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Muhammad Yunus

Die Armut besiegenDas Programm des Friedensnobelpreisträgers

ISBN-10: 3-446-41236-0ISBN-13: 978-3-446-41236-1

Vorwort

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Vorwort

Es begann mit einem Handschlag

Da es der von mir gegründeten Grameen-Bank gelungen ist, arme Frauen in Bangladesch mit Mikrokrediten zu versorgen, werde ich oft von Einrichtungen eingeladen, die die Lage der Frau zu verbessern versuchen. Im Oktober 2005 sollte ich in dem Ferienort Deauville an der Nordküste Frankreichs an einer Konferenz teilnehmen. Anschließend würde ich in Paris an der renommierten Wirtschaftshochschule HEC, wo man mich zum Professor honoris causa ernennen würde, einen Vortrag hal-ten.

Einige Tage vor meinem Aufbruch nach Frankreich erhielt der Koordinator meiner Reise eine Mitteilung des Büros von Franck Riboud, dem Hauptgeschäftsführer des französischen Lebensmittelkonzerns Danone. Darin hieß es:

»Herr Riboud hat von der Arbeit von Professor Yunus in Bangla-desch gehört und würde sich sehr freuen, ihn kennenzulernen. Da Professor Yunus in Kürze nach Deauville reist, lässt Herr Riboud fragen, ob er sich mit ihm in Paris zum Mittagessen treffen könnte.«

Ich bin immer gerne bereit, mich mit Menschen zu treffen, die an meiner Tätigkeit und an den Mikrokrediten interessiert sind, insbesondere wenn diese Personen zum Kampf gegen die Armut beitragen können. Es war sicherlich interessant, mit dem Leiter eines großen multinationalen Konzerns ins Gespräch zu kom-men. Ich war nicht sicher, ob das vorgeschlagene Treffen in meinen bereits sehr vollen Termin plan passen würde, aber ich sagte meinem Koordinator, dass ich Herrn Riboud gerne tref-fen würde, wenn Zeit dafür wäre.

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X Vorwort

Man sagte mir, ich solle mir keine Gedanken machen: Die Leute von Danone würden alle Vorkehrungen treffen und mich nach dem Treffen pünktlich zur HEC bringen.

Also stieg ich am 12. Oktober am Flughafen Orly in eine Firmenlimousine von Danone, die mich zum kurz zuvor von dem Schauspieler Gérard Depardieu eröffneten Restaurant Fontaine Gaillon brachte, wo Franck Riboud auf mich war-tete.

Er hatte sieben Kollegen mitgebracht, darunter mehrere wichtige Führungskräfte, die für verschiedene Bereiche der glo-balen Tätigkeit des Konzerns verantwortlich waren: Jean Lau-rant, ein Mitglied des Vorstands von Danone, Philippe-Loïc Jadob, den Generalsekretär der Groupe Danone, und Jerome Tubiana, den Leiter der Dream Projects von Danone. Zudem hatte sich Dr. Bénédicte Faivre-Tavignot zu der Runde gesellt, die an der HEC das MBA-Programm für nachhaltige Entwick-lung leitete.

Man geleitete mich in ein Nebenzimmer, wo ich sehr freund-lich begrüßt wurde. Man servierte mir ein köstliches franzö-sisches Mahl und bat mich, von meiner Arbeit zu erzählen.

Ich stellte rasch fest, dass Franck Riboud und seine Kolle-gen bereits mit der Tätigkeit der Grameen-Bank vertraut waren. Sie wussten, dass wir zum Aufbau der globalen Mikrokredit-bewegung beigetragen hatten, die den Armen hilft, indem sie ihnen ohne Sicherheiten Kleinstkredite zur Ver fügung stellt, damit sie ein winziges Geschäft starten können (die Darlehen sind oft nicht höher als 30 bis 40 US-Dollar). Der Zugang zu Kapital, und sei es auch nur in sehr geringem Umfang, kann das Leben eines Menschen vollkommen verändern. Vielen Armen gelingt es mit einem Kleinstkredit, ein blühendes Geschäft auf-zubauen – einen winzigen Bauernhof, eine kleine Werkstatt oder einen Laden – und sich und ihre Familien aus der Armut zu befreien. Tatsächlich haben in den 31 Jahren, die wir mitt-lerweile Geld an die Armen – vor allem an Frauen – verleihen, allein in Bangladesch Millionen Familien ihre wirtschaftliche Lage dank eines Mikrokredits deutlich verbessert.

