MITTENDRIN April-Mai-Juni-Ausgabe 2015

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Magazin für Kultur und Bildung in Prenzlauer Berg Kulturverein Prenzlauer Berg e.V. – April | Mai | Juni 2015 – kostenlose Ausgabe Versagen

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Magazin für Kultur und Bildung in Prenzlauer Berg

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Kulturverein Prenzlauer Berg e.V. – April | Mai | Juni 2015 – kostenlose Ausgabe

Versagen

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Thema »»Versagen««

Schön scheitern 3

Muss eigentlich immer alles glattgehen? 5Dem Scheitern auf der Spur: ein Gespräch

Shortstories

Fair kaufen 6Ein Herz für nachhaltige Mode

Jeder kann etwas Besonderes 8Mit myKomp@tenz die eigenen Stärken kennenlernen

DIE Mädchen und DIE Jungen gibt es nicht 9Geschlechterstereotype und Erziehung

Shaina Pali 10Eine Kurzgeschichte von Astrid Düerkop

Wort und Buch

Ne reine Weltidee!? 12Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt

Kolumne: Der springende Punkt 14...sagt: Die Letzten werden die Ersten sein

Erlesenes für Kinder 15Viele Bücher machen klücher

(Kiez-)Kultur

Von Schweinebäuchen und Mauerspechten 16Unterwegs mit Kiezspaziergänger Rolf Gänsrich

22 Jahre Kiezladen "Zusammenhalt" 18Nachbarschaftshilfe gestern und heute

Weiberheld!? Mit Tucholsky im Bett 19Die etwas andere Biographie im ZENTRUM danziger50

„Scheitern ist das Tabu der Moderne“, sagt Soziologe Richard Senett. Dabei kennt sie jeder, die Angst vor dem Versagen, vor Niederlagen und Misserfolgen. Trotzdem sprechen wir nicht gern über das, was schiefl äuft. Zu eng liegt "versagt haben" und "Versager sein" für viele beieinander. In dieser Ausgabe scheitern wir mit Vorsatz. Mehr noch: Wir zelebrieren das "schön(e) Scheitern" (S. 3 f.). Vermeintliche Versager bevölkern auch unsere Buchtipps für Kinder (S. 15): Was machen eigentlich Hexen mit Zauberspruchamnesie oder Prinzessinen, die Schweineställe Schloss und Krone vorziehen?

Und sonst? Wie immer stellen wir Ihnen Kiezschmankerl, interessante Orte und Menschen in und aus Prenzlauer Berg vor. Wie wäre es z. B. mit einer Kiezentdeckungstour per pedes? Aber Obacht, "Schweinebäuche und Mauerspechte" (S. 16 f.) auf halb sechs. Wir laden Sie ein, einen Abend mit dem Weiberhelden Tucholsky (S. 19) zu verbringen, dem wohl größten Lästermaul der Weimarer Rebublik. Last but not least machen wir einen Ausfl ug in Dornröschens Reich. Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen, böse Feen sind nicht zugegen, stattdessen zauberhafte Seconhand-Kleidung ("Fair kaufen", S. 6 f. ).

Viel Spaß beim Lesen!

Barbara Schwarz und Frauke Niemann(Redaktion MITTENDRIN – ein Magazin des Kulturverein Prenzlauer Berg)

Das Letzte

Wat? Wo steht denn ditte? 20Bilderrätsel

Impressum 20

IN MITTENDRIN

»Im Leben fängt man dann und wann»Im Leben fängt man dann und wannwieder mal von vorne an«wieder mal von vorne an«

((Wilhelm Busch Wilhelm Busch ))

EDITORIAL

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Versagen

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Schön scheiternSchön scheiternVersuch macht klug, weiß der Volksmund. Aber nehmen wir es wirklich so gelassen hin, wenn

wir große oder kleine Projekte in den Sand setzen, Dinge vermasseln, Fehler machen – kurzum

scheitern? Das Trial-and-Error-Prinzip hat sich bewährt, evolutionär gesehen. Woran liegt es also, dass das

Versagen einen schlechten Ruf hat? Ausgenommen natürlich das Versagen, das als Erfolg umgedeutet wird!

Es gibt sie, die Musterknaben des Scheiterns, die laut und vernehmbar über ihren Erfolg berichten, den sie der Er-fahrung des Scheiterns verdanken: Die jungdynamischen Unternehmer, die mit ihrem ersten Startup baden gegan-

gen sind, das zweite gegen die Wand gefahren und mit dem drit-ten Millionen verdient haben. Als Verlierer getarnte Gewinner haben Konjunktur und geben ihr Fail-Forward-Mantra in Zeitungen, Illustrierten, Funk und Fernsehen zum Besten. Sie machen das

Scheitern salonfähig und lassen andere freimütig an ihren Fehlern teilhaben, damit sie daraus lernen können. Das wirft Fragen auf: Gibt es gutes und schlechtes Scheitern? Verfl ixt, kann man jetzt auch schon am Scheitern scheitern? Ja, zumindest, wenn es sich so passgenau in die Logik unserer Leistungsgesellschaft einfügt. Scheitern ist gut, solange daraus Erfolg erwächst, solange wir es überwinden und dank der gewon-nenen Einsichten das Karriere-Treppchen weiter hinaufsteigen

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Versagen

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oder ökonomischen Nutzen daraus zie-hen können. Das andere, das existenzielle Scheitern, das sich nicht nachträglich in eine Erfolgsgeschichte verwandeln lässt, hat wenig mediale Fürsprecher.

Im Gegenteil, zappt man ziellos durch die TV-Programme, ist die Wahrscheinlichkeit groß, auf ein Format zu stoßen, das ver-meintlich gescheiterte Existenzen an den Pranger stellt – un-ter dem Hilfe- und Beistands-Deck-mäntelchen ver-steht sich. Wir se-hen überforderte "Teenie-Mütter" ("Wenn Kinder Kinder kriegen"), Menschen am fi nanziellen Ab-grund ("Raus aus den Schulden"), Abnehmwillige, die sich aufgrund ihres Gewichts im sozialen Ab-seits verorten ("The Biggest Lo-ser"), Alkoholiker, Essgestörte oder anderweitig Kri-s e n g e b e u t e l t e ("Hilf mir doch"), die psychologisch fragwürdige Le-benshilfe erhal-ten. Die Fernseh-macher lachen sich ins Fäust-chen. Ihre Rech-nung geht auf: hohe Einschaltquoten, minimaler Produktionsaufwand, schnell verdientes Geld.

Zuschauerhäme gibt es gratis obendrauf.Eine explosive Mischung aus Schaden-freude, Besserwisserei und Voyeurismus. Und, nicht zu vergessen, das gute Gefühl auf der Gewinnerseite zu stehen, ange-sichts all der "Verlierer", die uns hier vorge-führt werden. Hier liegt der sprichwörtli-

che Hund begraben: Beim Scheitern geht es immer auch um Moral, und wir empfi n-den – mal mehr, mal weniger heimlich – moralische Überlegenheit, wenn andere sich die Blöße geben.

Ähnliche Mechanismen sind am Werke, wenn Politiker oder andere öff entliche Personen sich in die Nes-seln setzen. Sie bekommen heute postwendend die Quittung in Form

eines ausgewachsenen Shitstorms (zu Deutsch: Empörungswelle), frei nach dem Motto, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Das wohl pro-minenteste Beispiel ist Herr von und zu Guttenberg, unser Adliger mit Promoti-onshintergrund, der in der wochenlang die heimischen Medien beherrschenden Fußnoten-Aff äre ohne Frage keine gute Figur gemacht und obendrein unterirdi-

sches Krisenma-nagement betrie-ben hat. Aber hat die sturmerprob-te oberfränki-sche Wettertanne (Guttenberg über Guttenberg) so-viel Gegenwind verdient?

Netzbashing ist anonym und kon-sequenzenlos und gerade deswe-gen mittlerweile Volkssport. Brau-chen wir solche Ventile, weil wir nie gelernt ha-ben, vernünftig mit Fehlern um-zugehen? Ist die Angst vor ihnen so groß, dass wir lieber schnell mit dem Finger auf andere zeigen, um ja nicht selbst ins Visier genom-men zu werden?

Nicht nur Unternehmen brauchen eine bessere Fehlerkultur – die Wirtschaft hat das Scheitern längst als Innovationsmotor entdeckt – wir selbst sollten hin und wie-der Innenschau betreiben und uns und anderen Fehler verzeihen, oder sie sogar begrüßen, als etwas, das uns weiterbringt. Denn sonst bleibt uns die schöne Seite des Scheiterns verborgen.

