Metastasio Und Hasse, Ossia Wer War Hasse Für Metastasio

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Metastasio o Hasse

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Hasse-Cesellschaft Bergedorf e.V.

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Johann Adolph Hasse Cesellschaft Mùnchen e.V.

www.hasse-gesellschaft- muenchen.de

Bibliografische lnformation der Deutschen NationalbibliothekDie Dèutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im lnternet Ùber

http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Schrift Syntax AntiquaSatz Carus-VerlagLayout Carus-Verlag.Druck, Bindung Roth Offset Owen OHC

@ 2013 by Carus-Verlag, Stuttgart - CV 90.019

Vervielfàltigungen jeglicher Art sind gesetzlich verboten. /Any unauthorized reproduction is prohibited by law.Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved2013 / Printed in Cermany / www.carus-verlag.com

ISBN 978-3-89948'197 -6

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lnhalt

Vorwort

Reinhard WiesendBeginnen und SchlieBen in Hasses Oper Cleofide

Raffaele MellaceMetastasio und Hasse, ossla Wer war Hasse fùr Metastasio?

AIina 26rawska-WitkowskaEndimione. Eine Warschauer Serenata von Hasse?

Saskia Maria WoykeHasses Sàngerinnen und Sànger 1726-1732: Anmerkungen zu

Vokalprofilen und Besetzungspraxis im italienischen Cesamtkontext

Roland Dieter Schmidt-HenselHasses Opern auf Friedrichs Bùhne. Zur Rezeption derOpere serie iohann Adolf Hasses im Berlin des 18. Jahrhunderts

Cerhard PoppeOrdentlicher und auRerordentlicher Kirchendienst -Johann Adolf Hasses Aufgaben in der Dresdner Hofkirchenmusikund das erhaltene Repertoire

Ortrun LandmannFragen zu Johann Adolf Hasses Schaffenfùr die Dresdner Hofkirche am Taschenberg(1731-1750)

Wolfgang HochsteinAnmerkungen zu den Credo-Vertonungen von Hasse

Magda Marx-WeberHasses Salve Regi n a-Vertonungen

Ortrun LandmannWeitere Quellenfunde zu den Aufenthaltendes Ehepaares Hasse in Dresden

Klaus HofmannDie Hasses und die Bachs. Begegnungen und Verbindungslinien

Hanns-Werner HeisterZu Hasses musikhistorischer Stellung

Die Verfasser der Beitràge

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Raffaele Mellace

Metastasio und Hasse,ossla Wer war Hasse fùr Metastasio?"

Wenn von Metastasio und Hasse die Rede ist, kònnte man sich sehr sinnvoll eine einfache, aber wichtigeFrage stellen: Wer war (beziehungsweise wer ist) Johann Adolf Hasse fùr Metastasio? Alle kennen dasauf Charles Burney zurùckgehende, ebenso berùhmte wie problematische Bild von Hasse und Metastasioals zwei Hàlften einer engen Einheit. Der Englànder beruft sich hier auf Platons Mythos aus dem Sympo-sion, weil Hasse und Metastasio fùr ihn dieselben Caben im gleichen MaB besitzen: Cenie, Ceschmack,Korrektheit, Kohàrenz, Folgerichtigkeit, Klarheit und Cenauigkeit.l Das wàre denn auch schon eine ersteAntwort auf unsere Frage. Viel an diesem Urteil ist sicher zuverlàssig, und das Urteil selbst ist sehr be-deutsam fÙr die Rezeption der beiden Kùnstler durch die Zeitgenossen ,m etwaITTO.Andererseits ist esgerade auch diese paradigmatische Harmonie zwischen Hasse und Metastasio, die den Blick verstellt. EsgenÙgt also nicht, sich damit zufrieden zu geben; man hat weiter zu suchen. Wenn wir auf die Biographieund das Werk der beiden Kùnstler schauen, kònnen wir eine kleine Reihe von mindestens fùnf Aniwortenableiten, die im Folgenden vorgestellt werden.

