MartaRudzka, ließ der Lagerchef alle Häftlinge zum Appell antreten.172Auch beim größten Frost prüften Lageroffiziere die Anwesenheit derGefangenen und übermittelten Befehle und Weisungen.173 Miterneuten Schlägen auf die Eisenbahnschiene endete schließlich derArbeitstag. Hungrig, frierend und erschöpft, gepeinigt vonUngeziefer, suchten die Frauen Schlaf in der kurzen Nacht.

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