Moderne Gesichtspunkte Beim Grenzseuchenschutz

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tt. NOVEMBER zg'" KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. I. JAHRGANG. Nr. 46 2291 Ausfall der sog, Intelligenzprfifung nach BINET-SIMoN einigen AufschluB geben, wenn auch vor ether schematischen Ver- wendung dieser Niethode mit ihrer Berechnung des ,,Intelli- genzquotienten" gewarnt werden muB. -- Zweitens: Ist der Schwachsinn Folge eines allgemeinen Darniederliegens der geistigen Leistungsf~higkeit oder eines:Ausfalls auf mehr umschriebenem Gebiet? Handelt es sich etwa um einen besonderen Defekt der Aufmerksamkeit oder des Ged~chtnisses, um fehlendes Lese- oder Rechen- verm6gen? Sind -- bet jungen Kindern! -- schon die primi- riven Instinkte, ohne die der Vorstellungserwerb unm6glich ist, defekt? Handelt es sich -- bet Jugendlichen -- um reine Urteilsschw/~che, Kritiklosigkeit? -- Drittens: Ist der Schwachsinn lediglich Folge der derek- ten geistigen und intellektuellen Fghigkeiten oder haben noch andere Faktoren zu dem von'uns Iestgestellten Zustands- bilde beigetragen? Hat das Kind'Sinnes-, etwa Geh6rdefekte? Ist Verwahrlosung mit im Spiele? Die Beantwortung solcher und /~hnlicher Fragen ist nicht einfach und erfordert mehr Zeit als eine eingehende k6rper- liche Untersuchung. Aber sie ist n6tig, wenn man heraus- bringen will, ob und wie dem Kind zu helfenist; abgesehen vom hypothyreotisehen und syphilitischen Schwachsinn und sp/~rlichen F/illen des Intelligenzdefektes bet der cerebralen Kinderlghmung ist die Abhilfe selbst nieht Sache des Arztes, sondern berufener Pgdagogen. DaB der Schwachsinn, wenn man yon psychologischer Seite her an ihn herantritt, ebenso sehr in Einzelformen und Einzeltypen sich aufl6st wie bei mehr somatisch-medizinischer Fragestellung und dab eigentlich erst yon hier aus das wahre Problem, die Intelligenzschw/iche selber zug/inglich wird, das zu zeigen, war Zweck dieses letzten Abschnittes. OFFENTLICHES GESUNDHEITSWESEN. MODERNE GESICHTSPUNKTE BEIM GRENZ- SEUCHENSCHUTZ. Von Dr. FREY, Direktor im Reichsgesundheitsamt. Der Weltkrieg hat dem deutschen Reiche durch die Ab- tretung ausgedehnter Landesteile im S/idwesten, Norden und Osten neue Grenzen gezogen, in den 6sflichen Nachbar- staaten abet Epidemien der verschiedensten tnfektionskrank- heiten entfacht, die unser um das Dasein ringende Vaterland noch ffir lange Jahre aufs schwerste bedrohen. Durch den Verlust fast s/tmtlicher Grenz~mter der deutsehen Arbeitervermittlungszentrale, der Auswandererkontrollstationen an den ehemaligen Grenziiberg/~ngen, groBeravon der Milit/irver- waltung erbauter Sanierungsanstalten, yon R~umen und Ein- richtungen zur Untersuchung derankommenden Reisenden auf den Eisenbahnstationen, yon mustergiiltigen Krankenhgusern, in denen Seuchenkranke und seuchenverdXchtige Personen abgeson- deft werden konnten, yon Desinfektionsanstalten und dgl., ist der frfiher geschlossene Ring der gesundheitlichen Grenziiberwachung vielfach durchbrochen, wenn nicht gar v611igvernichtet worden, zu- real die Polizeikr/ifte nicht hinreichen. An den neuen Grenzen bran- den die Wellen der Infektionskrankheiten; OstpreuBen, durch den Polnischen Korridor yore Staatsk6rper abgeschnitten, liegt wie eine Insel in diesem t~cMschen Meere. Es gilt der Vergnderung der Dinge Rechnung zu tragen und einen gesundheitlichen Grenzschutz yon neuem aufzubauen. Eine solche Neugestaltung muB sich den gegebenen Verh/Llt- nissen anpassen. Einmal hat sich, wie bereits erw/ihnt, die Seuchenlage in RuB- land gegen die Friedenszeit gewaltig verschlimmert. Mit den Volks- massen, die der Hunger aus ihrem Wohnsitze vertreibt, nehmen die Epidemien anscheinend unaufhaltsam ihren Weg nach dem Westen. Die zuverl/~ssigen Nachrichten, die die Hygienische Ab- teilung des V61kerbundes dem Reichsgesundheitsamt regelm~Big iibermittelt, aber auch die unmittelbar yon den Zentralgesundheits- ~imtern der betreffenden Staaten einlanfenden Mi%teilungen lassen eine ungeheure Ausdehnung yon FlecMieber, Rfic!dallfieber, Cholera, Pocken und anderen Seuchen in RuBland nnd~zum Tell aueh in.~deu 6stlichen Gebieten Polens erkennen und stellen lest, daB. auch schon andere Randstaateu des ehemaligen russischen Retches der fortw/ihrenden Einschleppungen aus dem Seuchenherde sich nur mit s Miihe erwehren, ja dab manche Krankheiten sich hieri~bereits eingenistet haben. ~Dabei weist das Schicksal der deutschen Volkswirtschaft gebieterisch gerade den Weg nach dem Osten hin. Schon jetzt wAchst der Reiseverkehr zu Land und zu Wasser, werden die Handelsbeziehungen, die alten dutch den Krieg versch/itteten StxaBen wieder 8ffnend, allm~hlich inniger. Die Zahl der Rfickwanderer und Flfichtlinge zeigt bisher keine Ab- nahme, und viele noch diirften den verderblichen oder ungewissen Aufenthalt i in jenen L~ndern mit dem in Deutschland ver- tauscheu wollen.~ Damit w/ichst abet die bereits bestehende groBe Gefahr~der Seucheneinschleppung, zumal die 6ffentliche Gesund- heitspflege in den neuen, im inneren Ausbau unfertigen Staats- gebilden noch nicht die erforderliche Festigung erfahren konnte, in~Ru[31and abet die trostlose Zerr/ittung',der gesamten Lebens- verh/iltnisse des u eine wirksame Bek/impfung der Epidemien ohne ausgedehnte fremde~Hilfe unm6glich macht. Zudem waren in allen diesen Gebieten, abgesehen yon den GroBst~dten, bis zum Kriege nut Ans/itze einer befriedigenden Regelung des Gesundheits- wesens vorhanden gewesen, da man die Voraussetzungen hierffir vielfach vernachl/tssigte. Andrerseits ist die Finanzkraft des deut- schen Retches infolge der Lasteu des Versailler Friedens derart gesunken, der Wert der deutschen NIarl: so gering geworden, dab groBe 2r nicht verfiigbar sind und fiir die bewilligten Summen nur verh/iltmism/~Big wenig sich besehaffen 1/iBt. Wir m/issen also auch bet der Umgestaltung des Seuchenschutzes an den Grenzen uns nach der Decke strecken und versuchen, mit selbst bescheidenen Aufwendungen das denkbar HSchste an Leistung zu erreichen. Auf der einen Seite steht somit die versch/irfte Bedrohung unserer, nach der tiefen Erschiitterung durch die Kriegs- und Nachkriegs- zeit gerade eben in ein labiles Gleichgewicht eingestellten Volks- gesundheit, auf der anderen der Mangel an Geld, daneben muB der Handelsentfaltung nach Osten hin jede denkbare Erleichterung gew~hrt werden, weil sie eine der Lebensbedingungen des deutschen Volkes darstellt. Die Aufgabe, dieser Lage gerecht zu werden, ist schwer, aber nicht unl6sbar. Allerdings sind alle sachlichen und per- s6nlichen Mittel straff anzuspannen, um das Ziel zu erreichen. Neuer Verfahren oder neuer gesetzlicher Unterlagen fiir eine Seuchenbek/impfung als derjenigen, fiber welche wir im Deutschen Reiche und i.n den L/~ndern schon heute verffigen, bedarf es nicht. Die Seuchengesetze haben sich lfi~gst be- w~hrt und sind auch den scharfen Proben gewachsen geblieben, die die Kriegszeit und die /iberstfirzte Demobilisation, die Riickkehr der deutschen Kriegsgefangenen und der Zuzug iiberaus zahlreieher deutschst/immiger Flfichtlinge und Rfick- wanderer und die Einwanderung groBer Scharen yon Fremd- st~mmigen aus verseuchten L/indern ihnen auferlegte. Die Bundesratsanweisung yon 19o 4 zur /3ek~mpfung des Fleck- /,iebers erfuhr im Jahre 192o eine den Kriegserfahrungen ent- sprechende grfindliche Umarbeitung, diejenige zur Bekgmp- lung der Oholera ist unter Ber/icksichtigung der ergangenen Ab~nderungen im Jahre 1921 neu herausgegeben worden. Die Anweisungen zur Bek/impfung ansteclc~nder Kranlch~iten im Eisenbahn- und im Postverkehr wurden im Reichsgesund- heitsamt einer Durchsicht und Verbesserung unterzogen. Die Entlausung zur Bek~mpfung yon Fleck- und R/ickfall- fieber, die Cholera- und Typhusschutzimpfung ist 1/ingst in den Wissensschatz der Medizinalbeamten fibergegangen ; die Pockenschutzimpfung brauchte bekanntlich ihre Wirksam- keit nicht erst noch zu beweisen. Die deutschen L~nder, ins- besondere PreuBen, haben ihr Riistzeug gegen die aus RuB- land und Polen drohenden Seuchen wieder instand gesetzt. Neue yon Reichswegen geschaffene Schutzvorrichtungen aber sind hinzugekommen, deren Verwertbarkeit vielgestaltig ist. Um den Gefahren der Einschleppung gemeingef~ihrlicher und anderer Infektionskrankheiten durch seuchenverd~chtige Menschen- massen wirksam zu begegnen, konnten mit~Vorteil die vielen Kriegs- gefangenenlager nutzbar gemacht werden. !,Die~iaus feindlicher Gefangenschaft zur/ickkehrenden deutschen-und-verbiindet ge- wesenen Soldaten wurden in Durchgangslagern saniert und gen/igend lange beobachtet, ehe sie zu ihren AngehSrigen zurfickkehreh durften.

