Montag, 26. Oktober 2015 Schweiz 1 3 «Medizinal-Cannabis ... · beispielsweise Alkohol oder Tabak...

1
MONTAGSINTERVIEW Der Bund gibt eine Studie zum Ein- satz von Cannabis als Schmerz- mittel in Auftrag. Der renom- mierteste Hanfforscher Rudolf Brenneisen erkennt zwar die Gefahren der Pflanze, aber auch ihr grosses Potenzial. Herr Brenneisen, haben Sie auch schon gekifft? Rudolf Brenneisen: Ich bin ein klassischer Vertreter der 68er- Generation. Damals habe ich aus Neugier und auch wegen eines gewissen Gruppendrucks einmal versucht, einen Joint zu rauchen. Aber dieser Schuss ging gehörig nach hinten los, da ich kein Rau- cher war: Ich habe falsch inha- liert, und mir wurde ziemlich übel. Inzwischen bin ich aber cannabissüchtig . . . . . . und dazu stehen Sie einfach so? Süchtig bin ich natürlich nur im Sinne der Forschung, schliesslich beschäftige ich mich mit dieser Pflanze seit über vierzig Jahren, und sie wird mich auch nicht mehr loslassen. Was war der Ausschlag für Ihr Interesse an Cannabis sativa? In den späten 1970er-Jahren be- trat die Polizei mein Labor im Pharmazeutischen Institut Bern mit einem Sack Pflanzen aus dem Emmental. Ich solle das untersu- chen. Die Polizei war der Über- zeugung, dass man mit diesem Hanfzeugs keine berauschende Wirkung erzielen könne. Wir konnten nachweisen, dass man tatsächlich auch in der Schweiz Hanf mit einem beträchtlichen Anteil des psychoaktiven Stoffs THC erzeugen kann. Wir haben in der Folge im Auftrag des Bun- desamtes für Gesundheit und der Bundesanwaltschaft die Pflanze systematisch untersucht. Das führte mich schliesslich bis in die USA. Was haben Sie dort gemacht? Damals hatte die US-Drogenbe- hörde DEA die besten Laborein- richtungen. Als junger Pharma- zeut konnte ich viel lernen von meinen US-Kollegen. Ein Auf- enthalt an der Universität Mis- sissippi, einem Hotspot der Can- nabisforschung, bildete dann die Basis für viele gemeinsame und erfolgreiche Projekte. Die Amerikaner waren es aber auch, welche Cannabis als Killer- droge verteufelten. Wie gefähr- lich ist denn nun Cannabis, wenn man es als Droge konsumiert? Eine pauschale Bewertung ist enorm schwierig. Berücksichtigt man gesundheitliche, soziale, ökonomische und rechtliche Faktoren, dann ist Cannabis als nicht speziell problematisch ein- zuordnen. Wie eine englische Studie eindrücklich zeigt, sind beispielsweise Alkohol oder Tabak in jeder Hinsicht viel ge- fährlicher. Wem würden Sie dringend da- von abraten, zu kiffen? Ein gleichaltriger Kollege von mir, notabene ein Psychiater, raucht schon seit Jahren ab und zu einen Joint. Er weiss, wie er damit umgehen muss, und er ist auch in keiner Art und Weise ab- hängig. Sicher nicht zu empfeh- len ist Cannabis jedoch für Jugendliche, weil bei ihnen die Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. So wurde ge- zeigt, dass Cannabis die neurona- le Vernetzung beeinflussen kann. Auch für psychisch labile Men- schen ist die Gefahr vorhanden, dass sie abdriften oder im schlimmsten Fall gar eine Psy- chose entwickeln. Und generell ist der sogenannte Turbohanf, der THC-Werte erreicht von bis zu 30 Prozent, schon gefährlich. Aber der normale Hanfkonsu- ment will in der Regel gar nicht derart starkes Gras rauchen und verdünnt mit Tabak. Wie abhängig macht die Droge? Sie kann psychisch abhängig