Ich berichtete Franck Riboud und seinen Kollegen, dass die Mikrokreditbewegung mittlerweile viele Entwicklungslän-

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XI

der erfasst hatte. Tausende Mikrokrediteinrichtungen, die von ge meinnützigen Organisationen, staatlichen Behörden und Unternehmern ins Leben gerufen worden waren, versuchten, den Erfolg von Grameen zu wiederholen. »Ende des kommen-den Jahres hoffen wir beim globalen Microcredit Summit bekannt geben zu können, dass 100 Millionen Arme in aller Welt einen Mikrokredit erhalten haben – und das, nachdem diese Bewegung erst vor wenigen Jahrzehnten aus dem Nichts entstanden ist.« (Tatsächlich konnten wir bei diesem Gipfeltref-fen in Halifax im November 2006 bekannt geben, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Nun haben wir uns noch ehrgei-zigere Ziele für die nächsten zehn Jahre gesteckt. Das wichtigste dieser Vorhaben besteht darin, 500 Millionen Menschen in aller Welt mit Mikro krediten dabei zu helfen, der Armut zu ent-kommen.)

Schließlich schilderte ich den Managern, wie die Grameen-Bank ihre Tätigkeit auf eine Vielzahl von Bereichen ausgeweitet hatte, um den Armen zu helfen. Wir hatten spezielle Kreditpro-gramme für den Wohnungsbau und die höhere Bildung einge-führt. Wir hatten begonnen, Bettlern Geld zu leihen, und Tau-sende Menschen konnten mittlerweile darauf verzichten, um Almosen zu bitten. Das hatte bewiesen, dass man sogar die Ärmsten der Armen als »kreditwürdig« betrachten konnte. Und wir hatten eine Reihe von Unternehmen aufgebaut, die die wirtschaftlichen Chancen für die Armen auf verschiedene Arten verbesserten. Einige dieser Unternehmen waren gewinnorien-tiert, andere hatten keinen Erwerbszweck. Sie brachten Tele-fon- und Internetdienste in Tausende abgelegene Dörfer und halfen den traditionellen Webern bei der Vermarktung ihrer Erzeugnisse. So erreichte Grameen jedes Jahr mehr und mehr Familien und Gemeinschaften.

Als ich meinen kurzen Bericht über die Fortschritte von Grameen abgeschlossen hatte, bat ich Franck Riboud, mir zu sagen, warum er mich um ein Treffen gebeten hatte. »Jetzt sind Sie an der Reihe«, sagte ich. »Ich habe von Ihrem Konzern gehört, aber soviel ich weiß, ist er in Bangladesch nicht tätig. Erzählen Sie mir also etwas über die Groupe Danone.«

»Das werde ich sehr gerne tun«, antwortete er.

Es begann mit einem Handschlag

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XII Vorwort

Franck erzählte mir von den Ursprüngen des Unternehmens. Die Groupe Danone ist ein weltweit führender Hersteller von Milchprodukten. Seine Joghurtmarke erfreut sich in ganz Eur-opa, Nordamerika und anderen Weltregionen großer Beliebt-heit. Danone ist auch der weltweit zweitgrößte Anbieter von Flaschenwasser und Keksen. »Dieses Evian-Wasser«, sagte Franck und hielt eine blaue Flasche hoch, »ist ein Produkt von Danone.« Ich hatte dieses Wasser schon in Hotels und Restau-rants in aller Welt getrunken. Nun wusste ich ein wenig mehr über das Unternehmen, das hinter dieser Marke stand.

»Das ist sehr interessant«, sagte ich, aber ich wusste immer noch nicht, was teures Mineralwasser und Mar ken joghurt, zwei Produkte, die in Bangladesch Luxusgüter wären, mit mir oder der Grameen-Bank zu tun haben sollten. Franck ließ mich nicht lange im Dunkeln. »Danone ist in vielen Weltregionen ein wichtiger Lebensmittelanbieter. Wir sind auch in einigen Ent-wicklungsländern tätig, in denen der Hunger ein gravierendes Problem ist. Wir betreiben große Niederlassungen in Brasilien, Indonesien und China. Seit Kurzem sind wir auch in Indien tätig. Tatsächlich erzielen wir über 40 Prozent unserer Umsätze in Entwicklungsländern.

