Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte Volume 105 (Bamberger Fachtagung...

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Georg Steer Textkritik und Textgeschichte Editorische Präsentation von Textprozessen: Das .Nibelungenlied'. Der ,Schwabenspiegel'. Die .Predigten' Taulers. Das Thema ,Die editorische Präsentation von Textprozessen' hat einen editions- technischen und einen editionstheoretischen Aspekt. Unter beiden Aspekten ist es gerechtfertigt, so unterschiedliche Werke wie die .Predigten' Taulers, das ,Nibelungenlied' und den .Schwabenspiegel' zusammen zu betrachten. Doch auch der editionsgeschichtliche Aspekt läßt die drei Texte näher beieinander stehen, als es ihre Zugehörigkeit zu drei unterschiedlichen Gattungen zu erlau- ben scheint. 1. Die äußerlichste Gemeinsamkeit von Taulers .Predigtbuch', von .Nibelungenlied' und .Schwabenspiegel' ist die beängstigende Fülle der Text- zeugen. Hans Lentze 1 teilt in seinem Bericht über „Die Schwabenspiegelausgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Monumenta Ger- maniae Historica" mit, es seien „bis zum Jahre 1930 [. . .] insgesamt 400 Hand- schriften untersucht" worden. Johannes Mayer 2 zählt in seiner Dissertation zur Überlieferung der Predigten Taulers an die 200 Handschriften. Nur das .Nibelungenlied' zeigt sich in seiner Überlieferung bescheidener: lediglich 36 Vollhandschriften und Fragmente haben sich erhalten. 3 2. Allen drei Werken ist 1 Hans Lentze: Die Schwabenspiegelausgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Monumenta Germaniae Historica. In: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philos.-hist. Kl. 92. Jg. 1955. Wien 1956, S. 394-404, hier S. 397. Die Hand- schriften sind verzeichnet von Gustav Homeyer: Die deutschen Rechtsbücher des Mittelalters und ihre Handschriften, neu bearbeitet von Conrad Borchling, Karl August Eckhardt und Julius von Gierke. Weimar 1931/1934; Nachträge von Friedrich Ebel, in: ZRG.GA 97, 1980, S. 296- 297; von Ulrich-Dieter Oppitz, in: ZRG.GA 99, 1988, S. 313-315; siehe auch: Deutsche Rechts- bücher des Mittelalters. Von Ulrich-Dieter Oppitz. Band I: Beschreibung der Rechtsbücher, Band II: Beschreibung der Handschriften. Köln—Wien 1990. 2 Johannes Mayer: Die oberdeutschen Klosterfassungen der Predigten Johannes Taulers, Diss. Eichstätt 1990; vgl. auch Georg Hofmann: Literaturgeschichtliche Grundlagen zur Tauler-For- schung. In: Ephrem Filthaut (Hrsg.): Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 600. Todestag. Essen 1961, S. 436—479: Es werden 136 Handschriften verzeichnet; vgl. auch Paul Michel: .Agamemnon' unter den Gottesfreunden. Editionsprobleme der germanistischen Mediä- vistik anhand einiger Beispiele bei Johannes Tauler. In: Fimfchustim. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 50. Geburtstag am 28. Juni 1977. Bayreuth 1978, S. 137-184. 3 Michael Curschmann: Nibelungenlied und Klage. In: 2 VL, Bd. 6, 1987, Sp. 926-969, bes. Sp. 927: „Die reiche, aber im einzelnen lückenhafte und insgesamt diffuse Uberlieferung ist fast ausschließlich oberdeutsch und (später) rheinfränkisch: 11 mehr oder weniger vollständige Hand- schriften und 23 Fragmente bzw. Fragment-Komplexe". Zu den Fragmenten Q, und Q4 sieh Hans-Friedrich Rosenfeld: Neue Nibelungenfragmente aus Rosenheim und München. In: PBB 109, 1987, S. 14-50. Brought to you by | Penn State - The Pennsylvania State University Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 8/7/12 4:45 PM

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Georg Steer

Textkritik und Textgeschichte

Editorische Präsentation von Textprozessen: Das .Nibelungenlied'. Der ,Schwabenspiegel'. Die .Predigten' Taulers.

Das T h e m a ,Die editor ische Präsentat ion v o n Textprozessen' hat e inen edi t ions-

technischen und einen edit ionstheoret ischen A s p e k t . U n t e r beiden A s p e k t e n ist

es gerecht fer t igt , so unterschiedl iche W e r k e w i e die .Predigten' Taulers, das

,Nibelungenl ied' u n d den .Schwabenspiege l ' z u s a m m e n zu betrachten. D o c h

auch der edit ionsgeschicht l iche A s p e k t läßt die drei Texte näher beie inander

stehen, als es ihre Z u g e h ö r i g k e i t zu drei unterschiedl ichen G a t t u n g e n zu e r lau-

ben scheint. 1 . D i e äußerl ichste G e m e i n s a m k e i t v o n Taulers .Predigtbuch' , v o n

.Nibelungenl ied' u n d .Schwabenspiege l ' ist die beängst igende Fülle der T e x t -

zeugen. Hans Lentze 1 teilt in seinem Ber ich t über „ D i e Schwabenspiege lausgabe

der Österreichischen A k a d e m i e der Wissenschaf ten u n d der M o n u m e n t a G e r -

maniae Historica" mit , es seien „bis z u m J a h r e 1 9 3 0 [. . .] insgesamt 4 0 0 H a n d -

schriften untersucht" w o r d e n . Johannes M a y e r 2 zählt in seiner Dissertat ion zur

Ü b e r l i e f e r u n g der Predigten Taulers an die 2 0 0 Handschr i f ten . N u r das

.Nibelungenl ied' zeigt sich in seiner Ü b e r l i e f e r u n g bescheidener: ledigl ich 3 6

Vol lhandschr i f ten u n d Fragmente haben sich erhal ten. 3 2 . A l l e n drei W e r k e n ist

1 Hans Lentze: Die Schwabenspiegelausgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Monumenta Germaniae Historica. In: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philos.-hist. Kl. 92. Jg. 1955. Wien 1956, S. 394-404, hier S. 397. Die Hand-schriften sind verzeichnet von Gustav Homeyer: Die deutschen Rechtsbücher des Mittelalters und ihre Handschriften, neu bearbeitet von Conrad Borchling, Karl August Eckhardt und Julius von Gierke. Weimar 1931/1934; Nachträge von Friedrich Ebel, in: ZRG.GA 97, 1980, S. 296-297; von Ulrich-Dieter Oppitz, in: ZRG.GA 99, 1988, S. 313-315; siehe auch: Deutsche Rechts-bücher des Mittelalters. Von Ulrich-Dieter Oppitz. Band I: Beschreibung der Rechtsbücher, Band II: Beschreibung der Handschriften. Köln—Wien 1990.