ma- chen, aber eine physische Abhän- gigkeit wie bei Heroin oder Ko- kain konnte bei Cannabis nicht nachgewiesen werden. Hat der schlechte Ruf als Droge dazu geführt, dass Cannabis für lange Zeit aus der Agenda der Forscher verschwand? Ich erinnere mich, dass wir 1972 während meines Praktikums in der Berner Zytglogge-Apotheke noch verschiedene Cannabispro- dukte in der Rezeptur hatten. Die daraus hergestellte Hausspezia- lität war eine Hühneraugentink- tur. Das hat mich damals er- staunt, weil es bereits verschie- dene chemische Präparate dage- gen gab. Heute weiss man, dass insbesondere der Wirkstoff Can- nabidiol entzündungshemmen- de und antibiotische Eigenschaf- ten aufweist. Als ich dann als Pharmazeut Cannabis als Heil- mittel wiederentdeckte und zu erforschen begann, war das tat- sächlich nicht immer einfach. Konkret? Viele meiner Kollegen an der Universität belächelten damals ein bisschen meine Forschungen und klinischen Studien mit einer «Kifferdroge». Zudem wurde ich viermal grundlos und ohne Kon- sequenzen vor Gericht gezogen, weil Hanfproduzenten behaup- teten, sie hätten ihr Gras für den Brenneisen von der Universität Bern produziert. Einer dieser Hanfproduzenten hat mich gar als grössten Dealer der Schweiz betitelt. Er selber musste dann wegen Ehrverletzung ins Ge- fängnis. Trotzdem sind Sie der Pflanze treu geblieben. Weshalb? Weil das pharmakologische Po- tenzial dieser Pflanze enorm ist und erschlossen werden muss. Es gibt wohl keine andere Pflanze, deren Wirkstoffe so viele positive Effekte erzielen können. Canna- bis verfügt insgesamt über 500 verschiedene Inhaltsstoffe, von denen bis jetzt aber nur wenige erforscht sind. Eine Wunderpflanze? So weit würde ich nicht gehen, ei- ne Mystifizierung dieser Pflanze ist fehl am Platz. So ist es unseri- ös, zu behaupten, dass Cannabis Krebs heilt. Der Kanadier Rick Simpson hat zwar gegen seinen Hautkrebs erfolgreich Cannabis- öl verwendet und beachtliche Re- sultate erzielt. Dies hat in Ameri- ka einen riesigen Hype ausgelöst und Erwartungen geweckt, die dieses Simpson- Öl jedoch nicht erfüllen kann. Warum nicht? Oft fehlen klinische Studien, wel- che die Wirksamkeit einwandfrei belegen. Der ebenfalls spektaku- läre Fall des Mädchens Charlotte Figi ist ein anderes Beispiel aus den USA. Dieses schwerstepilep- tische Mädchen kann dank Can- nabidiol heute ein einigermassen vernünftiges Leben führen – und dies ohne psychische Beeinflus- sung, da Cannabidiol keine Rauschwirkung hat. Dieser Er- folg hat eine breitangelegte klini- sche Studie ausgelöst. Hatten Sie auch schon Kontakt mit Patienten? Ja, bei mir kam beispielsweise ein Mann vorbei mit Prostatakrebs, der Rat suchte. Der ärztliche Be- fund war, dass ihm nicht mehr zu helfen sei und seine Laborwerte dramatisch seien. Er habe nichts mehr zu verlieren und wolle jetzt Cannabis einsetzen. Ich habe ihn beraten und ihm gesagt, welches Präparat ich als am besten geeig- net erachten würde und dass er es verdampfen und nicht rauchen solle. Er hat sich dann dieses sel- ber besorgt. Ein halbes Jahr spä- ter hat er sich bei mir gemeldet mit der guten Botschaft, dass sei- ne Laborwerte stabil und die Le- bensqualität zurück sei. Diese anekdotischen Patientenberich- te sammle ich. Es kann ja nicht sein, dass alle Erfolge auf soge- nannte spontane Heilungen