Wir wollen unsere Produkte nicht nur an die wohl habenden Verbraucher in diesen Ländern verkaufen. Wir suchen nach einem Weg, um zu einer besseren Ernährung der Armen beizu-tragen. Dieses Bemühen ist Teil des historischen Bekenntnisses unseres Unternehmens zur sozialen Innovation und zum Fort-schritt, das seinen Ursprung in den Grundsätzen meines Vaters Antoine Riboud hat.

Vor diesem Hintergrund wird möglicherweise verständlich, warum ich Sie um dieses Treffen gebeten habe, Professor Yunus. Wir glauben, dass ein Mann, der kreative Lösungen entwickelt hat, um so vielen Armen zu helfen, der Groupe Danone die eine oder andere Anregung geben könnte.«

Ich wusste nicht recht, wonach Franck Riboud suchte. Aber ich hatte den Eindruck gewonnen, dass ihn alles interessierte, was ich ihm bisher erzählt hatte. Zudem dachte ich seit geraumer Zeit darüber nach, wie die Unternehmenswelt den Armen der Welt helfen könnte. Andere Sektoren der Volkswirt-

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schaft – zum Beispiel Freiwilligengruppen, wohltätige Einrich-tungen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) – wendeten sehr viel Zeit und Energie auf, um die Armut und ihre Folgen zu bekämpfen. Aber die Unternehmen – der finanziell innova-tivste und effizienteste Bestandteil der Volkswirtschaft – ver-fügten nicht über eigene Mechanismen, um ihre Methoden in den Dienst der Armutsbekämpfung zu stellen.

Die Arbeit der Grameen-Bank und ihrer Schwesterunter-nehmen hatte dazu beigetragen, Millionen Menschen in die lokale, regionale und globale Wirtschaft zu integrieren, sodass sie am Marktgeschehen teilhaben, Geld verdienen und ihre Familien erhalten konnten. Ich war der Meinung, dass sich den Unternehmen zahlreiche Möglichkeiten eröffneten, ähnliche Leistungen für die Armen zu erbringen. Und als sich bei einem Mittagessen in einem feinen Restaurant in Paris eine solche Möglichkeit bot, entschloss ich mich, die Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Es war ein impulsiver Vorschlag – keine jener sorgfältig vor-bereiteten Geschäftsideen, die die Manager normalerweise vor-ziehen. Aber ich hatte im Lauf der Jahre die Erfahrung gemacht, dass einigen meiner besten Projekte keine eingehende Analyse und Planung vorausgegangen war. Stattdessen hatten wir ein-fach die Chance gesehen, Gutes zu tun.

Also machte ich Franck Riboud und seinen Kollegen fol-genden Vorschlag: »Wie Sie wissen, zählt Bangladesch zu den ärmsten Ländern der Erde. Die Mangelernährung insbesondere der Kinder ist bei uns ein großes Problem. Sie beeinträchtigt das Wachstum unserer Kinder.

Ihr Unternehmen ist ein führender Hersteller von nahr-haften Lebensmitteln. Was halten Sie davon, mit uns ein Joint Venture zu gründen, um einige Ihrer Produkte in die Dörfer von Bangladesch zu bringen? Wir könnten ein Gemeinschaftsunter-nehmen gründen und es Grameen Danone nennen. Es könnte gesunde Lebensmittel erzeugen, die die Ernährung der Men-schen auf dem Land – vor allem jene der Kinder – verbessern würden. Würden wir diese Produkte billig genug anbieten, so könnten wir das Leben von Millionen Menschen verbessern.«

Ich sollte rasch entdecken, dass Franck Riboud, der Leiter

Es begann mit einem Handschlag

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XIV Vorwort

eines der bekanntesten Unternehmen der Welt, ebenso impulsiv sein konnte wie der »Banker der Armen« aus Bangladesch. Er erhob sich von seinem Stuhl, reichte mir über den Tisch die Hand und sagte: »Lassen Sie uns das tun.«

Mein Entzücken war ebenso groß wie mein Unglauben. Ich fragte mich, ob es tatsächlich möglich sein konnte, dass mein Angebot derart schnell angenommen wurde. Vielleicht lag es daran, dass er mich wegen meines Akzents nicht richtig ver-standen hatte. Wir setzen uns wieder, und ich entschloss mich, Franck wirklich klarzumachen, worauf er und sein Unterneh-men sich einließen.

