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Koordination der Ausstellung: Forschungsgruppe Achac (www.achac.com) und der Stiftung Lilian Thuram. Bildung gegen Rassismus (www.thuram.org) unter der Leitung von Emmanuelle Collignon. Grafische Gestaltung:Thierry Palau. Forschung und Dokumentation: Tiffany Roux, Marie-Audrey Boisard und Nicolas Cerclé. Französische Ausstellungstexte: Pascal Blanchard, auf Basis von Arbeiten von Nanette Jacominj Snoep, Éric Deroo, Nicolas Bancel, Sandrine Lemaire und Gilles Boëtsch. Deutsche Ausstellungstexte: Susanne Buchner-Sabathy. Die Ausstellung beruht auf einer Aufsatzsammlung, die in deutscher Sprache 2012 unter dem Titel MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit im Hamburger Verlag Les Éditions du Crieur Public erschien. Das Projekt basiert zudem auf der Ausstellung und deren Katalog „Die Erfindung des Wilden“ im Pariser Musée du Quai Branly (2011-2012), die unter der Gesamtleitung von Lilian Thuram und der wissenschaftlichen Leitung von Nanette Jacominj Snoep und Pascal Blanchard erarbeitet wurde. Der Hamburger Verlag Les Editions du Crieur Public GmbH ist der exklusive Partner der Forschungsgruppe ACHAC für die Umsetzung und Realisierung der deutschsprachigen Ausstellung, er ist der Kurator der Ausstellung. Diese wurde gezielt für den deutschen Sprachraum überarbeitet und erweitert. Einzelheiten zum Verlag finden Sie unter www.crieur-public.com. Goldsponsoren Silbersponsoren Kurator ie Frauen, Männer und Kinder, von denen diese Ausstellung erzählt, kamen aus Asien, Afrika oder Amerika, von pazifischen Inseln, manchmal auch aus Europa. Sie wurden in Zirkussen und Tavernen zur Schau gestellt, auf Jahrmärkten, in Tiergärten, in ethnischen Dörfern, bei Welt- und Kolonialausstellungen. Beinahe fünf Jahrhunderte lang (1490-1960) präsentierte man sie dem europäischen, japanischen und amerikanischen Publikum als „Wilde“. Bei diesen „Spektakeln“ gab es Darsteller, Bühnenbilder und Impresarios, Dramen und Inszenierungen. Die vergessene Geschichte dieser Schaustellungen liegt im Schnittpunkt von Kolonial- und Wissenschaftsgeschichte, Rassismus und Unterhaltungskultur. Aus aller Welt wurden „interessante“ Individuen herbeigeschafft, meist auf Vertragsbasis, manchmal mit List und Gewalt. Nur im Westen wurden Menschengruppen in so großem Maßstab zur Schau gestellt. Noch immer wird eine Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe durch diese historische Praxis legitimiert. Noch heute belasten uns die Auswirkungen dieses Tuns. Wir können an Hand der ‚Menschenzoos‘ nachverfolgen, wie rasch sich ein zunächst ausschließlich wissenschaftlicher Rassismus in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete. Le Monde diplomatique (2000) 1,4 Milliarden Besucher Mehr als ein Jahrhundert lang – von der „Hottentottischen Venus“ im Jahr 1810 bis in die 1940er-Jahre – lockte die Schaustellungsindustrie mehr als 1,4 Milliarden Besucher an und beschäftigte weltweit 30.000-35.000 Darsteller. Auch wenn die Besucher für manche der zur Schau gestellten Indi- viduen echte Bewunderung empfanden, wurden die „Menschen- zoos“ organisiert, um eine klare Grenze zwischen „Zivilisierten“ und „Wilden“ zu ziehen, eine klare Rangordnung herzustellen. Der „Menschenzoo“ bot meist auch die erste Gelegenheit zu einem Blickkontakt, einer Begegnung mit den „Anderen“. Die Forschungsgruppe ACHAC und die Stiftung Lilian Thuram. Bildung gegen Rassismus möchten mit dieser Ausstellung die Entstehung rassistischer Vorurteile erklären. Wir müssen diese Vergangenheit aufarbeiten und verstehen, damit kein Mensch mehr wegen seiner Hautfarbe und kulturellen Herkunft zurück- gewiesen oder diskriminiert wird. D Fünf prägende Jahrhunderte BANQUE POPULAIRE Familienausflug. Internationale Kolonialausstellung Paris [Frankreich], Fotografie, 1931. Prinzessin. Jahrmarkt. Museum [Frankreich], Postkarte, ca.1890. Internationiale Völkerschau in Amiens. Eine Geburt im Dorf [Frankreich], Postkarte, 1906. Sudanesische Dinka [Mailand, Italien], Faltprospekt (impression delle Piane), 1895. Leipziger Industrie- und Werbeausstellung [Deutschland], gemalte Postkarte gezeichnet Thielé, 1897. © Sg. Groupe de recherche Achac © Sg. Groupe de recherche Achac Jahrmarkt, Zurschaustellung eines Monsters [Paris, Frankreich], Fotografie von Brassaï, 1931. Mit Unterstützung von Open Society Foundations Die Malabaren. Jardin d’Acclimatation [Paris, Frankreich], Plakat gezeichnet G. Smith, 1902. Mapuche-Indianer. Südamerika. Im Jardin Parisien [Frankreich], Plakat gezeichnet A. Brun, 1895. Die menschlichen Rassen. 24 Farbtafeln von Victor Huen [Frankreich], Titelblatt, 1921. Mr J. M. Balmer und seine singing boys [Großbritannien], Foto-Postkarte, 1904. © Estate Brassaï – RMN/Michèle Bellot © Sg. Gilles Boëtsch © Sg. Groupe de recherche Achac © Sg. Groupe de recherche Achac © Nationale Universitätsbibliothek Turin © Priv./DR © Sg. Groupe de recherche Achac © Sg. Groupe de rec h e r c h e A c h a c

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Koordination der Ausstellung: Forschungsgruppe Achac (www.achac.com) und der Stiftung Lilian Thuram. Bildung gegen Rassismus (www.thuram.org) unter der Leitung von Emmanuelle Collignon. Grafische Gestaltung: Thierry Palau. Forschung und Dokumentation:Tiffany Roux, Marie-Audrey Boisard und Nicolas Cerclé. Französische Ausstellungstexte: Pascal Blanchard, auf Basis von Arbeiten von Nanette Jacominj Snoep, Éric Deroo, Nicolas Bancel, Sandrine Lemaire und Gilles Boëtsch. Deutsche Ausstellungstexte: Susanne Buchner-Sabathy.Die Ausstellung beruht auf einer Aufsatzsammlung, die in deutscher Sprache 2012 unter dem Titel MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit im Hamburger Verlag Les Éditions du Crieur Public erschien. Das Projekt basiert zudem auf der Ausstellung und deren Katalog„Die Erfindung des Wilden“ im Pariser Musée du Quai Branly (2011-2012), die unter der Gesamtleitung von Lilian Thuram und der wissenschaftlichen Leitung von Nanette Jacominj Snoep und Pascal Blanchard erarbeitet wurde. Der Hamburger Verlag Les Editions du Crieur Public GmbH ist der exklusive Partner der Forschungsgruppe ACHAC für die Umsetzung und Realisierung der deutschsprachigen Ausstellung, er ist der Kurator der Ausstellung. Diese wurde gezielt für den deutschenSprachraum überarbeitet und erweitert. Einzelheiten zum Verlag finden Sie unter www.crieur-public.com.

G o l d s p o n s o r e n S i l b e r s p o n s o r e n K u r a t o r

ie Frauen, Männer und Kinder, von denen dieseAusstellung erzählt, kamen aus Asien, Afrika oderAmerika, von pazifischen Inseln, manchmal auch ausEuropa. Sie wurden in Zirkussen und Tavernen zur Schaugestellt, auf Jahrmärkten, in Tiergärten, in ethnischenDörfern, bei Welt- und Kolonialausstellungen. Beinahe

fünf Jahrhunderte lang (1490-1960) präsentierte man sie demeuropäischen, japanischen und amerikanischen Publikum als „Wilde“. Bei diesen „Spektakeln“ gab es Darsteller, Bühnenbilder undImpresarios, Dramen und Inszenierungen. Die vergessene Geschichtedieser Schaustellungen liegt im Schnittpunkt von Kolonial- undWissenschaftsgeschichte, Rassismus und Unterhaltungskultur. Ausaller Welt wurden „interessante“ Individuen herbeigeschafft, meistauf Vertragsbasis, manchmal mit List und Gewalt. Nur im Westenwurden Menschengruppen in so großem Maßstab zur Schau gestellt.Noch immer wird eine Ungleichbehandlung von Menschen aufgrundihrer Hautfarbe durch diese historische Praxis legitimiert. Noch heutebelasten uns die Auswirkungen dieses Tuns.

Wir können an Hand der ‚Menschenzoos‘ nachverfolgen, wie rasch sich ein zunächst ausschließlich wissenschaftlicher

Rassismus in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete. Le Monde diplomatique (2000)

1,4 Milliarden BesucherMehr als ein Jahrhundert lang – von der „HottentottischenVenus“ im Jahr 1810 bis in die 1940er-Jahre – lockte dieSchaustellungsindustrie mehr als 1,4 Milliarden Besucheran und beschäftigte weltweit 30.000-35.000 Darsteller. Auchwenn die Besucher für manche der zur Schau gestellten Indi-viduen echte Bewunderung empfanden, wurden die „Menschen-zoos“ organisiert, um eine klare Grenze zwischen „Zivilisierten“und „Wilden“ zu ziehen, eine klare Rangordnung herzustellen.Der „Menschenzoo“ bot meist auch die erste Gelegenheit zueinem Blickkontakt, einer Begegnung mit den „Anderen“. DieForschungsgruppe ACHAC und die Stiftung Lilian Thuram.Bildung gegen Rassismus möchten mit dieser Ausstellung dieEntstehung rassistischer Vorurteile erklären. Wir müssen dieseVergangenheit aufarbeiten und verstehen, damit kein Menschmehr wegen seiner Hautfarbe und kulturellen Herkunft zurück-gewiesen oder diskriminiert wird.

DFünf prägende Jahrhunderte

B A N Q U E P O P U L A I R E

Familienausflug.Internationale

KolonialausstellungParis [Frankreich],

Fotografie, 1931.

Prinzessin. Jahrmarkt. Museum [Frankreich], Postkarte, ca.1890.

Internationiale Völkerschau in Amiens. Eine Geburt im Dorf [Frankreich], Postkarte, 1906.

Sudanesische Dinka[Mailand, Italien], Faltprospekt(impression delle Piane), 1895.

Leipziger Industrie- und Werbeausstellung [Deutschland], gemalte Postkarte gezeichnet Thielé, 1897.

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Jahrmarkt, Zurschaustellung eines Monsters [Paris, Frankreich], Fotografie von Brassaï, 1931.

Mit Unterstützung von Open Society Foundations

Die Malabaren. Jardin d’Acclimatation [Paris, Frankreich], Plakat gezeichnet G. Smith, 1902.

Mapuche-Indianer. Südamerika. Im Jardin Parisien [Frankreich],

Plakat gezeichnet A. Brun, 1895.

Die menschlichen Rassen. 24 Farbtafeln von Victor Huen [Frankreich], Titelblatt, 1921.

Mr J. M. Balmer und seine singing boys [Großbritannien], Foto-Postkarte, 1904.

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as Jahr 1492 erschüttert die europäische Weltsicht. Diespanischen Eroberer kommen in Kontakt mit amerikanischenUreinwohnern und halten sie für „Wilde“. Christoph Kolumbusstellt am spanischen Hof sechs Indianer zur Schau und löstdamit eine „Modewelle“ aus. Im Jahr 1528 präsentiert Hermàn

Cortés aztekische Artisten am Hof Karl V. Als der französische KönigHeinrich II. 1550 in Rouen einzieht, lässt man ihm zu Ehren am SeineuferTupinamba-Indianer aus Brasilien auftreten. Zur selben Zeit lässt derspanische König Karl V. seine Gelehrten über die Frage diskutieren,ob die Indianer vernunftbegabt seien und man sie versklaven dürfeoder nicht. Eine Hierarchisierung auf Basis der Hautfarbe etabliertsich. Millionen von Afrikanern werden Opfer des überseeischenSklavenhandels. Man zeigt die „Wilden“ auch öffentlich. Wegen ihreraußerordentlich starken Körperbehaarung widerfährt dies zum Beispielsowohl Antonietta Gonsalvus als auch ihrem Vater Petrus Gonsalvus,der im Alter von 10 Jahren an König Heinrich II. „verschenkt“ wurde.Im 16. Jahrhundert erfreuen sich auch Kuriositätenkabinette immergrößerer Beliebtheit in Adel und Hochadel. Im Jahr 1654 werden vieraus Grönland entführte Inuit – drei Frauen und ein Mann – demdänischen König Friedrich III. präsentiert, was die Begeisterung für„Exotisches“ weiter anfacht. Die vier Inuit sterben fünf Jahre späterin Kopenhagen. Im 17. Jahrhundert steht das Bild des „edlen Wilden“dem des „blutrünstigen Barbaren“ gegenüber. Immer häufiger werdenMenschen in Tavernen und Jahrmarktsbuden zur Schau gestellt. Endedes 18. Jahrhunderts erwacht auch das Interesse der Wissenschaftler.Einzelne Personen werden richtig prominent, beispielsweise derPolynesier Aotourouv, der 1769 in Paris König Ludwig XV. vorgeführtwird. In London wird 1774 der Polynesier Omaï berühmt. Von nun angibt es eine Berührungsfläche zwischen der Welt des Spektakels undder Welt der Wissenschaft. Im 19. Jahrhundert wird die Sicht aufaußereuropäische Ethnien, wie sie durch diese Schaustellungenverbreitet wird, immer stärker hierarchisch geprägt.