zu- rückzuführen sind. Haben Sie sich dadurch nicht strafbar gemacht? Nein, ich habe ihm ja nur Tipps gegeben. Und Cannabidiol kön- nen Sie in der Schweiz problem- los kaufen, einfach nicht als Me- dikament, sondern als Nahrungs- ergänzungsmittel. Sie dürfen aber nicht darauf schreiben, dass dieses beispielsweise schmerz- stillend sei. Gibt es Beispiele von zugelasse- nen Cannabismedikamenten? Das bekannteste ist wohl das seit gut zwei Jahren zugelassene Sati- vex, von dem sich unter anderem die Pharmamultis Bayer und No- vartis Vermarktungsrechte er- kauft haben. Dies ermöglicht es dem englischen Hersteller, auf- wendige klinische Studien zu fi- nanzieren und neue Indikatio- nen wie zum Beispiel Krebs- schmerzen zu testen. In der Schweiz ist Sativex zur Behand- lung schwerer Muskelkrämpfe bei MS-Patienten registriert. Und das kann ich einfach beim Arzt einverlangen? Ja, weil es auch THC enthält, gilt es aber als Betäubungsmittel. Vom Apotheker hergestellte Can- nabistinkturen bedürfen einer Einzelbewilligung durch das Bundesamt für Gesundheit. Das pharmakologisch viel po- tentere Morphin darf der Arzt aber ohne Einzelbewilligung des BAG verschreiben. Das ist so, obwohl man sich im Gegensatz zum Cannabis mit Morphin problemlos umbringen kann. Bis heute dürfen ohne Ein- willigung des Bundes nur Canna- bisprodukte mit einem THC-Ge- halt bis zu einem Prozent einge- setzt oder konsumiert werden. Aber es braucht einen deutlich höheren Gehalt, damit über- haupt eine pharmakologische Wirkung erzielt werden kann. Auch Sativex weist einen höhe- ren THC-Gehalt auf. Dann muss man doch einfach den zugelassenen THC-Gehalt erhöhen. So einfach ist das nicht, weil es da- zu einer Gesetzesänderung be- darf. Aber es wäre dringend not- wendig. Mit der heutigen Rege- lung produzieren wir einen un- glaublichen Bürokratiekrieg. Und die Gesuche nehmen stetig zu. Ziel muss es sein, dass wir Medizi- nalcannabis in die Arztpraxen und Apotheken zurückbringen. Das ist derzeit eine eher vergeb- liche Hoffnung, oder? Der Bundesrat will jetzt dank der überwiesenen Motion der Patien- tenschützerin Margrit Kessler die Forschung an dieser Pflanze for- cieren – und zwar auch diejenige direkt am Schmerzpatienten. Deshalb bin ich vorsichtig zuver- sichtlich, dass man Medizinalcan- nabis künftig einfacher beziehen kann. Interview: Gregor Poletti «Medizinal-Cannabis muss in Arztpraxen und Apotheken zurückkehren» IM GESPRÄCH Rudolf Brenneisen ist irgendwie peinlich berührt, als die Fotogra- fin ihr Equipment in seinem Büro in einem Berner Wohnquartier aufbaut. Er stehe nicht gerne im Zentrum, wichtig sei ihm die Sa- che. Vielleicht sind es auch die nicht immer angenehmen Erfah- rungen mit Medien und der Öf- fentlichkeit, die er als «Cannabis- papst» während seiner Zeit als Professor der Pharmazie an der Uni Bern gemacht hat. Sobald das Gespräch jedoch Fahrt aufnimmt, ist der 66-Jährige nicht mehr zu bremsen. Über drei Stunden er- zählt er aus seinem bewegten Le- ben als Hanfforscher, das ihm zu- erst nicht nur Freunde und später Neider bescherte. Die Kiffer er- zürnte Brenneisen, als er zu Be- ginn seiner Karriere zusammen mit der Antidrogenbehörde der USA und der Industrie Methoden entwickelte, um Drogen zu analy- sieren und in Blut und Urin nach- zuweisen. Seinen Ruf als einer der führenden