Text und Fotos: Frauke Niemann

»Immer versucht.

Immer gescheitert.

Einerlei. Wieder

versuchen. Wieder

scheitern.

Besser scheitern.« (Samuel Beckett)

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Muss eigentlich immer alles glattgehen?

MITTENDRIN: Scheitern als

Chance begreifen, das ist

oft leichter gesagt als ge-

tan. Meist wird die Zeit nach

einem Misserfolg als notwenige Lücke

beschrieben, in der Ideen und Kräfte

langsam wieder entstehen. Wie geht ihr

mit der Erfahrung des Scheiterns um?

Es stimmt schon, man lernt aus fal-schen Entscheidungen, aus Momen-ten in denen etwas nicht so läuft wie geplant, aus persönlichen und berufl i-chen Niederlagen. Störend ist aber das Schwarz-Weiß-Denken vieler: es wird nur zwischen Gewinnern oder Verlieren,

Funktionieren oder Versagen unterschie-den, Zwischenschritte zählen da nicht. Dabei kann man sich doch auch einfach mal über einen Minierfolg freuen. Das mo-tiviert auch im Alltag. Oft wird leider nur das Negative wahrgenommen, das Posi-tive ist so … normal. Und wenn es heißt, du schaff st das, schwingt dabei auch im-mer gleich mit, du musst das schaff en.

MITTENDRIN: Es gibt eine Motivations-

methode: die des positiven Tagebuchs.

Jeden Tag notiert man eine Sache, die

man besonders gut gemacht hat. Was

meint ihr, brauchen wir im Umkehr-

schluss mehr Versagens-Vorbilder, die

Foto: © Uwe-Jens Kahl / PIXELIO

off en über Fehler und Schwächen

sprechen, sozusagen ein Role Mo-

del des Scheiterns?

Ja, denn es ist die Angst vor Fehlern, die dafür verantwortlich ist, dass man immer den vertrauten Weg geht, den den man kennt, und dem Ungewohnten, dem Neuen ableh-nend gegenübersteht. Wir haben ja alle unsere Strickmuster im Kopf. Wenn off ener über das Scheitern gesprochen würde, wäre das ein positives Signal: Scheitern ist nor-mal. Es gehört zum Leben dazu.

MITTENDRIN: Spürt ihr denn so

etwas, wie eine gesellschaftliche

Erwartungshaltung?

Vielleicht eher einen latenten Druck. Im Vordergrund stehen eher die ei-genen Ansprüche, denen man zu genügen versucht. Eine innere Stimme, die sagt „falsch gemacht“, „völlig ungenügend“ „vollkommen überfl üssig“. Das kann etwas Kon-kretes sein, oder etwas schwer Fass-bares. Beispiel Familie: Die eigenen Kinder kommen in die Pubertät,

und man nimmt sich fest vor: Ich verhalte mich so, wie ich es mir in dieser Phase von meinen Eltern gewünscht hätte, mache es besser, bin verständnisvoller. Dann geht der Plan nicht auf und ganz schnell stellt sich das Gefühl ein: Ich habe es nicht ge-schaff t, ich bin ein Versager.

MITTENDRIN: Es ist also oft der Druck,

den man sich selbst macht, die eigene

zu hoch angesetzte Messlatte, die einen

straucheln lässt?

Ja. Es hilft, auch mal gelassener an Dinge heranzugehen. Das hat auch mit Umden-ken zu tun!

Schnell ausfi ndg gemacht: Schwarze Schafe.

Dem Scheitern auf der Spur: ein Gespräch

Gemeinsam mit dem Team und den jungen, alleinerziehenden Frauen aus der

Einrichtung "Betreutes Wohnen (NICHT)ALLEIN MIT KIND" in der Kollwitzstraße wollen wir dem

unbequemen Thema "Versagen" auf den Grund gehen.

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Shortstories

Fair kaufen!Ein Herz für nachhaltige Mode

Kleidung ist neben dem Schutz gegen Sonne, Kälte oder Nässe auch

ein Spiegel unserer Seele. Sie erzählt etwas über uns, über unsere

innere Verfassung, über unsere Befi ndlichkeit und manchmal ver-

rät sie mehr über uns, als uns selbst recht ist. Der eine bevorzugt das

Experimentieren und braucht jeden Tag die Herausforderung des

Kreativen, der andere liebt zerfl edderte Jeans und ausgewasche-

ne T-Shirts. Mit Kleidung kommunizieren wir, senden Signale.

Kleidung benötigt jeder, vom Baby bis zum Greis, männlich oder

weiblich. Aber muss es immer das schnelle Schnäppchen aus den

Modeketten im Einkaufszentrum oder der extravolle, virtuelle Ein-

kaufswagen im Online-Shop sein?

Eines steht jedenfalls fest: Wir shoppen wie von Sin-nen. Etwa 20 Kilogramm Textilien verbraucht ein durchschnittlicher Europäer im Jahr. Amerikaner brin-gen es sogar auf 35 Kilo pro Kopf jährlich, schreibt

Andreas Engelhardt in seinem Schwarzbuch Baumwolle.

Darf es ein bisschen mehr sein?

Möglichst viel und möglich günstig scheint die Devise der Modekonsumenten allerorten. Und, wen wundert es? Fa-shionfastfood gibt es an jeder Ecke, zu Preisen, die das Schnäppchenjägerherz höher schlagen lassen. Der Mode-Beu-tezug hat sich mittlerweile zum Event gemausert. Nicht nur, dass ganze Teenie-Horden Billigketten wie Primark zwecks gemeinsa-men Power-Dauershopping entern, nein, fi ndige Fashionistas prä-sentieren ihren Fang – das neue Blüschen zu fünf Euro, oder das kleine Schwarze für nen Zehner – heute in sogenannten "Haul-Videos". Damit erreichen sie auf einschlägigen Portalen im Netz schon mal über eine Million Klicks. Der Informationswert ist dabei fast durchweg überschaubar: „Das Top ist echt voll süß!“

Aber auch derjenige, der sein Konsumverhalten hinterfragt, kann sich meist nicht freimachen von der herrschenden Fast-Fashion-Mentalität. Kaufen, wegschmeißen, kaufen, wegschmeißen. Mo-dehäuser bringen heute pro Saison nicht mehr nur eine Kollektion heraus, sondern bis zu zwölf Kollektionen im Jahr. Auf diese Weise wird uns ständig suggeriert, wir müssten unseren Kleiderschrank mit neuen, gerade angesagten Teilen füllen, wollen wir nicht den textilen Anschluss verlieren und modisch hinterherhinken.

Dass dieser kollektive Kaufrausch nicht ohne Folgen für die Um-welt bleiben kann, dürfte jedem klar sein, zumal sich die Produk-tionsstandards der Billigketten oft nicht wesentlich von denen der vermeintlich hochwertigeren Labels unterscheiden. Damit unsere Kleidung möglichst wenig knittert, die Farbe nicht ausbleicht und während des Transports aus dem Herstellungsland nicht schim-melt, werden unzählige Chemikalien bei der Produktion eingesetzt, was unsere, aber vor allem die Gesundheit der nur unzureichend geschützten Arbeiter in den Produktionsländern – meist Bangla-desch, Indien oder China – gefährdet. Auch die Rohstoff e, die zur Herstellung benötigt werden, sind nicht unbegrenzt verfügbar. Das gilt für Erdöl, die Basis von Polyester, genauso wie für Baum-wolle, die in den nächsten Jahren immer knapper werden wird. Ihr Anbau verschlingt außerdem Unmengen an Wasser. Der Versuch, die Baumwollerträge mittels Kunstdünger und Insektizidzufuhr zu steigern, vergiftet Böden und Trinkwasser langfristig.

Auch vor Ort, quasi vor der Haustür, bekommen wir die Auswirkun-gen zu spüren, in Form von Müllbergen, auf denen viele aussortier-te Kleidungsstücke nach kurzer Tragezeit landen. Dabei haben die meisten von ihnen erst etwa 30 Prozent ihres textilen Lebens hinter sich und könnten auf die eine oder andere Weise weiterverwendet werden.

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7Text und Fotos: Frauke Niemann

Bewußter shoppen

Die wohl nachhaltigste und ressourcenschonendste Form, Mode zu konsumie-ren, ist es, Kleidung und Accessoires gebraucht zu erstehen. „Berührungsängs-te braucht hier niemand zu haben“, sagt Katrin Schell, Inhaberin des Second-Hand-Ladens Dornröschen in der Schönhauser Allee. „Das Sozialkaufhausimage, das manche vielleicht noch im Hinterkopf haben, haftet Second-Hand-Läden schon lange nicht mehr an. Im Ge-genteil, gerade in Berlin gibt es Second-Hand-Mode für jeden Geschmack und Geld-beutel, vom Retrofundstück bis hin zur aktuellen Desig-nerkollektion."