ERSTE KONTAKTE, ERSTE „EXPONATE“

Der Polynesier Omaï (1774-1776)Im Jahr 1774 erreicht der junge Südseeinsulaner Omaï mitCooks zweiter Expedition England, wo er zwei Jahre bleibt. Manzieht ihm einen samtenen Mantel an, eine seidene Weste undHosen aus Satin, unterweist ihn in höfischer Etikette und stelltihn dem englischen König George II. vor. Bei Hofe wird er mitHochachtung und Ehrerbietung empfangen. Seine Vornehmheitbestärkt das Londoner Publikum in der Überzeugung, dassOmaï ein Gesandter des Hofs von Otaheite (Tahiti) ist. Er wirdrasch berühmt, wird gemalt, beschrieben, karikiert und sogarin einer Pantomime dargestellt.

”Seit der Renaissance und der Eroberung Amerikas beherrscht Rassismus

die Welt: in den Kolonien raubt er den Mehrheiten ihre Würde; in den Zentrenkolonialer Macht zwingt er die Minderheiten ins Abseits. 

Eduardo Galeano (2005)

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Von 1492 bis ins 18. Jahrhundert

Die Schaustellung des Wilden

Zu den Waffen Frankreichs. [Frankreich], Werbe-Chromolithographie, 1895.

Christoph Kolumbus am Hofe in Barcelona [Spanien], Lithographie gezeichnet L. Prang & Co, 1892.

Brasilianisches Fest in Anwesenheit von Heinrich II. und Katharina von Medici [Rouen, Frankreich], Druck, 1550.

Die A-Sam, Chinesen in Frankreich(und ein Kalmücke), Gravur gezeichnet

J. B. Racine, in Naturgeschichte des Menschengeschlechts von Julien

Joseph Virey [Frankreich], 1800.

Omaï, Ureinwohner Ulaieteas [Großbritannien], Radierung gezeichnet Francesco Bartolozzi, 1774.

Monster-Schaufenster: Galerie der vergleichendenAnatomie [Frankreich], Fotografie von Pierre Petit, 1883.

Porträt von Antonietta Gonsalvus [Italien], Öl auf Leinwand gezeichnet Lavinia Fontana, 1585.

Vier Grönländer [Kopenhagen, Dänemark], Öl auf Leinwand gezeichnet Salomon von Hager, 1654.

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NEUE FORMEN DER SCHAUSTELLUNG

Frühes 19. Jahrhundert

wischen 1800 und 1840 entwickelt sich die Form der Schaustellungvon einer elitären Ergötzlichkeit zu einer volkstümlichen Zerstreuung,und zwar sowohl in Europa wie auch in den Vereinigten Staaten.Schaustellungen von „Hottentotten“ (1810-1820), Indianern (1817),Lappen (1822) und Inuit (1824) locken in Paris und London immer

mehr Besucher an. Die Begeisterung des europäischen Publikums für allesExotische treibt wilde Blüten. 1827 bestaunt das französische Publikum dieGiraffe Zarafa, ein Geschenk des ägyptischen Vizekönigs an König Karl X. Aberauch die ägyptischen Diener des Vizekönigs, die das Tier von Marseille nachParis führen, erregen Aufsehen. Im selben Jahr kommen vier Krieger undzwei Frauen vom Indianerstamm der Osage (aus dem Mississippi-Gebiet) nachParis und werden von König Karl X. empfangen. Typisch für die Veränderungendes frühen 19. Jahrhunderts ist die Geschichte von Saartjie Baartman, derberühmten „Hottentottischen Venus“. Sie wird in London und Paris zur Schaugestellt. Ihre Gestalt – Hinterteil, Hüften und Genitalien sind stark vergrößert– lässt Neugierige in Scharen herbeiströmen. Nach ihrem Tod fasziniert ihr Körper die Anatomen. Mit Schaustellungen von Feuerländern (1829),Guyanern (1839) und „Buschmännern“ (1847) wird London zur Hauptstadt der„Menschenzoos“. Die Bilder des amerikanischen Malers George Catlinverschaffen den Europäern einen anschaulichen Eindruck vom Leben derIndianer. In den Vereinigten Staaten – und bald auch in Europa – kommen„Indianer-Shows“ und „Freak-Shows“ in Mode. Phineas Taylor Barnum beginntseine Schaustellerkarriere als Impresario der afroamerikanischen SklavinJoice Heth. Sein American Museum, wo siamesische Zwillinge, bärtige Frauen,Skelettmenschen und alle Völker der Welt bestaunt werden können, ist eineder erfolgreichsten Vergnügungs destinationen New Yorks. An die Stelle dervereinzelten Schaustellungen vergangener Zeiten treten nun also exotischeEvents für ein Massenpublikum, mit professionellen Truppen, Kostümen,Impresarios, Drehbüchern, Verträgen und Rekrutierungsagenten.

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George Catlin Im Jahr 1828 beschließt der amerikanische Portraitmaler George Catlin, zumindest Spurender indianischen Kultur zu bewahren. Er besuchtIndianerstämme, sammelt Alltags- und Ritua l -objekte und malt ungefähr 500 Bilder, darunter300 Portraits, die er zwischen 1845 und 1848 inden Vereinigten Staaten und in Europa ausstellt.

Die „Hottentottische Venus“ (1815)Im März 1815 richtet der Direktor des französischen Museums fürNaturgeschichte eine „Einladung“ an Saartjie Baartman, sich fürwissenschaftliche Beobachtungen zur Verfügung zu stellen. Danachwird ihrem Impresario offiziell bestätigt, dass es sich bei ihr um eineechte „Wilde“ handelt. Nach ihrem Tod seziert sie der berühmteAnatom Georges Cuvier und fertigt einen Abguss ihres Körpers an.Skelett, Gehirn und Genitalorgane konserviert er in Formalin. Bis 1976wurde dieser Körperabguss im Musée de l’Homme in Paris ausgestellt.Heute ist er für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Im Jahr2002 gab Frankreich Saartjie Baartmans sterbliche Überreste anSüdafrika zurück, wo sie in einem Staatsbegräbnis bestattet wurden.

Heute [angesichts all dieser Ausstellungen] muss niemand mehr gefährliche Reisen zu Wasser und zu Lande unternehmen,

um die Vielfalt menschlicher Rassen kennenzulernen.Illustrated Magazine of Art (1853)

Die Schaustellung des Wilden

Die Hottentotten-Venus in den Salons der Herzogin von Berry [Paris, Frankreich], Aquarell auf Papier gezeichnet Sébastien Cœure, 1830.

Louis-Philippe bei einem Tanz im Salon de la Paix in den Tuileries [Frankreich], Öl auf Leinwand gezeichnet Karl Girardet, 1845.

Osage-Indianer [Frankreich], Druck gezeichnet Horace Vernet, 1827.

Die Hottentotten-Venus aus dem Jardin d’Acclimatation[Paris, Frankreich], Umschlag einer musikalischen Partitur, 1888.

Der Jahrmarkt in Bartholomew, so als ob Sie dort wären[Großbritannien], Gravur gezeichnet John Walmsley, 1841.

Hippodrom. Die echten Chinesen [Frankreich], lithografiertes Plakat gezeichnet Delas und Cie, 1854.

Maun-gua-daus. Großer Held [Frankreich], Öl auf Leinwand gezeichnet George Catlin, 1846.

Die Revanche oder Die Franzosen am Missouri [Frankreich], Lithographie gezeichnet Jean Granville und V. Ratier, 1830.

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ereits im 18. Jahrhundert entwickelte man wissenschaft -liche Theorien zu physischen und kulturellen Merkmalenverschiedener Völker. Im 19. Jahrhundert bildet sich nundie Vorstellung heraus, es gäbe so etwas wie verschiedene„Rassen“. Ansätze hierzu finden sich bereits beim

englischen Zoologen und Arzt Edward Tyson (1650-1703), der denKörperbau von Menschen und Affen vergleicht. Der französischeNaturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788) stelltin seiner Histoire naturelle den Menschen ins Zentrum desTierreichs. Carl von Linné wiederum unterteilt in seinem WerkSystema Naturae (1758) die Menschen anhand ihrer geographischenHerkunft in vier Gruppen. Auf Basis dieser Studien entsteht dieVorstellung, dass Schädelform oder Hautfarbe über intellektuelleund moralische Eigenschaften einer BevölkerungsgruppeAufschluss geben könnten. Im Jahr 1795 unterteilt der deutscheArzt und Zoologe Johann Friedrich Blumenbach als erster dieMenschheit in „Rassen“. Im selben Jahr behaupten die beidenfranzösischen Naturforscher Georges Cuvier (1769-1832) undÉtienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844), der Gesichtswinkel sei für die Entwicklungsstufe des Gehirns bestimmend. DieKlassifikation von Menschen nach Hautfarbe und körperlichenMerkmalen bildet eine „wissenschaftliche“ Legitimation fürVersklavung und Kolonisierung. Mitte des 19. Jahrhunderts sprichtCharles Darwin in seinem Werk Vom Ursprung der Arten (1859)erstmals von einem „Missing Link“, einer fehlenden Übergangsformzwischen Mensch und Affe. Zugleich können sich Schaulustige undinteressierte Laien in Wachsfigurenkabinetten mit dem aktuellenStand der Naturforschung vertraut machen.Während der Expansionder Kolonialreiche fördern polemische Schriften (etwa von Arthurde Gobineau oder von Houston Stewart Chamberlain) eineVerbreitung des rassistischen Denkens in weiten Teilen derBevölkerung. Es gibt aber auch Intellektuelle– zum Beispiel JosephAnténor Firmin (1850-1911) –, die sich gegen eine „wissenschaft -liche“ Weltsicht zur Wehr setzen, bei der die Hautfarbe den Rangeines Individuums bestimmt.

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”Wenn man diese Menschen [aus Feuerland] sieht,

so kann man kaum glauben, dass sie Menschenwesensind wie wir, Bewohner unserer Welt.

Charles Darwin, Journal and Remarks (1845)

”Dieser verlogenen Anthropologie darf ich sagen:

Nein, Du bist keine Wissenschaft.Joseph Anténor Firmin, De l’égalité des races humaines (1885)

Prinz Roland BonaparteDer naturwissenschaftlich interessierte PrinzRoland Bonaparte begeistert sich in den 1880er- Jahren für anthropologische Fotografie. Die vielen Portraitaufnahmen, die er im Rahmen von Menschenschauen macht, zeigen, wie eng Impre-sarios mit Wissenschaftlern zusammenarbeiten.

Die Schaustellung des Wilden

DIE WISSENSCHAFT AUF DER SUCHE NACH„RASSEN“

Museum und wissenschaftliches Panoptikum Otto Riedels [Hamburg, Deutschland], Plakat gezeichnet Adolph Friedländer, 1896.

Zum Andenken an Prinzessin Gooma[Deutschland], Postkarte, 1908.

Großes Anatomisches Museum[Paris, Frankreich], Plakat

gezeichnet Jules Chéret, 1897.

Eine Gruppe Aborigines aus Australien auf der Bühne der Folies-Bergère [Paris, Frankreich],

Fotografie von Roland Bonaparte, 1885.

Über die Gleichheit der menschlichen Rassen von Anténor Firmin [Frankreich],Vorsatzblatt des Buches, 1885.

Schwarzer Geist. Osage-Indianer [Frankreich],Büste gezeichnet Jean-Pierre Dantan, 1827.

Algerische Typen [Frankreich], Postkarten von Assus, 1910.

Die Völker der Erde [Deutschland], Plakat, 1875.

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DAS ANDERSSEIN IM RAMPENLICHT

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1840-1914

itte des 19. Jahrhunderts entsteht in Amerika ein neuerTyp von Vergnügungsveranstaltung. Gigantomanie,Schaulust und Faszination für das „Fremdartige“ gehendarin eine einzigartige Verbindung ein. Zwischen 1841und 1868 pilgern mehr als 40 Millionen Schaulustige

in Barnum’s American Museum in New York, das ein spektakuläresUnterhaltungsprogramm bietet. Im Jahr 1871 gründet Barnum seinGrand Traveling Museum, Menagerie, Caravan & Hippodrome. Mitdieser Kombination aus Zirkus und Freak-Show tourt er äußersterfolgreich durch Europa. 1882 lanciert Buffalo Bill seine Wild WestShow, in der der Mythos des Wilden Westens gefeiert wird. Es gibt„echte Rothäute“, „echte Cowboys“, Pferde und Bisons. Die Starsdieser Spektakel sind neben Buffalo Bill selbst unter anderen dieReiterin und Kunstschützin Calamity-Jane und die Häuptlinge undSchamanen Geronimo und Sitting Bull. Mit ihnen tritt eine ganzeSchar afrikanischer und japanischer Artisten auf. Buffalo Bill bringtden Wilden Westen auch nach Europa. Ab 1889 tourt er mit 250Indianern, 200 Pferden und 20 Bisons durch ein Dutzend europäischerLänder – darunter England, Frankreich, Deutschland und Österreich– und schlägt seine Zelte in etwa 2.000 Orten auf. Mehr als 50 MillionenMenschen bestaunen das Spektakel. 1853 geht eine Truppe von Zulusauf Europatournee. Das Publikum strömt herbei, um „afrikanischeKrieger“ und „echte“ Alltagsszenen zu sehen. Zugleich entsteht mitden ersten Weltausstellungen (London 1851, New York 1853, Paris1855, Metz 1861, London 1862, Paris 1867) eine neue Art vonVergnügungsveranstaltungen: Menschenschauen sind integralerBestandteil des dort gebotenen Abbilds der Welt. Die Aufgabe der„Wilden“ ist dabei, möglichst viele Zuschauer anzulocken.

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Barnum und seinMuseum (1841-1868)In Barnum’s American Museum kann manrein zum Vergnügen einem „Monstrum“begegnen: dafür sorgen „wissenschaft -liche Vorträge“, illusionistische Tricks undszenische Darstellungen. Die siamesischenZwillingsbrüder Chang & Eng, die „letztenAzteken“, das mysteriöse „Missing-LinkKrao“ aus Laos und der Afro-Amerikaner„What is it?“ – sie alle werden gleichermaßenals „Freaks“ und als „Nicht-Europäer“ zurSchau gestellt.