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tt. NOVEMBER zg'" K L I N I S C H E W O C H E N S C H R I F T . I. J A H R G A N G . Nr. 46 2291

Ausfall der sog, Intelligenzprfifung nach BINET-SIMoN einigen AufschluB geben, wenn auch vor ether schematischen Ver- wendung dieser Niethode mit ihrer Berechnung des ,,Intelli- genzquotienten" gewarnt werden muB. --

Zweitens: Ist der Schwachsinn Folge eines allgemeinen Darniederliegens der geistigen Leistungsf~higkeit oder eines:Ausfalls auf mehr umschriebenem Gebiet? Handelt es sich etwa um einen besonderen Defekt der Aufmerksamkeit oder des Ged~chtnisses, um fehlendes Lese- oder Rechen- verm6gen? Sind -- bet jungen Kindern! -- schon die primi- riven Instinkte, ohne die der Vorstellungserwerb unm6glich ist, defekt? Handelt es sich -- bet Jugendlichen -- um reine Urteilsschw/~che, Kritiklosigkeit? --

Drittens: Ist der Schwachsinn lediglich Folge der derek- ten geistigen und intellektuellen Fghigkeiten oder haben noch andere Faktoren zu dem von'uns Iestgestellten Zustands-

bilde beigetragen? Hat das Kind'Sinnes-, etwa Geh6rdefekte? Ist Verwahrlosung mit im Spiele?

Die Beantwortung solcher und /~hnlicher Fragen ist nicht einfach und erfordert mehr Zeit als eine eingehende k6rper- liche Untersuchung. Aber sie ist n6tig, wenn man heraus- bringen will, ob und wie dem Kind zu he l f en i s t ; abgesehen vom hypothyreotisehen und syphilitischen Schwachsinn und sp/~rlichen F/illen des Intelligenzdefektes bet der cerebralen Kinderlghmung ist die Abhilfe selbst nieht Sache des Arztes, sondern berufener Pgdagogen.

DaB der Schwachsinn, wenn man yon psychologischer Seite her an ihn herantritt , ebenso sehr in Einzelformen und Einzeltypen sich aufl6st wie bei mehr somatisch-medizinischer Fragestellung und dab eigentlich erst yon hier aus das wahre Problem, die Intelligenzschw/iche selber zug/inglich wird, das zu zeigen, war Zweck dieses letzten Abschnittes.

OFFENTLICHES GESUNDHEITSWESEN. MODERNE GESICHTSPUNKTE BEIM GRENZ-

SEUCHENSCHUTZ.

Von

Dr. FREY, Direktor im Reichsgesundheitsamt.

Der Weltkrieg hat dem deutschen Reiche durch die Ab- tretung ausgedehnter Landesteile im S/idwesten, Norden und Osten neue Grenzen gezogen, in den 6sflichen Nachbar- staaten abet Epidemien der verschiedensten tnfektionskrank- heiten entfacht, die unser um das Dasein ringende Vaterland noch ffir lange Jahre aufs schwerste bedrohen.

