Mit Barbara Yelin ist erstmals eine Comiczeichnerin in den ... · 16 Kultur. Donnerstag, 13....

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Andrina Wanner Der Blick aus dem Fenster – Fachwerkhäu- ser, Bäume, das helle Blau des Himmels – Barbara Yelin hält ihn fest, mit schnellen Strichen und leuchtenden Aquarellfarben. «Zeichnen ist forschen», sagt die Münchne- rin, «wenn ich etwas zeichne, schaue ich es mir genau an und denke darüber nach, be- vor ich es auf dem Papier nachvollziehe.» Und das gilt nicht nur für jene Dinge, wel- che direkt vor ihr liegen. Ihre letzten bei- den Publikationen behandeln historische Themen, die viel Recherche erforderten. Der dreihundert Seiten starke Comic-Ro- man «Irmina» (2014) etwa erzählt die Ge- schichte einer jungen Frau am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, die sich von einer freiheitsliebenden Person in eine Mitläu- ferin verwandelt. Inspiration und Quelle war Yelins eigene Grossmutter: «Das The- ma hat mich enorm beschäftigt. Das Buch baut auf biografischen Puzzleteilen auf, weshalb ich auch ein persönliches Interes- se an der Geschichte und historisch sehr genau gearbeitet habe.» Drei Jahre lang zeichnete Barbara Yelin an dem Werk. Es sei sehr zeitintensiv, ein solches Projekt zu vollenden, erst recht, wenn man es gut machen wolle: «Dazu braucht es Hingabe, Leidenschaft und so viel Unterstützung, wie man kriegen kann.» Eigenschaften, die in der Comic- szene generell gefragt seien: «Da ist viel Idealismus am Werk, sowohl bei den Zeichnern als auch bei den Verlegern.» Der Bereich habe sich in den letzten Jah- ren zwar geöffnet, sei aber noch längst kein Selbstläufer. «Niemand engagiert sich aus rein kommerziellem Interesse. Das macht die Szene so persönlich.» Ihr erstes Buch veröffentlichte Barbara Yelin 2004 in einem französischen Verlag. War es in Frankreich, der Wiege des Co- mics, einfacher für die Newcomerin? Nicht unbedingt, meint sie: «Für diesen kleinen Verlag war es ein Risiko – meine Anfängerbücher haben sich nicht ver- kauft wie warme Semmeln.» In Deutsch- land hätte sie damals allerdings nieman- den gefunden, der ihre Bücher produziert hätte. Dass sie heute von ihren Comics ganz gut leben könne, sei nicht selbstver- ständlich: «Ich habe lange gebraucht und musste mich zehn Jahre lang wirklich da- hinterklemmen.» Das Geheimnis des Comics Lange war die Comicwelt männerdomi- niert – das habe sich erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren geändert, sagt Barbara Yelin. Sie selber engagiert sich in der Künstlerinnengruppe «Spring», die jährlich ein Magazin mit Illustrationen und Comics herausgibt. «Es war und ist ein wichtiges Projekt für den gegenseiti- gen Austausch, das selbstständige Zeich- nen und Verlegen – man schafft sich so eine Basis und muss nicht darauf warten, bis ein Verleger vorbeikommt.» Barbara Yelin hat das Glück, in der Aus- bildung zur Illustratorin eine sehr unter- stützende Professorin gehabt zu haben, ausserdem komme sie aus einem künstle- risch geprägten Elternhaus: «Ich habe nie danach gefragt, ob das Zeichnen ein ernst- hafter, echter Beruf sein könnte, das war schon früh selbstverständlich.» Es sei na- türlich super, wenn man nicht noch zu- sätzlich um Anerkennung kämpfen müs- se. Das mache die aktuelle Künstlergene- ration vielleicht aus: «Man muss sich nicht mehr unbedingt erklären. Wir le- ben in einer Zeit, in der sich vieles entwi- ckelt und vieles möglich ist.» Dass es so viele Arten von Comics gibt, eben auch für Erwachsene, experimentel- le und künstlerisch anspruchsvolle Ge- schichten, hat Barbara Yelin erst während ihrer Studienzeit mitgekriegt. Klar, sie habe immer gern gezeichnet und natür- lich auch Comics gelesen – wie wohl jedes Kind: «Aber erst an der Hochschule habe ich Stück für Stück verstanden, dass sich durch eine Aneinanderreihung von Bil- dern eine Geschichte ergeben kann.» Ihre erste Veröffentlichung war eine Märchen- geschichte, keine für Kinder allerdings, sondern eine ziemlich düstere, ohne Wor- te. Dann kam der Text dazu und machte Mit Barbara Yelin ist erstmals eine Comiczeichnerin in den Chretzeturm gezogen «Zeichnen ist forschen» Mit Papier, Stiften und Aquarellfarben entwirft die Münchnerin Barbara Yelin fesselnde Bilderwelten. Ihre graphic novels gehören einem Genre an, das sich langsam, aber sicher aus seinem Nischendasein befreit. Neuer Ort, neue Ideen: Barbara Yelin entdeckt Stein am Rhein zeichnerisch. Fotos: Peter Pfister Schaffhauser az, 13.10.2016