Experten für die Erforschung der Cannabispflan- ze erwarb er mit bahnbrechen- den Forschungen. So zeigte eine Studie an der Rehaklinik Rehab Basel bereits 1996, dass der Can- nabiswirkstoff THC bei Quer- schnittsgelähmten spastische Muskelkrämpfe lindert. Inzwischen ist der verheiratete Forscher emeritiert und hat kein Labor mehr. Er steuert und koor- diniert seine Tätigkeit als Experte von seinem kleinen, unscheinba- ren Büro aus. Gerade ist er wieder unterwegs zu Kongressen und Vorträgen über die vielfältige Wir- kung von Cannabis. Als Leiter der Schweizer Arbeitsgruppe für Can- nabinoide in der Medizin hofft er, dass er die jetzt vom Bund initiier- te Forschungsoffensive unter- stützen und voranbringen kann. Denn seine Begeisterung für das Heilkraut ist ungebrochen. Daran lässt das intensive Ge- spräch mit dem Pharmakologen an diesem Nachmittag keinen Zweifel. gr «Mir wurde damals beim Rauchen ziemlich übel. Aber inzwischen bin ich süchtig nach dem Forschungsthema Cannabis.» «Das pharmakolo- gische Potenzial dieser Pflanze ist enorm und muss er- schlossen werden.» Rudolf Brenneisen ist Pharmazeut und Leiter der Schweizer Arbeitsgruppe für Cannabinoide in der Medizin. Bilder Susanne Keller Tetrahydrocannabinol (THC) ist derjenige Teil des Cannabis, der für den Rausch sorgt – aber auch eine pharmakologische Wirkung hat. Schweiz Montag, 26. Oktober 2015 BAHNVERKEHR Die SBB möchten, dass ihre Züge pünktlicher fahren. Nun prüft die Bahn, wie viel es bringt, wenn die Züge nur kurz auf Anschlusszüge warten. In einem Pilotprojekt testen die SBB zurzeit, ob Passagiere pünkt- licher ankommen, wenn Züge weniger lang auf verspätete An- schlusszüge warten müssen. Das Pilotprojekt begann Mitte Okto- ber und soll bis Mitte Dezember dauern. In den Test einbezogen wird das Dreieck Bern-Basel-Zü- rich. SBB-Sprecherin Franziska Frey bestätigte einen Bericht der Zeitung «Schweiz am Sonntag». Untersuchungen hätten ge- zeigt, dass verkürzte Wartezeiten auf einzelne Anschlusszüge die Pünktlichkeit im ganzen Netz steigerten, sagte Frey. In der Praxis getestet wird dies nun an Wochentagen zwischen Be- triebsbeginn und kurz vor 20 Uhr. Entscheide fallen im 2016 Laut der Sprecherin wird das Projekt laufend überwacht und ausgewertet. Bringe es die erhoff- te Wirkung nicht, werde es un- verzüglich abgebrochen, sagte Frey. Fahren die Züge im Pilot- projekt dagegen pünktlicher, wollen die SBB 2016 definieren, wie lange künftig noch auf An- schlusszüge gewartet wird. Muss ein Zug auf einen An- schluss warten, profitieren laut Frey oft nur relativ wenige Passa- giere von der Möglichkeit, doch SBB wollen weniger lang auf verspätete Züge warten noch umsteigen und gleich weiterfahren zu können. «Doch für die vielen Reisenden, die schon im wartenden Zug sitzen, kann diese Wartezeit zu Folge- verspätungen und Anschluss- brüchen führen.» Ablehnung bei Pro Bahn Kein Verständnis für das Pilot- projekt hat Pro Bahn. Reisende in verspäteten Anschlusszügen bil- deten zwar eine Minderheit, schrieb die Interessenvertretung der Kunden des öffentlichen Ver- kehrs. Doch das Problem dieser Passagiere habe die SBB verur- sacht. Die Reisenden dürften da- für nicht bestraft werden. sda Pilotversuch: Die SBB warten im Raum Bern-Basel-Zürich weniger lang auf verspätete Züge. Raphael Moser 13 ANZEIGE