Biographisches

Auf biographischer Ebene war Hasse fùr Metastaslo eine immer gegenwàrtige Pràsenz, von der wir aller-dings nur wenige spuren besitzen. Diese spuren sind von unterschiedlicher eualitàt, ziehen sich aberdurch sechs Jahrzehnte. Ùber ihr Verhàltnis aus der Zeit des fùr beide so wichtigen Aufenthalts in Neapelin den zwanziger Jahren wissen wir praktisch nichts. ln dem Musik- und Theiter-Milieu, das beide fre-quentierten, sind sie sicherlich miteinander in Kontakt gekommen. Hasse hatte schon seine lange Reihevon Metastasio-Vertonungen begonnen: wenn noch nicht mit Opern, so zu mindestens mit (antatenund einzelnen Arien.2 Der beste Beleg fùr dieses Verhàltnis ist jedoch die Urauffrihrung des Artaserse inVenedig am 11. Februar 1730,3 ganz am Ende der neapolitanischen Zeit Hasses und eine Woche nachder allerersten Pràsentation des Stoffes durch Leonardo Vinci am 4. Februar in Rom. Man nimmt an,dass Metastasio die doppelte Vertonung selbst organisiert hat oder doch zumindest daran beteiligt war;Hasse hàtte deshalb den Auftrag - die ,,scrittura" - schwerlich ohne die ausdrùckliche Erlaubnis des ùchtersbekommen.a Obwohl Hasse in den dreiBigerJahren nach Wien reiste, dort1734 den Demetrio vertonteund noch 1736 Crùt!,e an Metastasio bestellen IieB,5 kam es erst Mitte der vierziger J ahre zu einem engerenVerhàltnis zwischen den beiden. Anlàsslich eines Besuchs von Hasse 1744in Wiàn schrieb Metastasio:

,,[...] mai fin ora non mi era avvenuto di vederlo all'intero suo lume, [...] di modo che era un'aria senza stromenti;ma ora lo vedo padre, marito ed amico, qualità che in lui fanno un accordo mirabile con quei solidi fondamenti diabilità e di buon costume per i quali io I'apprezzo da tanti anni e I'amo quanto egli merita."6

* Der Autor ist Frau Dr. Juliane Riepe und Prof. Dr. Wolfgang Hochstein sehr dankbar fùr ihre Hilfe bei der deutschen Textfassung_ dieses Beitrags, der Dr. Klaus MLiller ln memoriam gewidmet ist.1 vgl CharlesBurney,ThepresentStateof MusicinCermany,theNethertands,andt-lnitedprovinces,London 1773,5.90-91.' Die auf einen Text von Metastasio geschriebene Hasse-Kantate Orgoglioso fiumicello (,,L'inciampo,,) wurde bereits Ende 1727 in

Wien fti r Herzog Anton Ulrich von Sachsen-Coburg-Mein ingen als letztes Stùck einer Sammlung von vl. Cantate a voce sola [...]kopiert und im April 1728 nach Meiningen gebracht (Signatur 82E in der Bibliothek von Schloss Elisabethenburg in Meiningen); vgl.Lawrence Bennett, A Little-known Collection of Early-eighteenth-century Vocal MusicatSchloss Elisabethenburg, Meinlngen,in:Fontes Artis Musicae 48 (2001), S. 250-302, bes. S. 270, 275 und 298.3 Zur Datierung der Erstauffùhrung vgl. Eleanor Selfridge-Field, A new chronology of venetian opera and related genres, 1660-1760, Stanford 2007, S. 417-419.a Vgl.ReinhardSlrohm,Drammapermusica. ltalianoperaSeriaoftheEighteenthCentury,NewHavenundLondon 1997,s.7g-79.5 Siehe den weiter unten folgenden Abschnitt ,,Musikalisches,,.

' (,,Bis jetzt hatte ich nie die Celegenheit gehabt, ihn in seinem ganzen Licht zu sehen - er war firr mich wie eine Arie ohne Instru-mente; nun jedoch sehe ich ihn als Vater, Ehemann und Freund - Eigenschaften, die bei ihm auf bewundernswerte Weise mit seinersoliden Kompetenz und seinen guten Umgangsformen t/bereinstimmen. Dafitr schàtze und liebe ich ihn sejt vielen Jahren, wie er esverdient"), Brief vom 9. Mai 1744 an Ciovanni Claudio Pasquini, in: Pietro Metastasio, Tutte le opere, hg. von Bruno Brunelli, Mai-land 1943-54, Bd 3, S. 246. Schon am 15. Februar hatte Metastasio an Pasq uini geschrieben: ,,oh q uanto v'invidro la compagniadel signor Hasse e della sua consorte, coppia veramente adorabile!" (,,Wie beneide ich Sie um die Cesellschaft von Herrn Hasse undseiner Frau, einem wirklichen bewundernswerten Ehepaar!,,), ebenda S. 245.