In Dornröschens Reich, einem liebevoll dekorierten Souterrain-Geschäft unweit der Allee Arcaden, gibt es neben den obligatorischen Deko-Röschen aktuelle Damen- und Kindermode zu fairen Preisen. „Viele Eltern kaufen nur Second-Hand ein, weil sie die Erfahrung

gemacht haben, dass gerade kleinere Kinder mit Ausschlägen und Neurodermitis auf Neuware reagieren. Hier können sie sicher sein, dass die Sachen bereits einige Male gewaschen worden sind und den Giftstoff en damit der Garaus gemacht wurde."

Bewußt leben, ohne zu verzichten: Wir haben die Wahl – und als Konsument auch Macht über den Markt. Wenn wir verstärkt auf Se-cond-Hand-Angebote, Kleider-Tauschbörsen, fairproduzierte und langlebige Mode setzen, können wir etwas bewirken!

Dornröschen SecondhandSchönhauser Allee 64

10437 Berlin

Telefon: 030 - 470 80 731

Öff nungszeiten

Montag - Freitag 12-19 Uhr

Samstag 12-16 Ihr

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Shortstories

Das Zitronenspiel

Im Zitronenspiel sucht sich jeder eine Zitrone und hat die Aufgabe, seine Frucht kennenzulernen und sich die Besonder-heiten einzuprägen. Dann kommen alle Zitronen unter ein Tuch. Jeder muss sei-ne ganz persönliche Zitrone ertasten und wiederfi nden. Der Gruppe kann er nun beschreiben, woran er sie erkannt hat.

Der Berufe-Stammbaum

Im Berufe-Stammbaum werden alle Beru-fe eingetragen, die in der Familie oder im Freundeskreis vorkommen. Damit soll die Vielfältigkeit verschiedener Berufs- und Lebenswege vor Augen geführt werden.

Die Madonna-Methode

In der "Madonna-Methode" von Sabine Asgodom ("So coache ich") sucht sich je-der eine Person aus, die für ihn Vorbild-charakter hat. Im nächsten Schritt werden die Merkmale und positiven Eigenschaf-ten aufgeschrieben, die jeder dieser Per-son zuschreibt. Es wird sich zeigen, dass sich auch Eigenschaften auf der Liste fi n-den, die schon in einem selbst stecken.

10 Stärken

Hier gilt es, zehn Stärken aufzuschreiben, die man sich selbst zuordnet. Dazu erhält jeder ca. 80 Stärkekärtchen. Auf jeder Kar-te ist eine Stärke aufgelistet, z.B. „Kompro-misse herbeiführen“, „andere tolerieren“, „gemeinsam eine Aufgabe lösen“, „off en für verschiedene Lösungen sein“, „künst-lerisch/schöpferisch tätig sein“ und vieles mehr. Dann geht es an die Verdichtung: Aus den zehn Stärken wählt man die acht wichtigsten und schließlich die fünf wich-tigsten aus.

MyKomp@tenz eignet sich nicht nur für Schüler und junge Arbeitssuchende, son-dern auch für Menschen am Scheideweg, Selbsthilfegruppen, Berufsrückkehrerin-nen oder Flüchtlingsarbeit.

Text: Barbara Schwarz

Jeder kann etwas BesonderesMit myKomp@tenz die eigenen Stärken kennenlernen

„Entdecke deine Stärken!“, lautet das

Credo des Lebens- und Berufsorientie-

rungsprojekt myKomp@tenz©. Ins Leben

gerufen hat es der Bund Deutscher Pfad-

fi nderinnen Rheinland-Pfalz zusammen

mit der Medienpädagogin Iris Brucker und

der Sozialpädagogin Stefani Sobek.

Das von der Aktion Mensch geförderte Projekt begleitet Schüler, junge Erwachsene und Menschen in besonderen Le-

benslagen auf dem Weg in ein selbstbe-stimmtes Leben und gibt Orientierungs-hilfen für die Zukunft.

MyKomp@tenz setzt auf das Bewusstma-chen der eigenen Fähigkeiten und Stär-ken und orientiert sich an den Interessen junger Menschen. Es gibt eine projektei-gene Online-Plattform, die wie ein sozi-ales Netzwerk organisiert ist, aber auch Offl ine-Gruppenarbeiten, die Arbeitsme-thoden zur Selbstbeobachtung an die Hand geben und spielerisch soziale, per-sonale und methodische Kompetenzen

vermitteln. Fast alle Spiele und Aufga-ben, die in Präsenzveranstaltungen ana-log durchgeführt werden, fi nden parallel auch online im virtuellen Raum statt.

Jede Gruppe, die an myKomp@tenz teil-nimmt, ist eine geschlossene Community mit Passwort. Man kann sich untereinan-der Nachrichten schreiben, und jeder ein-zelne führt für sich ein Logbuch mit tägli-chen Einträgen. Einzig der Gruppenleiter kann das Logbuch lesen und versieht es mit wertschätzenden Kommentaren. So wird Lernen durch positive Erfahrungen zum Vergnügen.

Die Teilnehmer werden im Laufe der Zeit immer sicherer in ihrer Selbsteinschät-zung. Nach der Projektteilnahme gehen sie mit gestärktem Selbstbewusstsein und ihrem ganz eigenen Fähigkeiten-Portfolio in der Hand nach Hause und sind für ver-schiedenste Lebens- und Alltagsentschei-dungen besser gerüstet.

Hier einige myKomp@tenz-Spiele und -Aufgaben, die sich auch hervorragend zum Selbstausprobieren eignen:

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Foto: © ami / PIXELIONur eine/r unter vielen?

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DIE Mädchen und DIE Jungen gibt es nicht

Im aktuellen Berliner Bildungspro-gramm heißt es: „Die Geschlechtszu-gehörigkeit eines Kindes wird sowohl biologisch, psychologisch als auch

sozial-kulturell unterschieden und hat einen Einfl uss auf das Selbstbild von Kin-dern.“ Geschlechterbewußte Erziehung ist bereits in der Kita ein großes Thema. Im Familienbereich der Kita Gleimstrolche (Haus 2) hatten Eltern und Erzieherinnnen im Rahmen einer Elternfortbildung die Möglichkeit, sich darüber zu informieren und auszutauschen. Der Workshop begann mit einem kurzen Quiz, dessen Ergebnisse* (s. rechts un-ten) die Teilnehmer mitunter verblüff te. Folgende Fragen galt es zu beantworten:

1) Bis wann brauchten Frauen in Deutsch-land die Erlaubnis zur Aufnahme einer Er-werbstätigkeit von ihrem Ehemann?

2) Aus der französischen Verfassung: „Jedwede Frau, die sich wie ein Mann zu kleiden wünscht, ist gehalten, sich bei der Polizeipräfektur zu melden und eine Bewilligung zu beantragen, die nur auf-grund eines Zertifi kats eines Beamten der Gesundheitsdienste ausgestellt werden kann.“ Wann wurde dieses Gesetz aufge-hoben?

3) Wie viele der 76 in Deutschland existie-renden Opernhäuser werden derzeit von Frauen geleitet?

4) Wie hoch ist der Frauenanteil im Deut-schen Bundestag?

5) 2,2 Millionen Kinder wachsen in Ein-Eltern-Haushalten auf. Wie viele Alleiner-ziehende sind Frauen (in Prozent)?

Anschließend gab Kitaleiterin Manuela Deubel einen Überblick über die Grund-sätze einer geschlechterbewussten Päda-gogik. Viele Fragen wurden beantwortet, neue Fragen in der späteren Diskussion aufgegriff en. Auch auf anderen Wegen näherte man sich dem Thema: Anhand zweier Kinderbilder, einmal auf blauem Papier, einmal auf rosa Papier gedruckt, sollten männliche und weibliche Eigen-schaften des Babygesichtes festgestellt werden. Obwohl beide Abbildungen identisch waren, wurde eine Geschlech-terdiff erenzierung festgemacht.

Eine praktische Übung bildete den Ab-schluss. Die Eltern mussten mit langen Röcken ihre Bewegungsfreiheit unter Be-weis stellen. Wie schnell kommt man da-mit auf den Stufenbarren an der Wand? Wie schnell kann man auf einem Liegen-wagen vorwärtsrollen? Schnell stand fest: Eltern machen es Mädchen nicht leicht, wenn sie im Kitaalltag nicht auf bequeme Kleidung achten. Die Jeans ist ein größe-rer Garant für Bewegungslust und Freude am Toben.