»Möglicherweise habe ich mich nicht ganz klar ausge-drückt«, sagte ich höflich. »Ich schlage ein neues Unternehmen vor, ein Gemeinschaftsunternehmen von Danone und Grameen. Ich will den Namen von Grameen voranstellen, da unser Unter-nehmen in Bangladesch besser bekannt ist als Ihres.«

Franck nickte. »Seien Sie unbesorgt, ich habe Sie verstan-den!«, versicherte er mir. »Mir ist durchaus klar, was Sie vor-haben. Ich habe eingeschlagen, weil Sie mir gesagt haben, dass sich die Grameen-Bank auf das wechselseitige Vertrauen zwi-schen der Bank und ihren Kreditnehmerinnen stützt und dass für die Kreditvereinbarung ein Handschlag genügt, der den Papierkram überflüssig macht. Ich halte mich an Ihre Methode. Wir haben einander die Hand darauf gegeben, und ich für mei-nen Teil betrachte die Verein barung als bindend.«

Ich war glücklich über Francks Reaktion. Dann sagte ich ihm noch etwas anderes: »Ich habe meinen Vorschlag noch nicht vollkommen erklärt. Unser Gemeinschaftsunternehmen wird ein Sozialunternehmen sein.«

Nun wirkte er ein wenig verwirrt, so als hätte er einen Satz gehört, den er nicht sofort richtig übersetzen konnte. »Ein So -zialunternehmen? Was ist das?«

»Es ist ein Unternehmen, das dazu bestimmt ist, ein soziales Bedürfnis zu erfüllen. In diesem Fall besteht das Bedürfnis darin, die Ernährung armer Familien in den Dörfern von Bang-ladesch zu verbessern. Ein Sozialunternehmen ist ein Unterneh-men, das keine Dividenden ausschüttet. Es verdient mit dem Verkauf seiner Produkte oder Dienstleistungen genug Geld, um

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XV

seine Kosten zu decken. Das in das Unternehmen investierte Kapital kann im Lauf der Zeit an die Eigentümer zurückgezahlt werden, aber sie erhalten keine Gewinnausschüttung in Form einer Dividende. Alle Betriebsüberschüsse verbleiben im Unter-nehmen, um seine Expansion zu finanzieren, neue Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln und weiteren gesellschaft-lichen Nutzen zu erzielen.

Das Konzept habe ich selbst entwickelt. Ich denke seit Lan-gem darüber nach. Ich glaube, dass verschiedenste Unterneh-men als Sozialunternehmen konzipiert werden können, um den Armen zu dienen. Ich suche nach einer Möglichkeit, diese Idee in der Praxis anzuwenden. Wir haben in Bangladesch bereits ein erstes Projekt gestartet und errichten Augenkliniken, die als Sozialunternehmen betrieben werden. Aber Grameen Danone wird ein wirkungsvolles neues Beispiel dafür sein, dass dieses Konzept funktioniert – sofern Sie damit einverstanden sind.«

Franck lächelte. »Das ist ausgesprochen interessant«, sagte er. Er erhob sich erneut, um mir über den Tisch hinweg die Hand entgegenzustrecken. Ich stand ebenfalls auf und ergriff seine Hand. »Lassen Sie uns das machen«, sagte er.

Ich war vollkommen verblüfft und fest davon überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handeln musste. Als ich mich etwa zwei Stunden später auf dem Weg zu mei nem Vor-trag an der HEC befand, schickte ich Franck eine E-Mail, indem ich meine Einschätzung unseres Gesprächs zusammen-fasste und ihn bat, meine Interpretation zu bestätigen oder zu korrigieren. Wenn er sich tatsächlich verpflichten wollte, das erste multinationale Sozialunternehmen der Welt als Joint Ven-ture von Grameen und Danone ins Leben zu rufen, wollte ich sichergehen, dass ihm vollkommen klar war, was das bedeutete. Und wenn es ein Missverständnis gegeben hatte – oder wenn ihm oder seinen Kollegen Zweifel gekommen waren –, wollte ich ihm Gelegenheit geben, sein Angebot rasch und einfach zurückzuziehen.