2 Johannes Mayer: Die oberdeutschen Klosterfassungen der Predigten Johannes Taulers, Diss. Eichstätt 1990; vgl. auch Georg Hofmann: Literaturgeschichtliche Grundlagen zur Tauler-For-schung. In: Ephrem Filthaut (Hrsg.): Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 600. Todestag. Essen 1961, S. 436—479: Es werden 136 Handschriften verzeichnet; vgl. auch Paul Michel: .Agamemnon' unter den Gottesfreunden. Editionsprobleme der germanistischen Mediä-vistik anhand einiger Beispiele bei Johannes Tauler. In: Fimfchustim. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 50. Geburtstag am 28. Juni 1977. Bayreuth 1978, S. 137-184.

3 Michael Curschmann: Nibelungenlied und Klage. In: 2VL, Bd. 6, 1987, Sp. 926-969, bes. Sp. 927: „Die reiche, aber im einzelnen lückenhafte und insgesamt diffuse Uberlieferung ist fast ausschließlich oberdeutsch und (später) rheinfränkisch: 11 mehr oder weniger vollständige Hand-schriften und 23 Fragmente bzw. Fragment-Komplexe". Zu den Fragmenten Q, und Q4 sieh Hans-Friedrich Rosenfeld: Neue Nibelungenfragmente aus Rosenheim und München. In: PBB 109, 1987, S. 14-50.

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gemeinsam: Sie sind über einen relativ langen Zeitraum hin tradiert worden, in dem sie mehrere Male historisch unterschiedlich aktualisiert und in neue Funk-tionszusammenhänge gezogen wurden. 3. Für alle drei Werke liegt die Ge-schichte ihrer Entstehung im Dunkeln, d. h. diese ist bis heute nicht geklärt.

Allen drei Werken ist das Schicksal widerfahren, zunächst nur auf der Grund-lage von Einzelhandschriften ediert worden zu sein. Beim .Nibelungenlied' stell-te sich zudem ein Prioritätenstreit ein: Karl Lachmann sah in A,4 Karl Bartsch in B 5 und Friedrich Zarncke und Adolf Holtzmann sahen in C 6 die jeweils .älteste Handschrift', also jene Handschrift, die dem angenommenen Original am nächsten stand. Lachmann kündigte seine Ausgabe 1826 mit dem programma-tischen Titel an: „Der Nibelunge Noth und die Klage. Nach der ältesten Über-lieferung mit Bezeichnung des Unechten und mit den Abweichungen der ge-meinen Lesart". Holtzmann holt 1857 zum Gegenschlag aus in beabsichtigter Anlehnung an die Titelformulierung Lachmanns: „Das Nibelungenlied in der ältesten Gestalt mit den Veränderungen des gemeinen Textes". Beide Ausgaben wischen Karl Bartsch und im Jahre 1957 noch Helmut de Boor vom Tisch, der schreibt: „Der erste, der eine brauchbare wissenschaftliche Ausgabe nach der Handschrift Β herstellte, war Karl Bartsch".7

Einen Prioritätenstreit bei der Herausgabe des , Schwabenspiegels' hat glück-licherweise ein gütiges Schicksal verhindert. Ohne voneinander zu wissen, brachten im Jahre 1840 Wilhelm Wackernagel8 und Friedrich Freiherr von Laß-berg9 den ,Schwabenspiegel' gleichzeitig heraus, nach jeweils anderen Führungs-

4 Karl Lachmann: Der Nibelunge Not mit der Klage. In der ältesten Gestalt mit den Abweichun-gen der gemeinen Lesart herausgegeben. Berlin 1826. Unveränderter um ein Handschriftenver-zeichnis vermehrter Nachdruck der fünften Ausgabe von 1878. Sechste Ausgabe von Ulrich Pretzel. Berlin 1960. Phototypischer Nachdruck: Ludwig Laistner: Das Nibelungenlied nach der Hohenems-Münchener Handschrift (A). München 1886.

5 Karl Bartsch: Der Nibelunge Not, mit den Abweichungen von der Nibelunge Liet, den Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuche herausgegeben. 3 Bde. Leipzig 1870-1880. Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Helmut de Boor. 21. revi-dierte und von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage (Deutsche Klassiker des Mittelalters). Wiesbaden 1979.

6 Friedrich Zarncke: Das Nibelungenlied. Leipzig 1856. Sechste Aufl. Leipzig 1887. Adolf Holtz-mann: Das Nibelungenlied in der ältesten Gestalt mit den Veränderungen des gemeinen Textes. Hrsg. und mit einem Wörterbuch versehen. Stuttgart 1857. Das Nibelungenlied nach der Hand-schrift C. Hrsg. von Ursula Hennig (ATB 83). Tübingen 1977. Diplomatischer Abdruck: Das Nibelungenlied und die Klage, Handschrift C der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen. Hrsg. von Heinz Engels. Stuttgart 1968. Facsimile-Ausgabe: Hrsg. von Werner Schröder. Stuttgart/Köln 1968.

7 Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hrsg. von Helmut de Boor (Deutsche Klassiker des Mittelalters). 14. Aufl. Wiesbaden 1957, S. L.

8 Wilhelm Wackernagel: Der Schwabenspiegel in der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Texte und den Zusätzen derselben. Zürich und Frauenfeld 1840 (nur Landrecht).

9 Der Schwabenspiegel oder schwäbisches Land- und Lehen-Rechtbuch, nach einer Handschrift vom Jahr 1287. Hrsg. von Friedrich L. A. Freiherrn von Laßberg. Mit einer Vorrede von A. L. Reyscher. Tübingen 1840. Editio tertia besorgt von Karl August Eckhardt (Bibliotheca rerum historicarum, Neudrucke 2, Der Schwabenspiegel). Aalen 1972.