Durch den Verlust fast s/tmtlicher Grenz~mter der deutsehen Arbeitervermittlungszentrale, der Auswandererkontrollstationen an den ehemaligen Grenziiberg/~ngen, groBeravon der Milit/irver- waltung erbauter Sanierungsanstalten, yon R~umen und Ein- richtungen zur Untersuchung derankommenden Reisenden auf den Eisenbahnstationen, yon mustergiiltigen Krankenhgusern, in denen Seuchenkranke und seuchenverdXchtige Personen abgeson- deft werden konnten, yon Desinfektionsanstalten und dgl., ist der frfiher geschlossene Ring der gesundheitlichen Grenziiberwachung vielfach durchbrochen, wenn nicht gar v611ig vernichtet worden, zu- real die Polizeikr/ifte nicht hinreichen. An den neuen Grenzen bran- den die Wellen der Infektionskrankheiten; OstpreuBen, durch den Polnischen Korridor yore Staatsk6rper abgeschnitten, liegt wie eine Insel in diesem t~cMschen Meere. Es gilt der Vergnderung der Dinge Rechnung zu tragen und einen gesundheitlichen Grenzschutz yon neuem aufzubauen.

Eine solche Neugestaltung muB sich den gegebenen Verh/Llt- nissen anpassen.

Einmal hat sich, wie bereits erw/ihnt, die Seuchenlage in RuB- land gegen die Friedenszeit gewaltig verschlimmert. Mit den Volks- massen, die der Hunger aus ihrem Wohnsitze vertreibt, nehmen die Epidemien anscheinend unaufhaltsam ihren Weg nach dem Westen. Die zuverl/~ssigen Nachrichten, die die Hygienische Ab- teilung des V61kerbundes dem Reichsgesundheitsamt regelm~Big iibermittelt, aber auch die unmittelbar yon den Zentralgesundheits- ~imtern der betreffenden Staaten einlanfenden Mi%teilungen lassen eine ungeheure Ausdehnung yon FlecMieber, Rfic!dallfieber, Cholera, Pocken und anderen Seuchen in RuBland nnd~zum Tell aueh in.~deu 6stlichen Gebieten Polens erkennen und stellen lest, daB. auch schon andere Randstaateu des ehemaligen russischen Retches der fortw/ihrenden Einschleppungen aus dem Seuchenherde sich nur mit s Miihe erwehren, ja dab manche Krankheiten sich hieri~bereits eingenistet haben. ~Dabei weist das Schicksal der deutschen Volkswirtschaft gebieterisch gerade den Weg nach dem Osten hin. Schon jetzt wAchst der Reiseverkehr zu Land und zu Wasser, werden die Handelsbeziehungen, die alten dutch den Krieg versch/itteten StxaBen wieder 8ffnend, allm~hlich inniger. Die Zahl der Rfickwanderer und Flfichtlinge zeigt bisher keine Ab- nahme, und viele noch diirften den verderblichen oder ungewissen Aufenthalt i in jenen L~ndern mit dem in Deutschland ver- tauscheu wollen.~ Damit w/ichst abet die bereits bestehende groBe Gefahr~der Seucheneinschleppung, zumal die 6ffentliche Gesund- heitspflege in den neuen, im inneren Ausbau unfertigen Staats- gebilden noch nicht die erforderliche Festigung erfahren konnte, in~Ru[31and abet die trostlose Zerr/ittung',der gesamten Lebens- verh/iltnisse des u eine wirksame Bek/impfung der Epidemien

ohne ausgedehnte fremde~Hilfe unm6glich macht. Zudem waren in allen diesen Gebieten, abgesehen yon den GroBst~dten, bis zum Kriege nut Ans/itze einer befriedigenden Regelung des Gesundheits- wesens vorhanden gewesen, da man die Voraussetzungen hierffir vielfach vernachl/tssigte. Andrerseits ist die Finanzkraft des deut- schen Retches infolge der Lasteu des Versailler Friedens derart gesunken, der Wert der deutschen NIarl: so gering geworden, dab groBe 2r nicht verfiigbar sind und fiir die bewilligten Summen nur verh/iltmism/~Big wenig sich besehaffen 1/iBt. Wir m/issen also auch bet der Umgestaltung des Seuchenschutzes an den Grenzen uns nach der Decke strecken und versuchen, mit selbst bescheidenen Aufwendungen das denkbar HSchste an Leistung zu erreichen. Auf der einen Seite steht somit die versch/irfte Bedrohung unserer, nach der tiefen Erschiitterung durch die Kriegs- und Nachkriegs- zeit gerade eben in ein labiles Gleichgewicht eingestellten Volks- gesundheit, auf der anderen der Mangel an Geld, daneben muB der Handelsentfaltung nach Osten hin jede denkbare Erleichterung gew~hrt werden, weil sie eine der Lebensbedingungen des deutschen Volkes darstellt.

Die Aufgabe, dieser Lage gerecht zu werden, ist schwer, aber nicht unl6sbar. Allerdings sind alle sachlichen und per - s6nlichen Mittel straff anzuspannen, um das Ziel zu erreichen. Neuer Verfahren oder neuer gesetzlicher Unterlagen fiir eine Seuchenbek/impfung als derjenigen, fiber welche wir im Deutschen Reiche und i.n den L/~ndern schon heute verffigen, bedarf es nicht. Die Seuchengesetze haben sich lfi~gst be- w~hrt und sind auch den scharfen Proben gewachsen geblieben, die die Kriegszeit und die /iberstfirzte Demobilisation, die Riickkehr der deutschen Kriegsgefangenen und der Zuzug iiberaus zahlreieher deutschst/immiger Flfichtlinge und Rfick- wanderer und die Einwanderung groBer Scharen yon Fremd- st~mmigen aus verseuchten L/indern ihnen auferlegte. D i e Bundesratsanweisung yon 19o 4 zur /3ek~mpfung des Fleck- /,iebers erfuhr im Jahre 192o eine den Kriegserfahrungen ent- sprechende grfindliche Umarbeitung, diejenige zur Bekgmp- lung der Oholera ist unter Ber/icksichtigung der ergangenen Ab~nderungen im Jahre 1921 neu herausgegeben worden. Die Anweisungen zur Bek/impfung ansteclc~nder Kranlch~iten im Eisenbahn- und im Postverkehr wurden im Reichsgesund- heitsamt einer Durchsicht und Verbesserung unterzogen. Die Entlausung zur Bek~mpfung yon Fleck- und R/ickfall- fieber, die Cholera- und Typhusschutzimpfung ist 1/ingst in den Wissensschatz der Medizinalbeamten fibergegangen ; d i e Pockenschutzimpfung brauchte bekanntlich ihre Wirksam- keit nicht erst noch zu beweisen. Die deutschen L~nder, ins- besondere PreuBen, haben ihr Riistzeug gegen die aus RuB- land und Polen drohenden Seuchen wieder instand gesetzt. Neue yon Reichswegen geschaffene Schutzvorrichtungen aber sind hinzugekommen, deren Verwertbarkeit vielgestaltig ist.