Die Zulus auf Europatournee(1853)1853 – als in britischen Zeitungen fesselnd über dengrimmigen Kampfesmut der Zulus berichtet wird –bringt man elf Männer, eine Frau und ein Kind aus dersüdafrikanischen Volksgruppe der Zulus nach London.Während ihrer 18-monatigen Tournee werden sie nichteinfach als Kuriositäten ausgestellt. Vielmehr sollensie Szenen ihres „exotischen“ Lebens „authentisch“darstellen.

”Das Spektakel ist nicht nur durch seine Originalität vergnüglich, es ist auch äußerst bildend.

Wer die Ereignisse in diesen Ländern während des letzten Vierteljahrhunderts verfolgte, wird den Anschauungsunterricht der Wild West Show gewiss zu schätzen wissen.

The Evening Citizen, Glasgow (1891)

Die Schaustellung des Wilden

Buffalo Bill’s Wild West Show. Indianer [Hamburg, Deutschland],Farb-Postkarte, 1905.

Rothäute. Jardin d’Acclimatation [Paris, Frankreich], Plakatgezeichnet Charles Tichon, 1883.

Arabisches Beduinenlager auf den New-Brighton Tower Grounds [Wien, Österreich], Postkarte, 1902.

Souvenir von Barnum & Bailey. Die Phänomene von Barnum & Bailey [Großbritannien], Postkarte, 1905.

Mahlzeit bei den Zulu aus Kapstadt [Großbritannien], Fotografie von Nicolaas Henneman, Abzug auf Albuminpapier, 1853.

Buffalo Bill’s Wild West. Kongress der Pferdedresseure[Europa-Tournee], Plakat, 1892.

„Die Parade zum Sechseläutenin Zürich“ [Schweiz], Gravur auf Holz in Leipziger IllustrierteZeitung [Deutschland], 1870.

Chang-Yu-Sing, der riesige Chinese.

Barnum [Broadway, U.S.A.], Foto-Postkarte, 1894.

The Barnum & Bailey Greatest Show on Earth[Frankreich], Plakat gezeichnet Paul Dupont, 1901.

Custers Tod. Rekonstruktion [Chicago, U.S.A.], Studiofotografie, 1897.

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Page 6: Mise en page 1 - ACHAC · 2015. 4. 22. · Title: Mise en page 1 Author: Thierry Created Date: 1/26/2015 7:06:50 PM

MENSCHENSCHAUEN IM VERGNÜGUNGSPARKUND IM NACHTCLUB

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1850-1914

b Mitte des 19. Jahrhunderts werden Menschen an vielen verschiedenenOrten zur Schau gestellt: in Theatern, Jahrmarktsbuden, Vergnügungs -lokalen, Zirkussen und Nachtlokalen. Wo auch immer – die Schaustellungensind echte Publikumsmagnete. Um 1865 beginnt man, auch in Zoos undParks Menschenschauen zu organisieren – eine Praxis, die sich rasch in

ganz Europa ausbreitet. Im Pariser Vergnügungspark Jardin d’Acclimatationbeispielsweise werden zwischen 1877 und 1931 mehr als 35 Völkerschauen veranstaltet.1907 gründet Carl Hagenbeck in Hamburg einen Zoo, wo er regelmäßig exotischeMenschen und Tiere zur Schau stellt. Diese Truppen von „Wilden“ locken nicht nur inVergnügungsparks Gelehrte und Schaulustige an, sie gastieren auch in Theatern undNachtlokalen. Auf Londoner und Berliner Theaterbühnen drängeln sich Aborigines-Familien, im Pariser Varietétheater „Les Folies-Bergère“ treten Zulus auf, in Brüsselund Hamburg stehen Indianer auf der Bühne, im Varietétheater „Casino de Paris“gastieren „Krieger aus Dahomey“, in ganz Europa zeigen japanische Akrobaten ihreKunststücke, in italienischen Theatern und holländischen Zirkussen sindSchlangenbeschwörerinnen, Bauchtänzerinnen und malabarische Artisten zubestaunen. Die Grenze zwischen Völkerschau und Theateraufführung verwischt. Wieder Impresario Guillermo Farini beweist, kann eine Truppe durchaus in beiden Genresbrillieren. Auf Theater- und Varietébühnen begreifen sich immer mehr Menschen alsaktive Bühnenkünstler. Beispiele hierfür sind der afroamerikanische Schauspieler IraAldridge, der kubanische Clown Chocolat, die japanische Tänzerin Hanako, die „Dreigetigerten Grazien“, die in Paris und Berlin auftreten, die kambodschanischenTänzerinnen, die Auguste Rodin faszinieren und die „black face minstrels“.

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Völkerschauen im Varieté:„Les Folies-Bergère“Ab 1884 wird zuerst in Amerika, dann auch inEngland und Frankreich eine Gruppe von Aborigineszur Schau gestellt. Als sie am Ende dieser Tourneeim Pariser Varietétheater „Les Folies-Bergère“auftritt, sind von den ursprünglich neun Aboriginesnur noch drei am Leben. Ab der Wende zum 20.Jahrhundert gastieren nicht-europäische Truppenin den Varietétheatern aller großen europäischenStädte, ja sogar in Sankt-Petersburg.

Guillermo FariniDer Amerikaner William Hunt (1838-1929), genanntGuillermo Farini, arbeitet zunächst als Seiltänzer, späterals Impresario. Unter wirkungsvollem Einsatz von Bühnen -technik und wissenschaftlichen Entdeckungen lässt er inganz Europa „Buschmänner“ und andere „Truppen“auftreten. „Der große Farini“ weiß, wie man den Zauber,den der afrikanische Kontinent auf Amerikaner undEuropäer ausübt, zu Geld machen kann.

Die Menge drängt sich an den Gittern wie am Käfig aufregender Tiere.

Paul Juillerat, Bulletins de la Société d’anthropologie de Paris (1881)

Die Schaustellung des Wilden

Buschmänner [Paris, Frankreich], Fotografie von Roland Bonaparte, Abzug auf Albuminpapier, 1886.

Guillermo Antonio Farini mit seinen Earthmen [London, Großbritannien], Studiofotografie (anlässlich

ihrer Zurschaustellung im Royal Aquarium), 1884.

Nationale Völkerschau in Palermo. Eritrea-Dorf [Italien], Dorfführer, 1891-1892.

Marquardt’s Beduinen Karawane [Glogow, Polen], Postkarte, 1912.

Betty, Hottentotten-Mädchen zwischenneun und zehn Jahren. Jardin zoologique

d’Acclimatation de Paris [Frankreich], Fotografie von Fernand Delisle,

Abzug auf Albuminpapier, 1888.

Jardin d’Acclimatation. Die Aschanti. Die Mahlzeit [Paris, Frankreich], stereoskopische Bildaufnahme von Julien Darmoy, 1903.

Folies-Bergère. Die Zulu [Frankreich], LitografiertesPlakat gezeichnet Jules Chéret, 1878.

Olympia. Die drei getigerten Grazien[Frankreich], Plakat gezeichnet

L. Damare, 1891.

Karibik. Jardin d’Acclimatation[Paris, Frankreich], Plakat, 1892.

Babil und Bijou. Die riesige Königin derAmazonen [Großbritannien], Plakat, 1882.

Wilhem Hagenbeck. Arabische Karawane [Deutschland], Plakat, 1909.

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Page 7: Mise en page 1 - ACHAC · 2015. 4. 22. · Title: Mise en page 1 Author: Thierry Created Date: 1/26/2015 7:06:50 PM

FREAKS UND JAHRMARKTSMONSTER

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1841-1926

What is it? (1860)Unbestritten der berühmteste „Freak“ ist „What is it?“.In Felle gehüllt, wird er als „fehlendes Bindeglied zwischenAffe und Mensch“ präsentiert. Er bringt seinem „Besitzer“P. T. Barnum ab 1860 viel Geld ein. In Wirklichkeit heißter William Henry Johnson und stammt aus New Jersey.Seine Familie verkauft das geistig leicht beeinträchtigteKind mit vier Jahren an Schausteller. Johnson spielt seinganzes Leben lang die Rolle des Tiermenschen. In denmehr als 50 Jahren bei Barnum verdient er immerhingenug, um ein Haus in Connecticut zu kaufen. Sie hättendie Welt „schön zum Narren gehalten“, sagt er am Endeseines Lebens zu seiner Schwester.

”Ich bin kein Tier! Ich bin ein menschliches Wesen!

Ich bin ein Mensch! John Merrick in David Lynchs Film Der Elefantenmensch

onster“ und „Missgestalten“ waren schon immer faszinierend und regtendie Phantasie ihrer Zeitgenossen an, ganz wie „exotische“ Tiere.Philosophen dachten zu allen Zeiten über körperliche Auffälligkeitennach und fanden wissenschaftliche oder religiöse Begründungen fürdiese. Ab dem 16. Jahrhundert sammelt man Seltsames in Kuriositäten -

kabinetten. Dann stellt man „Freaks“ in Wanderzirkussen zur Schau, später auch inTavernen, Jahrmarktsbuden und an belebten Plätzen. Typisch ist das Beispiel vonMaximo und Bartola, die dem Publikum als „die letzten Azteken“ präsentiert werden.Mehrere Jahre lang treten sie in Barnum’s American Museum auf. Im Jahr 1860, einJahr nachdem Charles Darwin sein bahnbrechendes Werk „Über die Entstehung derArten“ veröffentlicht hat, stellt Barnum in seinem American Museum „What is it?“aus, den er als das „fehlende Bindeglied zwischen Affe und Mensch“ anpreist. Natürlichist all das bloße Erfindung. Wahrheit und Lüge gehen ineinander über. Freaks werdenzu Publikumsmagneten auf Volksfesten und bei Gewerbeausstellungen. Später stelltman sie auch in anatomischen Museen aus. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhundertsbestaunen Schaulustige „die bärtige Frau“ und die „Wilden von Borneo“ – inWirklichkeit die Brüder Davis aus Ohio –, die 1811 in Siam geborenen siamesischenZwillinge Chang & Eng Bunker, die „chinesischen Riesen“ und „den Wilden ausCunningham“. Wie Krao wird die 1872 in Laos geborene „Schimpansenfrau“, dieBarnum dem „Freak-Jäger“ Karl Bock abkauft, bis 1926 in aller Welt als „MissingLink“ ausgestellt. 1886 stellt Sir Frederick Treves in England den unter schwerenkörperlichen Deformationen leidenden John Merrick als „Elefantenmensch“ zurSchau. David Lynch setzt ihm 1980 in seinem gleichnamigen Film ein Denkmal.Schließlich ist ab 1887 in Europa eine birmanische Frau mit ihrem Sohn zu sehen.Wegen übermäßiger Körperbehaarung werden die beiden als „Zottelfamilie“angepriesen. Die Schaustellung lockt Scharen von Zuschauern an. Die „Freaks“behaupten ihren Platz auch in der Populärkultur des 20. Jahrhunderts. Sie passensich jeder Epoche an, auch unserer digitalen Unterhaltungskultur.

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Die Schaustellung des Wilden

Barnum und Bailey, Olympia, London. Monster und Kuriositäten [Großbritannien], Fotografie, 1905.

Siebold’s Völkerschau. Die Giraffenfrauen[Deutschland], Postkarte, 1925.

The world’s greatest little people [New York, U.S.A.], Postkarte, 1912.

Pygmäen aus Abessinien (Freak-Gruppe) [U.S.A.], Postkarte, 1920.

Portrait von William Henry Johnson [U.S.A.], Fotografie gezeichnet Mathew Brady, ca.1895

Die wilden australischen Kinder [U.S.A.], Litografiertes Plakat, 1860.

Chang & Eng, die weltberühmten siamesischen Zwillinge [London, Großbritannien], Plakat gezeichnet NathanielCurrier und James Merritt Ives, 1869.

Krao, der „missing link“[Großbritannien],

kleines Plakat, 1887.

Der Elefantenmensch, Film von David Lynch, Fotogramm, 1980.

Zu den Monstern [Rummelplatz, Frankreich], Fotografie, 1922.

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Page 8: Mise en page 1 - ACHAC · 2015. 4. 22. · Title: Mise en page 1 Author: Thierry Created Date: 1/26/2015 7:06:50 PM

DIE EPOCHE DER WELTAUSSTELLUNGEN

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London 1851-San Francisco 1915

”Niemals zuvor wurden Menschen

so sehr betatscht, gegängelt, untersucht.Henry de Varigny, La Nature (1889)

ie erste Weltausstellung findet 1851 in London statt. Doch erst beider Pariser Weltausstellung von 1867 gibt es einzelne Pavillons, indenen nicht-europäische Männer und Frauen in ihrer traditionellenKleidung zur Schau gestellt werden. Der Erfolg lässt nicht auf sichwarten. Bei späteren Welt- und Kolonialausstellungen wird dieses

Schaustellungsmodell weiterentwickelt: in Philadelphia (1876), Paris (1878)und Amsterdam (1883). Prägend für die weitere Entwicklung sind dieaufwändigen Darbietungen bei der Pariser Weltausstellung (1889), wo erstmalseine „Kairoer Straße“ präsentiert und sechs „Kolonialdörfer“ aufgebaut werden.Viel Anklang beim Publikum findet auch die Chicago World’s Columbian Exposition(1893), wo es nicht nur Hallen der „Zivilisation“ und ein Riesenrad gibt, sondernauch alle „Rassen“ der Erde, geordnet nach ihrer „Fortschrittlichkeit“,präsentiert werden. Bei der Schweizer Landesausstellung in Genf (1896) kannman nicht nur ein „Schweizerdorf“ besichtigen, sondern auch ein „Negerdorf“.Bei der Brüsseler Weltausstellung 1897 werden in der Gemeinde Tervuren„kongolesische Wilde“ aufwändig inszeniert. Das immer mächtiger werdendebritische Kolonialreich liefert bei der Greater Britain Exhibition von 1899 – unterdem Einfluss findiger Impresarios wie Imre Kiralfy – eine imposanteSelbstdarstellung. Ein Jahr später können 50 Millionen Besucher bei der PariserWeltausstellung nordafrikanische Reitertruppen und kambodschanischeTänzerinnen bestaunen. Die Weltausstellung in St. Louis (1904) konzentriertsich ganz auf anthropologische Fragestellungen. Das dort präsentiertephilippinische Dorf hat beinahe 20 Hektar Grundfläche und wird von mehr als1200 Darstellern bewohnt. „Wilde“ werden bei Weltausstelllungen bis zumBeginn des 1. Weltkriegs zur Schau gestellt: 1905 in Lüttich, 1906 in Mailand,1910 in Brüssel, 1913 in Gent und 1915 in San Francisco. In den drei Jahrzehntenvon 1885 bis 1915 gehört die Inszenierung der kolonialen Welt unbedingt zueiner Weltausstellung.