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handschriften und im Glauben, den Text „in der ältesten Gestalt" zu bieten. In gänzlicher Abhängigkeit von Lachmann formulierte Wilhelm Wackernagel: „Der Schwabenspiegel in der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der ge-meinen Texte und den Zusätzen derselben". Von Laßberg aber hatte entschieden die Nase vorn, weil er nicht nur eine sehr alte Handschrift aufbieten konnte, sondern auch, weil diese Handschrift datiert war: die Donaueschinger Hand-schrift Nr. 738 (La), vom Jahre 1287. Stolz vermerkt er deshalb auf dem Titel-blatt seiner Ausgabe: „Der Schwabenspiegel oder schwäbisches Land- und Le-hen-Rechtbuch", nicht „nach der ältesten Überlieferung", sondern „nach einer Handschrift vom Jahr 1287". Die Ankündigung ist freilich nicht ganz zutref-fend. Der wertvolle Codex enthält auf seinen erhaltenen 136 Blättern, die Frei-herr Josef von Laßberg im Jahre 1830 nach und nach in seinen Besitz bringen konnte, nur 2/3 des ,Schwabenspiegel'-Textes. Das übrige wurde aus einem Züricher Codex [Hs. Ζ XI 302] ergänzt. Man wagt es kaum zu glauben: Die aus zwei Handschriften zusammenmontierte und mit spärlichsten Varianten verse-hene Ausgabe Laßbergs ist „seit ihrem Erscheinen bis heute" die „maßgeblich benutzte [. . .] Schwabenspiegelausgabe".10 Annähernd 30 andere Ausgaben konnten sie nicht verdrängen.

Wie Freiherr von Laßberg verfuhr auch Ferdinand Vetter bei der Ausgabe der Predigten Taulers.11 Seine Leithandschrift übertraf die Donaueschinger ,Schwabenspiegel'-Handschrift durch zusätzliche Qualitäten: Der Engelberger Codex 124 (E), von Karl Bihlmeyer entdeckt, war noch zu Lebzeiten Taulers, im Jahre 1359, geschrieben worden — Tauler starb 1361 —, und es durfte vermutet werden, daß Tauler selbst ihn noch durchgesehen hat. Doch leider zeigt auch E, wie La (Donaueschinger Handschrift Nr . 738 des ,Schwabenspiegels'), eine frag-mentarische Uberlieferung. Im Vergleich zu den drei alten Straßburger Hand-schriften A 89, A 88 und A 91, die 1870 verbrannten, von denen Karl Schmidt jedoch Abschriften genommen hatte, fehlen 38 Predigten. Damit nicht genug. Es gibt offensichtlich noch Tauler II. In der Freiburger Handschrift Nr. 41 (F), die „mindestens ebenso alt wie die Engelberger ist", fand Vetter nämlich „wei-teres Vergleichsmaterial und neuen Stoff ' , wie er sich ausdrückte. Die Predigten in F entpuppten sich für Vetter als eigenständiges Predigtkorpus, das „von Ε und den Straßburger Handschriften in bezug auf Bestand und Reihenfolge der Stük-ke gänzlich verschieden" war.12 Vetter wußte sogar noch um einen Tauler III: in den Wiener Handschriften 2739 und 2744. Doch diesen ließ er vorsorglich bei-seite und konzentrierte sich nur auf Tauler I und II.13 Er edierte also, wie dies

10 Werksverzeichnis Karl August Eckhardt. Zusammengestellt und erläutert von Albrecht Eckhardt (Bibliotheca rerum historicarum. Studia 12). Aalen 1979, S. 17-20 und 54-73, hier S. 69.

11 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften hrsg. von Ferdinand Vetter ( D T M 11). Berlin 1910.

12 Ebd. S. IV. 13 Ebd. S. IV: „Die weitere Arbeit wird noch etwa die Wiener Hss. 2739 und 2744 aus d e m 14.

Jahrhundert beizuziehen haben".

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auch Freiherr von Laßberg in seiner .Schwabenspiegel'-Publikation tat, einen aus zwei, streng genommen sogar aus drei Überlieferungstraditionen vermisch-ten Text. „Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Hand-schrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschrif-ten" lautet korrekt der Titel seiner Ausgabe. 1924 und 1929 machte dann A. L. Corin in einer eigenständigen Ausgabe Tauler III bekannt: Er edierte den Text-bestand der beiden Wiener Handschriften.14 Durch sie wurde offenbar, daß im ripuarischen R a u m eine Texttradition der Predigten Taulers existierte, die von der alemannischen im Predigt- und Textbestand stark abweicht. Predigten, die sichtlich in zwei Redakt ionen auseinanderfallen, setzt Corin in Spalten ab. Les-arten Vetters und der Drucke erfaßt der Apparat. Die Konturen der frühesten Textgestalt der Predigten Taulers sind denen des Nibelungenliedes Α, Β und C nicht unähnlich.

Die Ausgaben der ersten Editionswelle von .Nibelungenlied', ,Schwa-benspiegel' und .Predigten' Taulers verfolgen alle auffällig ein Ziel: die Publi-kation jener Gestalt des Textes, die die ältesten Handschriften erhalten haben, auch dann noch, wenn diese Handschriften das Werk nur fragmentarisch bieten wie die ,Schwabenspiegel'-Handschrift La, die .Nibelungenlied'-Handschrift C, die ,Taulerpredigten'-Handschrift E, oder grobe Überlieferungsmängel auf-weisen. Lachmann war auch bei diesem Verfahren der Schrittmacher: „Leichter wäre meine arbeit gewesen", schreibt er in seiner .Nibelungen'-Ausgabe von 1826, „wenn ich den text der handschriften Β (D) HJKcdefgh zum gründe gelegt hätte: so wäre die gemeine lesart des dreizehnten jahrhunderts hergestellt und ein meistens verständlicher text geliefert, aber es schien mir nicht genug den gemeinen text wieder zu geben, da uns in Α ein älterer überliefert ist: ich strebe nach dem ältesten der zu erreichen wäre, das bedenkliche war dass er aus Einer handschrift geschöpft werden muste, und zwar aus einer unsorgfältig geschrie-benen und mit ziemlich wilder Orthographie".15 Es war letztlich das Prinzip Lachmanns, in einer Textausgabe das älteste zu fassen, das Adolf Holtzmann (1810—1870) und Friedrich Zarncke (1825—1891) drängte, gegen Lachmanns Urteil , Α stehe „allein allen übrigen handschriften mit dem offenbar älteren text entgegen",16 aufzustehen, nachdem sie zu der Überzeugung gekommen waren, daß nicht in Α und B, sondern in C „die u m 1200 entstandene ursprüngliche Fassung des Nibelungenliedes" enthalten sei.17 U n d Karl Bartsch war gezwun-

14 Sermons de J. Tauler et autres ecrits mystiques. I. Le Codex Vindobonensis 2744, II. Le Codex Vindobonensis 2739, edite(s) pour la premiere fois, avec les variantes des editions de Vetter (1910), de Leipzig (1498), d'Augsburg (1508), et de Cologne (1543), precede(s) d'une introduction et annotc(s) par A. L. Corin (Bibliotheque de la Faculte de Philosophie et Lettres de l'Universite de Liege, Fase. XXXIII, XLII). Liege/Paris 1924/1929.