Um den Gefahren der Einschleppung gemeingef~ihrlicher und anderer Infektionskrankheiten durch seuchenverd~chtige Menschen- massen wirksam zu begegnen, konnten mit~Vorteil die vielen Kriegs- gefangenenlager nutzbar gemacht werden. !,Die~iaus feindlicher Gefangenschaft zur/ickkehrenden deutschen-und-verbiindet ge- wesenen Soldaten wurden in Durchgangslagern saniert und gen/igend lange beobachtet, ehe sie zu ihren AngehSrigen zurfickkehreh durften.

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2292 K L I N I S C H E W O C H E N S C H R I F T . I. J A H R G A N G . Nr. 46 I I . N O V E M B E R 1922

In gleicher Weise wurden auch die bei dem Angriff der Sowjet- armee auf Polen nach OstpreuBen fibergetretenen russischen und polnischen Truppenteile gesundheitlich unschgdlich gemacht. Zwei dieser Lager, Celle und Lichtenhorst, bestehen noch unter der Leitung der Abwicklungsstelle f~r russische Kriegsgefangenen- lager beim Reichsministerium des Innern. Die deutschst~mmigen Fliichtlinge aus den abgetretenen preuf3ischen Landesteilen (Grenz- landsvertriebene) und die aus Sibirien, RuBland und Polen zurfick- flutenden deutschst~mmigen Rfickwanderer finden Anfnahme in bisher 2 I, dem Reichskommissar ffir Flfichtlinge und Zivilgefangene unterstellten Heimkehrlagern, die in OstpreuBen, der Grenzmark Posen-WestpreuBen, Pommern, Mecklenburg-Schwerin, Schleswig- Holstein, der Mark ]Brandenburg, in Schlesien, Sachsen, Hannover and in :Bayern gelegen sind. ]Ffinf von ihnen (Eydtkuhnen, Ham- merstein, Frankfurt a. O., Swinemfinde und Lechfeld) sind als besondere Quarant~inelager eingerichtet, ein sechstes (Zittau) im Be- darfsfalle zu diesem Zweek in Aussicht genommen. Swinemfinde und Lechfeld empfangen auch Transporte, die auf dem Seewege von den Ostseeh~fen Rul31ands and der 1Randstaaten bzw. veto Schwarzen Meere her eintreffen. In diesen Quarant~nelagern mfissen die mit den verschiedensten Infektionskrankheiten be- hafteten AnkSmmlinge die erforderliche ]3eobaehtungszeit ver- bringen. Hier werden sie saniert, kranke and krankheitsverd~chtige Personen ausgesondert, Impfungen vorgenommen. Aber auch in jedem der 5brigen Heimkehrlager ist das Grundgesetz der reinen und unreinen Seite scharf durchgefflhrt; ~berall sind Seuchen- lazarette, :Entlausungsanstalten, Dampfdesinfektionsapparate und das n6tige medizinale Fachpersonal vorhanden. Selbstverst~ndlich sind die Lager in erster Linie Ffirsorgeeinrichtungen. Sie enthalten unter anderem allgemeine Krankenhs Entbindungsheime, Kleintdnderkfiehen, Schulen, Spielplfitze and besch~ftigen eine ausreiehende Zahl yon Ffirsorgerinnen. Der Leitung der russisehen Kriegsgefangenenlager und der Heimkehrlager ist der Verfasser als gesundheitlicher Beirat zugeteilt. Diese Lager haben sich nach Anpassung an einen einheitliehen Plan als Seuchenabfangstationen gut bewghrt. Nur vereinzelt haben Ubertragungen yon Infekfions- krankheiten auf einheimische Personen stattgefunden and sind da- bei fast ausschliel31ich auf das ja immer besonders gef~thrdete Ent- lausungs- and Desinfektions- oder Krankenpflegepersonal besehr~nkt geblieben.

Die Lager, die sich bei der Ubernahme vielfach in einem ver- wahrlosten Zustande befanden, muBten erst mit erheblichen Kosten wieder hergestellt, vielfach mit neuer Apparatur versehen und mit geeigneten Hilfskr/iften uusgestattet werden. Um so mehr verlangt es nnsere finanzielle Not, sie auch noch zu anderen, das gesundheit- liche Interesse des Reiches and der Lgnder beriihrenden Zwecken, z. ]3. zur Sanierung von fremden Saisonarbeitern, yon Auswanderern, Landstreichern heranzuziehen. Besonders k6nnten Grenz~mter und Grenzkontrollstutionen in einer ganzen Reihe der Lager Platz finden, aueh wenn diese nieht an der Grenze selbst gelegen sin& He ute sind an der gesamten Ostgrenze etwa 35 mehr oder minder ,,wilde" Ubergangsstellen ffir ausl~ndische Arbeiter in Gebraueh. Noch ist die Zahl 'dieser Arbeitskr~fte nieht betrAchtlich, ffir das kommende Jahr aber erwartet man eine wesentliche Zunahme. Die Einrichtung neuer, den gesundheitlichen Anforderungen ge- wachsener derartiger Vermittlungs- und Uberwachungsstellen wfirde Unsummen verschlingen. Berectmet man doch heute allein ffir die Erbauung von Grenz~mtern 50--6o Millionen Mark. Sicher ist, dab man bei anhaltender Preissteigerung hiermit nieht auskommen wird. Man toni3 sich daher ant bestimmte ]3ahnlinien beschriinken, im iibrigen aber diese Uberwachungsstellen m6glichst in schon vorhandene eingliedern, his einmal bessere Zeiten eintreten und die Wfinsche nach unbedingter VoUkommenheit und Sch6nheit erffillt werden k6nnen. Verwaltungsm~Big dfirften sich Hemmnisse nicht ergeben, wenn die Arbeitsvermittlungsstellen und die Auswanderer- registrierstationen als G~ste in die Heimkehrlager einziehen und anfallende Kosten ffir Yerpflegung, Sanierung, ~rztliche Behandlung Impfungen und dgl. tragen. Medizinaltechnisch liegen jedenfalls keinerlei Bedenken vor, da es vSllig gleichgfiltig ist, ob seuchen- verd~chtige Personen unmittelbar an der Grenze oder 5o und mehr Kilometer landeinw~rts saniert werden, wenn die Leute nur in geschlossenen Transporten ohne weiteren Aufenthalt zu den Heim- kehrlagern gefahren werden. Die Serge mancher St~dte, es k6nne selbst dutch die yon ihnen 2 und mehr Kilometer entfernten Heim- kehrlager ihren Bewohnern Unheil drohen, ist als (Yber~ngstlichkeit unbegriindet, zumal die Lager fast s/~mtlich eigene, mit der Lager- hygiene vertraute Krzte erhalten haben, selbst~ndige Wasser- versorgung besitzen, ihre Einrichtungen zur Beseitigung der Fgka- lien und sonstigen Abw~sser, zum mindesten die der unreinen Seite, yon FluBl~ufen oder st~dtischen Kanalisationen getrennt worden sind und regelm~Big desinfiziert werden und eine h~ufige Kontrolle der Seuchenbek~impfungsmittel durch die 6rtlichen Medizinal- beamten und den Verfasser erfolgt. Man wird somit gut fahren,

diese Anlagen in der empfohlenen Weise auszunutzen, besonders wenn die Flfiehffingswellen, was aus verschiedenen Grflnden wfinschenswert ist, einmal abebben. Das schlieBt natSrlich nicht aus, dab z. ]3. wegen geeigneterer Lage eine oder die andere der genannten neuen Stationen an anderer Stelle entsteht. Verhand- lungen der betreffenden Ressorts werden hierfiber leicht eine Ver- st~ndigung erbringen. Der Gedanke der Errichtung neuer Quaran- t/inelager oder ~hnlicher gr613erer Anlagen unmittelbar an der Grenze wird vorl~iufig immer an den ungeheuren Kosten scheitern und ist daher mindestens auf Jahre hinaus aufzugeben. Vielmehr mul3 die Landesgrenze gewissermaBen den vorhandenen Eiurich- tungen folgen.