Aber Franck und seine Führungscrew waren tatsächlich fest entschlossen, das Projekt durchzuführen. Noch während ich mich an der HEC aufhielt, erhielt ich einen Anruf von Emma-nuel Faber, der für das Asiengeschäft von Danone zuständig

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XVI Vorwort

war. Franck hatte in unserem Gespräch erwähnt, dass Emma-nuel der beste Mann sein würde, um unser gemeinsames Pro-jekt aufseiten von Danone zu leiten. Nun rief Emmanuel aus seinem Büro in Schanghai an.

»Professor Yunus«, sagte er zu mir, »ich bin begeistert da -rüber, dass Ihr Essen mit Franck ein konkretes Vorhaben her-vorgebracht hat. Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen und mit Ihnen über das Projekt sprechen zu können. Bitte schi-cken Sie mir Ihre ersten Konzepte für das Unternehmen.« Ich versprach, ihn rasch zu informieren.

Franck Riboud und Danone waren nicht nur entschlossen, das Projekt durchzuführen, sondern drängten darauf, unser Gemeinschaftsunternehmen so rasch wie möglich zu verwirk-lichen. Das wurde mir in der atemlosen Aktivität der folgenden Monate klar, als die Groupe Danone und Grameen unablässig arbeiteten, um etwas Neues unter der Sonne zu schaffen; das erste als solches konzipierte multi nationale Sozialunternehmen der Welt.

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TEIL I

Das Versprechen desSozialunternehmens

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1Eine neue Art von Unternehmen

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 hat die freie Marktwirtschaft die Welt erobert. Das marktwirt-schaftliche Konzept hat in China, Südostasien, weiten Teilen Lateinamerikas, in Osteuropa und sogar den Nachfolgestaaten der Sowjetunion Fuß gefasst. Es gibt vieles, was der freie Markt außerordentlich gut kann. Wenn wir uns die seit Langem kapi-talistischen Länder in Westeuropa und Nordamerika ansehen, finden wir dort beträchtlichen Wohlstand. Und wir sehen be -merkenswerte technologische Innovationen, wissenschaftliche Entdeckungen und fortschrittliche Bildungs- und Sozialsysteme. Die Entstehung des modernen Kapitalismus vor 300 Jahren ermöglichte einen beispiellosen materiellen Fortschritt. Doch fast eine Generation nach dem Zerfall der Sowjetunion sind viele Illusionen verflogen.

Gewiss, der Kapitalismus ist auf dem Vormarsch. Die Unter-nehmen wachsen, der Welthandel blüht, die multina tionalen Konzerne setzen sich auf den Märkten der Entwick lungsländer und im ehemaligen Ostblock fest, und die Technologie entwi-ckelt sich rasant. Doch davon profitiert nicht die ganze Welt. Die weltweite Einkommensverteilung gibt Aufschluss über das Ungleichgewicht: 40 Prozent der Menschen erzielen 94 Pro-zent des Gesamteinkommens der Weltbevölkerung, während die übrigen 60 Prozent mit den verbleibenden sechs Prozent auskommen müssen. Die Hälfte der Weltbevölkerung muss mit einem täglichen Einkommen von zwei Dollar oder weniger aus-kommen, und fast eine Mil liarde Menschen leben von weniger als einem Dollar am Tag.

Die Armut ist nicht gleichmäßig auf die verschiede nen Welt-

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4 Das Versprechen des Sozialunternehmens

regionen verteilt. Bestimmte Regionen müssen die schlimms-ten Auswirkungen des Mangels ertragen. In Schwarzafrika, in Südasien und in Lateinamerika kämpfen Millionen Arme um das nackte Überleben. Immer wieder töten Katastrophen wie der Tsunami im Jahr 2004, der meh rere Küstenregionen des Indischen Ozeans verwüstete, Hunderttausende Menschen, die in Armut leben und damit besonders verwundbar sind. Das Nord-Süd-Gefälle zwischen den reichen Ländern und der übrigen Welt wird größer.

Einige der Länder, die sich in den letzten drei Jahrzehn ten vorteilhaft entwickelt haben, mussten einen hohen Preis dafür bezahlen. Seit China Ende der 70er-Jahre mit den Wirtschafts-reformen begonnen hat, ist seine Wirtschaft rasch gewachsen, und nach Angaben der Weltbank sind mittlerweile 400 Millio-nen Chinesen der Armut entkommen. (Die Folge ist, dass Indien mittlerweile das Land ist, in dem die meisten Armen leben, obwohl China eine größere Gesamtbevölkerung hat.)