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16 Kultur Donnerstag, 13. Oktober 2016

Andrina Wanner

Der Blick aus dem Fenster – Fachwerkhäu-ser, Bäume, das helle Blau des Himmels – Barbara Yelin hält ihn fest, mit schnellen Strichen und leuchtenden Aquarellfarben. «Zeichnen ist forschen», sagt die Münchne-rin, «wenn ich etwas zeichne, schaue ich es mir genau an und denke darüber nach, be-vor ich es auf dem Papier nachvollziehe.» Und das gilt nicht nur für jene Dinge, wel-che direkt vor ihr liegen. Ihre letzten bei-den Publikationen behandeln historische Themen, die viel Recherche erforderten. Der dreihundert Seiten starke Comic-Ro-man «Irmina» (2014) etwa erzählt die Ge-schichte einer jungen Frau am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, die sich von einer freiheitsliebenden Person in eine Mitläu-ferin verwandelt. Inspiration und Quelle war Yelins eigene Grossmutter: «Das The-ma hat mich enorm beschäftigt. Das Buch baut auf biografischen Puzzleteilen auf, weshalb ich auch ein persönliches Interes-se an der Geschichte und historisch sehr genau gearbeitet habe.»

Drei Jahre lang zeichnete Barbara Yelin an dem Werk. Es sei sehr zeitintensiv, ein solches Projekt zu vollenden, erst recht, wenn man es gut machen wolle: «Dazu braucht es Hingabe, Leidenschaft und so viel Unterstützung, wie man kriegen kann.» Eigenschaften, die in der Comic-szene generell gefragt seien: «Da ist viel Idealismus am Werk, sowohl bei den Zeichnern als auch bei den Verlegern.» Der Bereich habe sich in den letzten Jah-ren zwar geöffnet, sei aber noch längst kein Selbstläufer. «Niemand engagiert sich aus rein kommerziellem Interesse. Das macht die Szene so persönlich.»

Ihr erstes Buch veröffentlichte Barbara Yelin 2004 in einem französischen Verlag. War es in Frankreich, der Wiege des Co-mics, einfacher für die Newcomerin? Nicht unbedingt, meint sie: «Für diesen kleinen Verlag war es ein Risiko – meine Anfängerbücher haben sich nicht ver-kauft wie warme Semmeln.» In Deutsch-land hätte sie damals allerdings nieman-

den gefunden, der ihre Bücher produziert hätte. Dass sie heute von ihren Comics ganz gut leben könne, sei nicht selbstver-ständlich: «Ich habe lange gebraucht und musste mich zehn Jahre lang wirklich da-hinterklemmen.»

Das Geheimnis des ComicsLange war die Comicwelt männerdomi-niert – das habe sich erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren geändert, sagt Barbara Yelin. Sie selber engagiert sich in der Künstlerinnengruppe «Spring», die jährlich ein Magazin mit Illustrationen und Comics herausgibt. «Es war und ist ein wichtiges Projekt für den gegenseiti-gen Austausch, das selbstständige Zeich-nen und Verlegen – man schafft sich so eine Basis und muss nicht darauf warten, bis ein Verleger vorbeikommt.»