Transcript of Montag, 26. Oktober 2015 Schweiz 1 3 «Medizinal-Cannabis ... · beispielsweise Alkohol oder Tabak...

MONTAGSINTERVIEW DerBund gibt eine Studie zum Ein-satz von Cannabis als Schmerz-mittel in Auftrag. Der renom-mierteste Hanfforscher RudolfBrenneisen erkennt zwar dieGefahren der Pflanze, aberauch ihr grosses Potenzial.

Herr Brenneisen, haben Sie auchschon gekifft?Rudolf Brenneisen: Ich bin einklassischer Vertreter der 68er-Generation. Damals habe ich ausNeugier und auch wegen einesgewissen Gruppendrucks einmalversucht, einen Joint zu rauchen.Aber dieser Schuss ging gehörignach hinten los, da ich kein Rau-cher war: Ich habe falsch inha-liert, und mir wurde ziemlichübel. Inzwischen bin ich abercannabissüchtig . . .. . .und dazu stehen Sie einfachso?Süchtig bin ich natürlich nur imSinne der Forschung, schliesslichbeschäftige ich mich mit dieserPflanze seit über vierzig Jahren,und sie wird mich auch nichtmehr loslassen.Was war der Ausschlag für IhrInteresse an Cannabis sativa?In den späten 1970er-Jahren be-trat die Polizei mein Labor imPharmazeutischen Institut Bernmit einem Sack Pflanzen aus demEmmental. Ich solle das untersu-chen. Die Polizei war der Über-zeugung, dass man mit diesemHanfzeugs keine berauschendeWirkung erzielen könne. Wirkonnten nachweisen, dass mantatsächlich auch in der SchweizHanf mit einem beträchtlichenAnteil des psychoaktiven StoffsTHC erzeugen kann. Wir habenin der Folge im Auftrag des Bun-desamtes für Gesundheit und derBundesanwaltschaft die Pflanzesystematisch untersucht. Dasführte mich schliesslich bis in dieUSA.Was haben Sie dort gemacht?Damals hatte die US-Drogenbe-hörde DEA die besten Laborein-richtungen. Als junger Pharma-zeut konnte ich viel lernen vonmeinen US-Kollegen. Ein Auf-enthalt an der Universität Mis-sissippi, einem Hotspot der Can-nabisforschung, bildete dann dieBasis für viele gemeinsame underfolgreiche Projekte.Die Amerikaner waren es aberauch, welche Cannabis als Killer-droge verteufelten. Wie gefähr-lich ist denn nun Cannabis, wennman es als Droge konsumiert?Eine pauschale Bewertung istenorm schwierig. Berücksichtigtman gesundheitliche, soziale,ökonomische und rechtlicheFaktoren, dann ist Cannabis alsnicht speziell problematisch ein-zuordnen. Wie eine englischeStudie eindrücklich zeigt, sindbeispielsweise Alkohol oderTabak in jeder Hinsicht viel ge-fährlicher.Wem würden Sie dringend da-von abraten, zu kiffen?Ein gleichaltriger Kollege vonmir, notabene ein Psychiater,