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Raffaele Mellace

Zu wichtigen Kontakten zwischen den beiden Kùnstlern kam es anlàsslich der Urauffùhrungen von lper-

mestra, Antigono und Attilio Regolo in den Jahren 1744 und 1750; Metastasio erhielt in diesen und den

folgenden lahren Musik aus mehreren Dresdner Opern Hasses.T Aber vor allem arbeiteten die beiden

Kùnstler in jenen dreizehn Jahren zusammen (Januar 1760 bis April 1773), in denen sie beide in Wien

wohnten - auch wenn die kleine Reise von der Wohnung Metastasios am Michaelerplatz bis zur Woh-

nung Hasses in der Vorstadt LandstraBe (vor dem Stubentor)s fùr die beiden nicht mehr ganz jungen

Mànner im Winter recht beschwerlich war.e Briefe von Metastasio an Hasse besitzen wir aus der Zeit von

1748 (in Verbindung mit dem problematischen Dresdner Demofoonte)1o bis 1774, als Hasse nach Venedig

ùbersiedelt hatte. Von Metastasio selbst erfahren wir, dass Hasse ihm noch 1774 durch Naumann einen

Brief zukommen lieB.1' Metastasio àuBert sich normalerweise enthusiastisch ùber die Person und die Mu-

sik Hasses: ln dem Komponisten findet er eine ,,gewisse Ahnlichkeit im Denken" (,,una certa somiglianza

di pensare"),1, die sich in den WienerJahren zu einem gro8artigen Projekt in engem Kontakt entwickelt.

Àsthetisches

Auf àsthetischer Ebene war Hasse fùr Metastasio eine der Personen seines ,,musikalischen Dreigestirns".

Den Briefen des Dichters làsst sich ein klares musikalisches ldeal entnehmen: Er hatte seine kùnstlerische

Erziehung in Neapel in den zwanziger Jahren erhalten und bereits dort eigene feste Vorstellungen entwi-

ckelt- ldeen, die auch spàter in Wien keine wesentlichen Anderungen erfuhren. ln einem Brief von 1749

an Farinelli umreiBt Metastasio sein ldeal, als er die drei fùr ihn wichtigsten Komponisten aufzàhlt. Er hat

gerade den jungen lommelli kennengelernt und schreibt iiber ihn an den gro8en Sànger:

,,Egli mi ha sorpreso. Ho trovato in lui tutta l'armonia del Sassone, tutta la grazia, tutta l'espressione e tutta lafecondità dì Vinci".13

Vinci, der schon 1730, als Metastasio gerade in Wien angekommen war, in jungen Jahren starb, steht fùrdie jugendliche erste Phase des Dichters: Àlter als Metastasio und sein Freund in den Jahren in Neapel, war

er mit den ersten groBen Erfolgen Metastasios (Didone abbandonata, Siroe, Catone in Lltica, Semiramide

riconosciuta, Alessandro nell'tndie, Artaserse) in und auBerhalb von Neapel verbunden.

Jommelli steht fùr die jùngere Ceneration: Als ùberaus màchtiger ,,Zauberer" (,,potentissimo mago", wie

Metastasio ihn nennt) fasziniert er den Dichter, vielleicht stàrker als jeder andere Komponist, mit seinen

verfùhrerischen (,,seduttrici") Erfindungen;1a fùr Jommelli entwickelt der Dichter ,,un amor [mio per voi]

quasi peccaminoso" (eine ,,fast sùndha{te Liebe").15 Jommelli ist es auch, der- ohne es zu wollen - einen

kleinen Streit zwischen Metastasio und Hasse entfacht, als er dem Kollegen den berùhmten Brief des

Dichters ùber Attilio Regolo nicht zeigen will.16

Arien und das Duett aus Ciro riconoscluto im Mai 1751, wahrscheinlìch Arien aus L'Eroe cinese im Dezember 1753, aus Ezio tm

Februar 1755, aus ll re pastore im )anua( 1756, aus L'Olimpiade im Aprtl 1756 und auch einige Solfeggi im Màrz 1757; vgl. Raffaele

Mellace, lohann Adolf Hasse, Paletmo 2004, S. 129.

Die Wohnung Hasses lag nicht unbedingt an der heutigen LandstraBer HauptstraBe, sondern moglicherweise auch in der Umge-

bung der Ungargasse oder der Rasumowskygasse (nach freundlicher Mitteilung von Dr. Walther Brauneis vom 6. SePtember 201 1 ).