* 1) Juli 1977, 2) 2013, 3) Drei, 4) 36,5 Prozent, 5) 90 Prozent

Typisch Mädchen, typisch Junge. Mädchen mögen rosa Kleider und spielen gern mit Puppen. Jungs stehen auf Autos und die Farbe blau.

Mädchen sind brav, Jungs raufen gern. Mädchen sind sprachbegabt, Jungs können Mathe. Geschlechtsbezogene Verhaltensweisen und Erwar-

tungen sind bereits in den ersten Jahren von Bedeutung. Aber wie sozialisiert sich ein Mensch? Wie groß ist der Anteil der Familie, der Umwelt

oder der genetischen Veranlagung?

Geschlechterstereotype und Erziehung

Text und Foto: Barbara Schwarz

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Mit dem Foto in der Hand sitze ich in einem Zimmer auf der Bettkante. Gegenüber liegt eine junge Frau. Sie hat ihr

Kind nach der Geburt nicht akzeptiert und ist depressiv geworden. Die andere Frau im Bett neben mir nimmt an einem Metha-don-Programm teil. Sie ist schon länger hier als wir zwei Neuen.

Meine ersten Gedanken, als ich am Morgen langsam zu mir komme: Wel-ches Datum haben wir, wel-chen Wochen-tag und warum stehen Unmen-gen von Scha-len, Bechern und Vasen aus Ton auf den zusammenstehenden, spintartigen Klei-derschränken? Oben auf der zugestellten Fläche ist kaum noch Platz frei. Töpferwa-re dicht an dicht. Mir schwant Schlimmes.

Drei Tage sind aus meiner Erinnerung vollständig gelöscht. Dass ich in der Psy-chiatrie liege, ist mir sofort klar. Die Kera-miksammlung lässt nichts Gutes ahnen. Basteln, Töpfern, Therapie, Frühsport, Gruppenrunden, Einzeltherapie, Café-Be-

trieb. Anfang der 90er habe ich in der Kin-der- und Jugendpsychiatrie im Rahmen einer Studie mit magersüchtigen Mäd-chen gearbeitet. Sofort fühle ich mich zu-rückversetzt. Musikgruppe, Singen, Spie-len und Tönen nachspüren, Bilder malen

und erklären, wie man sich gerade fühlt. Moni kündigt an, dass heute Bastelgrup-pe sei. Sie ist schon über zwei Monate hier. Daher die Unmengen an Töpferware.

Jetzt gilt es, sich zu entscheiden: Perlen aufziehen, Körbe fl echten, Seidenmale-rei, Töpfern im Extra-Raum, mit Filz arbei-ten. Auch Mandalas können ausgemalt werden. „Das kann ja heiter werden!“, ich beschließe missmutig, Perlen für ein Arm-band aufzuziehen, wähle die rot-schwarz

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Variante. Und weil ich schnell fertig bin, gibt es noch eine zweite Mini-Kette. Dies-mal drei schwarze Perlen, drei rote, ge-folgt von einer durchsichtigen. Als das Armband fertig ist, sind die zwei Stunden endlich rum. Am Freitag steht wieder Be-

schäftigung auf dem Tagesplan. „Was machst du denn mit den vielen Töpfen, Bechern und Pöt-ten?“, frage ich Moni. Sie möchte in eine therapeu-tische Wohngrup-pe ziehen. „Na, die stelle ich dort in die Küche“, sagt sie.

Man erklärt mir, wie oft die Ob-jekte gebrannt werden, wie la-

siert wird. Na dann, wenn es sein muss. Ich brauche kein Geschirr, keine Trink-gefäße, keine Aschenbecher. Am besten fange ich mit einem Murmeltier an, für Christoph. Er wandert jetzt alleine, seit-dem das Laufen bei mir immer schlech-ter geht. Seine Touren werden immer extremer: MontBlanc, Tramontana, der europäische Fernwanderweg von Oberst-dorf, in südlicher Richtung über die Al-pen nach Bozen, weiter bis Meran. Spä-ter dann der Kilimandscharo in Tansania.

Shortstories

Shaina Pali

Im Juni 2005 wurde Shaina Pali geboren. Als sie älter wurde, liebte sie das Wasser und kletterte auf kleine Felsen und versuchte mit den Krähen

zu spielen. Shaina (hebräisch: die Schöne) Pali (thailändisch: die Hüterin) war als Baby in der Zeitung abgebildet. Christoph hatte mir den

Artikel mit dem Foto mitgebracht. Ich schnitt das Foto aus und trug es immer bei mir. Vier Jahre später bekam Shaina Pali eine Schwester, Ko

Raya. Sie verstarb mit zwei Jahren im Mai 2011. Da war Shaina Pali bereits über einen Monat tot. Morgens war sie gefunden worden. Sie lag

auf der Erde. Mich verbindet mit Shaina Pali weit mehr, als die tragische Biografi e der Elefanten des Berliner Zoos.

Eine Kurzgeschichte von Astrid Düerkop

Foto: © Jens Schöninger / PIXELIO

Page 11: MITTENDRIN April-Mai-Juni-Ausgabe 2015

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Ein Murmeltier ist das richtige. Auf Wanderungen sieht man sie ab und zu. Meins ist sehr klein, sechs Zentimeter hoch an sei-ner längsten Stelle. Es bekommt noch eine kleine Blume ins Maul, mit Blüte. Rosa wird sie später beim Bemalen. Trotz der Befürch-tung der Therapeutin, es würde etwas kaputtgehen, bleibt alles heil, sogar die fi ligrane Blume. Als nächstes forme ich einen Hund mit spitzem Maul und feinen klit-zekleinen Ohren. Meine Tonfi gu-ren haben alle Manteltaschenfor-mat. Bald werde ich gefragt, ob ich nicht einmal etwas anderes probieren, möchte. Warum im-mer Tiere? Nein, das will ich nicht. „Tiere passen am besten zu mir“, antworte ich, denke aber, bloß keine Töpfe. Davon stehen genug in allen Patientenzimmern.

Christophs Geburtstag rückt näher. Ich beschließe, meinen Elefanten zu töp-fern. Denn Shaina Pali ist mit der Zeit zu meinem Elefanten geworden. Sie sieht dem Foto ähnlich, keck blickte sie, gerade-heraus, unternehmungslustig. Ich wickele sie in feines Papier, es soll kein Makel an ihr sein. Der schlanke Rüssel wirkt zerbrech-lich, und zum Geburtstag soll es eine heile Überraschung geben. Christoph nimmt sie aus dem Krankenhaus mit nach Hause und stellte sie auf seinen Schreibtisch. Ich habe Ausgang an diesem Tag.

Wir besuchen die Goya-Ausstellung in der Alten Nationalgalerie. Der neue Haupt-bahnhof wird mit seinen riesigen Stahl-gerüsten immer größer und größer. Der Sommer 2005 ist ein heißer Sommer. Wir, die Patienten, führen Gespräche in der im Innenhof liegenden Gartenanlage oder spazieren durch die Krankenhausanlage. Vor dem Haus steht eine große schattige Blutbuche.

Für Christine mache ich eine Ausnahme und töpfere keine Tierfi gur. Sie leidet im-mer stärker unter der Sorge um ihr Baby, kann es aber noch immer nicht in den

Armen halten. Sie weint häufi g, hat Angst irgendwo alleine zu sein, sogar in die Ba-deräume gehen wir gemeinsam. Später machen wir Ausfl üge zu zweit. Wenn ich nicht laufen kann, schiebt sie meinen Roll-stuhl. Wir haben uns angefreundet.

Ich töpfere Ihr einen Harlekin – grö-ßer als der Hund, aber kleiner als der Elefant – mit bunter Mütze, lustig hoch-gereckten Armen, einem niedlichen Jäck-chen. Er sitzt auf den Knien, alles an ihm ist bunt. Er reckt seinen kleinen Mund dem Betrachter entgegen. Jetzt wollen alle etwas von mir, von Christine bekom-me ich einen Satz Buntstifte in einer schö-nen Dose geschenkt.

Ich male Abschiedsbilder. Ganz am Ende, bei einem der letzten Aufenthalte in der Werkstatt, mache ich einen Kompromiss. Für einen immer traurigen jungen Mann forme ich eine Art Schale, einen Aschen-becher. Aber auf dem Rand sitzt ein klei-ner Vogel. Mir tut der Vogel schon beim Herstellen leid. „Vielleicht kannst Du da-raus irgendwann eine Vogeltänke ma-chen“, so verabschiede ich mich.