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„Anthropologische Spiele“ in St. Louis (1904)Im Rahmen der Weltausstellung von St. Louis (1904) findenauch die Olympischen Sommerspiele statt. „Personen nicht-weißer Hautfarbe“ dürfen daran allerdings nicht teilnehmen.Zynischerweise werden stattdessen „Anthropologische Spiele“veranstaltet. Angehörige jener „wilden und primitiven Stämme“,die in den Anthropologischen Pavillons zur Schau gestelltwerden, sollen gegeneinander antreten. Die meisten von ihnengewinnen nichts als „wissenschaftliche“ Bestätigungen ihrer„rassischen Unterlegenheit“.

Imre KiralfyEnde des 19. Jahrhunderts organisiert der ungarische Tänzer,Choreograph und Impresario Imre Kiralfy gemeinsam mitP. T. Barnum einige Schaustellungen in London. Zwischen1899 und 1918 entwickelt er für Großausstellungen in Englandraffinierte Inszenierungen, die das britische Kolonialreichverherrlichen.

Die Schaustellung des Wilden

Souvenir von der Weltausstellung Antwerpen. Kriegertypen aus dem Äquatorialsudan [Belgien], Fotografie, 1894.

Cairo Street Waltz. Ausstellung Chicago [U.S.A.],Pressewerbung, 1893.

Kongolesisches Dorf. Weltausstellung Antwerpen[Belgien], Postkarte, 1894.

Internationale AusstellungBuenos Aires [Argentinien],

Plakat, 1910.

Eritreer-Dorf. InternationaleAusstellung Mailand [Italien],Plakat gezeichnet G. Ricordiund C. Milano, 1906.

Vorderansicht eines Pavillons. Ausstellung Tôkyô Taishô [Japan],Foto-Postkarte, 1914.

Tage der anthropologischen Spiele. Ausstellung Saint-Louis [U.S.A.],Fotografie, 1904.

China-Galerie auf der Great Exhibition. Weltausstellung London [Großbritannien], Lithographie

gezeichnet Joseph Nash aus dem Werk Dickinson’s Comprehensive Pictures of the Great Exhibition, 1851.

Streets of Cairo. Pan-American Exposition[Buffalo, U.S.A.], gemalte Postkarte, 1901.

Javanisches Kampung. Weltausstellung Paris [Frankreich], Postkarte, 1889.

Das Indien des Imre Kiralfy, höchste Kreation. Londoner Earl’s Court [Großbritannien], Plakat, 1895.

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WIE ES DEN DARSTELLERN ERGING

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Ota BengaGröße: 4 Fuß 11 Inches. Gewicht: 103 Pfund.

Alter: 23 Jahre.Zu sehen jeden Nachmittag im September.

icht nur offizielle Reden, gestellte Fotos und gefälschte Interviews sinduns überliefert. Die Menschen, die zur Schau gestellt werden, berichtenauch selbst über ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen, über ihreEmpfindungen und ihre Sicht auf die europäische Kultur. Dies tunbeispielsweise der indianische Impresario Maungwudaus, ein

Angehöriger der 1853 in London gelandeten Zulu-Truppe und der Inuit AbrahamUlrikab. Es gibt aber auch Romane, die uns einen neuen Blick auf das „Spektakelder Wildheit“ eröffnen. Beispielsweise über Ota Benga, über Krao, „das MissingLink“, über William Henry Johnson („What is it?“), über die „HottentottischeVenus“ und über die Indianer der Buffalo Bill Show. In Stellvertretung aller zurSchau gestellten Menschen sagt der Inuit Zacharias nach einer Amerika-Tournee1893: „Wir sind glücklich, dass wir wieder frei sind und nicht mehr wie Tiereausgestellt werden.“ Es gibt zahlreiche Hinweise auf unmenschliche Behandlung.In den Zoos von Paris und Basel werden die Besucher durch Gitter „geschützt“.Bei der Weltausstellung in St. Louis (1904) und bei der Galibi-Ausstellung in Paris(1892) werden an den zur Schau gestellten Nicht-Europäern wissenschaftlicheUntersuchungen durchgeführt. In der kongolesischen Truppe, die im Rahmender Brüsseler Weltausstellung 1897 in Tervuren ausgestellt wird, und unter den1887 in Spanien ausgestellten Filipinos gibt es etliche Tote. Oft ist dieUnterbringung erbärmlich, etwa in Chicago 1893 oder bei der Inuit-Schau 1900.Um Infektionen vorzubeugen, beginnt man die Darsteller zu impfen – waswiederum medial ausgeschlachtet wird, vor allem als Postkartenmotiv. Manentwickelt einheitliche Verträge mit Rechten und Pflichten. Die Kolonialbehördenuntersagen „Menschenfang“ und legen Regeln für die Rekrutierung der Darstellerfest. In den 1890er-Jahren professionalisiert sich die Rolle des „Wilden“. Von daan sind die Darsteller Schauspieler, die den – kaum um Authentizität bemühten– szenischen Anweisungen der Organisatoren folgen müssen.

Ota Bengas Geschichte (1904)Ota Benga, ein Pygmäe aus Belgisch-Kongo, wirdim Juni 1904, im Alter von 19 Jahren, von SamuelPhilips Verner in die Vereinigten Staaten gebracht.Dort wird er 1904 bei der Weltausstellung in St. Louisund 1906 im Affenhaus des Bronx Zoo ausgestellt.In der Obhut baptistischer Geistlicher besucht OtaBenga dann die Grundschule und arbeitet in einerTabakfabrik. 1916 setzt er seinem Leben ein Ende.

Die Schaustellung des Wilden

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Afrikanisches Dorf. Kindertanz [Antwerpen, Belgien], Postkarte, 1930.

Die Grabmäler der sieben verstorbenen Kongolesen 1897 in Tervuren [Belgien], Fotografie, 1930.

Abessinier. Ausstellung Prag [Österreich-Ungarn], Postkarte, 1912.

Ota Benga. Zoologischer Garten der Bronx [U.S.A.],Fotografie, 1910.

Zulu-Krieger. Prinzessin und Kinder [U.S.A.],Foto-Postkarte, 1888.

Somalische Frau und ihr Kind vor den Besuchern im Jardin d’Acclimatation Paris [Frankreich], Fotografie von Maurice Bucquet, 1890.

Porträt von Maungwudaus,

Beiname George Henry [New York, U.S.A.],

Foto-Postkarte, c.1846.

Pavillon der Südsee. Koreanische Kannibalen. Ausstellung Tôkyô Taishô[Japan], Pressebericht, 1922.

Galibier. Jardin zoologique d’Acclimatation Paris [Frankreich],

Fotografie von Pierre Petit, 1892.

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Serie an Fotogrammen: Mahlzeit bei den Negerlein, Auszug aus dem Film Dorf der Ashanti der Brüder Lumière [Lyon, Frankreich], 1897;Afrikanisches Dorf und Mutige Indianer prächtig und wild, Weltausstellung Saint-Louis [U.S.A.], 1904; Süd-Rhodesien empfängt

Königin Mutter Mary und Prinzessin Margaret. Besuch eines Eingeborenen-Dorfes [aktuell Sambia], 1953.

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10

ROLLENDE DÖRFER

Hamburg 1874-Wembley 1924

”Besuchen Sie das Negerdorf, besichtigen Sie

die Schwarzen! Sie leben wie bei sich zu Hause. Guide Bleu, Führer durch die Kolonialausstellung in Lyon (1894)

ilde“ werden nicht nur in Welt- und Kolonialausstellungen gezeigt, sondern auchin „ethnischen Dörfern“, die auf Tournee gehen. Keine noch so kleine Stadt inEuropa, Amerika und Japan wird ausgelassen. Ein Vorreiter dieser Entwicklungist Carl Hagenbeck. Er begreift sehr rasch die wirtschaftliche Bedeutung dieserArt von Schaustellung und schickt mehrere „Eingeborenen-Dörfer“ auf Tournee

durch ganz Europa. Impresarios aus aller Welt kopieren bald sein Erfolgsmodell. Seine „Dörfer“werden als „senegalesisch“, „ceylonesisch“, „indianisch“, „sudanesisch“ oder schlicht als„schwarz“ angepriesen. Das Publikum kann auf diese Weise eine „Fernreise“ unternehmenund das „echte Alltagsleben“ fremder Völker kennenlernen. Doch die Zuschauer genießennicht nur die Illusion, in eine fremde Welt einzutauchen. Die perfekte Darbietung, die sie ganzreal erleben, fasziniert sie ebenso. Zur Erinnerung an das Gesehene kann man ein Souvenirerwerben, zum Beispiel Postkarten. Man kann aber auch „ganz echt“ mit den Darstellern„kommunizieren“, man kann sie berühren. So wird das im Jahr 1900 in Madrid aufgebaute„Eskimodorf“ rasch zur meistbesuchten Sehenswürdigkeit der spanischen Hauptstadt und inganz Frankreich gibt es keine Gewerbeausstellung ohne ein „Schwarzes Dorf“. Französischeund deutsche Impresarios – darunter auch der aus dem heutigen Togo stammende Nawo Bruce– schicken ethnische Dörfer auf Tournee durch mehr als zwanzig Länder. Die Truppen werdenbei Großausstellungen präsentiert (zum Beispiel bei der Internationalen Hygiene�Ausstellungin Dresden 1911) und auch bei Kolonialausstellungen (wie in Lyon 1894). Das Ausstellungsmodellder ethnischen Dörfer ist unglaublich erfolgreich. Solche Schaustellungen werden in großerZahl überall in Europa und Amerika veranstaltet und von zig Millionen Menschen besucht.

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Der Trendsetter: Carl Hagenbeck (1874)Der Hamburger Tierhändler Carl Hagenbeckbeginnt im Jahr 1874, Völkerschauen zuorganisieren. Seine Idee ist, Frauen, Männerund Kinder nicht-europäischer Herkunftzusammen mit exotischen Tieren inpassenden Kulissen zu zeigen. Seine Truppenschickt er auf Tourneen durch ganz Europa.1907 eröffnet er den noch heute existierendenTierpark Hagenbeck im Hamburger StadtteilStellingen. Bis zum Beginn der 1930er-Jahrewerden dort etwa hundert sehr erfolgreicheVölkerschauen veranstaltet.

Nayo Bruce Der Togolese Nawo Bruce ist in der Geschichte derMenschenschauen eine Ausnahmeerscheinung.Er „wechselt die Seiten“. Nach seinem erstenAuftritt bei der 1. Deutschen Kolonialausstellungin Berlin-Treptow (1896) reist er bis zu seinemTod 1919 als selbständiger Schausteller durch ganzEuropa. Seine Truppe ist äußerst erfolgreich undtritt in mindestens 122 Orten auf.

Die Schaustellung des Wilden

Gesamtansicht des Neger-Dorfes [Kolonialausstellung Rouen, Frankreich], Fotografie von Julien Lecerf, 1896.

Afrikaner der Goldküste im Eingeborenen-Dorf in Wembley [Großbritannien], Postkarte, 1924.

Souvenir von der West-afrikanischen Togomadingo-Truppe[Deutschland], Postkarte, 1905.

Hindu-Dorf. Jardin d’AcclimatationParis [Frankreich], Postkarte, 1926.

Hütte und Typ aus dem Hoch-Tonkin. Tropischer Garten. Kolonialausstellung Nogent [Frankreich], Postkarte, 1907.

Senegalesisches Dorf. Ausstellung Nancy [Frankreich], Postkarte, 1909.

Abessinier-Dorf [Dresden, Deutschland], Postkarte, 1910.

Carl Hagenbeck [Deutschland], Postkarte, 1909.

Assabesi al expozition [Turin, Italien], Gravur gezeichnet C. Verdoni, 1885.

Der schwarze Kontinent im Parc de Plaisancein Genf. Neger-Dorf, 200 Eingeborene[Schweiz], Plakat gezeichnet Camis, 1896.

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HAGENBECK UND DIE VÖLKERSCHAUEN

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1874-1907

In der Tat war es mir vergönnt, die Völkerausstellungen, die seit 1874und bis zum heutigen Tage ihre Anziehungskraft ausüben, als erster

in die zivilisierte Welt einzuführen.Carl Hagenbeck, Von Tieren und Menschen (1908)

ach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870-71 beschloss der deutsche Tierhändler Carl Hagenbeck, der Zoosund Menagerien in ganz Europa mit exotischen Tieren belieferte, „ethnologische Spektakel“ zu veranstalten. ImJahr 1874 machte der Amerikaner Ph. T. Barnum eine große Deutschlandtournee und Hagenbeck ließ eine Truppevon Lappen (Samen) nach Hamburg kommen. Beflügelt vom Erfolg dieser Schaustellung, spezialisierte sich Hagen-beck auf diese Art von „anthropologisch-zoologischen Ausstellungen“, die er bald als „Völkerschauen“ bezeichnete.