,,[...] il lungo tragitto non è confacevole né alla sua podagra né ai dolorosi reumatismi, aì quali son io sottoposto. Sicché non mi

lusingo di vederlo sino ai fiorì delle viole" (,,Die lange Reise Ìstwederseiner Cicht noch den rheumatischen Schmerzen, an denen ich

leide, zutràglich. Deshalb hoffe ich, ihn nicht erst bei der Veilchenblùte wieder zu sehen"), Brief vom 3. Februar 1772 an Francesco

Crisi, in: Metastasio, Tutte le opere,8d.5, S. 137.

Fùnf Briefe Metastasios nach Dresden (an Ciovanni Claudio Pasquini, Johann Adolf Hasse und Karl Heinrich von Dieskau) zwischen

dem 10. Februar und2. MèLrz 1748, ebenda Bd. 3, S. 337-348.Brief vom 20. April 1774 an )ohann Adolf Hasse, ebenda Bd. 5, S.293.Brìef vom 1. Mai 1756 an Johann Adolf Hasse, ebenda Bd. 3, S. 1113.

(,,Er hat mich ùberrascht. lch habe in ihm die ganze Harmonie des Sassone, die ganze Anmut, die ganze Ausdruckskraft und den

ganzen ldeenreichtum von Vinci gefunden"), Brrefvom 12. November 1749 anCailo Broschi Farinelli, ebenda 8d.3,5.444.

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1a Brief vom 6. April1765 an Nicolò Jommelli, ebenda Bd. 4, S. 384.15 Brief vom 2. )uli 1764 an Nicolò Jommelli, ebenda Bd. 4, S. 366.16 Briefvom14.M:àlz1750anNicolòJommelli,ebendaBd.3,S.496-93.Vgl.dazuRaffaeleMellace,L'autunnodel Metastasio.Cli

ultimi drammi per musica di Johann Adolf Hasse, Florenz2OOT,5.8-9.

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Metastasio und Hasse, ossla Wer war Hasse fùr Metastasio?

Hasse bedeutet fùr Metastasio unaufhÒrlich neue Entdeckungen:

,, t...1 ogni volta che ritorno a considerare un'opera vostra, m'incontro in qualche nuova bellezza che mi era da

prima sfuggita, e mi paga generosamente la replicata applicazione".lT

Fùr Metastasio ist es einzig Hasse gewesen, der ,,solo finora interrotto l'intiero possesso del primato ar-

monico della nostra nazione" (der ,,schlieRlich den im alleinigen Besitz unserer Nation befindlichen musi-

kalischen Primat unterbrochen hat";''a und er hat trotz Alter und Krankheit bis an das Ende seiner Karriere

echte Meisterwerke geschrieben, wie Metastasio 1764 an Farinelli ùber die Festa teatrale Egeria schrieb:

,,[...] non ho mai sentita musica più armoniosa, magistrale e popolare insieme di quella che ha scritta ilSassone in questa occasione: onde è stata conosciuta, applaudita e ammirata non solo dagli intendenti,ma anche da quelli che son al mondo unicamente per vegetare."le

Musikalisches

Auf musikhistorischer Ebene war Hasse fùr Metastasio der wichtigste Komponist seiner Texte, und dies

aus vielen Crùnden. Hasse hat Texte von Metastasio ùber ein halbes Jahrhundert hinweg vertont - mitSicherheit von vor 1728 bis 1776 -, und dies in sàmtlichen Stationen seines Lebens: in Neapel, in ganzItalien, in Dresden, in Wien und in Venedig. Schon in einem ,,prophetischen" Brief von 1736 hatte Hasse

von seinem lzugleich] ,,starken und respektvollen Eifer" gesprochen, womit er ,,lMetastasios] gòttlicheVerse immer vertonen werde": ,,quel violente e rispettoso impegno, con cui sempre mi pregierò di metterein musica i divini suoi versi".20 Eine beeindruckende Treue, die das ganze Schaffen Metastasios begleitet:von den Anfàngen in Neapel bis zum letzten Drama, ll Ruggiero, das beide Kùnstler 1771 in Mailandinszenierten - und noch darùber hlnaus, als Hasse seine letzte Metastasio-Kantate, ll ciclope,771àhrig1776in Venedig vertonte. Der Sassone ist sicher der bedeutendste Komponist der Dramen Metastasios,die er - wie niemand sonst - sàmtlich vertont hat, mit der einzigen Ausnahme des Temistocle: eine Lùcke,

die sich aber dadurch kompensieren làsst, dass Hasse bekanntlich unter dem Titel Viriate sogar das Libret-to des Siface vertont hat, also jenes allererste, 1723 noch vor Didone abbandonata entstandene DramaMetastasios, das der Dichter nie in sein Werkverzeichnis aufnahm, weil er die Crundidee, die ,,lnventio",einem fremden Werk entnommen hatte.21