raucht schon seit Jahren ab undzu einen Joint. Er weiss, wie erdamit umgehen muss, und er istauch in keiner Art und Weise ab-hängig. Sicher nicht zu empfeh-len ist Cannabis jedoch fürJugendliche, weil bei ihnen dieGehirnentwicklung noch nichtabgeschlossen ist. So wurde ge-zeigt, dass Cannabis die neurona-le Vernetzung beeinflussen kann.Auch für psychisch labile Men-schen ist die Gefahr vorhanden,dass sie abdriften oder imschlimmsten Fall gar eine Psy-chose entwickeln. Und generellist der sogenannte Turbohanf,der THC-Werte erreicht von biszu 30 Prozent, schon gefährlich.Aber der normale Hanfkonsu-ment will in der Regel gar nichtderart starkes Gras rauchen undverdünnt mit Tabak.Wie abhängig macht die Droge?Sie kann psychisch abhängig ma-chen, aber eine physische Abhän-gigkeit wie bei Heroin oder Ko-kain konnte bei Cannabis nichtnachgewiesen werden.Hat der schlechte Ruf als Drogedazu geführt, dass Cannabis fürlange Zeit aus der Agenda derForscher verschwand?Ich erinnere mich, dass wir 1972während meines Praktikums inder Berner Zytglogge-Apothekenoch verschiedene Cannabispro-dukte in der Rezeptur hatten. Diedaraus hergestellte Hausspezia-lität war eine Hühneraugentink-tur. Das hat mich damals er-staunt, weil es bereits verschie-dene chemische Präparate dage-gen gab. Heute weiss man, dassinsbesondere der Wirkstoff Can-nabidiol entzündungshemmen-de und antibiotische Eigenschaf-ten aufweist. Als ich dann alsPharmazeut Cannabis als Heil-mittel wiederentdeckte und zuerforschen begann, war das tat-sächlich nicht immer einfach.Konkret?Viele meiner Kollegen an derUniversität belächelten damalsein bisschen meine Forschungenund klinischen Studien mit einer«Kifferdroge». Zudem wurde ichviermal grundlos und ohne Kon-sequenzen vor Gericht gezogen,weil Hanfproduzenten behaup-teten, sie hätten ihr Gras für denBrenneisen von der UniversitätBern produziert. Einer dieserHanfproduzenten hat mich garals grössten Dealer der Schweizbetitelt. Er selber musste dannwegen Ehrverletzung ins Ge-fängnis.Trotzdem sind Sie der Pflanzetreu geblieben. Weshalb?Weil das pharmakologische Po-tenzial dieser Pflanze enorm istund erschlossen werden muss. Esgibt wohl keine andere Pflanze,deren Wirkstoffe so viele positiveEffekte erzielen können. Canna-bis verfügt insgesamt über 500verschiedene Inhaltsstoffe, vondenen bis jetzt aber nur wenigeerforscht sind.Eine Wunderpflanze?So weit würde ich nicht gehen, ei-ne Mystifizierung dieser Pflanzeist fehl am Platz. So ist es unseri-

ös, zu behaupten, dass CannabisKrebs heilt. Der Kanadier RickSimpson hat zwar gegen seinenHautkrebs erfolgreich Cannabis-öl verwendet und beachtliche Re-sultate erzielt. Dies hat in Ameri-ka einen riesigen Hype ausgelöstund Erwartungen geweckt, diedieses Simpson-Öl jedoch nichterfüllen kann.Warum nicht?Oft fehlen klinische Studien, wel-che die Wirksamkeit einwandfreibelegen. Der ebenfalls spektaku-läre Fall des Mädchens CharlotteFigi ist ein anderes Beispiel ausden USA. Dieses schwerstepilep-tische Mädchen kann dank Can-nabidiol heute ein einigermassenvernünftiges Leben führen – unddies ohne psychische Beeinflus-sung, da Cannabidiol keineRauschwirkung hat. Dieser Er-folg hat eine breitangelegte klini-sche Studie ausgelöst.Hatten Sie auch schon Kontaktmit Patienten?Ja, bei mir kam beispielsweise einMann vorbei mit Prostatakrebs,der Rat suchte. Der ärztliche Be-fund war, dass ihm nicht mehr zuhelfen sei und seine Laborwertedramatisch seien. Er habe nichtsmehr zu verlieren und wolle jetztCannabis einsetzen. Ich habe ihnberaten und ihm gesagt, welchesPräparat ich als am besten geeig-net erachten würde und dass er esverdampfen und nicht rauchensolle. Er hat sich dann dieses sel-ber besorgt. Ein halbes Jahr spä-ter hat er sich bei mir gemeldetmit der guten Botschaft, dass sei-ne Laborwerte stabil und die Le-bensqualität zurück sei. Dieseanekdotischen Patientenberich-te sammle ich. Es kann ja nichtsein, dass alle Erfolge auf soge-nannte spontane Heilungen zu-rückzuführen sind.Haben Sie sich dadurch nichtstrafbar gemacht?Nein, ich habe ihm ja nur Tippsgegeben. Und Cannabidiol kön-nen Sie in der Schweiz problem-los kaufen, einfach nicht als Me-dikament, sondern als Nahrungs-ergänzungsmittel. Sie dürfenaber nicht darauf schreiben, dassdieses beispielsweise schmerz-stillend sei.Gibt es Beispiele von zugelasse-nen Cannabismedikamenten?Das bekannteste ist wohl das seitgut zwei Jahren zugelassene Sati-vex, von dem sich unter anderemdie Pharmamultis Bayer und No-vartis Vermarktungsrechte er-kauft haben. Dies ermöglicht esdem englischen Hersteller, auf-wendige klinische Studien zu fi-nanzieren und neue Indikatio-nen wie zum Beispiel Krebs-schmerzen zu testen. In derSchweiz ist Sativex zur Behand-lung schwerer Muskelkrämpfebei MS-Patienten registriert.Und das kann ich einfach beimArzt einverlangen?Ja, weil es auch THC enthält, giltes aber als Betäubungsmittel.Vom Apotheker hergestellte Can-nabistinkturen bedürfen einerEinzelbewilligung durch dasBundesamt für Gesundheit.