Im Jahr 1876 sandte er einen Mitarbeiter in den ägyptischen Sudan, der Tiere, aber auch Nubier nach Deutschland bringensollte. Danach stellte Hagenbeck Eskimos (Inuit) und Inder aus, Singhalesen, australische Aborigines, Mongolen aus demzaristischen Russland, Sioux und Somali… eigentlich Truppen aus der ganzen Welt. Zwischen 1874 und 1932 wurden etwa 70Völkerschauen in Hamburg, Berlin, München, Nürnberg, Leipzig und Frankfurt veranstaltet.Andere Impresarios, etwa Heinrich und Willy Möller aus Deutschland oder Johan Adrian Jacobsen aus Norwegen, tourten mitVölkerschauen durch die ganze Welt. Jacobsen rekrutierte auch eine Inuit-Truppe für Hagenbeck. Willy Möller reiste mit derberühmten „Ägyptischen Karawane“ nach Paris, Kopenhagen, Mailand, Hamburg, München und Nürnberg. Großen Erfolghatten auch Truppen von Indianern oder „Amazonen“ — zum Beispiel die Truppe, die ab 1891 im Zoologischen Garten vonBerlin und später im Frankfurter Zoo gezeigt wurde. Umfangreiche Werbekampagnen begleiteten diese Tourneen, wobei oftnur der Ausstellungsort und der Name der Truppe ausgetauscht wurden. Sehr bald begann sich die wissenschaftliche Gemein-schaft für die Schaustellungen zu interessieren und man lud Gelehrtengesellschaften zu Sondervorführungen. MancheFotografen — in Berlin war es beispielsweise Carl Günther — spezialisierten sich auf Portraitaufnahmen „exotischer“ Menschen. Zur selben Zeit präsentierten Kolonialausstellungen (München 1889, Berlin 1890) den Glanz des deutschen Kolonialreichsund gewährten den Besuchern Einblicke in „Eingeborenendörfer“. Bei der Berliner Gewerbe-Ausstellung (1896), aus derspäter das Deutsche Kolonialmuseum hervorging, wurden mehr als hundert Menschen aus deutschen Kolonien zur Schaugestellt. Einer der Impresarios, der sich in Deutschland auf diese Art von „Eingeborenendörfer“ spezialisiert hatte, war VictorBamberger. In den Jahren 1897-1898 stellte er im Hamburger Zoo ein „Aschanti-Dorf“ aus. Carl Hagenbeck ging 1907 nocheinen entscheidenden Schritt weiter, indem er in Hamburg-Stellingen einen stationären Ausstellungsbereich begründete:„Hagenbecks Tierpark“. Die regelmäßigen Schaustellungen, die in der Folge dort stattfanden, trugen wesentlich zur Verbreitungzahlreicher Stereotype bei.

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Indianer in Deutschland Als Ende des 19. Jahrhunderts Truppen nord-amerikanischer Indianer nach Deutschlandkamen, stießen sie auf begeistertes Interesse. DasPublikum glaubte, in ihnen die Protagonistenaus James Fenimore Coopers Roman „Der letzteMohikaner“ wiederzuerkennen. Auch CarlHagenbeck, den der Erfolg dieser Darbietungenbeeindruckt hatte, präsentierte Indianertruppen:1895 die „Bella-Coola-Indianer“ und 1910 die„Oglala-Sioux“, die in fünf Monaten mehr alseine Million Zuschauer anlockten.

Berliner Gewerbe-Ausstellung (1896)Bei dieser Ausstellung wurden fünf „Eingeborenendörfer“ gezeigt,die jeweils eine deutsche Kolonie präsentieren sollten: Kamerun,Togo, Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Deutsch-Ostafrika(heute Tansania, Ruanda, Burundi) und das Bismarck-Archipel(heute Teil von Papua-Neuguinea). Mehr als 100 Menschen tratenin einem abwechslungsreichen Programm auf: Kriegstänze, religiöseZeremonien, Kämpfe, Überfall auf eine Karawane…

Der Bericht des ProfessorVirchow (1880)„Sie sprang von der einen Ecke nach der anderenund schrie dabei in heulender Weise; ihr hässlichesGesicht sah dunkelroth aus, die Augen leuchteten,es bildete sich etwas Schaum vor dem Munde,genug es war ein höchst widerwärtiger Anblick[...]. Der Anfall dauerte wohl 8-10 Minuten.“

Die Schaustellung des Wilden

Hagenbeck. Malabaren-Truppe. Jardin zoologique d’Acclimatation [Frankreich], Postkarte, 1907.

Gruss aus Kairo in der Berliner Gewerbe-Ausstellung. Arabisches Café[Deutschland], Postkarte, 1896.

Zur Erinnerung an die ehemalige Leibgarde des Ex-Königs Behanzin[Düsseldorf, Deutschland], Postkarte, 1897.

Gebrüder Marquardts VölkerschaftlicheSchaustellung “Die Samoaner”[Deutschland], Postkarte, 1905.

Der Menschenfresser. Auffressen eines lebenden Menschen. Jeder Besucher aus dem Publikum kann sich dazu melden.[Deutschland], Postkarte-Lithografie, 1906.

Gustav Hagenbecks grösste indische Völkerschau der Welt[Schweiz], Postkarte, 1905.

Rudolf Virchow in seinem Arbeitszimmer [Deutschland], Fotografie, 1896.

Sächsisch-Thüringische Ausstellung Leipzig. Gruss aus Ostafrika [Leipzig, Deutschland], Postkarte-Lithografie von Arthur Thiele, um 1900.

Erstes Indianer-Quartett ”Wild-Amerika”[Deutschland], Postkarte, 1903.

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VON DER KAISERZEIT ZUR VÖLKERSCHAUALS GROSSER SHOW

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1907-1933

All diese Figuren treten in der diesjährigen Völkerschau leibhaftig auf.

Sioux-Indianer: Carl Hagenbeck’s Tierpark (1910)”

agenbecks Tierpark“ in Hamburg prosperierte seit seiner Eröffnungim Jahr 1907 und präsentierte Truppen von manchmal mehr als 100Darstellern und Darstellerinnen. Diese Darbietungen, die – wie die„Südafrika-Karawane“ (1886) – manchmal „Karawanen“ genanntwurden, wurden später als Dörfer bezeichnet, wie das Ceylon-Dorf,

in dem 1908 mehr als 80 Darsteller und Darstellerinnen auftraten. Überall inDeutschland — in Berlin, Hamburg, München, Leipzig und Frankfurt — wurdenmit Sorgfalt und Liebe zum Detail solch eindrucksvolle „Eingeborenendörfer“in Szene gesetzt: es ging darum, die zur Schau gestellten Menschen in ihrervorgeblich „natürlichen“ Umgebung leben und agieren zu lassen. So importierteman geeignete Baumaterialien, um „Eingeborenenhütten“ nachbauen zu können, und eindrucksvoll gemalte Kulissen zeigten Landschaften und markante Bauwerke der dargestellten Länder (Pyramiden, indische Tempel…).Das Vorhandensein von Tieren vollendete die charakteristische Darstellungdes vorgeblich „natürlichen“ Lebensraums der „Eingeborenen“.Werbeprospekte und Plakate luden dazu ein, die Hütte des Häuptlings und die Verkaufsbuden der Handwerker zu besuchen oder die „Eingeborenen“ beim Kochen und Essen, bei der Versorgung der Tiere und bei der Herstellunghandwerklicher Gegenstände zu beobachten. Man konnte „exotische Gerichte“kosten, auf einem Kamel reiten und viele andere solch stereotype „Events“konsumieren. Deutsche Schausteller und Zirkusdirektoren gingen mit „Eingeborenendörfern“ auch auf Tournee. Carl Hagenbecks Halbbrüder Johnund Gustav Hagenbeck organisierten mehrere indisch-ceylonesische Spektakel,Eduard Gehring spezialisierte sich auf Truppen aus Zentralasien und die BrüderMarquardt präsentierten eher „afrikanische“ Darbietungen. Sie alle trugenzur Verbreitung einer rassistischen Sichtweise bei. Die beteiligten Truppennahmen rasch professionellen Charakter an, zumal die deutschen Kolonial-behörden ab 1910 die Rekrutierung von „Wilden“ in ihrem Hoheitsbereichuntersagt hatten.Doch mit dem Ersten Weltkrieg wurde diese Art von Darbietungen viel seltener,auch wenn sie nicht gänzlich verschwand. So konnte die deutsche Bevölkerungim Jahr 1916 ein „Eingeborenendorf“ der „Beduinen und Sudanesen“ besuchen.Auch nach dem Ersten Weltkrieg und dem Verlust der deutschen Kolonien gabes weiterhin solche Ausstellungen, allerdings mit bedeutend geringerem Erfolg.Im Jahr 1931 reisten etwa sechzig „Kanaken“ durch Deutschland (Leipzig,Hamburg, Berlin, Frankfurt und München) und wurden als „echte Menschen-fresser“ zur Schau gestellt. Hagenbecks letzte „Völkerschau“ zeigte 1932 eineTruppe tscherkessischer Reiter, deren Auftritt eher an eine Zirkusnummerals an die Darstellung spezifischer ethnischer Eigentümlichkeiten erinnerte.Ähnliche Entwicklungen gab es in ganz Europa. Kurz bevor die NSDAP an dieMacht kam, hatten die MenschenZoos bereits viel von ihrer Beliebtheit eingebüßt.

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Adolph Friedländer Adolph Friedländer (ca. 1851-1904) warein bekannter Hamburger Lithograf. Inseinem (später von seinen Söhnen weiter -geführten) Atelier in Sankt Pauli wurdenzwischen 1872 und 1935 mehr als 9 000Plakate gedruckt. Seine Arbeiten für CarlHagenbeck (ab 1883-84) begründetenseinen Ruhm. Neben diesen Plakaten veröffentlichte er ab Mitte der 1890er-Jahre zahlreiche Postkarten.

Hersi Egeh Gorseh Der Somalier war 1895 einer der Darsteller in CarlHagenbecks Somalia-Schau. Bei dieser Völkerschautraten eine ganze Saison lang 67 Personen im CrystalPalace in London auf. Die Show erregte großes Aufsehenund bis 1929 tourten regelmäßig Truppen von Soma-liern durch Deutschland. Hersi Egeh Gorseh trug fürall diese Darbietungen besondere Verantwortung, nichtzuletzt als derjenige, der die Truppen zusammenstellte.

Die Schaustellung des Wilden

Afrikanische Wander-Truppe in Deutschland [Deutschland], Postkarte, 1910.

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Hersi Egeh Gorseh] [Deutschland], Postkarte, 1927.

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Mohammedanische Handwerker bei der Arbeit der mohammedanischenAusstellung [München, Deutschland], Postkarte, 1910.

Carl Hagenbecks Tierpark in Stellingen. VölkerschauNubien [Hamburg, Deutschland], Postkarte, 1922.

Giraffe für Hagenbeck [Weilheim in Oberbayern,Deutschland], Postkarte, 1922.

John Hagenbeck. Dorf aus Ceylan, Postkarte, 1926.

Carl Hagenbecks Tierpark Altona-Stellingen.Völkerschau. Kanaken [Hamburg, Deutschland],Postkarte, 1931.

Der Kaiser im Hagenbeckschen Tierpark in Stellingen [Hamburg, Deutschland],

Fotokarte von Th. Jürgensen, 1913.

Carl Hagenbecks Tierpark. Sioux Indianer[Hamburg, Deutschland], Plakat gezeichnetAdolph Friedländer, 1910.

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SCHAUSTELLUNGEN, RASSISMUS UND IDEOLOGIE

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1904-1945

Denn die Verpestung durch Negerblut am Rhein im Herzen Europasentspricht ebensosehr der sadistisch-perversen Rachsucht dieses

chauvinistischen Erbfeindes unseres Volkes [Frankreich] wie der eisigkalten Überlegung des Juden, auf diesem Wege die Bastardierung

des europäischen Kontinents im Mittelpunkte zu beginnen.Adolf Hitler, Mein Kampf (1924)

enschenausstellungen fanden in Deutschland in einem besonderen historischenund ideologischen Kontext statt. Der blutig niedergeschlagene Herero-Aufstandin Deutsch-Südwestafrika (1904) stiftete eine enge Verbindung zwischen Rassismus, Kolonialismus und Repression. Schätzungen zufolge gab es dabeizwischen 35 000 und 60 000 Tote. Erstmals tauchte in offiziellen deutschen Doku-

menten der Begriff „Konzentrationslager“ auf. Gefangengenommene Aufständische wurdenin Sammellagern interniert. Im 1. Weltkrieg lösten die an der Seite der Alliierten kämpfendenafrikanischen Truppen in Deutschland Empörung aus. Nach dem Krieg spielten die von diesenTruppen angeblich begangenen „Gräueltaten“ eine wichtige Rolle in der nationalistischen Pro-paganda, die durch die Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen weiter angefachtwurde. Deutschland erregte sich darüber, dass zu diesen Truppen auch Soldaten aus franzö-sischen Kolonialgebieten gehörten (Schwarzafrikaner, Madagassen, Marokkaner und Bewohnerder Antillen). Nationalistische Vereine polemisierten dagegen in einer Kampagne mit dem Titel„Die Schwarze Schande“. Diese Thematik war in der öffentlichen Debatte sehr präsent undAdolf Hitler bediente sich ihrer in seinem Buch „Mein Kampf“ (1924), um die „Entdeutschung,Vernegerung und Verjudung deutschen Bluts“ anzuprangern. Mit den Nürnberger Gesetzenwurde 1935 ein von vorgeblich „wissenschaftlichen“ Rassentheorien gestützter Antisemitismuszur Staatsideologie. Im selben Jahr wurden diese Gesetze auch auf Roma und Schwarze aus-gedehnt. Kolonialausstellungen büßten so schon in den 1930er-Jahren viel von ihrer Popularitätein. Die Nationalsozialisten verboten sie schließlich gänzlich unter Verweis auf die Gefahr,die die „Nähe“ zu nicht-europäischen und „wilden“ Menschen angeblich mit sich bringt.Deutschland forderte die Rückgabe seiner 1918 verlorenen Kolonien (u.a. Togo, Kamerun undNamibia). Im Jahr 1939 fand in Dresden eine „Deutsche Kolonialausstellung“ statt, in der sichdas Dritte Reich in die Tradition der „hervorragenden deutschen Kolonisationsmethode“ stellte.Die allerletzte deutsche Kolonialausstellung war die „Deutsche Afrika-Schau“ (1940). MenschenZoos übten auf die deutsche Gesellschaft also nachhaltigen Einfluss aus und dientenauch als Rechtfertigung für angeblich „wissenschaftlich begründete“ Eingriffe. So wurden1937, im Jahr der berühmten Münchener Ausstellung „Der ewige Jude“, 500 Kinder, dieman „Rheinlandbastarde“ nannte und die aus Verbindungen deutscher Frauen mit afrikani-schen Besatzungssoldaten hervorgegangen waren, zwangssterilisiert, um „Gefahr für diedeutsche Rassenreinheit“ abzuwenden. Im Krieg wurden dann ungefähr 2 000 Deutsche afri-kanischer Herkunft deportiert und einige hundert zwangssterilisiert, wobei unterschiedlicheMethoden getestet wurden. Man wollte eine für die Massensterilisation von Juden und Romageeignete Prozedur finden.