Ebenso wie die Opernlibretti begleiteten die Kantatentexte aus der Feder Metastasios den KomponistenHasse sein Leben lang, von L'inciampo noch in Neapel bis zu ll ciclope in Venedig. Bei der Vertonungdieser Texte hat Hasse eine sehr subtile Sensibilitàt fùr das italienische Wort und den Vers an den Taggelegt, und so vermochte er die von Burney genannten Qualitàten der Metastasianischen Dichtung (MaB,

Klarheit und Cenauigkeit) unabhànglg von der jeweiligen Besetzung in Musik zu ùberlragen.22

Noch auf einem dritten Feld hat Hasse, wenn auch nur mit wenigen Werken, mit Metastasio zusammen-gearbeitet: im Bereich des Oratoriums, der ,,Azione sacra". Dass dieses Repertoire fùr den Sassone eben-falls von Wichtigkeit war, geht aus einem noch unveròffentlichten eigenhàndigen Brief an Salieri hervor,

den der Verfasser in Kùrze publizieren wird. Von Metastasios Oratorienlibretti hat Hasse drei Titel vertont:den philosophischen Ciuseppe riconosciuto, ferner Sant'Elena al Calvario in zwei ganz verschiedenen

'7 (,,JedesMal,wennichmireineslhrerWerkenwiedervornehme,stoBeichaufirgendeineneueSchÒnheit,dieichzunàchstùberse-hen hatte und die mir die wiederholte Beschàftigung damit mehr als lohnend macht"), Brief vom 22. Februat 1755 an Johann AdolfHasse, in: Metastasio, Tutte le opere, Bd. 3, S. 551.

18 Brief vom 2o. Oktober 1749 an )ohann Adolf Hasse, ebenda Bd, 3, S. 428.1e (,,lchhabenieMusikgehòrt,diemehrvollerHarmonie,meisterhaftundgleichzeitigvolkstùmlichist,alsdieMusik,diederSassone

firr diesen Anlass geschrieben hat: eben deswegen wurde sie nicht nur von den Kennern mit Beifall bedacht, anerkannt und bewun-dert, sondern auch von denen, die nur auf der Welt sind, um dahinzuleben"), Brief vom 26. April 1764 an Carlo Broschi Farinelli,

ebenda Bd. 4,5.355.20 Brief vom 11. Februar 1736 an den Sekretàr des Herzoges von Modena, in: Livìa Pancino (Hg.), Johann Adolf Hasse e Ciammaria

Ortes. Lettere (1760-1783), Brepols 1998, S. 353.21 lJber das Verhàltnis der Musik Hasses zu den Dramen Metastasios vgl. insbesondere Mellace, Johann Adolt Hasse, 5.261-273

(Kapitel Metastasio e Hasse) und allgemein das ganze Kapitel ll teatro, S. 165-305. Ùber Viriate vgl. Raffaele Mellace, "Viriate",

ossia " Siface": una negletta esperienza veneziana di Hasse (e Metastasio), in: Maria Ciovanni Miggiani (Hg), ll canto di Metasta-sio. Atti del Convegno di studi. Venezia, 14-1 5 Dicembre 1999, Bologna2OO4, 5.247-276.

22 Ùber die Kantaten Hasses ùber Texten Metastasios vgl. Mellace, -/oha nn Adolf Hasse, S. 324-335 (Kapitel Metasta sio da camera).