Dieser Fortschritt hat jedoch auch verschiedene soziale Probleme verschärft. Die vom Wachstum besessenen chine-sischen Behörden schauen weg, wenn Unternehmen das Wasser und die Luft verschmutzen. Und obwohl das Los vieler Armer verbessert werden konnte, vergrößert sich die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Gemessen an technischen Indi-katoren wie dem Gini-Koeffizienten ist die wirtschaftliche Ungleichheit in China größer als in Indien.

Sogar in den Vereinigten Staaten, die den Ruf genießen, das reichste Land der Welt zu sein, verlief die soziale Entwicklung zuletzt enttäuschend. Nachdem über zwei Jahrzehnte hinweg langsame Fortschritte beobachtet werden konnten, stieg die Zahl der in Armut lebenden Menschen in den letzten Jahren wieder.1 Etwa 47 Millionen Menschen (fast ein Sechstel der Bevölkerung) sind nicht krankenver sichert und haben damit nur beschränkten Zugang zur medizinischen Grundversorgung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte man auf eine »Friedensdividende« gehofft: Die Verteidigungsausgaben konn-ten gesenkt werden, womit mehr Geld für Bildung und Ge -sundheit zur Verfügung stand. Doch insbesondere seit dem 11. September 2001 hat sich die amerikanische Regierung auf

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Eine neue Art von Unternehmen 5

militärische Maßnahmen und die Sicherheitspolitik konzent-riert, was zulasten der Armen gegangen ist.

Die Menschheit ist sich dieser globalen Probleme durchaus bewusst. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde die Welt mobilisiert, um die Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Im Jahr 2000 versammelten sich die Führer der Welt bei den Vereinten Nationen und verpflichteten sich unter anderem, die Armut bis 2015 zu halbieren. Mittlerweile ist die Hälfte dieser Zeit verstrichen, und angesichts der bisher enttäuschenden Ergebnisse meinen die meisten Beobachter, dass es nicht gelin-gen wird, die Millennium-Ziele zu erreichen. (Es freut mich, dass mein Heimatland Bangladesch eine Ausnahme ist. Es nä -hert sich dem Ziel stetig und ist auf dem besten Weg, die Armut bis 2015 tatsächlich zu halbieren.)

Was funktioniert nicht? Warum hat der Markt in einer Welt, in der das Konzept des freien Unternehmertums keine wirkliche Konkurrenz hat, so viele Menschen im Stich gelassen? Warum bleibt ein derart großer Teil der Welt zurück, während einige Länder ihren Wohlstand stetig erhöhen?

Der Grund ist einfach: Die freien Märkte in ihrer ge gen-wärtigen Form sind nicht geeignet, soziale Probleme zu lösen, sondern werden Armut, Krankheiten, Umweltverschmutzung, Korruption, Verbrechen und Ungleichheit noch verschlimmern.

Ich begrüße die Globalisierung und finde es vorteilhaft, dass sich die freien Märkte über die Landesgrenzen hinweg ausdeh-nen und den Handel zwischen den Nationen und die Kapital-ströme fördern. Ich befürworte, dass die Regierun gen interna-tionale Unternehmen mit Standorten für ihre Anlagen, günstigen Betriebsbedingungen, Steuerbegünstigungen und der Befreiung von Vorschriften anlocken. Grundsätzlich ist die Globalisie-rung vorteilhafter für die Armen als alle Alternativen. Aber wird sie nicht ausreichend überwacht und bestimmten Regeln unterworfen, so kann die Globalisierung großen Schaden ver-ursachen.

Man kann sich den Welthandel als eine 100-spurige Auto-bahn vorstellen, die den gesamten Erdball umspannt. Wenn auf dieser Autobahn niemand Straßengebühren zahlen muss, wenn es keine Ampeln, keine Geschwindigkeits begrenzungen, keine

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Gewichtsbeschränkungen und keine Fahrbahnmarkierungen gibt, wird die Straße von den gewaltigen Lkws aus den stärks-ten Volkswirtschaften in Besitz genommen. Kleine Fahrzeuge wie der Kleinlaster eines Bauern oder die Ochsenkarren und Fahrradrikschas aus Bangladesch werden unweigerlich in den Straßengraben gedrängt.