Das pharmakologisch viel po-tentere Morphin darf der Arztaber ohne Einzelbewilligung desBAG verschreiben.Das ist so, obwohl man sich imGegensatz zum Cannabis mitMorphin problemlos umbringenkann. Bis heute dürfen ohne Ein-willigung des Bundes nur Canna-bisprodukte mit einem THC-Ge-halt bis zu einem Prozent einge-setzt oder konsumiert werden.Aber es braucht einen deutlichhöheren Gehalt, damit über-haupt eine pharmakologischeWirkung erzielt werden kann.Auch Sativex weist einen höhe-ren THC-Gehalt auf.Dann muss man doch einfachden zugelassenen THC-Gehalterhöhen.So einfach ist das nicht, weil es da-zu einer Gesetzesänderung be-darf. Aber es wäre dringend not-wendig. Mit der heutigen Rege-lung produzieren wir einen un-glaublichen Bürokratiekrieg. Unddie Gesuche nehmen stetig zu.Ziel muss es sein, dass wir Medizi-nalcannabis in die Arztpraxenund Apotheken zurückbringen.Das ist derzeit eine eher vergeb-liche Hoffnung, oder?Der Bundesrat will jetzt dank derüberwiesenen Motion der Patien-tenschützerin Margrit Kessler dieForschung an dieser Pflanze for-cieren – und zwar auch diejenigedirekt am Schmerzpatienten.Deshalb bin ich vorsichtig zuver-sichtlich, dass man Medizinalcan-nabis künftig einfacher beziehenkann.

Interview: Gregor Poletti

«Medizinal-Cannabis muss in Arztpraxen und Apotheken zurückkehren»

IM GESPRÄCH

Rudolf Brenneisen ist irgendwiepeinlich berührt, als die Fotogra-fin ihr Equipment in seinem Büroin einem Berner Wohnquartieraufbaut. Er stehe nicht gerne imZentrum, wichtig sei ihm die Sa-che. Vielleicht sind es auch dienicht immer angenehmen Erfah-rungen mit Medien und der Öf-fentlichkeit, die er als «Cannabis-papst» während seiner Zeit alsProfessor der Pharmazie an derUni Bern gemacht hat. Sobald dasGespräch jedoch Fahrt aufnimmt,

ist der 66-Jährige nicht mehr zubremsen. Über drei Stunden er-zählt er aus seinem bewegten Le-ben als Hanfforscher, das ihm zu-erst nicht nur Freunde und späterNeider bescherte. Die Kiffer er-zürnte Brenneisen, als er zu Be-ginn seiner Karriere zusammenmit der Antidrogenbehörde derUSA und der Industrie Methodenentwickelte, um Drogen zu analy-sieren und in Blut und Urin nach-zuweisen. Seinen Ruf als einerder führenden Experten für die

Erforschung der Cannabispflan-ze erwarb er mit bahnbrechen-den Forschungen. So zeigte eineStudie an der Rehaklinik RehabBasel bereits 1996, dass der Can-nabiswirkstoff THC bei Quer-schnittsgelähmten spastischeMuskelkrämpfe lindert.