Soweit es sich nun bei dem Grenzseuchenschutz um Maf~nahmen gegen Angeh6rige eines anderen Staates handel% genfigt es nicht, auf diese einfach die Seuchengesetze des eigenen Landes zur Anwendung zu bringen, sobald sie die Grenze fiberschritten haben, sondern es bedarf der Verein- barung zwischen den betreffenden Staatsregierungen, um gemeinsame hygienepolitische Grunds~tze zur Geltung zu bringen, , ,Vergeltungsaktionen" vorzubeugen, dem Handel und Verkehr m6glichst wenig Zaum anzulegen und sornit die wirtschaftlichen, vielleicht auch die polifischen zwischen- staatlichen Beziehungen zu bessern. Die auf den Wunsch der Republik Polen im Hinblick ant die auf~erordentliche Seuchengefahr im Osten vom VSlkerbunde im ~r d. J. nach Warschau einberufene und yon 27 europ~ischen Staaten und Japan beschickte Sanit~tskonferenz hat sieh in ihrer zweiten Kommission, zu deren Leiter die Vollversammlung, wohl als Verbeugung vor der Leistungsf~higkeit des deutschen 6ffentlichen Gesundheitswesens, den Fiihrer der deutschen Abordnung erw/ihlte, bauptss mit dieser Frage beseh/iftigt. Die Beratungen der Kommission ~fihrten zur Aufstellung yon Richtlinien ffir gesundbeitliche Uberein- kfinfte, namentlich fiber den Seuehenschutz an der Grenze. Diese Forderungen sollten das MindestmaB darstellen, das in den Vertr~gen innezuhalten sei; sie wurden v o n d e r Haupt- versammlung einmfifig angenommen. Der Bericht ist in iXTr. I8 d. J. (S. 292 :ft.) der Ver6ffentlichungen des Reichs- gesundheitsamtes abgedruckt ivgl. such den B-~richt yon OTTO in der Kiln. Wochenschr. Nr. 18 vom 29. April), so dab ich in bezug auf Einzelheiten darauf verweisen kann, zumal der flit die vorliegende Abhandlung zu Gebote stehende Raum nut eine Erl/iuterung der wesentlichsten Gesichtspunkte erlaubt.

]3ei dem AbschluB gesundheitlicher Abkommen mul~ das Vertrauen der Parteien darauf, dal3 keiner der vertrag- schlieBenden Teile den anderen fibervorteilen oder gar scll~- digen will, dal3 vielmehr gemeinsam an der Besserung yon Verh/iltnissen gearbeitet werden sell, die den gegenseitigen Verkehr unliebsam st6ren, und dab die Abwehr gesundheit- licher Gefahren von der Heimat auch diesem Ziele dient, die unerschfitterliche Grundlage bilden. So kann vol~ beiden Seiten mit gr613ter Aufrichtigkeit ein mnfassender, regel- m~Biger Nachrichtenaustausch i~ber In]ektionskrankheiten ein- geleitet werden, ja es ist zu erreichen, dab besondere gesundheltliche, Sachverst(indige der Vertragsl~nder in geeig- neten F/iUen zur Aufkl~rung des SaehverhaItes in die Grenz- gebiete entsandt werden. Dachte doch die Hygienisehe Ab- teilung des V61kerbundes in ihrem der Konferenz vorgelegten Entwurfe sogar an sts Medizinalattach6s bei den Ge- sandtschaften oder Botschaffen und erw~hute in einem den Regierungen zugesandten Schreiben sogar die Absicht, Medi- zinalbeamte und Hygieniker der einzelnen Staaten wahlweise in dem praktischen Gesundheitsdienste eines fremden Staates eine Zeitlang zu beschgftigen, nachdem sie ill Kursen, die der V61kerbund veranstalten woUe, darauf vorbereitet waren. Zn einem solchen Vertrauen bekannten sich die Teilnehmer der Waxschauer Konferenz, und man mil3billigte dement- sprechend unzweideutig Vertragsbrfiche, wie den, den ein europ~ischer Staat trotz Zugeh6rigkeit zu den Unterzeichnern der Pariser Konvention yon I912 mit der Verheimlichung yon Pestf~llen in den Jahren 1921 und 1922 begangen hatte. Begegnet das Vertrauen auf loyale Erftillung des Vertrages berechtigtem Zweifel, so i s f e s besser, wenn sich die Parteien nieht erst an den Verhandlungstisch setzen. ZwangsmaBregeln zur Erfflllung eines solehen Abkommens dflrften i.llusorisch

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~. NOVEMBER 1922 K L I N I S C H E \ V O C H E N S C H R I F T . ~. J A H R G A N G . Nr. 46 2293

sein; Ehrlichkeit und guter Wille sind die Stfitzen der Ver- einbarung. Um so leichfer aber wird man vorw~rts kommen, wenn ohnehin die ZentralgesundheitsbehSrden der Staaten, besonders der benachbarten, miteinander durch Mitteilung von umtlichen Nachrichten, Gesetzen und Verordnungen und wissenschaftlichen Arbeiten, durch Anfragen u. dgl. in enge und m6glichst unmittelbare Fi~hlung treten, wie dies zwischen dem Reichsgesundheitsamt und den GesundheitsbehSrden zahlreicher europ~ischer und fiberseeischer Staaten berei• in ausgiebigem Mage gefibt wird. Ein NachriehtenausCausch fiber Infektionskrankheiten besteht auch schon .mit Jugo- slawien, der Tschecho-Slowakei, Polen, SowjetruBland und dem Memellande. Kfirzlich ist ein Abkommen aueh mit Litauen getroifen, worin die Entsendung yon Kommissaren in die Grenzgebiete zugestanden wird. Neben dem Nachriehten- dienst zwischen den Zentralgesundheitsbeh6rden soil ein soleher auch zwischen den Gesundheitsbeamten der beider- seitigen Grenzgebiete einhergehen, deren Gesundhei• ffir die Seuchenbek~mpfung an der Grenze yon der gr61]ten Wichfigkeit i s t Diesen lokalen and BezirksbehSrden soil zudem des st~ndig e Recht eingers sein, im Interesse der Verst~ndigung fiber Gesundheitsfragen, besonders natfirlich bei b6saxtigen Epidemien, sich an Oft und Stelle zu unter- richten, und gegebenenfalls gemeinsame Mal3nahmen, wie z. 13. bei der Einrichtung yon Cholera-Uberwachungsstellen an den Flfissen, zu beantragen.