15 Lachmann, vgl. Anm. 4, S. X. 16 Ebd. S. IX. 17 Friedrich Neumann: Handschriftenkritik am Nibelungenlied. In: G R M 46, N. F. XV, 1965,

S. 225-244, hier S. 228.

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gen worden, gegen alle drei Front zu machen, weil er in Β den ursprünglichsten Text des Nibelungenliedes glaubte gefunden zu haben. A. L. Cor in entschloß sich in dem Augenblick zur Ausgabe der Taulerpredigten nach den beiden in Köln entstandenen Wiener Handschriften 2739 und 2744, als für ihn feststand, daß „les plus anciens recueils de sermons de Tauler furent ecrits en dialecte ripuarien"18 und im Text der Engelberger und der Freiburger Handschriften nur Umschrif ten ripuarischer Vorlagen bewahrt seien.

Die auf die Erstausgaben folgende Editionsgeschichte von .Nibelungenlied' , .Schwabenspiegel' und .Predigten' Taulers ist geprägt durch die Ausbildung entstehungsgeschichtlicher Theorien der Werke, die nicht aus überlieferungs- und textgeschichtlichen Studien entwickelt wurden. Lachmann hatte damit angefan-gen, und gewiß hatte seine feste Vorstellung v o m Eigenwert der drei ältesten Handschriften des .Nibelungenliedes' Einfluß auf die Folgezeit. Die „frühere", das heißt die früheste uns zugängliche „Rezension" bewahre A. C sei aus einer „in vielen Punkten gemilderten Überarbei tung" hervorgegangen. In Β zeige sich der Text des Liedes in der „höchsten Blüte". Freilich wolle er die Geschichte der „Umgesta l tungen" zu schreiben anderen überlassen, die „das Einzelne von bedeutenden Gesichtspunkten aus zu betrachten" wüßten.1 9 Den Aufr iß einer solchen Geschichte hat dann Karl Bartsch entworfen und ihn seiner Ausgabe von 1870 zugrunde gelegt. Der ursprüngliche Text ist ihm ein Text des 12. Jahrhun-derts, der weitgehend Assonanzen zeigt. Er erfährt zwei Bearbeitungen, die in zwei Hauptklassen von Handschriften überliefert sind. Der Text der ersten Be-arbeitung wird getragen von Β und A, der Text der zweiten Bearbeitung von C. Überzeugt von der Richtigkeit seiner Wertung der Handschriften und seiner Vorstellung vom Alter und Aussehen des Originals, getraute er sich zu, die Vorlage der beiden Bearbeitungen herzustellen. Damit ist eine Ausgabe neuer Qualität geboren, denn Bartsch will nicht mehr Β allein edieren, sondern über Β hinaus den Archetyp fassen, in dem er das Original gespiegelt sieht. Diesem neuen Typus einer Ausgabe werden die Attribute .kritisch' und .wissen-schaftlich' zugelegt. „Als wichtigste Handschrift der wöt-Gruppe und überhaupt als die beste Nibelungenhandschrift" , schreibt noch 1957 Helmut de Boor , „be-trachten wir heute die St. Gallener Handschrift B. Auf ihr hat sich jeder kritische Text des Nibelungenliedes aufzubauen [. . .] Der erste, der eine brauchbare wis-senschaftliche Ausgabe nach der Handschrift Β herstellte, war Karl Bartsch".20

Die Begründung für das von Bartsch gezeichnete Überlieferungsbild lieferte 1900 Wilhelm Braune in seiner Studie über „die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes". Es gelang ihm, nach den Prinzipien der Archetypus-Philo-logie die Lesarten, meist aus zweiter Hand, so zu arrangieren, daß sie die Ver-wandtschaft der Handschriften durch einen exakt durchgeführten S tammbaum darstellen.

18 Corin, vgl. Anm. 14, Bd. I, S. XXVII . 19 Siehe Neumann , vgl. Anm. 17, S. 227. 20 De Boor, vgl. Anm. 7, S. L.

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Eine wissenschaftlich-kritische Ausgabe vom .Schwabenspiegel' zu erstellen, muß offensichtlich noch 1956 der Österreichischen Akademie der Wissenschaf-ten und den Monumenta Germaniae Historica vorgeschwebt haben, denn Hans Lentze berichtet, die Wiener Akademie der Wissenschaften habe „das große Werk in Angriff (genommen), eine Ausgabe des,Schwabenspiegels' zu schaffen, die den Anforderungen moderner Editionstechnik entsprechen sollte", und zwar deswegen, weil es „bis heute keine Ausgabe (gibt), die wissenschaftlichen An-sprüchen genügt".21 Als Voraussetzung dafür wurde ganz offensichtlich ange-sehen, daß „eine bestimmte Auffassung des ,Schwabenspiegel'-Problems [d. h. der Entstehungs- und Textentwicklungsgeschichte des ,Schwabenspiegels'] einer Ausgabe zugrunde gelegt werden kann".22 Auf eine solche vermochte man sich jedoch nicht zu einigen. So konnte Karl August Eckhardt seine Theorie von der Entstehung des,Schwabenspiegels' und von den Vorgängen der Verbreitung des Textes hemmungslos propagieren und mit über einem Dutzend von Publikatio-nen der markantesten Fassungen — von Homeyer in Klassen und Ordnungen eingeteilt oder auch als Kurz-, Lang-, Normal- und systematische Formen be-zeichnet — dokumentieren. Wenn Eckhardt gar von einem „endgültigen Stem-ma" spricht und sogar meint, „über die genetische Folge ,Sachsenspiegel', ,Augs-burger Sachsenspiegel', .Deutschenspiegel', ,Urschwabenspiegel', Verkehrsfor-men des ,Schwabenspiegels' (besteht) heute keine Meinungsverschiedenheit mehr",23 ignoriert er nicht nur anders lautende Forschungspositionen, sondern auch den bisher erreichten Forschungsstand. Ernst Klebel, der am intensivsten und umfassendsten die ,Schwabenspiegel'-Überlieferung studiert hat, resümiert 1930, daß „erst etwas mehr als die Hälfte aller bekannten .Schwabenspiegel'— Handschriften als auch nur irgendwie untersucht bezeichnet werden kann. Von der Aufstellung von Stammbäumen muß deshalb vom kritisch-wissenschaftli-chen Standpunkt vorderhand abgesehen werden".24 Zur gleichen Warnung sieht sich auch Hans Lentze noch 1956 gezwungen: „Bisher ist es eben nur gelungen, die Handschriften den verschiedenen Klassen und Ordnungen zuzuschreiben, die Filiation der Klassen und Ordnungen muß dagegen erst noch festgestellt wer-den".25 Für eine kritische Ausgabe des .Schwabenspiegels' sind also die nötigen Vorarbeiten noch lange nicht erbracht. Peter Johanek hält eine solche überhaupt fur „unmöglich" und genauso die „Erstellung eines Gesamtstemmas, zumal Kurz-, Lang- und Normalformen nicht genetisch voneinander abzuleiten sind (Klebel)".26 So gesehen tat Karl August Eckhardt das einzig Richtige: Er edierte Einzelfassungen des ,Schwabenspiegels'.