Inzwischen ist der verheirateteForscher emeritiert und hat keinLabor mehr. Er steuert und koor-diniert seine Tätigkeit als Expertevon seinem kleinen, unscheinba-ren Büro aus. Gerade ist er wieder

unterwegs zu Kongressen undVorträgen über die vielfältige Wir-kung von Cannabis. Als Leiter derSchweizer Arbeitsgruppe für Can-nabinoide in der Medizin hofft er,dass er die jetzt vom Bund initiier-te Forschungsoffensive unter-stützen und voranbringen kann.Denn seine Begeisterung fürdas Heilkraut ist ungebrochen.Daran lässt das intensive Ge-spräch mit dem Pharmakologenan diesem Nachmittag keinenZweifel. gr

«Mir wurde damalsbeim Rauchenziemlich übel. Aberinzwischen bin ichsüchtig nach demForschungsthemaCannabis.»

«Das pharmakolo-gische Potenzialdieser Pflanze istenorm und muss er-schlossen werden.»

Rudolf Brenneisen ist Pharmazeut und Leiter der Schweizer Arbeitsgruppe für Cannabinoide in der Medizin. Bilder Susanne Keller

Tetrahydrocannabinol (THC) ist derjenige Teil des Cannabis, der für denRausch sorgt – aber auch eine pharmakologische Wirkung hat.

SchweizMontag, 26. Oktober 2015

BAHNVERKEHR Die SBBmöchten, dass ihre Zügepünktlicher fahren. Nun prüftdie Bahn, wie viel es bringt,wenn die Züge nur kurz aufAnschlusszüge warten.

In einem Pilotprojekt testen dieSBB zurzeit, ob Passagiere pünkt-licher ankommen, wenn Zügeweniger lang auf verspätete An-schlusszüge warten müssen. DasPilotprojekt begann Mitte Okto-ber und soll bis Mitte Dezemberdauern. In den Test einbezogenwird das Dreieck Bern-Basel-Zü-rich. SBB-Sprecherin FranziskaFrey bestätigte einen Bericht derZeitung «Schweiz am Sonntag».

Untersuchungen hätten ge-zeigt, dass verkürzte Wartezeitenauf einzelne Anschlusszüge diePünktlichkeit im ganzen Netzsteigerten, sagte Frey. In derPraxis getestet wird dies nunan Wochentagen zwischen Be-triebsbeginn und kurz vor20 Uhr.

Entscheide fallen im 2016Laut der Sprecherin wird dasProjekt laufend überwacht undausgewertet. Bringe es die erhoff-te Wirkung nicht, werde es un-verzüglich abgebrochen, sagteFrey. Fahren die Züge im Pilot-projekt dagegen pünktlicher,wollen die SBB 2016 definieren,wie lange künftig noch auf An-schlusszüge gewartet wird.

Muss ein Zug auf einen An-schluss warten, profitieren lautFrey oft nur relativ wenige Passa-giere von der Möglichkeit, doch

SBB wollen weniger langauf verspätete Züge warten

noch umsteigen und gleichweiterfahren zu können. «Dochfür die vielen Reisenden, dieschon im wartenden Zug sitzen,kann diese Wartezeit zu Folge-verspätungen und Anschluss-brüchen führen.»

Ablehnung bei Pro BahnKein Verständnis für das Pilot-projekt hat Pro Bahn. Reisende inverspäteten Anschlusszügen bil-deten zwar eine Minderheit,schrieb die Interessenvertretungder Kunden des öffentlichen Ver-kehrs. Doch das Problem dieserPassagiere habe die SBB verur-sacht. Die Reisenden dürften da-für nicht bestraft werden. sda

Pilotversuch: Die SBB warten imRaum Bern-Basel-Zürich wenigerlang auf verspätete Züge. Raphael Moser

13

ANZEIGE