Ergibt sich in der Ausffihrung der Vertr/ige, die angesichts der sehr bedrohlichen Seuchenverhfiltnisse in Rul31and und Ostpolen beschleunigt abzuschlieBen w~ren, eine Meinungs- verschiedenbeit, so sind die LXnder in der Wahl eines Schlich- tungs- und Vermittlungsorganes frei. Von den Vertretern der dem VSlkerbunde angeh6renden M~chte dfirfte nach ihrer AuBerung in Warschau die Hygie~eabteilung des V61ker- bundes oder eine besondere dort zu bildende Kommission hierffir gew~h!t werden. Regelm~Bige Nachrichten fiber In- fektionskrankheiten gibt des Reichsgesundheitsamt bereits an diese Stelle ab, auch ohne dab des Deutsche Reich voll- berechtigtes Mitglied des V61kerbundes ist. Bekannflich ist die deutsche Reichsregierung mit dem V61kerbunde bisher nur insoweit verknfipft, als ein Vertreter des Reichsarbeits- ministeriums Mitglied des Verwaltungsrats f fir das Inter- nationMe Arbeitsamt in Gent ist.

Damit nun die vertragsschlieBenden Parteien instand- gesetzt werden, die Vereinbarungen sachgem/iB zu erffillen, macht der BeschluB der Warschauer Konferenz allgemein zur Pflicht, Ungleichheiten in der Entwicklung des 5ffent- lichen Gesundheitswesens durch weitere Vervollkommnung energisch zu beseit igen. Hygienische Erziehung der Volks- genossen, besonders aber der Einwohner der Grenzgebiete, der Schiffer usw., zuveflgssige, praktische Durchbi~dung namentlich des unteren MedizinM- und Sanit~tspersonats (auch des Eisenbahndienstpersonals, zumindest auf den Linien, die zur Grenze ffihren); Sauberkeit in den Eisenbahnzfigen und auf den Stationen (Aborte), gesundheitsmgl3ige Be- schaffenheit der auf den Eisenbahnhaltepunkten zu verab- folgenden Lebensmittel, vorzugsweise der roh zu genieBenden (Wasserversorgung u. dgl.), Ausdehnung der Meldepflicht auf alte wichfigeren ansteckenden Krankheiten, Verbesserung der Entlausungs- und Desinfektionseinrichtungen sind die Gebiete, auf denen sich noch munches ~udern l~.Bt.

Die Richtlinien und Grunds~tze der Warschauer Konferenz bauen sich im wesentlichen auf der bereits erwStmten Pariser Konvention yon 1912 auf. Dieser beizutreten, selbst wenn sic als- bald der erforderlichen Durchsicht und Ergiinzung unterliegen soUte, wird alien Staaten dringend empfohlen. Ist sic doch gegeniiber den in frfiheren Zeiten fiblichen strengen Grenzsperren und drakonischen QuarantSaaemaBnahmen yon dem modernen Geiste erffillt, Ver- kehr, Handel und Wirtschaft in der Welt m6glichst wenig zu st6rem Die Warsehauer Beschl/isse ffigen aber zu den in dieser Konvention als meldeptlichtig aufgez/ihlten ersten Fglle yon Cholera, Pest und Gelbfieber noch die Rattenpest hinzu und verlangen die Meldung yon Fle~k/ieber, Riick/all[ieber und Pocken bei epidemischem Aui- tre• Aul3erdem ist vorgesehen, dab aueh noch andere In/ektione- ~rankheiten, die in einem Bezirk des Landes fOx gewShnlich nicht oder nicht als Epidemic vorkommen, der anderen Vertragspart~i

zur Kenntnis gebracht, fiberhaupt aber die Meldeliste schon au[ diplomatisehem Wege und nicht erst durch erneute f6rmliche Uber- einkunft erweitert werden kann. In alien diesen Fallen werden auch die neben den bloBen Anzeigen zu erstattenden Begleitberivhte (Art. 2 der Pariser Konvention) vorgeschrieben. Die Nachricht- erteilung an die andere Vertragspartei sell sich sogar auf die Sehutz- maflregeln ers%recken, die ein Stunt bei gesundheit]ichen Vorkomm- nissen der genannten Art gegen ein Naehbartand getroffen hat.

Genau festgelegt wird alsdann, auf welche Verwaltungseinheiten sich die Magregeln gegen Infektionskrankheiten zu beziehen haben, und wie die Erkl~rungen der Verseuchung oder der Seuchen/reiheit einer solchen zu handhaben sind.

Das Kernstfick einer sanit~ren Ubereinkunft bildet des Ver~ fahren an den Grenzi~bergdngen. Grenzen kSnnen auf Eisenbahn- stred~en, Strafien, Fli~ssen, zur See und durch den Lu/tverkehr iiber- schritten werden. Die Personen, die die Grenze fiberschreiten, sind auf ihren Gesundheitszustand zu kontrollieren. Diese KonCrolle geschieht in Gesundheitsi~berwachungsstellen, die fiir die Vornahme s Untersuchungen, ffir die Absonderung von Krauken und Krankheitsverd~chfigen und /iir die Desinfektion und Entlausung genfigende, dem Umfang des fiblichen Verkehrs entsprechende R~.ume and Eharichtungen besitzen mfssen. Die Wahl der Ober- gangsorte sell der Vereinbarung der Zentralgesundheitsbeh6rden unter- liegen, wobei im Falle bedrohlicher Epidemien zwax einzelne 0ber- g~nge geschlossen werden kSnnen, wenu sich dort Uberwachungs- stellen nicht einrichten lassen, der Verkehr fiber benachbarte Uberwachungsstellen dagegen gesichert wird. Die Gesundheits- fiberwachungsstellen sind von staatlich beauftragten Arzten zu leiten. Dem Uberwachungsarzt mug auch des erforderliche Desin]ektions- and Krankenpflegepersonal zur Seite stehen. Die Aufsicht fiber diese Stellen fgllt selbstverstgndlich dem staatlichen Gesund- heitsbeamten des betreffendeu Kreises zu. Als Uberwachungs- ~rzte in Deutschland kommen die Kreismedizinalbeamten selbst, KreisassistenzArzte oder andere, in der praktischen Seuehenbek~mp- tung und allgemeinen Hygiene erfahrene -Arzte in Betracht.