Seit drei Jahren, immer wenn ich Christoph besuchte, fotografi ere ich Shaina Pali, mal auf dem Balkon, mal in meiner Hand. Schließlich schaute ich im

Internet nach. Wie sieht die Hüterin des Glücks heute aus? Sie ist seit über 3 Jah-ren tot.

Wir haben ein Abbild, Christoph und ich, und ein Foto des Abbildes und Shaina Palis Schatten, der deutlich auf einigen Fotos zu sehen ist. Am Abend schieße ich neue Bilder, der Schatten ist noch da, das Bild ein wenig unscharf. Ich stelle Shaina Pali einen Gefährten an die Seite, einen indischen Elefanten, ein Reisemitbringsel von Christoph.

Siehst du den Stern im fernsten Blau,

Der fl immernd fast erbleicht?

Sein Licht braucht eine Ewigkeit,

Bis es dein Aug erreicht!

Vielleicht vor tausend Jahre schon

Zu Asche stob der Stern;

Und doch steht dort sein milder Schein

Noch immer still und fern.

Dem Wesen solchen Scheines gleicht,

Der ist und doch nicht ist,

O Lieb, dein anmutvolles Sein,

Wenn du gestorben bist!

(Gottfried Keller)

Foto: Astrid Düerkop

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Buch

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rech

ung

Ne reine Weltidee!?Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt.

Wenn Dittsche (alias Olli Dittrich) nach ein paar Pils im Eppendorfer Imbiss so richtig in Fahrt kommt, trägt der Philosoph im Bademantel die eine oder andere "Weltidee" vor – stets selbst hin und weg von der Großartigkeit seiner alkoholschwange-ren geistigen Turnübungen. Auch Markus Gabriel, seines Zeichens Professor für Erkenntnistheorie an der Universität Bonn, betreibt Philosophie im Plauderton. In seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ rechnet er nicht nur mit der Welt ab, son-dern auch gleich mit einem Großteil der Philosophie-geschichte. Hybris, wir hören dir trapsen!

Markus Gabriels bescheidenes Ansinnen ist es, den Grundsatz einer neuen

Philosophie zu entwickeln, ausgehend von diesem Grundgedanken: „Es gibt

unseren Planeten, meine Träume, die Evolution, Toilettenspülungen, Haar-

ausfall, Hoff nungen, Elementarteilchen und sogar Einhörner auf dem Mond“,

es gibt alles, nur die Welt, die gibt es nicht. Voraussetzungsfrei lesbar soll sein Buch sein und

für jedermann verständlich: „Ich beschränke mich deswegen darauf, Ihnen einen (wie ich fi n-

de) recht originellen Weg durch das Labyrinth der vielleicht größten philosophischen Fragen

anzubieten: Woher kommen wir? Worin befi nden wir uns? Und was soll das Ganze eigent-

lich?“

Auf dem Weg durch das Labyrinth setzt Gabriel die Machete an und schlägt munter drauf

los. Die Theorien der Philosophen Spinoza, Descartes und Hegel (diese Reihe ließe sich fort-

Page 13: MITTENDRIN April-Mai-Juni-Ausgabe 2015

setzen) seien schlichtweg falsch, der Physiker Stephen W. Hawking

werde als Intellektueller weit überschätzt und der Konstruktivismus

sowie die Annahmen seines Gewährsmannes Kant, gegen die sich

Gabriels Ausführungen vor allem richten, seien absurd.

Glücklicherweise gibt es zwischen all den Irrlichtern einen, der

richtig liegt, Gabriel selbst. Und der spannt seine Leser nicht lan-

ge auf die Folter, sondern entwickelt vor ihrem geistigen Auge die

Grundzüge seines Programms, des NEUEN REALISMUS und gar-

niert es mit Beispielen aus der Unterhaltungskultur von How I Met

Your Mother über Breaking Bad, bis zur Muppet Show und Seinfeld.

Der NEUE REALISMUS besagt, dass der Mensch Dinge und Tatsa-

chen stets an sich erkenne, ohne dass ihm sein spezifi scher Sinnes-

apparat diese Erkenntnis vereitle. Hören wir jemanden an unsere

Tür klopfen, dann klopft tatsächlich jemand an unsere Tür. Gabriel

bezieht also eine Gegenposition zum Konstruktivismus, der davon

ausgeht, dass wir diese Aussage nicht treff en können, da wir nie-

mals sicher wissen, ob das, was wir hören, sehen oder fühlen wahr

ist oder uns nur so erscheint. Diese Annahme führe zu nichts, sagt

Gabriel. Und verhandelt diese (wie andere) philosophische Positi-

onen, die ihm als bloße Folie dienen, um vor dieser die Richtigkeit

und Bedeutsamkeit seiner eigenen Theorie darzulegen, in wenigen

Sätzen.

Letztlich bedient sich Gabriel eines Taschenspielertricks und setzt

an die Stelle des Begriff es "Welt" den Begriff "Sinnfelder", in die

sich die Welt bei ihm aufl öst. Alles, was existiert, erscheint in einem

Sinnfeld. Existenz umfasst bei Gabriel nicht nur physikalische und

damit untersuchbare Gegenstände, sondern auch wahrgenomme-

ne und erdachte Realitäten. „Es gibt Hexen“, ist also eine genauso

wahre Existenzaussage wie „es gibt keine Hexen“. Es kommt nur

darauf an, in welchem Sinnfeld etwas erscheint. Es gibt keine

Hexen in Düsseldorf, das ist richtig, dafür aber in Goethes Faust

oder in Blair Witch Project. Gabriel verneint letztlich nur einen Allzu-

sammenhang (die Welt), der alles zusammenhält. Der reißerische

Titel, unter dem er seine Thesen zusammenfasst, ist symptomatisch

für die Tonalität des ganzen Buchs.

Unterm Strich: Für den philosophieinteressierten Leser, mag Warum es die Welt

nicht gibt sicherlich einige Denkanregungen bereithalten. Wenn

man sich jedoch mit den von Markus Gabriel angesprochenen

philosophischen Problemen wirklich auseinandersetzen will, soll-

te man sich doch eher den Denkern zuwenden, die der Autor en

passant kritisiert. Nicht, weil diese die endgültigen Lösungen und

letztgültigen Wahrheiten anbieten, die Probleme aber in ihrer gan-

zen Tiefe analysieren.

Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt.Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt.

Verlag UllsteinVerlag Ullstein

272 Seiten, 18 Euro272 Seiten, 18 Euro

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Text: Frauke Niemann, Cover: © UIlstein Verlag

Page 14: MITTENDRIN April-Mai-Juni-Ausgabe 2015

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Wort und Buch

Hallöle, alle mal herhören …

… da bin ich wieder,

und ich muss mich jetzt erstmal ein bissel ausruhen! Puh, hab ich einen Muskelkater! Nee, nich vom Sporttreiben, hihihi: vom Um-räumen. Ihr wisst, meine liebe Leserschar, was Frühjahrsputz is, wa? Diesmal hab ichs damit wohl etwas übertrieben. Nich nur Fenster-putzen und Gardinenwaschen standen auf dem Plan, sondern ich wollte auch mal meine unzähligen Bücher (aus)sortieren. Frei nach der Devise: „Ein volles Bücherregal ist noch kein Indiz für einen in-telligenten Menschen.“ Is doch so, oder? Ein Buch lese ich einmal, vielleicht auch zweimal … dann steht es im Regal und sieht schön aus. Nun hab ich mir etliche von den ‚Schön-Herumstehern‘ geschnappt und sie in zwei Gruppen geteilt: eine hab ich in den Sozialladen in der Winsstraße gebracht. Kennt ihr den? Der gibt die Bücher weiter an bedürftige Menschen. Find ich richtig toll, was die da machen! Die andere Hälfte bringe ich in Deutschlands erstes Bücher-Hotel in Groß Breesen (Nähe von Güstrow). Das muss jeder mal gesehen haben! Tausende, zehntausende, hunderttausende Bücher – eine ganze Scheune voll!!! Bring ein Buch hin, wühle in den Beständen, und nimm ein anderes mit, kostenlos! Und übernachten kannst du dort auch, damit du ein besonders spannendes Buch gleich an Ort und Stelle auslesen kannst.