Barbara Yelin hat das Glück, in der Aus-bildung zur Illustratorin eine sehr unter-stützende Professorin gehabt zu haben, ausserdem komme sie aus einem künstle-risch geprägten Elternhaus: «Ich habe nie danach gefragt, ob das Zeichnen ein ernst-hafter, echter Beruf sein könnte, das war schon früh selbstverständlich.» Es sei na-türlich super, wenn man nicht noch zu-sätzlich um Anerkennung kämpfen müs-se. Das mache die aktuelle Künstlergene-ration vielleicht aus: «Man muss sich nicht mehr unbedingt erklären. Wir le-ben in einer Zeit, in der sich vieles entwi-ckelt und vieles möglich ist.»

Dass es so viele Arten von Comics gibt, eben auch für Erwachsene, experimentel-le und künstlerisch anspruchsvolle Ge-schichten, hat Barbara Yelin erst während ihrer Studienzeit mitgekriegt. Klar, sie habe immer gern gezeichnet und natür-lich auch Comics gelesen – wie wohl jedes Kind: «Aber erst an der Hochschule habe ich Stück für Stück verstanden, dass sich durch eine Aneinanderreihung von Bil-dern eine Geschichte ergeben kann.» Ihre erste Veröffentlichung war eine Märchen-geschichte, keine für Kinder allerdings, sondern eine ziemlich düstere, ohne Wor-te. Dann kam der Text dazu und machte

Mit Barbara Yelin ist erstmals eine Comiczeichnerin in den Chretzeturm gezogen

«Zeichnen ist forschen»Mit Papier, Stiften und Aquarellfarben entwirft die Münchnerin Barbara Yelin fesselnde Bilderwelten. Ihre

graphic novels gehören einem Genre an, das sich langsam, aber sicher aus seinem Nischendasein befreit.

Neuer Ort, neue Ideen: Barbara Yelin entdeckt Stein am Rhein zeichnerisch. Fotos: Peter Pfister

Schaffhauser az, 13.10.2016

Kultur 17Donnerstag, 13. Oktober 2016

die Dinge komplexer: «Die Narration er-gibt zusammen mit der Bildsequenz wahn-sinnig viele Möglichkeiten, und diese ent-decke ich von Buch zu Buch neu – sie sind fast endlos.» Die Verbindung von Text und Bild, die sich nicht wiederholen sollten, sei eines der Geheimnisse des Comics, sagt Barbara Yelin: «In diesen Kombinationen kann total viel Spannung liegen.»

Mitläufer und MörderinnenYelins jüngstes Buch porträtiert die israeli-sche Schauspielerin Channa Maron (1923–2014), die aus dem Deutschland der Dreis-sigerjahre emigriert war. Ihre Geschich-te ist die einer starken, positiven Persön-lichkeit: «Ich bin froh, dass ich die Farben wieder neu für mich entdeckt habe», sagt Barbara Yelin, «denn diese Arbeit brauch-te Farbe – die Frau hatte so viel Power.» Frauenfiguren finden sich häufig in Yelins Werk. Ist das der thematische Bereich, in dem sie sich bewegt? Unbewusst, sagt sie, das sei bei jedem Buch wieder anders und zeige sich oft erst im Nachhinein.

Vor allem ambivalente Figuren interes-sierten sie: Irmina, die Mitläuferin, Gesche Gottfried, die Giftmörderin («Gift» 2010). Es seien konfliktreiche Szenarien, in deren Entwicklung sie selber etwas herauszufin-den versuche und die sie antrieben – Fra-gen, die sie nicht schon im Vorfeld gelöst habe. «Mich interessieren die Graustufen, die Zwischentöne, sowohl beim Zeichnen als auch inhaltlich.» Ihr Konzept sei ja ei-gentlich simpel – sie erzähle in Bildern.

Das Nichtgesagte könne man so gut aus-drücken. Ausserdem sei ihre Arbeit eine handwerkliche: «Meine Zeichnungen kom-munizieren letztendlich direkt mit dem Betrachter – das finde ich sehr schön.»