21 Lentze, vgl. Anm. 1, S. 395. 22 Ebd. S. 404. 23 Eckhardt, vgl. Anm. 10, S. 54f. 24 Ernst Klebel: Studien zu den Fassungen und Handschriften des Schwabenspiegels. In: Mitteilun-

gen des Österreichischen Instituts fur Geschichtsforschung 44, 1930, S. 129—264, hier S. 145. 25 Lentze, vgl. Anm. 1, S. 403. 26 Peter Johanek: Rechtsschrifttum. In: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250-1370.

Zweiter Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Hrsg. von Ingeborg Glier (Geschichte der deut-

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In Anbetracht der verheerenden Kritik Helmut Brackerts an Wilhelm Brau-nes Handschriftenstemma,27 die unwiderlegbar nachwies, daß für das .Nibe-lungenlied' ein Handschriftenstammbaum mit Hilfe von ,Leitfehlern' nicht zu zeichnen, ein Archetyp also nicht zu fassen ist, blies auch Helmut de Boor zum Rückzug: Man müsse sich beim .Nibelungenlied' jetzt eben mit der Edition von Fassungen begnügen; das Original sei mit textkritischen Mitteln nicht zu errei-chen. Die „neuen Einsichten [Helmut Brackerts]", schreibt er 1972, „bestimmen und verändern die Haltung des Herausgebers gegenüber seinem Text. Bartschs Ausgabe des .Nibelungenliedes' hatte den Anspruch erhoben, mit den Mitteln der traditionellen Textkritik bis zum Original oder doch bis zu einem diesem sehr nahestehenden Archetypus vorzudringen. Dieser Anspruch muß aufgege-ben werden. Der Text Β der St. Gallener Handschrift 857 ist grundsätzlich ebenso eine .Fassung' wie Α und C".28

Vom .Nibelungenlied', vom ,Schwabenspiegel', von den .Predigten' Taulers also keine originalen oder dem Original nahestehenden Texte, allenfalls Texte einer oder mehrerer Fassungen? Und vorausgesetzt, es könnten wirklich nur verschiedene Fassungen eines Textes ediert werden, in welchem Verhältnis zu-einander sollte man sie anordnen? Sind sie unvermittelt nebeneinander in Spalten zu setzen, damit sie sich gegenseitig interpretieren oder damit sie ohne jeglichen Anspruch auf Deutung lediglich „Arbeitsgrundlage" für alle denkbaren Deu-tungen sind? So jedenfalls hat Michael Batts seine synoptische Ausgabe des .Nibelungenliedes' verstanden.29 Oder sollen bei Fassungswiedergaben die Hauptphasen der Textentwicklung dokumentiert werden, wie dies die Wei-marer Ausgabe der Psalmenübersetzungen Luthers vormacht?30 Dann aber müß-te man noch dringlicher als bei der Darstellung eines einzigen edierten Textes die genetische Abfolge der Textabschriften und Textbearbeitungen kennen; ein Wissen, das nun gerade nicht zur Verfugung steht. Es drängt sich die recht grundsätzliche Frage auf: Kann von den drei Werken .Nibelungenlied', .Schwabenspiegel', .Predigten' Taulers die originale Textform nicht ediert wer-den, weil es sie 1. gattungsbedingt nicht gibt, oder weil sie 2. überlieferungs-

schen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 111,2). München 1987, S. 396-431, hier S. 417f.

27 Helmut Brackert: Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes (Quellen und For-schungen N . F. 11 [135]). Berlin 1963.

28 De Boor, vgl. Anm. 5, S. LI. 29 Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften Α, Β und C nebst Lesarten der übrigen

Handschriften. Hrsg. von Michael S. Batts. Tübingen 1971, S. VII: „ U m die Gesamtheit der Überlieferung unmittelbar zur Geltung k o m m e n zu lassen, ist dem Paralleldruck der Haupthand-schriften ein Lesartenverzeichnis angeschlossen, das die weitere Überl ieferung berücksichtigt. Es handelt sich also nicht u m eine kritische Ausgabe, sondern u m einen Abdruck, und das schließt ein, daß auf Bewertung und Auswertung der Lesarten in Bezug auf die Handschriften Verhältnisse verzichtet werden mußte. Der Abdruck soll nicht ein Beitrag zur Lösung spezieller Probleme der Textgeschichte und Interpretation sein, sondern als Arbeitsgrundlage dienen".

30 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Die Deutsche Bibel Bd. 10/1. Die Überset-zung des Dritten Teils des Alten Testaments (Buch Hiob und Psalter). Weimar 1956, S. 106-588.

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bedingt wegen der fortwährenden Weiterentwicklung des Textes so verunklärt wird, daß sie nicht mehr gesehen werden kann, oder weil 3. die Überlieferung so zertrümmert und dezimiert ist, daß aus den erhaltenen Textzeugen die hi-storischen Vorgänge der Textvermittlung nicht mehr rekonstruiert werden kön-nen, oder weil 4. die Erforschung der erhaltenen Textzeugen noch nicht abge-schlossen ist, um sich ein endgültiges Urteil zu erlauben? Von der 4. Möglichkeit ist fur die Taulerpredigten und den ,Schwabenspiegel' auszugehen. Aber auch beim .Nibelungenlied' ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Seit Lach-manns Ausgabe von 1826 bis heute ist zwar mit Heftigkeit und Ausdauer über die Überlieferung des .Nibelungenliedes' diskutiert und publiziert, auch dieses immer wieder ediert worden, aber die Basisvoraussetzung für eine allseitige Beurteilung der Überlieferung vermochte das Fach Altgermanistik in den ver-flossenen 170 Jahren nicht zu schaffen: die Anlage einer Vollkollation aller Hand-schriften, die ja keineswegs identisch ist mit der puren Verzeichnung und Sortie-rung der Varianten. Es überrascht nicht, daß Helmut Brackert, der in erster Linie die Prämissen Braunes31 prüfte und seine Vorstellung einer Ausgabe des .Nibelungenliedes' nur andeuten konnte — „parallele kritische Ausgabe der ver-schiedenen Redaktionen"3 2 - , fordert: „Für das Fernziel einer neuen kritischen Ausgabe scheint mir eine Neukollation aller Handschriften unerläßlich".33