Aber ich schweife ab; eigentlich wollte ich Euch ganz etwas Ande-res erzählen. Ich also beim Frühjahrsputz. Dabei höre ich immer einige meiner Schallplatten. Ja, ich habe noch Schallplatten! (Das sind die großen runden mit dem kleinen Loch in der Mitte, beid-seitig abzuhören.) Diesmal lag Gerhard Schöne unter der Abtastna-del, bzw. eine seiner Platten. Bei der Gelegenheit muss ich mich als absoluter Gerhard-Schöne-Fan outen. Kaum ein Konzert von ihm lasse ich aus! Und Lieblingslieder hab ich auch, wie „Spar Deinen

Wein nicht auf für morgen“. Aber ganz vernarrt bin ich in seine Kinderlieder – Favorit: „Ein Popel, ein Popel, ein Popel, olala!“ oder „Jule wäscht sich nie“ oder „Kalle, Heiner, Peter“, bekannt? Nee? Der schöne Gerhard singt von drei Jungen, die etwas gehandicapt sind. Kalle bleibt beim Mannschaftenwählen immer bis zuletzt stehen, weil er etwas dicker is. Heiner wird oft gehänselt, weil er oft heult, und Peter wird wegen seiner Brille verspottet. Drei Verlierer? Ver-sager? In sehr gefühlvoller Weise erzählt der Sänger von anderen, guten Eigenschaften der Jungen: Peter kann Geige spielen und tut dies auf der Weihnachtsfeier; Heiner hat im letzten Winter eine Möwe vor dem Erfrieren gerettet; Kalle hat eine Fensterscheibe, die beim Fußballspielen zerbrach, zum Glaser gebracht. Hm, Fazit: kei-ner is rundum schlecht, hat auch gute Seiten. Keiner is nur Versa-ger! Und so endet das Lied:

„Kalle, Heiner, Peter, solche kennt wohl jeder:Kinder, die nicht stark, nicht schnell sind,

Kinder, die nicht ganz so hell sind.Doch lernst du sie richtig kennen, lässt du sie nicht stehen,

wirst du etwas ganz Besondres grad bei ihnen sehen,und ihr könnt auf Erden die besten Freunde werden.“

Gerade jetzt in der Zeit der vielen Weltmeisterschaften in den Win-tersportarten muss ich an viele Sportler denken. 50 Skispringer gehen auf die Schanze, jeder will gewinnen, aber einer kann es nur. Also ein Gewinner und 49 Verlierer? Eine Biathletin setzt einen Schuss neben die Scheibe – „Oh, jetzt hat sie wohl die Goldme-daille verspielt“, höre ich den Sportreporter sagen. Is die silberne denn nichts wert? Ein anderer Reporter fragt sie nach ihrem Lauf: „Schätzen Sie doch mal ein, was war denn heute so problematisch, dass es nicht zum Sieg gereicht hat?“ Die Sportlerin keucht noch und zwängt sich heraus: „Ja, ich weiß auch noch nich, was da war. Das muss ich erst mit meinem Trainer auswerten. Aber ich bin sehr froh über Silber. Ich bin das Rennen ruhig angegangen und habe mein Bestes gegeben.“ Recht hat sie! Und wenn zwei Bobs im Kampf um Plätze vier und fünf mit nur einer Hundertstelsekunde Unterschied ins Ziel kommen – wer hat versagt? In der heutigen Zeit is es sehr problematisch, einen anderen als den ersten Platz zu belegen. Das Ringen um die Siegertrophäe in jegli-cher Hinsicht hat z.T. ungesunde Ausmaße angenommen. Schnel-ler, höher, weiter – na klar, aber die Zweit-, Dritt-, Viert-, …platzier-ten haben sich doch auch angestrengt. Der „Sieger“ wird bejubelt, und schon ab Platz zwei fällt die Wertschätzung oft hinten runter. Ganz zu schweigen von den „ganz hinteren“ Plätzen: eine Schülerin hat im Diktat 16 Fehler. Klar, die schlechteste Zensur. Im nächsten Diktat – der Lehrer weiß, die Schülerin hat geübt – hat sie nur 13 Fehler. Leider is das immer noch keine bessere Zensur, aber eine bessere Leistung. Die anerkannt und gelobt werden will!

Zwei Jungen laufen um die Wette. Der eine kommt zuerst ins Ziel und jubelt: „Ich bin Sieger! Ich bin der Beste! Ich habe gewonnen!“ Ganz ruhig steht der andere mit einem Lächeln im Gesicht dane-ben. „Ich habe einen ehrenvollen zweiten Platz erreicht! Du bist nur vorletzter!“ Denkt mal drüber nach, meine geneigte Leserschar!

Ich spring dann mal wieder los …

KOLUMNEDer Springende Punkt

sagt: Die Letzten werden die Ersten sein... ..

„Warum kriegt der Zweite immer nur Schmäh?“

fragt der Springende Punkt vom KVPB. (pad)

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Erlesenes für Kinder Viele Bücher machen klücher…

Ein schräger Vogelvon Helga Bansch

Rabe Robert fällt auf im rabenschwarzen Einerlei. Er trägt bunte Kleider, trällert den ganzen Tag, erzählt Witze – kurzum: er fi ndet das Leben schön und hält damit nicht hinter den Schnabel, Verzeihung, hinter den Berg. Wäre da nur nicht die Rabensippe, die mit Robert so gar nichts anfangen kann. Mehr noch, sein Verhalten, das so gar nichts mit dem gemein hat, was sie für normal halten, regt die schwarzgefi ederten Trübsalbläser immer mehr auf: Sie lästern über seinen auff älligen Putz, halten sich die Ohren zu, um seinen Gesang und seine Witze nicht ertragen zu müssen. Schließlich sind sich alle einig: Der schräge Vogel muss weg! Robert fl iegt von dannen und macht schnell eine Entdeckung. Anderen Vögeln geht er mit seiner Art ganz und gar nicht auf die Nerven. Im Gegenteil mit sei-nem Gesang begeistert er die gesamte Vogelwelt. Robert ist glücklich. Und die anderen Raben? Die stellen fest, dass so ein Rabenleben ohne Robert ganz schön langweilig ist!

Helga Bansch: Ein schräger Vogel. Beltz & Gelberg, 12,50 Euro, derzeit nur gebraucht erhältlich. Altersempfehlung: ab 4 Jahren.

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Diese Bücher wurden auf die Probe gestellt, haben einen zweifachen Kinder-TÜV passiert. Seit einiger Zeit gibt es im Familienbereich der Kita

Kiezeulen und Gleimstrolche das „Lesen für Kinder“. Wir stellen Ihnen ausgewählte Schätze dieser Vorlesestunde vor.

Cover: © Oetinger VerlagCover: © Oetinger Verlag

Cover: © Beltz & Gelberg Cover: © Beltz & Gelberg

Irma hat so große Füßevon Ingrid Schubert

Irma hält es nicht mehr aus im Hexenwald, sie nimmt Reißaus. Zwei Dinge machen der kleinen Hexe zu schaff en. Erstens: Sie wird von den anderen Hexen wegen ihrer riesigen Füße ausgelacht. Zweitens: Sie ist extrem vergesslich und bei jedem falsch aufgesagten Zauberspruch wachsen ihre Füße noch ein kleines Stückchen mehr. Natürlich verfl iegt sich Schusselchen Irma und landet bei Lore im Badezimmer. Lore ist mehr als erstaunt über den kleinen Gast, der es sich schnarchend in ihrem Zahnputzbecher gemütlich gemacht. Die beiden klagen sich gegenseitig ihr Leid und Lore zeigt Irma ihre großen Ohren, die ihr den Namen „Lore Segelohre“ eingebracht haben. Lore bemalt Irmas Schuhe und ganz nebenbei überredet sie Irma, mal das Zähneputzen zu versuchen. Ein Vorschlag, den die 777-Jährige Hexe mehr als abwegig fi ndet, ist sie doch sehr stolz darauf, ihre gelben Beißerchen noch niemals nicht geputzt zu haben. Und siehe da, plötzlich werden Irmas Zähne weiß und mit einem Mal fallen ihr alle Zaubersprü-che wieder ein. Gemeinsam entdeckt das ungleiche Duo, dass Anderssein auch sehr viel Spaß machen kann. Denn wenn man eine Hexenfreundin hat, werden aus Segelohren ganz schnell Flügel.

Ingrid Schubert: Irma hat so große Füße. FISCHER Sauerländer, Ersterscheinung 1990, 15,90 Euro, Altersempfehlung: ab 3 Jahren.