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Die Schwarze Schande Diese Propagandakampagne schilderteschwarze Soldaten der französischen Besat-zungstruppen im Rheinland als grausameBestien und vermutliche Menschenfresser.Besonderer Nachdruck wurde auf dieangeblich begangenen Vergewaltigungengelegt. Eine unmittelbare Folge dieser Propaganda waren zahlreiche Massaker an„Senegalschützen“ (Tirailleurs sénégalais)während des Frankreich-Feldzugs im Mai-Juni 1940. Um „deutschen Boden nicht zubesudeln“ und einen Kontakt zwischenAfrikanern und Deutschen zu vermeiden,wurden die 1940 gefangengenommenen„Eingeborenensoldaten“ in „Frontstalags“in Frankreich geschickt. Nach der franzö-sischen Niederlage wurden knapp 70 000aus Kolonialgebieten stammende Gefangenein solchen Lagern interniert.

Die Münchner Ausstellung des Jahres 1937Im November 1937 eröffnete Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in München die Ausstellung „Der ewige Jude“. Einer der Ausstellungsständepräsentierte die „typischen äußeren Merkmale des Juden“. Diese abstoßendenkörperlichen Merkmale — Hakennase, schräge Augen und hinterhältiger Blick, dicke Lippen, dicke und abstehende Ohren, krauses Haar, Finger wieRaubtierklauen — sollten als Ausdruck der vorgeblichen moralischen Hässlichkeit und Unterlegenheit von Juden verstanden werden.

Die Schaustellung des Wilden

Völkerschau Kolonial Ausstellung [Stuttgart, Deutschland], Plakat, 1928.

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Protest der deutscher Frauen gegen die farbige Besatzung am Rhein, Plakat gezeichnet

Walter Riemer, 1920.

„Frankreichs Schuld“ [rassistische Darstellungeines Schützen, eines jüdischen Bänkers undeines geistesgestörten französischen Offiziers],Titelblatt eines Sammelbands, um 1940.

Zwerge im Berliner Zoo für die Sonderauss-tellung Zwerge und Tiere [Deutschland], Fotografie von Georg Pahl, 1935.

Gefangener des Hererokriegs [Südwest-Afrika, aktuell Namibia], kolorierte Postkarte, 1904.

Ausstellung „Der ewige Jude” [München, Deutschland], Fotografie, 1937.

Deutsche Kolonial Ausstellung[Dresden, Deutschland], Broschüre, 1939.

Carl Hagenbecks Tierpark Altona-Stellingen. Völkerschau.Kannibalen [Hamburg, Deutschland], Postkarte, 1931.

Völkerschau der aussterbenden Lippen-Negerinnen [Köln, Deutschland], Plakat, 1930.

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KOLONIALISMUS UND SCHAUSTELLUNGEN

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Ich wiederhole: die überlegenen Rassen haben ein Recht, weil sie eine Pflicht haben. Nämlich die Pflicht,

die unterlegenen Rassen zu zivilisieren…Jules Ferry (als französischer Ministerpräsident, 1885)

wischen 1815 und 1914 ist das British Empire dieweltweit dominierende Kolonialmacht. DieEroberung Algeriens (1830) leitet auch fürFrankreich eine Phase kolonialer Expansion ein,die ein Jahrhundert andauert. Auch Belgien, die

Niederlande, Portugal, Amerika, Deutschland, Japan undItalien wollen mitnaschen am „kolonialen Kuchen“. DieSklaverei, die der Westen anderen Völkern aufgezwungenhat, findet in dieser Zeit des „modernen“ Imperialismusein Ende. 1807 untersagt Großbritannien den Sklaven -handel, in Frankreich wird er 1848 endgültig abgeschafft.Genau zu dieser Zeit beginnt man, „exotische Völker“ zurSchau zu stellen. Zwischen 1860 und 1910, als die großenKolonialreiche ihre Gebietsansprüche aushandeln, stehen„Menschenzoos“ in voller Blüte. Fremde Ethnien werden(ab 1883) bei Kolonial- und Weltausstellungen zur Schaugestellt. Kolonialismus und Menschenschauen haben alsomiteinander zu tun. „Völkerschauen“ ermöglichen es

den Kolonialmächten, mit den Reichtümern der von ihnen kontrollierten Gebiete zu prunken. Als lebendigeWerbeeinschaltungen „rechtfertigen“ sie Kolonialisierung:sie zeigen, von welch „unzivilisierten Barbaren“ dieunterworfenen Landstriche bevölkert waren, bevor die„Zivilisation“ sie in Besitz nahm. Schließlich vermitteln siedurch die gewollte Distanz zwischen den Zuschauern undden „Eingeborenen“ auf spielerische Weise die Grundlagender „Rassenhierarchie“. Die Kolonialausstellungen inWembley (1924-1925), Glasgow (1938) und Vincennes (1931)treiben diese imperiale Inszenierung auf den Höhepunkt.Ähnliches geschieht auch bei Kolonialausstellungen inNeapel (1940), in Porto (1934) und – trotz Verlusts derdeutschen Kolonien nach dem 1. Weltkrieg – auch inDresden (1939). Der koloniale Machtanspruch äußert sichunter anderem durch die Präsentation von „Kolonial -dörfern“ und aufwändig inszenierten Schaustellungen bei Großausstellungen.

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Die Schaustellung des Wilden

Die 200 wichtigsten Ausstellungen

Rekonstruktion eines afrikanischen Dorfes auf dem Champ-de-Mars [Paris, Frankreich], Fotografie von Joannès Barbier, 1895

Dinka-Dorf. Earl’s Court Exhibition[Großbritannien], Postkarte, 1900.

Die Zulu [Deutschland], Aquarell und Gouache gezeichnet Adolph von Menzel, 1852.

Internationale Kolonialausstellung.Reise um die Welt in einem Tag.

[Paris, Frankreich], Plakat gezeichnetVictor-Jean Desmeures, 1931.

The Takushoku Exposition. Die Taiwaner [Japan],

Postkarte, 1912.

Internationale Ausstellung. Weltausstellung Brüssel [Belgien], Plakat gezeichnet H. Reymond, 1897.

Kambodschanische Tänzerinnen. Kolonialausstellung Marseille [Frankreich],Postkarte gezeichnet Fernand Detaille, 1922.Madagaskar und Dependancen.

Kolonialausstellung Marseille [Frankreich],Plakat gezeichnet E. Astier, 1922.

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KOLONIALE INSZENIERUNGEN

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Amsterdam 1883 bis Lyon 1914

”Sprechen wir nicht von Recht, nicht von Pflicht... Die von Ihnen befürwortete Eroberung ist ganz

einfach ein Missbrauch jener Macht, die uns eine wissenschaftliche Zivilisation verleiht und die uns in die Lage versetzt, Menschen anderer Kulturen zu unterwerfen, zu foltern und auszusaugen.

Antwort des Abgeordneten Georges Clemenceau auf Jules Ferrys Rede (1885)

unächst sind Kolonialpavillons nur „exotischer Aufputz“ fürWeltausstellungen. Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird dieKolonialausstellung zu einem eigenen Ausstellungsformat. DieseAusstellungen inszenieren den Gegensatz zwischen „Zivilisierten“ und„Wilden“ und rechtfertigen den kolonialen Machtanspruch durch die

„zivilisatorische Mission“ der Kolonialherren. Als erste Kolonialmacht organisiertdas British Empire zwischen 1866 und 1867 vier Kolonialausstellungen in Australien.Die erste europäische Kolonialausstellung findet 1883 in Amsterdam statt. Dortgibt es Dorfnachbauten, in denen „Eingeborene“ aus den niederländischen Kolonienzur Schau gestellt werden. Die Epoche der Kolonialausstellungen lässt sich in dreiPhasen unterteilen. Die erste Phase (1883-1899) umfasst etwa ein DutzendAusstellungen. Die meisten finden in Frankreich und England statt, aber auch inanderen europäischen Kolonialstaaten und sogar in Japan. Das Element derkolonialen Propaganda ist ganz zentral. So verneigen sich bei der 1. DeutschenKolonial�Ausstellung in Berlin-Treptow (1896) mehr als 100 „Eingeborene“ vorKaiser Wilhelm II. Auch in den Kolonien selbst gibt es Kolonialausstellungen, etwain Kalkutta (1883) oder in Hanoï (1902-1903). In der zweiten Phase (1900-1914)finden Kolonialausstellungen eine noch größere geographische Verbreitung. Auchin dieser Phase gibt es Kolonialabteilungen in nationalen Gewerbeausstellungen,wie bei jener im japanischen Ôsaka (1903). In Frankreich, Italien und Großbritanniengibt es nach der Jahrhundertwende noch mehr Kolonialausstellungen als zuvor,darunter auch die Esposizione internazionale dell’industria e del lavoro in Turin(1911). Die letzte Phase der Kolonialausstellungen beginnt nach dem 1. Weltkrieg,in den frühen 1920er-Jahren und dauert bis 1940. Die Ausstellungen, die in diesenbeiden Jahrzehnten in Frankreich, England, Portugal, Belgien, Deutschland, Italienund Südafrika stattfinden, brechen alle Besucherrekorde.

ZDie internationale Gewerbeausstellung in Turin (1911)Im Jahr 1911 feiert das Königreich Italien den 50.Jahrestag seiner Ausrufung. Im Rahmen dieser Feierlich -keiten wird in Turin, auf einer Fläche von ca. 120 Hektar,eine Ausstellung veranstaltet, die von mehr als 6 MillionenMenschen besucht wird. Mit einem eritreischen und einemsomalischen Dorf präsentiert sich Italien als erfolgreicheKolonialmacht. Teilnehmer aus Algerien, Tunesien,Ägypten, Dahomey, China, Japan, Madagaskar, dem Kongo,Mexiko und Kolumbien verleihen der Ausstellung einen„exotischen Touch“.

Die Schaustellung des Wilden

Senegalesische Truppe [Barcelona, Spanien], Fotografie, 1913.

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Pagode. Kolonialausstellung Paris. Grand Palais[Frankreich], Postkarte, 1906.

Dahomey-Dorf. Internationale Imperial-Ausstellung. White City [London, Großbritannien], Postkarte, 1909.

Internationale Kolonial- und Exportausstellung [Amsterdam, Niederlande], Plakat gezeichnet Eerlich Van Gogh, 1883.

Das senegalesische Dorf. Die Musiker. Nationale Ausstellung Schottland [Edinburg, Schottland], Postkarte, 1908.

Eritreisches Dorf. Ausstellung Mailand [Italien],Postkarte, 1906.

Japan-British Exhibition[London, Großbritannien],

offizieller Reiseführer, 1910.

Exposition ethnographique. Senegalesisches Dahomey-Dorf. Kolonialausstellung Lyon [Frankreich], Plakat gezeichnet Francisco Tamagno, 1894.

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Somali-Dorf. Kolonialausstellung Turin [Italien], Postkarte, 1911.

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Die Werbung entwirft, propagiert, verlangt neue Werte, einen neuen Lebensstil […]. Sie sagt, wie wir leben

und wie wir sein sollen.Louis Quesnel (1971)

ilder erweisen sich sofort als großartiges Werbemediumfür Menschenausstellungen. Für Schaustellungen imRahmen von Großveranstaltungen werden ikonographischeDokumente in großer Zahl produziert und verkauft. Plakate, die Besucher anlocken sollen, und Postkarten, die

als Erinnerung an das Gesehene reißenden Absatz finden, bedienendieselben Archetypen. Immer inszenieren die DarstellungenTierhaftigkeit, Nacktheit und Sexualität und infizieren auf diese Weisenachhaltig die kollektive Phantasie. Bereits die frühesten Formendes Kinos interessieren sich für „Menschenzoos“ und greifen dabeidie bereits etablierten Darstellungs- und Inszenierungselementeauf. Die Brüder Lumière, die den ersten praktikablen Kinematografenbauen, filmen 1896 das „Schwarze Dorf“ im Pariser Zoo. Bereits zweiJahre zuvor filmt in den USA W. K. L. Dickson mit seinem KinetoskopBuffalo Bill’s Wild West Show. Eine ungeheure Bilderfülle findet sichauch in Boulevardzeitungen und Illustrierten, in Ausstellungsführernund Werbebroschüren. Es gibt bunte Lithographien, Gemälde undZeichnungen von Künstlern. Der Blick auf die sogenannten „Wilden“,wie er sich in all diesen Bildern widerspiegelt, verbreitet sich raschin allen gesellschaftlichen Schichten. Die Fotografie spielt hier eine zentrale Rolle: sie liefert „wissenschaftliche Beweise“ undBildmaterial für Zeitungen, Postkarten, Plakate und Werbebroschüren.Roland Bonaparte versucht, die Portraitfotografie in den Dienst derAnthropologie zu stellen und fotografiert bis 1892 in großer Zahl dieDarsteller der Völkerschauen im Pariser Zoo. Die holländischenFotografen Pieter Oosterhuis und Friedrich Carel Hisgendokumentieren die Amsterdamer Kolonialausstellung (1883). DieUS-amerikanische Fotografin Gertrude Käsebier fertigt machtvollePortraits von einigen Sioux an, die in Buffalo Bill’s Show auftreten.