Die s Untersuchung kann sich auf eine Besichtigung der Rel,enden beschrAnken. In begrfindeten Verdachtsfs muB sic auf eine genaue ]cSrperliche Er/orsehung dee Gesundheitszustandes ausgehen. Diese kSrperlichen Untersuchungen werden insbesondere bei gewissen Gruppen yon Ank5mmlingen als zu1~ssig erkl~rt, die, wie Landstreieher, Auswanderer, Eli~ehtlinge, Saisonarbeiter, Pilqer und dgl., sich gew6hnlich in unhygienischen Lebensverh~ltnissen befinden. Bei dem Eisenbahn- und Sanitditspersonal und den offiziell beglaubigten Dele~ierten der Landesregierungen sind nur im Falle der Erkrankung an Cholera, Pest, Gelbfieber, Fleckfieber, Rfick- fallfieber uud Pocken MaBnahmen erlaubt.

Als in den Uberwachungss~llen zu treffende MaGregeln sind zul~sig: Bakteriologische Untersuchungen bei begriindetem Ver- dach• auf Cholera und Pest, Schutzimpfungen gegen Cholera and Pocken, Entlausung (hierbei auch Abscheeren der Haare !), Desinfektion bzw; Entlausung der Habe bei den oben be - sonders bezeichneten Gruppen yon Reisenden. Ferner kann der Uberwachungsarzt die Desinfektion bzw. Entlausung yon persSnlichem GepSek, yon Waren und Eisenbahnwaflen (unter Entiernung des Wagens aus dem Zuge)verffigen. Igxanke und Krankheitsverds k6nnen in den Krankenrs dex Uberwachungsstelle abgesondert werden. Nur ansteckungsver-

' ds Personen aber sind einer der Inkubationszeit der einzelnen KrankheiCen entsprechenden ~rzdichen Beobaehtung am BesHm- mungsorte zu unterwerfen. Dies Verfahren ist unbedenldich, wenn bei Cholera- und Pestverdacht die balCceriologische Untersuchung negativ ausfiel, bei Cholera and Pocken die Schutzimpfung erfolgte, bei Fleck- und RfickfaUfieber eine grfindliche Entlausung vor- genommen wurde und die poHzeiliehe Metdepflichg /fir Zureisende im Einreiseland durchgeffihrt wird (in Preul]en seit Dezember 1921 ).

Zwar sprechen die Warschauer Besehlfisse devon, dug diese Uberwachungsstellen unmis an der Grenze gelegen sein mfissen. Zweifellos kann aber wirtschaftliche Notlage einen Staat dazu zwingen, bei Beratung eines gesundheiflichen Uberein- kommens offenheraus zu erklMen, dab er wenigstens fox die be- senders gefiihrlichen Personengruppen bereits in Be!iieb befindliche, s abet landeinw~rts gelegene Anlagen nutzbar machen mfisse, Bei der Besprechung der Heimkehrlager ist auf diese Rege- lung bereits hingewiesen worden. Es wfixen dann den eigendichen Quarant~nelagern die gesundheitsgef~hrlichen Elemente zur Sanie- rung usw. unmittelbar yon der Grenze her zuzuleiten.

Sinngem~B werden in den Warschauer Beschlfissen diese Vor- schriften auf den Seeverkehr angewandt, aber nur die in die Melde- pflicht neu einbezogenen Y~rankheiten, Fleckfieber, Rfickfallfieber und Pocken berficksichtigt, da fox die fibrigen bereits die Pariser Konvention mal3gebend ist. Bei dem engen Zusammenleben der Schiffsmannschaft mit den Passagieren muB sich die 5xztliche Besichtigung usw.auf alle an Bord beiindlichen Personen und R~inme

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erstrecken. Dementspr6chend sind die Ansteckungsverd/ichtigen beim Auftreten yon Flecktieber oder Rflckfallfieber zu enflausen, beim Auflreten yon Pocken zu impfen. Selbstverst~ndlich ist auch Choleraschutzimpfu~g anwendbar. Bei den besonders gef/thrlichen Personengruppen ist bereits im Ausreisehafen die Entlausung der Leute und ihre~ schmutziger~W/ische, K!eider, der gebraneh~n Betten und dergl, vorzunehmen. Nat/irlich muB der vertrag- sehliegende Einreisestaat die Uberzeugung gewonnen haben, dab diese Entlausung grfindlich durchgefiihrt wird. Ist nut eine ein- malige Entlausung vor der Abreise m6glich, so ist diese nach allen Erfahrungen unzureichend und eine weitere bei der Ankunft n6tig, um einer Verschleppung yon Fleck- und RiicMallfieber vorzubeugen. Tri~ Fleckfieber auf den Schiffen auf, so wird, wenigstens solange noch Rugland yon Fleckfieber fiberflutet ist und die Randstaaten eine erhebliche Verbreitung der Krankheit aufweisen, eine drei- malige Entlausung in Abstand yon je 7 Tagen erlorderlich. Vom deutschen Standpunkte wSxen jedenfalls solche Zugest~dnisse noch zu fordern. Der Kapit~n bzw. sein Stellvertreter ist zu eid- licher Erkl/irung fiber das u yon Fteckfieber, Rficlffall- fieber oder Pocken seit der Ausreise des Schiffes verpflichtet.

Gegenfiber der in den letzten Jahren mehrfach erfolgten Ein- schleppung yon Pest in europ~ische Staaten wird auf die in der Pariser Konvention bereits erw~hnte ~eriod~che Rattenver~ilgunff anf den Schiffen nachdrficklich hingewiesen.

Die in den Warschauer Beschlfissen niedergelegte Begriffs- bestimmung der Gren~.ebief, e, die als eine f~r die Seuchenbek~mpfung hervorragend wichtige Zone bereits besprochen wurde, bezeichnet auch nur das MindestmaB der Ausdehnung. In dem Abkommen zwischen Deutschland "and Litauen sind auch diejenigen Verwal- tungsgebiete hinzugerechnet, die yon der Grenze lO km entfernt sind. Es wird sich empfehlen, diese Erweiterung auch fiir die noeh zu erwartenden Sanit~tsfibereinkfinfte, wenigstens bei den 6stlichen Staaten, ~estzuhalten.

Auch der klelne Grenzverkehr wird den Vorbeugungs- und Be- k~mpfungsmal3regeln zu unterliegen haben, doch sollen Erleichte- rungen eintreten, da dutch einen m6glichst ungehinderten Verkehr mit Nahrungsmitteln und anderem Kaufmannsgut, dutch das Wahrnehmen yon giinstigen Arbeitsgelegenheiten in Land- und Forstwirtschaft, in der Industrie und sonst der Grenzbev61kerung beider Vertragsls erhebliche Vorteile erwachsen. In Cholera- zeiten wird ein Verbot der Einfuhr roh zu genie[lender Nahrungs- mittel aus choleraverseuchten Grenzgebieten zul~ssig sein.