Cover: © Fischer VerlagCover: © Fischer Verlag

Prinzessin Isabellavon Cornelia Funke

Prinzessin sein ist nicht schön, sondern überaus langweilig, fi ndet Isabella. Und die muss es wissen, schließlich ist sie eine waschechte Prinzessin mit einer güldenen Krone auf dem Kopf. Nie darf sie nach Lust und Laune lachen, auf Bäume klettern, sich ihre Brote selbst schmieren; eben genau das tun, wonach ihr gerade der Sinn steht. Ständig wird an ihr herumgezuppelt, die Löckchen gerichtet, die Nase geputzt. Es reicht! Kurzerhand schmeißt sie ihre verhasste Krone aus dem Fenster und brüllt: „Ich will keine Prinzessin mehr sein!“ Der König will seine Tochter zur Räson brin-gen, und lässt sie in die Küche schaff en, wo sie zum Kartoff elschälen und Zwiebelschneiden abkommandiert wird. Aber auch nach drei Tagen Küchenarbeit ist Isabellas Laune blendend, es gefällt ihr in der Küche. Also muss der König härtere Geschütze auff ahren und schickt sie in den Schweinestall. Dort fi ndet es Isabella so heimelig, dass sie sogar samt Lieblingspuppe dort übernachtet. Eklig fi nden das nur ihre beiden großen Schwestern. Langsam dämmert es dem König, dass er nachgeben muss: „Komm zurück ins Schloss, Töchterchen. Ich vermisse dich.“ Isabella tut ihm den Gefallen. Sie verschenkt all ihre unbequemen Kleider und schläft weiterhin im Schweinestall, wenn ihr danach ist. Und an manchen Tagen setzt sie sogar die Krone auf – ihrem Papa zuliebe.

Cornelia Funke: Prinzessin Isabella. Oetinger Verlag, Ersterscheinung 1997, 12 Euro, Altersempfehlung ab 4 Jahren.

Texte: Frauke Niemann

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Zu Gast im eigenen Bezirk. Ein gutes Gefühl für mich, die als Wahlberlinerin seit 26 Jahren in Berlin unterwegs ist und seit

19 Jahren im Prenzlauer Berg wohnt. Die rasanten Veränderungen eines Stadtvier-tels nimmt man im Prozess zwar wahr – jeden Protest gegen Schließung, jede Bebauung einer Baulücke – aber dennoch werden Veränderungen auch zum Alltag. So ist es absolut wohltuend, sich ein we-nig Zeit zu nehmen, um einige Straßen, Bauten, Alltäglichkeiten und Besonder-heiten durch die Brille des Stadtführers Rolf Gänsrich zu sehen.

An der Kreuzung Eberswalder Straße geht es meist sehr lebendig, fast hektisch zu. Wir starten an der „Meldestelle“, heute ein Modegeschäft, früher befand sich

hier die Meldestelle der Polizei. Der Blick nach links zeigt die Sparkasse, auch in früheren Zeiten gab es dort eine Bank. Und rechts im heutigen „Kochhaus“ wur-den auch früher schon Töpfe und Pfannen verkauft. Die Straßenführung an der Eberswalder scheint ein wenig chaotisch, zwei Straßenbahnen münden in die Kastanienalle, die U-Bahn fährt auf einer Hochtrasse. Drei große Straßen treff en sich und gehen sternförmig auseinander. Diese Straßen-führung entstand, weil zwei Bebauungspläne mit Parzel-lierung übereinander gelegt wurden.

Weiter geht es in die Schön-hauser Allee. Hier wurde Filmgeschichte geschrieben. Daran erinnert ein Kunst-werk im öff entlichen Raum: eine Filmrolle, die in die Gehwegpfl asterung einge-lassen wurde. Die Gebrüder Skladanowsky, Mitbegrün-der des Kinos, machten hier ihre ersten Filmaufnahmen und entwickelten ein Film-vorführgerät, mit dem sie am 1. November 1895 die erste öff entliche Filmpro-jektion Deutschlands prä-sentierten. Wir biegen ab in

die Kastanienallee und verweilen vorm Pratergarten, einem Gartenausschank, der ab 1852 von Familie Kalbo betrie-ben wurde. Er war Kneipe, Ausfl ugslokal, Varieté, Volkstheater, Ballsaal, Garten,

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Von Schweinebäuchen & MauerspechtenUnterwegs mit Kiezspaziergänger Rolf Gänsrich

Rolf Gänsrich stellt sich selbst als Ur-Berliner vor, geboren in Hohenschönhausen, jetzt wohnhaft in Prenzlauer Berg. Seit 1996 schreibt er für

die Prenzlberger Ansichten, eine Kiezzeitung, die es seit knapp einem Vierteljahrhundert gibt. Hier stellt er regelmäßig „Unbekannte Ecken in

Prenzlauer Berg“ vor, so auch der Titel seiner Kolumne. Ich begleitete ihn auf seiner Tour „Mauersprechte“. Sie führt über die Kastanienallee, die

Oderberger Straße, vorbei am Mauerpark und von dort auf die Bernauer Straße, an der Mauergedenkstätte entlang bis zum Nordbahnhof an

der Invalidenstraße.

(Kiez-)Kultur

Page 17: MITTENDRIN April-Mai-Juni-Ausgabe 2015

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Versammlungsort und ist auch heute noch ein beliebter Treff punkt für Touristen und Berliner. Über die belebte Oderber-ger Straße geht es weiter zum Mauerpark. Vorbei am Hirschhof, künstlerisch gestal-tete zusammengelegte Hinterhöfe an der Ecke Oderberger/Kastanienallee, ehemals ein Treff punkt der Untergrundkultur Ost-berlins, heute ein Kleinod für Spiel, Spaß und Erholung für alle. Mit 25 Metern Länge ist das Areal gerade groß genug, dass eine Feuerwehr-leiter geschwenkt werden kann. Nebenan sehen wir die älteste Feuerwache Berlins in der Oderberger Straße 25. Gegenüber befi ndet sich die „Kiezkantine“, mit günsti-gem Frühstücksangebot und Mittagstisch.

In der Oderberger Straße ist noch altes Berliner Straßen-pfl aster zu begutachten. Die großen Felsbrocken werden liebevoll Schweinebäuche genannt, weil ihre Ober-fl äche bei Regen so fettig wie eine Schweineschwarte wirken und ihre Unterseite konvex gewölbt ist, wie ein hängender Bauch. Wir gehen weiter Richtung Bernauer Straße und machen Halt in der Schönholzer Straße. Die Häuser hier befanden sich

auf Grenzgebiet. Eine Bronzetafel erinnert an den „Tunnel 29“, durch den im Sep-tember 1962 29 Menschen in den Westen gelangten.

Auf dem ehemaligen Mauerstreifen ist der Verlauf der Mauer mit Eisenstreifen markiert, auch die verschiedenen Berei-che der Grenzstreifen, z.B. Postenweg und Signalzaun sind gekennzeichnet. Der

ganze Weg von der Oderberger bis zum Nordbahnhof wirkt wie ein Gedenkgang. Runde Schilder auf dem Boden erinnern an Maueropfer, Originalteile der Mauer samt innerem Stahlgerüst sind zu sehen, ein Kellergeschoss wurde freigelegt, was bezeugt, wie nahe die Häuser an der Mauer standen.

Rolf Gänsrich schaff t es, den historischen Bogen der reichhaltigen Geschichte zu spannen, einige markante und oft verges-sene Details zu erwähnen, Jahreszahlen lebendig mit Details zu verknüpfen und viele Geschichten einzustreuen, die von Zeitzeugen überliefert wurden und nicht nachzulesen sind.

Das Berliner OriginalDas Berliner Original

KiezspaziergängeKiezspaziergängemit Rolf Gänsrichmit Rolf Gänsrich

Kontakt:Kontakt: [email protected] [email protected]

030 28 83 63 62030 28 83 63 620160 40 16 1110160 40 16 111

Weitere Infos unter: Weitere Infos unter: https://rolfgaensrich.wordpress.comhttps://rolfgaensrich.wordpress.com

Text und Fotos: Barbara Schwarz

Page 18: MITTENDRIN April-Mai-Juni-Ausgabe 2015

(Kiez-)Kultur

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Den Kiezladen "Zusammenhalt" in der Dunckerstraße 14

gibt es seit 22 Jahren. Im Oktober 1992 wurden die Räume

als Sitz der „Betroff enenvertretung für das Sanierungsgebiet

Helmholtzplatz“ angemietet und in Eigenleistung mit fi nanzieller

Unterstützung des Bezirksamtes ausgebaut.