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Das AusstellungssouvenirBei Menschenschauen wird eine Vielfalt von Bildernverkauft. Häufig gibt es mitten im ethnischen Dorf ein Atelier und darin bietet ein künstlerischbegabter Darsteller den Besuchern selbstge -zeichnete und eigenhändig signierte Karten an.Er verkauft die individuell hergestellten Kartendirekt an die Besucher und teilt die Einkünfte mitdem Impresario.

Die Schaustellung des Wilden

ZWISCHEN WERBUNG UND PROPAGANDA: DIE BOTSCHAFT DER BILDER

Souvenir vom schwarzen Dorf. Internationale AusstellungReims [Frankreich], gemalte Postkarte, 1903.

Fotogramm-Serie : Ouoloves. Jardin zoologique d’Acclimatation [Paris, Frankreich], Kinetoskop von Félix-Louis Régnault, 1895; The Buffalo Bill’s Wild West Show [U.S.A.], 1916.

Anthropometrische Fotografie-Installation im Freien [Pulacayo, Bolivien], Fotografie, 1895.

Algerien-Pavillon. Weltausstellung Paris[Frankreich], Chromolithographie, 1878.

Gruss aus Carl Hagenbeck’s Indien[Deutschland], Chromolithographie, 1898.

Kein Rassenhaß bei Hagenbeck. Madame, Liebenswürdigkeiten sind hier verboten! [Deutschland], gemalte Postkarte, 1912.

Robinson-Zirkus und seine wilden Volksstämme [Frankreich], Foto-nachempfundenes Plakat, 1900.

Die weiße Negerin inmitten ihrer schwarzen Familie [Deutschland], Postkarte, 1912.

Der Stamm des Kapitäns Hiak [Foire du Trône Paris, Frankreich: Westler als „Wilde“ geschminkt], Ausschnitt des Films Jahrmärkte von Jean Loubignac, 1933.

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NATIONALE MINDERHEITEN AUF DEM PRÄSENTIERTELLER

17

So stigmatisiert man Bretonen und Iren als Menschen,die den ‚Wilden‘ näherstehen als den ‚Zivilisierten‘.

Sandrine Lemaire (2011)

anche der zur Schau gestellten Volksgruppen sind denBesuchern nicht gar so fremd. Sie kommen nicht ausÜbersee, sondern sozusagen aus der Nachbarschaft. VieleStaaten stellen ihre nationalen Minderheiten zur Schau.Schonlange bevor Buffalo Bills Wilder Westen Europa erreicht,

werden in den USA und in Kanada Indianer-Shows veranstaltet. Auch inEuropa bezieht man die „Wilden“ nicht immer aus exotischen Gegenden.Im Jahr 1874 präsentiert Carl Hagenbeck in Hamburg eine lappländischeFamilie gemeinsam mit etwa dreißig Rentieren. Im Jahr 1908 steht bei der Franco-British exhibition in London ein irisches Dorf neben einem senegalesischen Dorf, und bei der Ausstellung von Nantes 1910kann das interessierte Publikum neben einem „Schwarzen Dorf“ auchein „bretonisches Dorf“ besichtigen. Die Franzosen sehen sich gern„Flämische Dörfer“ und „Alpendörfer“ an, die Deutschen „ElsässischeDörfer“ und „Böhmische Dörfer“, die Schweizer „Schweizer Dörfer“, dieEngländer „Schottische Dörfer“ und die Russen „Tscherkessische Dörfer“und „Kaukasische Dörfer“. Man stellt die regionalen Minderheiten Europasnicht auf dieselbe Stufe wie die „Wilden“ aus Übersee. Vielmehr beschreibtman vor dem Hintergrund des einheitlichen kulturellen Schemas, das diejungen Nationen für sich in Anspruch nehmen, regionale Besonderheitenals archaische Spuren.Dies gilt auch für Japan, wo Ureinwohner japanischerInseln ausgestellt werden. Die als unterlegen und zurückgebliebenbeschriebenen Volksgruppen werden zu potentiellen Zielen „zivilisa -t orischer Bestrebungen“. Die Schaustellung der als „Kannibalen“präsentierten Koreaner bei der Ausstellung in Ôsaka (1903) ist zugleichRechtfertigung und Vorbereitung der Eroberung Koreas durch Japan im Jahr 1910. Bei Menschenschauen sind nationale, koloniale, wissen -s chaftliche und politische Zielsetzungen eng miteinander verflochten.

MDer „Anthropologische Pavillon“in Ôsaka (1903) Bei der 5. Nationalen Gewerbeausstellung in Ôsaka (1903) stelltJapan erstmals Ureinwohner aus Kolonialgebieten zur Schau. Mehrals vier Millionen Besucher strömen herbei. Im „AnthropologischenPavillon“ sind etwa 30 Menschen ausgestellt, darunter Ainu vonder Insel Hokkaidõ, die nach 1850 von Japanern besiedelt wurde,und Ureinwohner von der Insel Taiwan, die China 1895 an Japanabtreten musste. Der chinesische Botschafter sowie Besucher ausKorea und Okinawa protestieren heftig dagegen, dass ihre Landsleutemit „echten Wilden“ zur Schau gestellt werden.

Die Schaustellung des Wilden

Blick auf die Ausstellung. Große Ausstellung Ôsaka [Japan], Plakat, 1903.

Kalebassen-Rennen eingeborener Jungen im senegalesischen Dorf.

Nationale Ausstellung Schottland [Edinburg, Schottland], Postkarte, 1908.

Souvenir von einem bretonischen Dorf. Nantes [Frankreich], Postkarte, 1910.

Taiwaner in der Ausstellung anlässlich der Friedensgedenkfeier [Tôkjô, Japan], Fotografie, 1922.

Souvenir von der Schweizer National-Ausstellungin Genf, [Schweiz], Postkarte, 1896.

Tirolische Alpen. Ausstellung Saint-Louis [U.S.A.], Fotografie, 1904.

Elsässisches Dorf. Internationale Ausstellung Ost-Frankreichs[Nancy, Frankreich], Plakat gezeichnet C. Spindler, 1909.

Eskimos. Ausstellung Saint-Louis [U.S.A.], Fotografie, 1904.

Das irische Dorf. Ausstellung Chicago [U.S.A.], Fotografie von C. D. Arnold & H. D. Higginbotham, 1893.

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DIE AUSSTELLUNGEN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT

18

1920-1940

”Man betrachte es, wie man wolle, immer gelangt man

zum selben Schluss. Es gibt keinen Kolonialismus ohne Rassismus.Aimé Césaire, La Nouvelle Critique (1954)

ach dem 1. Weltkrieg verändert sich die Darstellung der „Wilden“: imMittelpunkt stehen nun die „zivilisatorische Mission“ der Kolonialherren unddie „Wohltaten“, die der Kolonialismus für die unterworfenen Völker mit sichbringt. Menschen werden nicht mehr wegen ihres „exotischen“ Aussehensausgestellt. Jetzt geht es um die Inszenierung von Modernität und Zukunft.

Beispielsweise soll bei der New York World’s Fair (1939) die „Welt von morgen“ gezeigtwerden. Die Kolonialausstellungen der Zwischenkriegszeit – Marseille 1922, Wembley1924, Lüttich und Antwerpen 1930, Paris 1931 und Chicago 1933 – sowie die nationalen„Gewerbeausstellungen“, die zwischen 1922 und 1940 in Deutschland, Italien undJapan stattfinden, sind Publikumsmagneten. Nun treten aber die „Ureinwohner“ andie Stelle der „Wilden“. Kommuniziert werden soll „kolonialer Humanismus“ und diesegensreichen Auswirkungen des Zivilisierungsprozesses. Bei der British EmpireExhibition in Wembley (1924-1925) werden mehr als 27 Millionen Eintrittskartenverkauft, bei der Pariser Kolonialausstellung im Bois de Vincennes (1931) mehr als33 Millionen. Beide Großveranstaltungen sind Verherrlichungen des Imperialismus,sie wollen das Bild eines befriedeten Reichs und glücklicher Untertanen zeichnen.Auch in den folgenden Kolonialausstellungen – „Paix entre les races“ (Brüssel 1935),British Empire Exhibition (Glasgow 1938), Deutsche Kolonial-Ausstellung (Dresden 1939)oder Mostra d’Oltremare (Neapel 1940) – wird die kolonialisierte Bevölkerung nichtverächtlich gemacht. Stattdessen werden Nachbauten, Handwerksausstellungen unddie wirtschaftliche Potenz der Veranstalter präsentiert. In Dresden (1939) rühmt dieNazi-Regierung die deutsche Methode der Kolonisierung als hervorragend, in Neapelmöchte Mussolini ein in Nachfolge des römischen Reichs „wiedererobertes“ Weltreichfeiern. In beiden Fällen erweist sich die Aussage der Kolonialausstellung als äußerstpolitisch. Die letzte große Völkerschau dieser Phase findet 1940 im Rahmen derportugiesischen Weltausstellung statt. Die archaischen „Welten der Ureinwohner“ stehennun im Dienste nationaler Ziele.

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Die Pariser Kolonialausstellungim Bois de Vincennes (1931)Marschall Lyautey organisiert die Pariser Kolonialausstellungim Bois de Vincennes (1931). Er untersagt „rassistische“Schaustellungen. Stattdessen sollen die Darbietungen den „kolonialen Humanismus“ akzentuieren. Im selbenJahr werden etwa 100 Kanaken im Pariser Zoo als „Kannibalen“ ausgestellt. Einige von ihnen sterben wegender mangelhaften Versorgung. Der öffentliche Druck steigt, es gibt mehrere Anklagen. Daraufhin untersagt derfranzösische Kolonialminister die private Rekrutierung inden Kolonien und schickt die überlebenden Kanaken nachihrer Deutschland-Tournee schleunigst zurück nachNeukaledonien. Unter den Ausgestellten waren mehrereVerwandte des ehemaligen französischen Fußballnational -spielers Christian Karembeu.

Die Schaustellung des Wilden

Kanake „Kannibale“ [Deutschland], Postkarte, 1931.

Tänzer und Spieler des mordango [Trommel portugiesischer Inder] KolonialausstellungPortugal [Porto], Postkarte, 1934.

Büffel aus Ceylon [Niederlande], Foto-Postkarte, 1920.

Historische Nachbildung für die City’s Jubilee Procession [Johannesburg, Südafrika], Fotografie, 1936.

Französische Eisenbahn. Besuchen Sie die internationale Kolonialausstellung

[Paris, Frankreich], Plakat gezeichnet Jules Isnard (Beiname Dransy), 1931.

Tunesisches Dorf. Ein Jahrhundert des Fortschritts.Chicago World Exhibition [U.S.A.], Postkarte, 1933.

Triennale von Oltremare. Neapel[Italien], offizieller Reiseführer, 1940.

Bellahouston Park, Wildes West-Afrika. Ausstellung des BritischenImperiums. Glasgow [Schottland], Fotografie, 1938.

A Grand Exposition in Commemorationof the Imperial Coronation. Kyôto [Japan], Plakat, 1928.

Fotogramme: Indianer. California Pacific International Exposition [San Diego, U.S.A.], offizieller Film der Ausstellung, 1935; Die tunesischen

Souk. Frankreich in Übersee [Paris, Frankreich], 1937.

„Die Kolonialausstellung“ [Paris, Frankreich], Bild gezeichnet Georges Dubout in Le Rire, 1931.

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„MENSCHENZOOS“ IM KREUZFEUER DER KRITIK

19

Wann […] werden die modernen Anthropologen und Philosophen[…] endlich damit aufhören, Studien zu verfassen, die nichts anderes

sind als Verleumdungen unterdrückter Rassen?Africanus Horton, Politiker und Intellektueller aus Sierra Leone (1868)

eit Beginn des 19. Jahrhunderts üben europäische und amerikanischeMissionare und Geistliche immer wieder Kritik an Menschenschauen.Vertreter der Anti-Sklaverei-Bewegung protestieren heftig gegendie Schaustellung der „Hottentottischen Venus“. Die AfricanInstitution – eine Vereinigung, die gegen Sklaverei und für eine

Entwicklung des afrikanischen Kontinents eintritt – spricht von „schändlicherAusbeutung“ und strengt einen Prozess gegen Saartjie Baartmans Impresarioan. Auch gegen die Schaustellung der Inuit im Hamburger und im BerlinerZoo regt sich Widerstand. Es verstoße gegen jeglichen Anstand, schreibt dieMagdeburger Zeitung am 21. Oktober 1880, „unseres Gleichen in Thiergärtensehen zu lassen“. In Frankreich sprechen sich die beiden Schriftsteller Louis-Joseph Barot und Léon Werth gegen Menschenschauen aus, da sie nur „grobeKarikaturen“ und „Maskeraden“ darstellten. Auch die zur Schau Gestelltenempören sich. So verlassen bei der Schweizer Nationalausstellung in Genf 1896 die Afrikaner unter Protest das „Schwarze Dorf“. 1930 entrüstetsich die afro-amerikanische Intellektuelle Paulette Nardal über dieSchaustellung von „Negerinnen mit Lippenscheibe“ im Pariser Zoo.Afrikanische Intellektuelle protestieren gegen die Inszenierung diesesirreführenden Afrikabildes, das „den Gaffern so lieb“ ist. Auch an denMenschenschauen bei den British Empire Exhibitions in Wembley (1924-1925)und Glasgow (1938) sowie bei der Weltausstellung von Chicago 1933 wirdKritik geübt. In Frankreich organisieren die kommunistische Partei und dieSurrealisten 1931 als Gegenprogramm zur Pariser Weltausstellung eine„anti-imperialistische Schau“. Im Gegensatz zur Weltausstellung ist hier derPublikumsandrang allerdings sehr bescheiden. Protest gibt es auch gegendie skandalöse Schaustellung der als „Kannibalen“ präsentierten Kanakenim Pariser Zoo. Weltweit treffen Menschenschauen in diesen Jahren also aufimmer heftigere Kritik. Eine Ausnahme bildet offenbar nur die Schweiz.