Schwierige Themen forderten sie her-aus, sie lasse sich aber nicht darauf festle-gen. Denn das Berufsbild einer Illustrato-rin und Comiczeichnerin hat mehr zu bie-ten: Barbara Yelin zeichnet gerne humor-volle Comicstrips, ausserdem Tagebücher, wenn sie unterwegs ist. Zudem nutzt sie die Form des Webcomics als neue und tol-le Art, ihre Kunst zu verbreiten. Dazu kommen Aufträge von Magazinen oder Zeitungen, Workshops und Lesereisen mit den eigenen Arbeiten: «Ungefähr daraus ergibt sich mein Berufsbild und auch mein Einkommen.»

Am Anfang war das BildIn der breiten Öffentlichkeit ist der Comic-roman – als graphic novel – noch nicht wirk-lich angekommen: «Er ist weiterhin ein Nischenmedium.» In den Feuilletons der gros sen Zeitungen werde die Form des «an-spruchsvollen» Comics als modernes Me-dium allerdings mehr und mehr gemocht – obwohl Yelin diese Bezeichnung eigent-lich vermeiden will: «Ich möchte den klas-sischen Comic durch solche Abstufungennicht entwerten, denn dieser hat genau-so seinen Platz wie die komplexeren Ge-schichten, wenn man sie so nennen mag.»

Der Comic als modernes Medium – was macht ihn aus? Es sei wohl eine andere Art

der Erzählung, vermutet Barbara Yelin, In-formationen und Gefühle würden anders transportiert. Bilder verfügten über ganz andere Möglichkeiten – sie seien nicht bes-ser oder schlechter, sondern vor allem sehr reichhaltig. Ausserdem hätten sie die Fä-higkeit, Sprachbarrieren zu überwinden. Sie ergänzt: «Wenn man so will, ist der Co-mic gleichermassen modern wie auch to-tal ursprünglich – die ägyptische Schrift war ja in dem Sinne auch ein Comic, und die Schrift selbst ist aus Bildern entstan-den.» Aber eigentlich fallen Comics ein we-nig aus der Zeit, findet die Künstlerin: «Wie lange man ein Bild anschaut, obliegt ganz dem Leser oder der Leserin. Man be-stimmt die Lesegeschwindigkeit komplett selber, das gefällt mir sehr.»

Neue Kunstformen im FokusGerade ist Barbara Yelin als beste deut-sche Comiczeichnerin mit dem «Max und Moritz»-Preis ausgezeichnet worden. Es sei der relevanteste Preis im deutschspra-chigen Raum und bedeute ihr viel. Trotz-dem: «Die Aufmerksamkeit der Leser, die nicht aus der Branche kommen, generiert sich eher über die Bücher selbst, weniger über Preise.» Er helfe ihr jedoch dabei, noch mehr als früher Themen und Projek-te wählen zu können und auch einen un-terstützenden Verlag dafür zu finden. Das schätze sie sehr an ihrem Beruf – sie kön-ne jedes Mal in ein neues Thema einstei-gen, und dies, je nach Länge des Projekts, so umfassend, wie sie möchte.

Die nächsten drei Monate verbringt Bar-bara Yelin nun in der Künstlerwohnung im Steiner Chretzeturm. Über das Stipen-dium freut sich die 39-Jährige sehr: «Es ist etwas Besonderes und wohl auch ein No-vum, denn es gibt nicht viele Stipendien, für die Comiczeichnerinnen infrage kom-men. Oft fallen wir aus dem Fokus.» Ein-geladen wurde sie von der Steiner Kultur-verantwortlichen Elisabeth Schraut, die ergänzt, dass das Stipendium eben offen sei und keinerlei Einschränkungen unter-liege. Es sei ihr wichtig, auch Kunstschaf-fende aus zeitgenössischen Gattungen, die noch nicht sehr präsent seien, einzuladen: «Geschichte und Gegenwart sind gleicher-massen wichtig hier in Stein am Rhein. Sie sollten in Einklang gebracht werden.»

Die neue Stipendiatin Barbara Yelin stellt sich und ihre Arbeit heute Donnerstag um 18 Uhr am Kulturapéro im Steiner Chretzeturm dem interes-sierten Publikum vor. Alle Infos finden sich auch auf der neuen Webseite www.chretzeturm.ch.Gerade erschienen ist Barbara Yelins Biografie über die Schauspielerin Channa Maron.