Doch das Editionsziel lediglich vom Original auf die Ebene der Redaktion abzusenken, erscheint nur auf den ersten Augenblick als Lösung des Problems. Bei so mutationsfreudigen Texten wie dem .Nibelungenlied', dem .Schwa-benspiegel' und den ,Predigten' Taulers ist die Rekonstruktion eines R e -daktionstextes ebenso schwierig und fast unmöglich wie die des Originals. Ur -sula Hennig hatte „eine neue kritische Edition der Fassung * C " versucht,34 die unter anderen auch Joachim Bumke gefordert hatte.35 Sie mußte jedoch auf die editorische Präsentation von Redaktion * C zugunsten einer „Edition des Ni -belungenliedes nach Handschrift C " verzichten, weil zum einen die Handschrift C „nicht die authentische Version der /iei-Fassung (bietet)" und diese zum an-deren in den *C-Handschriften zu stark zerschrieben erscheint, als daß man ihren originalen Text fassen könnte. „Die /i'ei-Fassung ist", beobachtet sie, „in bezug auf ihre Großstruktur (Strophenzahl und Anordnung, U m - und Neu-dichtung größerer Textpartien) ohne Schwierigkeiten von der übrigen Überlie-

31 Wilhelm Braune: Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes. In: PBB 25, 1900, S. 1 -222.

32 Brackert, vgl. Anm. 27, S. 173. 33 Ebd. S. 1. 34 Das Nibelungenlied nach der Handschrift C. Hrsg. von Ursula Hennig (ATB 83). Tübingen

1977; vgl. auch dies.: Zu den Handschriftenverhältnissen der Li'ei-Fassung des Nibelungenliedes. In: PBB 94, 1972, S. 113-133.

35 Joachim Bumke über Helmut Brackert, vgl. Anm. 27. In: Euphorion 58, 1964, S. 428-438, hier S. 438: „Für die Textkritik ergibt sich daraus als wichtige Aufgabe eine neue kritische Edition der Fassung *C".

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ferung abzugrenzen. [. . .] Dagegen weist sie in der textlichen Feinstruktur U n -terschiede auf, die sich nicht in der Form eines Handschriftenstammbaumes auf einen gemeinsamen Urtext *C1 oder gar * C zurückfuhren lassen".36 Das Edi-tionsziel sinkt also nochmals tiefer, auf die Ebene der Einzelhandschrift. Genau dort hatten die Editoren des 19. Jahrhunderts begonnen.

Doch der Schwierigkeiten nicht genug. Der zweite Versuch, die verschiede-nen Fassungen des ,Nibelungenliedes' zu edieren — C, Α und Β in synoptischer Anordnung: durch Michael Batts — hat vollends offengelegt, auf welche U n -wägbarkeiten sich ein Editor einläßt, wenn er Fassungen herausgeben will. Die Begriffe ,Original' und ,Archetypus' sind einigermaßen fest, nicht jedoch der der Fassung. Er ist gänzlich unbestimmt. Wie weit müssen Textausformungen eines Werkes divergieren, daß sie als unterschiedliche Fassungen dieses Werkes angesprochen und unter editorischem Aspekt als verschiedene Texte behandelt werden müssen? Helmut Brackert und Helmut de Boor denken beim .Nibelungenlied' offensichtlich an drei Versionen Α, Β und C. Joachim Bumke spricht nur von zwei Redaktionen, von *C und *AB. Bei einem strengeren Begriff von Fassung als ihn Karl August Eckhardt hatte, dürfte die Zahl der von ihm edierten ,Schwabenspiegel'-Fassungen auf gut die Hälfte zu reduzieren sein. Und eine genaue Überprüfung der Überlieferung der Taulertexte könnte er-bringen, daß Paralleleditionen von Predigtsammlungen Taulers, wie sie Corin vorschlägt, nicht zu rechtfertigen sind. Noch weniger einsichtig wäre es gewe-sen, wenn Michael Batts seinen ursprünglichen Plan verwirklicht hätte: das N i -belungenlied nach den Handschriften A, B, C, D, I, b und d in sieben parallelen Spalten zu edieren.

Beim .Nibelungenlied' ist näher zuzusehen. Zwei, drei oder gar sieben Ver-sionen? Da Helmut Brackert als Konsequenz aus seiner Untersuchung des Hand-schriftenstemmas Wilhelm Braunes fordert, es seien künftig „parallele kritische Ausgaben der verschiedenen Redaktionen"3 7 des .Nibelungenliedes' herzustel-len, ist eine Auskunft darüber, was beim .Nibelungenlied' eine Redaktion ist, für die Arbeit des Textkritikers von allergrößter Bedeutung. Brackert müht sich um diese Auskunft: „Jeder Redaktor" , meint er, „stand vor zwei Möglichkeiten. Er konnte sich an einen vorgebildeten, im wesentlichen festliegenden Wortlaut binden, konnte sich aber auch davon lösen". Vor dieser Alternative steht jeder Schreiber. Wichtig ist die folgende Präzisierung: „Es ist die Merkwürdigkeit der ,Nibelungenlied'-Überlieferung, daß es trotz dieser Freiheit der Redaktoren nie-mals zur Ausbildung so völlig verschiedener Versionen gekommen ist wie etwa im Bezirk der Herzog Ernst-, der Wolfdietrich- oder gar der französischen Wil -helmssagen. Die bindende Kraft eines im wesentlichen fest ausgeformten Textes ist in diesem Fall also recht groß gewesen". Ein relativ fester Text also; in