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Sonderfall Schweiz In Europa kommen Völkerschauen ab den 1930er-Jahren aus der Mode, doch in der Schweiz besteht die Tradition nochdrei Jahrzehnte lang fort. Überall werden Menschenschauenveranstaltet: im zentral gelegenen Grand Théâtre in Neuchâtel,auf geeigneten Arealen in Städten und Dörfern (Lausanne, Genf, Zürich, La Chaux-de-Fonds, usw.), auch im Basler Zoo.Bis Ende der 1960er-Jahre erfreuen sich diese Schauen großerBeliebtheit unter dem Publikum.

Die Schaustellung des Wilden

Mit der kommunistischen Partei, Eintrittskarte für die Gegen-Ausstellung

[Frankreich], 1931.

Portrait von Abraham Ulrikab [Deutschland],Fotografie, 1881.

Die Melanesier im Zoologischen Garten in Nizza [Frankreich], Postkarte, 1934.

Skelett und Abguss des Körpers Saartjie Baartmans(ausgestellt im Musée de l’Homme Paris [Paris, Frankreich] bis 1976), Fotografie, 1952.

Josephine Baker, Fotogramm aus dem Film Zouzou von Marc Allégret, 1934.

Die Schuli Truppe. Zoologischer Garten in Basel [Schweiz], Fotografie, 1922.

Negerin mit Lippenscheibe [Tournee Hagenbeck,Deutschland], Postkarte, 1930.

„Am Tisch der Kannibalen“ [Frankreich], Titelblatt der Zeitschrift Voilà, 1939.

Kanakisches Dorf aus Neukaledonien [Paris, Frankreich], Fotografie, 1931.

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DAS ENDE DER „MENSCHENZOOS“

20

ab 1930

Die Schaustellung von Frauen mit Lippenscheibe im ZoologischenGarten betrachten wir als ungluckseliges […] Vorhaben. Der Großstädter

braucht keinen [weiteren] Anlass, um noch mehr irrige Ideen uber die indigene Bevölkerung der Kolonien anzuhäufen.

Paulette Nardal, Le Soir (1930)

n den 1930er-Jahren nimmt die Zahl der Men schen schauenweltweit immer mehr ab. Diese Entwicklung lässt sich imWesentlichen durch drei Umstände erklären. Erstensschwindet zunehmend das Publik umsinteresse. Zweitenswollen die Kolonial mächte ihre „zivilisatorischen Bemü -

hungen“ als erfolgreich darstellen. Da passen „Barbaren ausden Kolonien“ nicht ins Bild. Drittens tritt die Phantasieweltdes Kinos in direkte Konkurrenz zu den „Menschenzoos“.Freilich gibt es auch noch weitere Gründe für den Rückzugder Menschenschauen. So kämpfen während des 1. Weltkriegsknapp eine Million Soldaten aus den Kolonialgebieten aufeuropäischem Boden. Auch die ersten Migrationsströme vonaußerhalb Europas lassen die Schaus tellung indigener Völkerals anachronistisch erscheinen. Die ethnischen Gruppen, diefrüher zur Schau gestellt wurden, sind nun weniger fremd.Die letzte offizielle Völkerschau findet 1958 bei der BrüsselerWeltausstellung statt – zu einer Zeit, als die europäischenKolonialmächte aus Afrika abzuziehen beginnen. DieseSchaustellung löst zahlreiche Proteste aus. 150 Jahre nachder tragischen Geschichte der „Hottentottischen Venus“ istnun die Zeit der „Menschenzoos“ endgültig vorbei.

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Expo 58 - Die Brüsseler Weltausstellung (1958)Diese Ausstellung soll Modernität und Fortschritt verherrlichen. Damit hofft Brüssel, seiner Bewerbung als Sitz europäischer Institutionenmehr Gewicht zu verleihen. Umso schockierender ist, wie herablassenddie Kolonie Belgisch-Kongo mit einem „Kongolesischen Dorf“ präsentiertwird. Junge Kongolesen, die in Belgien studieren, erstatten Anzeige.Nach polemischen Auseinandersetzungen verlässt ein Großteil der zurSchau gestellten kongolesischen Handwerker das Ausstellungsdorfnoch vor Ende der Ausstellung.

Die Schaustellung des Wilden

Eine Gruppe Lilliputaner. Internationale Ausstellung Paris [Frankreich], Postkarte, 1937.

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Bijago-Paar [aktuell Guinea-Bissau] Kolonialausstellung Portugal.Porto, Postkarte, 1934.

Negresco-Schimpansi [Schweiz], Filmplakat, 1934.

Seminiolische Familiengruppe im tropischen Dorf von Hobbyland.Miami [U.S.A.] Postkarte, 1937.

Ubangi-Frau mit Lippenscheibe (aktuell DR Kongo) [U.S.A.], Fotografie (Monochrom-Positiv), 1948.

Wüstenkarawane. Greater East Asia Construction Exposition. Ôsaka [Japan], Bild aus der offiziellen Broschüre, 1939.

Zirkus Knie [Schweiz],Plakat, 1931.

Weltausstellung Brüssel [Belgien], Plakat gezeichnet Bernard Villemot, 1958.

Jüdischer Pavillon Palästinas. Internationale MesseNew York [U.S.A.], Postkarte, 1939.

Page 21: Mise en page 1 - ACHAC · 2015. 4. 22. · Title: Mise en page 1 Author: Thierry Created Date: 1/26/2015 7:06:50 PM

ERBE UND ERINNERUNG

21

Vom Elefantenmensch, 1980, bis zur Rückführung der Feuerländer, 2010

”In Amerika und auch in Europa jagt die Polizei Klischees, Leute mit der falschen Hautfarbe.

Jeder nicht-weiße Verdächtige bestätigt eine Regel, die mit unsichtbarer Tinte tief ins kollektive Bewusstsein geschrieben ist: das Verbrechen ist schwarz oder braun oder zumindest gelb.

Eduardo Galeano (2005)

as bleibt von diesen Menschenschauen? Trotz hoher Besucherzahlenund einer umfangreichen Bildproduktion war das Thema ja langvöllig vergessen. Durch Bücher und Filme rücken diese Ereignissenun wieder in unser Bewusstsein. Zu nennen sind hier Romane und Dokumentationen (Reise eines Menschenfressers nach Paris

von Didier Daeninckx oder The Hottentot Venus. The life and death of Saartjie Baartman von Rachel Holmes, Abraham Ulrikab im Zoo: Tagebuch eines Inuk 1880/81. von H. Lutz), Dokumentarfilme (Boma Tervuren, On l’appelait la Vénushottentote, The Return of Sara Baartman oder MenschenZoos) und Spielfilme (SchwarzeVenus von Abdellatif Kechiche, Man to Man von Régis Wargnier, Der Elefantenmenschvon David Lynch). Immer wieder wird nun auch über Rückführungen verstorbenerDarsteller berichtet. Die Ausstellung „Die Erfindung des Wilden“ im Musée duquai Branly in Paris wurde pro Monat von mehr als 45.000 Menschen besucht.Die „Menschenzoos“ zeigen, wie der „wissenschaftliche Rassismus“ im 19.Jahrhundert zu einem „populären Rassismus“ werden konnte. Wir erkennendie Ursprünge heutiger Vorurteile. Jetzt nehmen Performance-Künstlerinnenauch diese Vergangenheit in Besitz und dekonstruieren das kulturelle Erbe. Mandenke nur an Coco Fusco, die sich selbst in einem Käfig ausstellt, oder an KaraWalker, die in ihrem Werk Stereotype über den schwarzen Körper erforscht. DieBody-Art-Künstlerin Orlan lässt sich 2005 zu einer Gemäldeserie von GeorgeCatlins Indianerbildern inspirieren. Mit Happenings, vor allem in Tiergärten, wirdgegen die früher hier veranstalteten Menschenschauen protestiert. Der Protestrichtet sich dabei auch gegen aktuelle Formen solcher Schaustellungen, wie das„Afrikanische Dorf“, das 1994 in einem französischen Safaripark errichtet wurde,das „Afrikanische Dorf“, das es 2005 im Augsburger Zoogab, oder die Baka-Pygmäen, die 2002 im belgischenFreizeitpark Rainforest ausgestellt wurden.

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Späte Rückführung der totenDarstellerVor etwa 15 Jahren begann man, die sterblichen Überreste von

Menschenschau-Darstellern in ihre Heimat rückzuführen. Die 5 Feuerländer,die 1882 in Zürich starben und an ihrer Ausstellungsstätte beerdigt waren,wurden 2010 nach Chile überführt. Leichenteile der „HottentottischenVenus“ lagerten im Naturhistorischen Museum in Paris und wurden 2002an Südafrika zurückgegeben. „El negro de Banyoles“ stand ausgestopft ineinem naturhistorischen Museum in Spanien und wurde 2000 nachBotswana gebracht. Suche und Rückführungen ermöglichen es, einegemeinsame Geschichte zu rekonstruieren, in der es keine Helden gibt.

Die Schaustellung des Wilden

Der ausgestopfte Körper des „Negers“ wie er in Banyoles ausgestellt war [Spanien], Fotografie aus dem Darder Museum (Barcelona), 1995.

Venus Hottentotten 2000 [U.S.A.], Fotografie von Lyle Ashton Harris und Renee Valerie Cox, 1995.

MenschenZoo in London [Großbritannien], Fotografie, 2008.

Königreich der Zwerge: Freizeitpark für Touristen [China],Fotogramm, 2010.

Schwarze Venus (Film von Abdellatif Kechiche),Titelblatt des Faltblatts MK2 [Frankreich], 2010.

Bamboula-Dorf [Nantes, Frankreich], Fotografie von Yves Forestier, 1994.

Die letzten „Wilden“ [Frankreich],Titelblatt von Sciences & Avenir,

n°90, 1992-1993.

Junge Frau und Ziege vor Streifen.Buren-Zirkus [Frankreich], Plakat der Vorstellung, 2004.

Coco Fusco. Happening-Paar im Käfig, Fotografie, 2010.

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STIFTUNG LILIAN THURAM: BILDUNG GEGEN RASSISMUS

Wir müssen den einfachen Gedanken akzeptieren, dass Hautfarbe, Religion und Geschlecht nichts über die körperlichen oder geistigen

Fähigkeiten eines Menschen aussagen, nichts über seine Vorlieben und Abneigungen.

Lilian Thuram (2008)

ilian Thuram, Fußball-Star und Rekordnationalspieler der französischenNationalmannschaft, gründete 2008 die Stiftung „Éducation contre leracisme“ [Bildung gegen Rassismus] und ist seither ihr Vorsitzender.Die Arbeit der Stiftung basiert auf dem Gedanken, dass man nicht alsRassist geboren wird, sondern zu einem gemacht wird. Die Stiftung will

zeigen, dass Rassismus vor allem ein politisches und intellektuelles Konstruktist. Wir müssen begreifen, dass wir uns aus historischen Gründen vor allem alsSchwarze oder Weiße sehen, als Afrikaner oder Asiaten, usw. Um unsere Vorurteileaufzulösen, müssen wir diese kulturelle Prägung hinterfragen. Genau dies istdas Ziel der Ausstellung über „Menschenzoos“. Forschungen und Reflexionenim Bereich der Soziologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft und Genetikermöglichen uns, unsere Klischeevorstellungen über Bord zu werfen, unserevorgefassten Meinungen zu überwinden. Wir alle sind verschieden und einzigartig,ganz unabhängig von unserer Hautfarbe und unserem Geschlecht. Die Stiftungwill diesen Erkenntnisprozess durch pädagogische Materialien, Vorträge,Ausstellungen und Publikationen fördern und verbreiten. Anti-rassistische Wertesollen den Jugendlichen in Elternhaus, Schule und Sport eingeprägt werden. InFortführung dieser Aktivitäten nahm die Stiftung eine Kooperation mit demPariser Musée du quai Branly und mit der Forschungsgruppe ACHAC auf, umein Konzept für die Ausstellung „Die Erfindung des Wilden“ zu entwickeln.

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Die Ausstellung „DieErfindung des Wilden“(2011-2012)Die Ausstellung „Die Erfindung des Wilden“fand von November 2011 bis Juni 2012 in demPariser Musée du quai Branly statt und wurdevon 265.000 Menschen besucht. Lilian Thuram,der Kurator der Ausstellung, will damit rassistischeMechanismen sichtbar machen. Die Geschichtedes Rassismus ist Teil unseres gemeinsamen Erbes,doch ist sie noch zu wenig bekannt. Deshalb war esso wichtig, eine solche Ausstellung in einem großenfranzösischen Museum zu organisieren.

”Wir müssen die Geschichte sorgfältig analysieren,

damit wir begreifen, wie sich im Laufe der Zeit verschiedene Rassismen überlagert haben,

deren Auswirkungen wir heute spüren. Pascal Blanchard, www.thuram.org (2010)

22Die Schaustellung des Wilden

Exhibitions. L’invention du sauvage [Guillermo AntonioFarini mit seinen Earthmen [London], Studiofotografie, 1884],

Plakat der Ausstellung im Pariser musée du quai Branly, 2011.

Nelson Mandela und Lilian Thuram anlässlich eines Fußballspiels Frankreichs in Südafrika, Fotografie von De Martignac, 2000.

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Meine schwarzen Sterne. Von Lucy an BarackObama, Umschlag des Buches erschienen im

Verlag Éditions du Seuil, 2011 (Erstauflage 2010).

„Der junge Wilde aus Saint-Ouen“[Frankreich], Gravur gezeichnet H. Meyer

in Le petit Journal, 1898 (November).

Anfang der Ausstellung Exhibitions. L’invention du sauvage im Parisermusée du quai Branly [Frankreich], Fotografie, 2011.

Die verschiedenen Ausgaben: Zoos humains et exhibitions coloniales (La Découverte, 2011) ;Zoo umani (Ombre Corte, 2004); MenschenZoos (Les Éditions du Crieur Public, 2012);

Human Zoos (Liverpool University Press, 2008); Human Zoos (Actes Sud/musée du quai Branly, 2011)

Andenken an die Dahomay-Karawane, HäuptlingTom Brown [Deutschland], Postkarte, 1902.

Wilder. Isst das brennende Werg, lebende Kaninchen, Zigarrenenden[Frankreich], Postkarte, 1895.

©musée du quai Branly, Paris/Sam

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