Durch die extremen Veränderungen nach der Wende Anfang der neunziger Jahre war der Wohn- und Lebens-raum vieler Menschen rund um den Helmholtzplatz exis-tentiell bedroht. Deshalb verstand die Betroff enenver-

tretung ihre Arbeit von Anfang an nicht nur als "Bürgerbeteiligung im Sinne des Baugesetzbuches", sondern als "Hilfe zur Selbsthilfe" für die vielen Nachbarn, die im Kiezladen Unterstützung suchten. Die Anwohnern waren mit hohen Mietsteigerungen, neuen Haus-besitzern oder untätigen Hausverwaltungen konfrontiert. Den Bedrohungen des Lebensraumes wurde im Kiezladen mit der So-lidarität der Betroff enen begegnet. Zum wöchentlichen „Kieztreff “ am Dienstagabend kamen an manchen Abenden zwanzig Hilfesu-chende. Gemeinsam wurden Mieterversammlungen einberufen, ,"Runde Tische" abgehalten, vielfältige Aktionen durchgeführt und natürlich auch Hof- und Straßenfeste geplant und gefeiert. Hausei-gentümer, Wohnungsbaugesellschaft, Bezirksamt, Mieterberatung

und Betroff ene wurden miteinander ins Gespräch gebracht. Außerdem fanden viele Kunst- und Kul-turprojekte einen Arbeits- und Ausstellungsort im Kiezladen.

Der Kiezladen heute

Die Gentrifi zierung in Prenzlauer Berg geht wei-ter. Die ehrenamtliche Mieterberatung im Kiezla-den betreut eine ganze Reihe von Hausgemein-schaften und Mietern, die sich gegen überzogene Modernisierungsmaßnahmen und unbezahlbare Mietforderungen wehren. Mieterversammlungen im Kiezladen ermutigen die Nachbarn zum ge-meinschaftlichen Widerstand. Die wöchentliche Sozialberatung hilft unbürokratisch Menschen, die sich keinen Rechtsanwalt leisten können. Zur Kleiderkammer, die jeden Montag stattfi ndet, kom-men sehr viele Menschen, für die der Kiezladen auch ein Treff punkt ist, um Kaff ee zu trinken und

miteinander ins Gespräch zu kommen. Und es gibt noch viel mehr Angebote im Kiezladen: Zurzeit treff en sich hier der „Tauschring Prenzlauer Berg“, die Kabarettgruppe „Die Kreuz- und Querberger“, der (männliche) „Dunckerchor“ und der Frauenchor „Krassnajas“, ein politischer Lesekreis, der „Selbsthilfeverein Geringverdienen-der“, eine englischsprachige CoDA-Selbsthilfegruppe, eine Film-gruppe, die „Food-Saver“, eine Yogagruppe und eine Aikidogruppe.

Einen Einblick in das Gestern und Heute des Kiezladen gibt die ak-tuelle Ausstellung BLICK ZURÜCK NACH VORN:

BLICK ZURÜCK NACH VORN – Kiezladen Zusammenhalt in Bildern

Montag 10 -12 Uhr | 15 - 18 Uhr

Dienstag 17.30 - 19.30 Uhr

Mittwoch 15 - 18 Uhr

Donnerstag 18 - 20 Uhr

Freitag 15 -18 Uhr

Wer sich für den Erhalt der Kiezladenräume engagieren möchte, ist herzlich eingeladen zum „Kieztreff “, jeden ersten und dritten Diens-tag des Monats (19.30 - 21.00 Uhr).

22 Jahre Kiezladen "Zusammenhalt"Nachbarschaftshilfe gestern und heute

Text: Jens Oliva, Foto: privat

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Weiberheld?! Mit Tucholsky im BettDie etwas andere Biographie im ZENTRUM danziger50

Am 24. Und 29. April laden Heike Feist und Florian Stieh-ler ins ZENTRUM danziger50 ein auf eine Reise durch das Leben dieses großartigen Dichters und Frauenfl üsterers. Im steten Wechsel von Komik und Tragik rücken sie seine

wichtigsten Frauen ins Zentrum.

Mary Gerold – Tucholskys große Liebe und zweite Ehefrau – kommt zu Wort, wie auch seine Liebhaberinnen Else Weil, Lisa Matthias und andere. So entfaltet sich eine spannende, berüh-rende und zuweilen auch komische Lebens- und Liebesgeschich-te, die von seiner rastlosen Suche nach Erfüllung geprägt ist. Eine fulminante Reise durch das Liebesleben und Liebesleiden des Weiberhelden (?) Kurt Tucholsky!

Die etwas andere Biographie

Ein Glück für die Zuschauer: Heike Feist wandelt auf den Spu-ren mehrerer illustrer Dichter und Denker und nimmt in ihrer selbstkonzipierten Reihe „Biographien für die Bühne“ nicht nur Tucholsky künstlerisch aufs Korn. In „Schöner Scheitern mit Ringelnatz“ begibt sich Feist auf eine Achterbahnfahrt durch Abgründe und Einsamkeiten, Höhenfl üge und Lebenslust. Ende 2015 gibt es eine neue Biographie: Heike Feist feiert mit einem Stück über Hildergard von Bingen Premiere. Zudem ist die umtriebige Schauspielerin deutschlandweit mit einem Soloprogramm auf Tour und gibt als „Cavewoman“ praktische Tipps zur Haltung und Pfl ege eines beziehungstauglichen Partners.

Weiberheld?! – Mit Tucholsky im Bett

Im ZENTRUM danziger50

Danziger Straße 50, 10435 Berlin

Freitag, 24. April, 20 Uhr

Mittwoch, 29. April, 20 Uhr

Eintritt 17 Euro, ermäßigt 13 Euro

Ist er Ehemann? Oder Freund? Vielleicht Liebhaber? Gar Macho? Kurt Tucholsky, das wohl größte Lästermaul der Weimarer Republik, wird in

„Weiberheld? Mit Tucholsky im Bett“ aus der Perspektive der Frauen in Szene gesetzt. Viele davon hat er im Laufe seines Lebens in den Bann

gezogen, obwohl klein und dick und beileibe kein Schönling. Doch muss der Moment der Erfüllung auch für diesen Womanizer nur von kurzer

Dauer gewesen sein: „In der Ehe pfl egt gewöhnlich einer der Dumme zu sein. Nur wenn zwei Dumme heiraten – das kann mitunter gut gehen”,

meinte er selbst.

Text: Frauke Niemann, Barbara Schwarz, Foto © Urban Ruths

Page 20: MITTENDRIN April-Mai-Juni-Ausgabe 2015

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Bilderrätsel

Das Letzte

Wat? Wo steht denn ditte?

Ja, ganz recht, Sie sehen doppelt. Allerdings kein Lottchen, das sollte selbst bei

einem fl üchtigen Blick auf unser Rätselmotiv schnell klar sein.

Zwei Bronzemänner, ein junger Spund und ein älterer Herr, stehen zweisam einsam auf einem Sockel in einer kleinen Parkanlage im nördlichen Prenzlauer Berg. Sie schauen starr in verschiedene Richtungen. Ihre Ähnlichkeit können sie allerdings nicht verbergen,

so unbeteiligt sie auch dreinschauen mögen. Um noch wirrer zu werden und auch auf die Gefahr hin, Adam Riese zu verärgern, noch ein Hinweis: eins und eins macht in diesem speziellen Fall eins.

Wenn Sie zum selben Ergebnis kommen und wissen, wer sich hier mit wem einen Stein teilt und außerdem noch Standort und Schöpfer des gesuchten Kunstwerks benennen können, dann zögern Sie nicht, uns an Ihrem Wis-sen teilhaben zu lassen. Ihre Lösung senden Sie bitte bis zum 10. Mai an [email protected]. Unter allen Mitratern verlosen wir zwei Karten für die Feist-Produktion "Schöner Scheitern mit Ringelnatz" (Dienstag, 12. Mai, 20 Uhr, ZENTRUM danziger50). Heike Feist und Andreas Nickl entführen Sie in Ringelnatz´ Welt, eine Welt in der Scheitern noch Spaß macht!

Des Rätsels Lösung: In der letzten MITTENDRIN-Ausgabe haben wir die Skulpturen „Adam und Eva“ des Berliner Künstlers Rolf Biebl gesucht. Zu fi nden im Hof der Kulturbrauerei, direkt vor den Toren des Kesselhauses.

Herausgeber: Kulturverein Prenzlauer Berg e.V., Danziger Str. 50, 10435 Berlin | Redaktion: Barbara Schwarz, Frauke Niemann | ViSdP: Der Vorstand | Grundlayout:

Edmund Cekanavicius | Gestaltung: Frauke Niemann

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Die MITTENDRIN ist das kostenlose Kiezmagazin des Kulturverein Prenzlauer Berg e.V. Es erscheint alle zwei Monate in einer Aufl age von 2.000 Stück. Wir freuen uns über jede Wortmeldung – ob Alltägliches oder Kurioses, kleine oder größere Aufreger, Lob oder Kritik.

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Der Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe ist der 20. Juni 2015. Der Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe ist der 20. Juni 2015.

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Text und Foto: Frauke Niemann