36 Hennig, vgl. Anm. 34, S. 132. 37 Brackert, vgl. Anm. 27, S. 173.

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einzelne Redakt ionen gebrochen zwar, aber durch sie alle hindurch scheint der eine gemeinsame Text. Dieser spezielle Begriff von Redakt ion erklärt sich aus der Vorstellung Brackerts über die Entstehung der Redakt ionen und des .Nibelungenliedes' ganz allgemein. Mündliches Traditionsgut sei neben den „schriftlich vorhandenen Versionen des Stoffes" den Redaktoren zu Gebote ge-standen. Ihre einzelnen Fassungen müsse man gleich behandeln, weil sie alle gleichermaßen an der Ausformung des Textes beteiligt waren: „Die Urheber der verschiedenen Redakt ionen, die uns vorliegen, lassen sich nicht prinzipiell als Geister minderen Ranges von jenem Autor unterscheiden, auf den der ge-meinsame Text zurückginge. Es wird unter den verschiedenen Dichtern, die an der Herausbildung dieses Textes mitwirkten, einen gegeben haben, der größer war als alle anderen, [. . .] grundsätzlich steht hinter diesem Text eine Mehrzahl, wenn nicht eine Vielzahl von Sängern (oder wie immer man sie nennen will), die alle in der gleichen poetischen Technik bewandert , mit dem gleichen Stof-fe vertraut, sich an der Ausformung des Textes beteiligten".38 Für die Richt ig-keit seiner Auffassung über die Textentwicklung des ,Nibelungenliedes' gibt Brackert ein Beispiel. In der 4. Zeile der Strophe 2264 (A) läuft der Text in A, B C und Ih in die Lesarten harte, rehte, eine auseinander. Die Herausgeber hätten sich zwar jeweils fur den Wortlaut ihrer Leithandschrift entschieden. „Die Ih-Lesung eine m u ß aber", sagt Brackert, „als Lectio difficilior gelten. [. . .] Daß die Ent-wicklung sich so vollzogen haben muß, läßt sich hier zwingend erweisen",39

denn Dietrich sage in Strophe 2283 zu Hagen: irjähet daz ir eine mit strite woldet mich bestän. Brackert müßte zwingend nachweisen, daß der Schreiber/Redaktor Ih nicht in Kenntnis der Strophe 2283 rehte in eine verändert hat. Dies ist nicht möglich. Wenn es stimmt, daß die punktuellen Ausformungen des ,Nibelungen-lied'-Textes, die Brackert Redakt ionen nennt, „Textbestände von sehr verschie-dener Provenienz und sehr verschiedenem Alter" „in dichter, fur uns nicht mehr entwirrbarer Verflechtung und Verschichtung bewahren" und der „gemeinsame Text in den Redakt ionen immer nur in Verbindung mit dem Sondergut dieser Redakt ionen vorliegt, deren integrierenden Bestandteil es bildet", dann sind die .Redaktionen' wegen dieser in der Überlieferung beobachteten Textmischung ebenso wenig in ihrer ursprünglichen Gestalt zu fassen wie das ,Original' des Textes. Es erscheint unerfindlich, weshalb „parallele kritische Ausgaben der ver-schiedenen Redakt ionen" des .Nibelungenliedes'40 vorgeschlagen werden, uner-findlich freilich nur im Blick auf die Überlieferungsgegebenheiten, die auch andere schon festgestellt haben, nicht aber im Blick auf die von Brackert ent-wickelte Entstehungstheorie des ,Nibelungenliedes'. Nach dieser ist es nur zu konsequent, daß die einzelnen individuellen Ausformungen der einen ge-meinsamen Nibelungensage durch einzelne Redaktoren auch editorisch in Er-

38 Ebd. S. 170. 39 Ebd. S. 172. 40 Ebd. S. 173.

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scheinung treten. Brackert ersetzt die klassische Stammbaumtheorie Braunes durch eine Redaktorentheorie. Beide vermögen die historische Textent-wicklung des .Nibelungenliedes' nicht zu deuten, genauso wenig, wie die Vor-stellung Karl August Eckharts von der Genealogie der ,Schwabenspiegel'— Handschriften oder die Idee Corins von der Entstehung der Taulerpredigtsamm-lungen in Köln der geschichtlichen Texttradierung des ,Schwabenspiegels' und der ,Tauler-Predigten' gerecht werden. Sie werden ihr deswegen nicht gerecht, weil ihnen kein ausgebildeter Begriff von Fassung zur Verfügung steht. Dieser ist nicht aus einer Theorie zu gewinnen, und er gilt auch keineswegs für jede Textüberlieferung im gleichen Sinne. Die Textform, die letztlich als Fassung angesprochen werden kann, muß in textarchäologischer Feinarbeit aus dem Chaos der Varianten eines Textes herausgelöst werden.

Ich verdeutliche durch ein Beispiel. Die ,Rechtssumme' Bruder Bertholds,41

in 125 Textzeugen erhalten, hat über den ganzen Text hin drei Bearbeitungen erfahren, durch einen A-, B- und C-Redaktor. Der C-Text wurde nochmals von einem vierten Bearbeiter (Cy) umgestaltet. Einzig die beiden Textformen C und Cy sind genetisch unmittelbar miteinander verbunden. Anders verwandt sind Α, Β und C. Keiner der Redaktoren hat die Textfassung des anderen be-nützt. Sie sind deshalb zurecht als parallele Redaktionen des ,Rechtssumme'— Textes zu sehen und damit auch in paralleler Anordnung zu präsentieren. Die von Α, Β und C bearbeitete Vorform der ,Rechtssumme' ist in fragmentarischen präredaktionellen Textzeugen erhalten. Handschriftlich nicht bezeugt ist die Textform des Originals Bertholds. Wegen des ,Sondergutes' der Redaktionen wäre es ein illusorisches Unterfangen, die nichtfiktive Größe Original rekon-struieren zu wollen. Die Stellen, an denen alle drei Redaktionen divergieren, können in der originalen Textform nur mit Hilfe der lateinischen Vorlage mehr oder weniger sicher bestimmt werden. Dazu ein Beispiel: Das Kapitel Κ 30,16—2042 weist einem Bischof beim Bau einer Kirche die Aufgabe zu, den Bauherrn dazu anzuhalten, daß er — und nun weichen die Fassungen voneinan-der ab —

Β die volpring vnd dar zu geb gult A si volpring, vnd sol im dar zu geluk geben C die vol mache vnd dartzü gebe licht vnd sie peleücht.

Ein Vergleich mit der ,Summa Confessorum' (III, 249.148) hilft dem Sinn auf. In i h r h e i ß t es: Et debet dos tanta esse, quod sufficiat ad luminaria et ad vitam ministrorum. Den luminaria der lateinischen Vorlage dürfte bei Bruder Berthold

41 Die .Rechtssumme' Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der ,Summa Confessorum' des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen Β, Α und C. Hrsg. von Georg Steer und Wolfgang Klimanek, Daniela Kuhlmann, Freimut Löser, Karl-Heiner Sü-dekum, Bde. I-IV (TTG 11-14). Tübingen 1987.