Ein wichtiger Gesichtspunkt bei den Kommissionsbera- tungen war die Kosten#age. Man wurde sich darfiber einig, dab bei einer ordnungsm~Bigen gesundheitlichen Grenz- fiberwachung das allgemeine Interesse der vertragschliel3enden L/~nder derart fiberwiege, dab man vielleicht Waren, nicht aber die die Grenze fiberschreitenden Personen init den Kosten belasten dfirfe. Es ist klar, das daun die Einreisenden sich wel t eher mit den MaBregeln abfinden und sich ihnen weniger entziehen werden. Sicher ist ja ~ueh, dab die Be- k~mpfung einheimischer Seuchen, z. t3. yon Typhus, viel gr613ere Erfolge zeitigen wfirde, wenn nicht die Einzelpersonen die Kosten zu tragen h/itten. Bekauntlich enth~lt das Reichs-

gesetz zur Bek/impfung der gemeingef/ihrlichen Krankheiten und das preuBische Gesetz zur Bek~mpfung der fibertragbaren Krankheiten nach dieser Richtung hin noch manche H~rten, und es wgre wfinschenswert, mindestens v ie l weitergehende Efleichterungen dem Betroffenen zu gew/ihren, wenn man schon nicht s~mtliche Kosten der Seuchenbek/impfung auf 6ffentliche Mittel fibernehmen kaun. Auf den ersten Blick wfirde allerdings, wenn zwei Staaten mit sehr ungleicher Entwicklung ihres Gesundheitswesens aneinanderga'enzen, derjenige ein welt h6heres Mal3 yon I~osten ffir die Grenz- fiberwaehung zu tragen haben, dem zahlreiche Angeh6rige des Landes mit geringerer gesundheiflicher I,:ultur zureisen. Hierauf w~re bei ]3eratungen fiber eiu Abkommen aufmerk- sam zu macheu, und es best~Lude an sich die M6glichkeit, dab der Staat, der den Nachbarn dutch seine Reisenden gesundheiflich erheblich bedroht, an den Kosten in gewisser Weise teilnimmt. Der Wort laut der Warschauer Beschlfisse l~Btdiese M6glichkeitoffen. Einsolcher Wunschdesweiterfor t- geschrittenen Landes k6nnte ferner auf die andere Regierung dahin wirken, dab diese nunmehr mat aller Macht ihre gesuud- heiflichen Einrichtungen verbessert und z. ]3. gew~hrleistet, dab wenigstens die genannten, besouders gef/ihrlichen Gruppen yon Reisenden nur in entlaustem Zustande und mit Pocken- oder Choleraschutzimpfung versehen, die Ausreise antreten, und dab such die Habe dieser Leute, wie solche Handels- waren, die ansteckende I(rankheiten verbreiten k6nneu, erst nach Desinfektion die Grenze passieren. Vorauszusetzen ist dabei indessen, dab das Zureiseland auf den Zuzug der Frem- den, wie z. B. yon Arbeitern, nichf unbedingt angewiesen ist.

Dies w/iren die Grundzfige eines neuzeitlichen Seuchen- schutzes an der Grenze. Sie dienen, wie man sieht, nicht nur dem unmittelbaren Zwecke. Der AbschluB gesundheitlicher Yertr~ge ist vielmehr geeignet, such einen m~chtigen AnstoB auf die Fortentwicklung der Volkshygiene fiberhaupt zu geben. Heute noch bestehende Unterschiede zwischen Nach- barstaaten k6nnen sich so allm~hlich verwischen und es kann dadureh eine Gleichwertigkeit entstehen, die z. 13. such die gegenseitige Anerkennung yon Zeugnissen der Gesuudheits- beamten ohne weiteres mit sich bringt. Diese Ubereinkfinfte wfirden aber zweifellos aueh eine iuternationale Folge zeitigen, indem sie die Kulturv61ker der Welt zu innigerem Zusammen- arbeiten in gesundheitlichen Fragen anregen. Den Boden ffir ein tieferes Verstgndnis der Wechselseitigkeit yon Volks- gesundheit und Volkswirtschaft hat der Weltkrieg vorbereitet. Einen sich je tz t die V61ker zu gemeiuschaftlichem Vorgehen gegen manche gesundheitliche Sch/~digungen, die das unge- heure Ereignis nicht nur den kriegffihrenden Nationen brachte, so w~re dies eine Gelegenheit, sich kennen und achten zu lernen und ein Auftakt f/Jr die Symphonie der V61kervers6h- nung, die ja doch einmal kommen muB.

REFERATENTEIL. 0BER DIE SPEZIFISCH WIRKSAMEN SUBSTANZEN

DES MUTTERKORNS. Von

E. ROTHLIN, Basel.

Die Symptomatologie des Ergotismus gab nachweisbar schon im 16. Jahrhundert Veranlassung , das Mutterkorn aIs Wehenrnittel zu verwenden. Mit der therapeutischen Verwertung der Drogen anderer Aikaloide, wie dern Atropin und dem Morphin, hat das NIutterkorn die interessante Tatsache gemeinsam, dab ein ,,Gift", in physiologischen Dosen verwendet, zum nfitzlichen I-teilmittel wird. tn der elektiven Wirkung des Mutterkorns auf den Uterus war die Richtung der therapeutischen Auswertung gegeben.

im Jahre x8i 7 beginnt mit VAU~U~LIN die wissenschaftliche Erforschung des Mutterkorns. Eine erfolgreiche L6sung des Pro- blems konnte aber erst durch die ]Dienstbarmachung der modernen chemisch- und physiologisch-analytischen Methoden erzielt werden. Wenn TSCHIRCH 1) im Jahre 1917 schreibt: ,,V611ig aufgekl~rt ist die Frage des Mutterkorns such heute noch nicht',~ so ist vor allem

die unsichere Kenntnis fiber die spezifisch wirksamen Substanzen des Mutterkorns gemeint.

In vorliegendem Aufsatze sei zunt~chst auf die vielseifigen Schwierigkeiten hingewiesen, welche eine rasche und glfickliche LOsung des Mutterkornproblems erschwerten. Im Mittelpunkt unserer Betrachtung steht die Frage, inwieweit dieses Problem heute auf Grund der aus Mutterkoru isolierten, chemisch definierten und spezifisch wirksamen Substanzen in prakfisch therapeutischer Hinsicht als gel6st betrachtet werden kann. Eine solche Aufgabe hat nicht nur literarisches Interesse, sie gibt dem tViediziner einen allgemeinen Einblick in die Arbeitsweise auf dem pharmazeutisch- medizinischen Forschungsgebiet. Die XuBere Veranlassung ergab sich mir durch die ausgedehnten experimentell-pharmakologischen Untersuchungen mit dem Ergotamin Stoll. Denn auf Grund der bisherigen klinisehen Erfahrungen dfiffte dutch die Isolierung des Ergotamins die Forschung des Mutterkorns in praktisch therapeu- fischer Hinsicht zu einem glficklichen Abschlul3 gelangt sein. Diese Ansicht wird im fotgenden durch die Ergebnisse meiner pharma- kologisehen Untersuchungen des Ergotamins gestfitzt werden.