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Raffaele Mellace

Fassungen (Dresden und Wien), die dreiBig Jahre auseinander liegen, und schlieBlich La conversione di

Sant'Agostino. Das letztgenannte Oratorium gehòrt nicht eigentlich zu den Werken Metastasios, obwohl

es doch viel mehr ein Werk des Poeta laureatus als von Maria Antonia Walpurgis ist; dies beweist ein sehr

wichtiger Brief Metastasios an Hugo Wllhelm Freiherr von Wetzel, den Oberhofmeister Maria Antonias.23

So nimmt eine zeitgenòssische deutsche Ausgabe den Sant'Agostino zwar wohl ohne Erlaubnis des Au-

tors, aber sicherlich zu Recht unter die Azioni sacre Metastasios auf.2a

Hasse als subtiler Leser Metastasios

ln seinen vielen Vertonungen - 33 Libretti von Opern und Feste teatrali, davon 15 mehrmals komponiert,

auBerdem Kantaten und Azioni sacre - zeigt slch Hasse als subtiler Leser der Dichtungen Metastasios und

ihrer UntertÒne. Er verdankt dies seiner ausgezeichneten Kenntnis der italienischen Sprache und der Sen-

sibilitàt fùr den poetischen Rhythmus und fùr den Diskurs der Empfindsamkeit, die der Dichter in seinen

Dramen ausarbeitet. Dies kann man an einem Beispiel aus dem ersten Drama Metastasios aufzeigen, der

Didone abbandonata, die Hasse 1742 in Hubertusburg bei Dresden vertonte. Am Ende des ersten Akts

befindet sich der ,,primo uomo" Enea (damals gesungen vom Kastraten Domenico Annibali) in einer tiefen

existenziellen Unruhe, denn das Schicksal befiehlt ihm die Abreise, die Liebe das Bleiben:

Se resto sul lido,

se sciolgo le vele,

infido, crudelemi sento chiamar.

E intanto confusonel dubbio funesto,non parto, non resto,

ma provo il mariireche avrei nel partire,che avrei nel restar.

Hasse vertont den Text als Dal-segno-Arie mit einer sehr komplex organisierten ersten Strophe:25 Die

ersten beiden Zeilen, in denen der Held seine Zweifel vortràgt, sind in einem stillen Lento gleichsam

unbeweglich gemacht, ehe in der dritten Zeile die provokanten Anschuldigungen des Anchises (,,infido")

und der Dido (,,crudele") das Cewissen Eneas bewegen und zu einem Affekt- und Tempowechsel fÙhren.

Der Text wird in dieser Art sehr subtil dramatisiert: Der Musik genùgt der einfache semantische Wert der

WÒrter nicht; sie konzentriert sich vielmehr auf das innere Drama, das die Arie Metastasios nachdrLicklich

offenbart, um die moralischen Diskrepanzen darzustellen. ,,Restare sul lido" und ,,scioglier le vele" sind

die zwei Seiten desselben Dilemmas; sie stellen dieselbe Unbeweglichkeit Eneas dar, und deshalb erfor-

dern sie eine àhnliche Vertonung, obwohl es sich um zwei entgegengesetzte Aktionen handelt. Dabei

sind die Wut von Anchises und Dido das bestimmende Element, das der musikalischen Seite Energie und

Spannung einflòBt. Und mehr noch: ln der dritten (und schon deshalb regelwidrigen) Vertonung der Stro-

phe verteilt Hasse den Text um: Lento und Altegro antworten einander zweimal; der Konflikt zwischen der

Unentschlossenheit des Helden und der Wut seiner erbitterten Cegner wird somit immer wieder erneuert.

Hasse als kritischer Leser Metastasios

Und schlieBlich war Hasse ein kritischer Leser Metastasios, der die feinsten Nuancen des Textes mit seiner

Musik zu erfassen suchte - gelegentlich auch gegen die ursprùngliche Absicht des Dichters. Man kann

dies einem der letzten groBen Werke, bei dem die beiden Kùnstler zusammenarbeiteten, deutlich anmer-

ken: dem Drama ll trionfo di Ctelia,\Nien 1762.26 Die letzte Arie der Heldin, am Anfang des dritten Akts,

ist in Metastasios Text voll quàlender Unruhe:

23 Brief vom 17. )anuar 1750 an Hugo Wilhelm Freiherr von Wetzel, in: Metastasio, Tutte le opere, Bd. 3, S. 463-465.2a CeistlicheSchau-Bùhne.AusdemttalienischenùbersetztvonPedroObladen,AugsburglT53.25 partiturabschriftderOperìnl-Mc,NosedaF-6T.Vgl.dazuauchRaffaeleMellace,llsassoneal bivio:.lohannAdolfHasseel'aria

col da capo, in: Musica e storia '1 5 (2008), S. 571-586, bes. S. 573-575.26 Autographinl-Mc,Part.Tr.ms. 158.ÙberdasDramaunddieVertonungHassesvgl.Mellace,L'autunnodel Metastasio,S.36-57,

130-147.