42 Ebd. Bd. III, S. 1422/3, S. 18f.

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das deutsche Wort geliuhte entsprochen haben, das in den Wortformen gult (B) und geluk (A) noch durchschimmert.43 Nachdem die textgeschichtlichen Kon-stellationen der ,Rechtssumme'-Überlieferung erkannt waren, empfahl sich die editorische Präsentation der Fassungen Α, Β und C mit Cy in einer vierten Kolumne annähernd von selbst. Es mag als Glücksfall hingestellt werden, daß die Überlieferungsverhältnisse bei der ,Rechtssumme' Bruder Bertholds durch-schaut werden konnten. Doch diese Glücksfälle sind herbeizufuhren - u n t e r nicht unerheblichem Arbeitsaufwand freilich.

Für die Edition der .Predigten Taulers' zeichnet sich nach den bisherigen Untersuchungen eine Konstellation ab, die es erlaubt, den Taulerschen Text nach den Straßburger und Wiener Handschriften sowie nach der Engelberger und Freiburger Handschrift zu bieten, die es aber auch erzwingt, ihm in Synopse die stark bearbeitete Fassung eines Anonymus beizugeben, weil diese, schnell zur Vulgata avanciert, bereits im 15. Jahrhundert als der eigentliche ,Tauler' galt und auch Eingang in den Druck fand.

Für das .Nibelungenlied' ist eine Ausgabe denkbar, die auf den Handschriften Α, Β und C aufbaut, diese in Synopse dargeboten, die durch drucktechnische Akzentuierungen Textgemeinsamkeiten wie Textunterschiede hervorhebt und in einem die Ausgabe begleitenden Kommentar auf erschließbare frühere Text-bestände und -schichten, auch auf vermutete originale Positionen aufmerksam macht.

Für den ,Schwabenspiegel' dürfte die Arbeit nach 150 Jahren noch einmal ganz von vorne begonnen werden müssen. Uber allen bisherigen Versuchen, eine sogenannte kritische Ausgabe zu erstellen, waltete ein Unstern.

Das .Nibelungenlied', der .Schwabenspiegel', die .Predigten' Taulers sind Texte mit offener Überlieferung, wie viele andere Texte auch. Auf abschriftli-chem und redigierendem Wege werden sie verändert. Ihre ursprüngliche Ent-stehensform verwischt sich, aber auch die von Fassungen, Archetypen und Hyp-archetypen. Wenn aber auch die Genealogie der Handschriften und Redigie-rungen nicht mehr mit Sicherheit erschlossen werden kann, erscheint es un-möglich, mit textkritischen Techniken Autortexte oder Redaktortexte zu re-konstruieren. Dem Textkritiker, der es einzig auf Originales abgesehen hat, bleibt als Ausweg nur noch der Griff nach einer Handschrift, einer ältesten Handschrift womöglich, im Vertrauen auf das Glück, in ihr auch die älteste Textform eines Werkes, oder zumindest eine der ältesten Textformen, vorzufin-den. In einer ähnlich mißlichen Situation befindet sich auch der Texteditor neuer Subjektivität, der, resignierend vor dem Überlieferungshaufen der Textzeugen, aber vertrauend auf sein eigenes ingenium, ein literarisches Werk nach einem

43 Vgl. dazu: Die ,Rechtssumme' Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der ,Summa Confessorum' des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen Β, Α und C. Bd. VII: Quel lenkommentar Buchstabenbereich I—Z. Hrsg. von Marlies H a m m und Helgard Ulmschneider (TTG 17). Tübingen 1991, S. 451 f.

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einzigen Textträger, in den nach seiner eigenen divinatorischen Einschätzung der ,Geist des Werkes' gefahren ist, zu edieren beabsichtigt.

Aus dem Dilemma könnte ein Perspektivenwechsel helfen. Statt mit unzu-reichenden Techniken aus einer noch unentwirrten Überlieferung einen Urtext zu destillieren, oder unter Verzicht auf jede Technik und Methode eine Einzel-handschrift zum repräsentativen Lesetext zu küren, kann ein in Handschriften erhaltener Text als Produkt eines Prozesses, oder anders formuliert, kann ein Text im Prozess seiner historischen Ausformung, angefangen von den frühesten beleg-baren, dem Autor zuzurechnenden Textpositionen bis zu späteren Fremdredi-gierungen ediert werden. Der Blick auf das Original weitet sich zu einem Blick auf das Original und seine historischen Folgeformen. An eine Voraussetzung ist dieses erweiterte Editionsziel allerdings gebunden. Fernab jeder editorischen Ab-sicht ist zunächst eine methodisch auf hohem Niveau angesiedelte Textarchäologie zu betreiben, die die historischen Zustände des Textes und seine geschichtlichen Ausfächerungen sowie seine verifizierbaren Funktionsbezüge freilegt. Diese Forderung ist nur berechtigt, wenn Überlieferungsgeschichte als Literaturge-schichte verstanden werden darf und literarische Werke nicht als zeitlose, ortlose und allgemeine Entitäten, vergleichbar den platonischen Ideen, verstanden wer-den müssen, denen anspruchsvoll die eine angemessene Edition, d. h. die wis-senschaftlich-kritische zuzuordnen ist. Eine Literaturgeschichte, die auch nur den primitivsten Imperativen der geschichtlichen Forschung gehorcht, wird litera-rische Texte nicht erst in der elitären Abgehobenheit einer wissenschaftlichen Edition, als Denkmal, zur Kenntnis nehmen, sondern in ihren historischen U r -zuständen, in den Handschriften. Wer einen erweiterten Literaturbegriff akzep-tiert, wird nicht nur Rechtstexte und Predigten zur Literatur rechnen, sondern jede Art von erhaltenen handschriftlichen Zeugnissen von Literatur, die Hand-schriften η und Q des .Nibelungenliedes' wie auch die textaufschwellende se-kundäre Bearbeitung der Taulerpredigten, die Luther im Augsburger Tauler-druck als echten Tauler gelesen hat. Die Geschichtlichkeit von Literatur wird dann nicht mehr als akzidentielles Beiwerk gesehen werden können, sondern als ein die Literatur bestimmender Wesenszug. Und auch Originalität verliert ihre starre Eingeengtheit und erscheint nicht mehr als das letzte und einzige Krite-rium der literaturgeschichtlichen Arbeit und der sog. Textkritik, der dieser Name freilich nicht mehr gut ansteht, weil die textgeschichtliche Editionsarbeit gerade jene Geschichte in die Edition hineinbringt, die die „Textkritik" aus-sperren muß.

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