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Metastasio und Hasse, ossla Wer war Hasse fùr Metastasio?

Tanto esposta alle sventure,tanto al Ciel mi veggo in irache ogni zeffiro che spiraparmi un turbine crudel.

Segna timido e incostanteorme incerte e mal sicure,né ritrova il piè tremanteun sentier che sia fedel.

Die tiefe existentielle Angst der antiken Heldin, die hier unmittelbar vom Tod bedroht ist, wird von Hassestark reduziert (vgl. das Notenbeispiel). Sie wird in nur zwei Erkennungselemente zusammengefasst: eineTonleiter von ZweiunddreiBigsteln ,,con tutti i bassi", die unerwartet im Orchester erklingt, ohne denruhigen und festen Cang der Melodie zu stòren (es ist eine Art Brùllen, das Clelia wie ,,un turbine crudel"wahrnimmt). Und auBerdem ist der B-Teil der Arie sicher beunruhigend. Der Hauptsatz jedoch ist ganzSanftheit, Vergnùglichkeit und Celòstheit: die Singstimme, mit oktavierenden Flòten und Oboen ,,unpoco piano" in Terzen, schwebt rlber der Leere der schweigenden Bàsse, rùcksichtsvoll gestùtzt von denAchteln der Violinen und Bratschen im Piano. ln der ersten Strophe sind nur 18 Takte fùr die Stimme ge-dacht, wàhrend die zwei Orchester-Ritornelle 25 Takte dauern - eine Strategie, die ganz von sich aus nachdem Bild einer distanzierenden Natur, einer gemessenen Objektivierung der Leidenschaften strebt, nacheiner ,,stillen CrÒ8e", die nicht weit von Winckelmann und seinen ldealen entfernt ist. Auf diese Weisehat Hasse das innerste Wesen der Clelia begrlffen und umgesetzt, und gleichzeitig hat er autonom durchdie Musik den Pfad korrigiert, den der Dichter ursprùnglich fùr Clelia konzipierte: ein unsicheres Cleich-gewicht zwischen Angst und Hoffnung, wovon in der Musik Hasses kaum noch eine Spur zu finden ist.

Zitierte Literatur

Bennett, Lawrence: A Little-known Collection of Early-eighteenth-century Vocal Music at Schloss Elisabethenburg,Meiningen, in: Fontes Artis Musicae 48 (2OO1), S. 250-302.

Burney, Charles: The present State of Music in Aermany, the Netherlands, and lJnited Provinces, London 1773.

Ceistliche Schau-Btihne. Aus dem ltalienischen ùbersetztvon Pedro Obladen, Augsburg 1753.

Mellace, Raffaele: lohann Adolf Hasse, Palermo 2004.

Mellace,Raffaele: "Viriate",ossia"Siface":unaneglettaesperienzavenezianadi Hasse(eMetastasio),in: MariaCio-vanni Miggiani (HS.), ll canto di Metastasio. Atti del Convegno di studi. Venezia, '14-'16 Dicembre 1999, Bologna2004, s. 247-276.

Mellace, Raffaele: L'autunno del Metastasio. Cli ultimi drammi per musica di lohann Adolf Hasse, Florenz2OOT.

Mellace, Raffaele: ll Sassone al bivio: lohann Adolf Hasse e l'aria col da capo, in: Musica e storia 16 (2008), S.

571-586.

Metastasio, Pietro: Tutte le opere, hg. von Bruno Brunelli, Mailand 1943-54.Pancino, Livia (Hg.): lohann Adolf Hasse e 6iammaria Ortes. Lettere (1760-1783), Brepols 1998.

Selfridge-Field, Eleanor: A new chronology of Venetian opera and related genres, 1660-1760, Stanford 2007.

Strohm, Reinhard: Dramma per musica. ltalian Opera Seria of the Eighteenth Century, New Haven und London 1997.

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Raffaele Mellace

Johann Adolf Hasse, ll trionfo di Clelia,3, 1, Arie der Clelia ,,Tanto esposta alle sventure", T. 24-38 (Au-

tograph, l-Mc Part. Tr. ms. 158)

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Metastasio und Hasse, ossla Wer war Hasse fùr Metastasio?

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