Damit alle Beteiligten von der Globalisierung profitieren können, brauchen wir faire Verkehrsregeln, Signale und eine Verkehrspolizei. Das Gesetz des Stärkeren muss durch Regeln ersetzt werden, die gewährleisten, dass auch die Ärmsten auf dieser Autobahn Platz haben. Andernfalls wird der globale freie Markt in die Hände des Finanzimperialismus fallen.

Auf den lokalen, regionalen und nationalen Märkten sind ebenfalls angemessene Regeln und Kontrollmechanismen erfor-derlich, um die Interessen der Armen zu schützen. Ohne solche Kontrollen können die Reichen die Bedingungen zu ihrem eigenen Vorteil verändern. Die negativen Auswirkungen eines schrankenlosen Einbahnkapitalismus sind überall zu beobach-ten: Global tätige Konzerne siedeln ihre Fabriken in den ärms-ten Ländern der Welt an, wo billige Arbeitskräfte (darunter Kinder) ungehindert ausgebeutet werden können, um den Pro-fit zu maximieren. Unternehmen verschmutzen Luft, Wasser und Erdreich, um sich die Kosten von Umweltschutzmaßnah-men zu ersparen. Irreführende Marketing- und Werbekampag-nen fördern den Absatz schädlicher oder unnötiger Produkte.

Doch vor allem sehen wir das Wirken des schrankenlosen Kapitalismus in jenen Wirtschaftssektoren, die die Armen igno-rieren und die Hälfte der Weltbevölkerung abschreiben, um sich zwecks Gewinnmaximierung auf den Verkauf von Luxus-gütern an Menschen zu konzentrieren, die diese Produkte nicht benötigen.

Ich glaube an den freien Markt als Quelle der Inspiration und Freiheit für alle, aber ich glaube nicht an den Markt als Katalysator der Dekadenz einer kleinen Elite. Die reichsten Länder in Nordamerika, Europa und Teilen Asiens haben enorm von der kreativen Energie, der Effizienz und der Dyna-mik der freien Märkte profitiert. Ich habe mein Leben dem Ver-such gewidmet, die Früchte der freien Marktwirtschaft auch

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den Vernachlässigten dieser Welt zugänglich zu machen, das heißt Armen, die nicht berücksichtigt werden, wenn die Wirt-schaftswissenschaftler und Manager über den Markt sprechen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der freie Markt, mächtig und nützlich, wie er ist, zur Lösung von Problemen wie der glo-balen Armut und der Umweltzerstörung beitragen könnte. Doch das wird er nicht tun, wenn er ausschließlich den finan-ziellen Zielen der reichsten Marktteilnehmer dienen muss.

Ist der Staat die Antwort?

Viele Leute sind der Ansicht, wenn der Markt die sozialen Probleme nicht lösen könne, müsse der Staat diese Aufgabe übernehmen. So wie ein Privatunternehmen dem individuellen Profit dient, wird vom Staat angenommen, dass er die Interes-sen der Gesellschaft als Ganzer vertritt. Nun scheint der Schluss folgerichtig, die großen sozialen Probleme gehörten in den Wir-kungsbereich des Staates.

Tatsächlich kann der Staat dazu beitragen, jene Welt zu schaffen, in der wir alle leben möchten. Es gibt bestimmte sozi-ale Funktionen, die nicht von einzelnen Personen oder Privat-einrichtungen übernommen werden können – Beispiele sind die Landesverteidigung, eine Zentralbank zur Regulierung der Geldversorgung und des Bankwesens, ein öffentliches Schulsys-tem und ein nationales Gesundheitswesen, das eine medizi-nische Versorgung aller Bürger gewährleistet und die Aus-wirkungen von Epidemien eindämmt. Eine ebenso wichtige Funktion der öffentlichen Hand besteht darin, die Regeln fest-zulegen und durchzusetzen, die den Kapitalismus unter Kon-trolle halten – dies sind unsere Verkehrsvorschriften. Über geeignete Regeln und Vorschriften für die globalisierte Wirt-schaft wird noch debattiert. Ein internationaler wirtschaftlicher Regulierungsrahmen muss erst geschaffen werden. Aber auf nationaler und lokaler Ebene leisten viele Regierungen gute Arbeit in dem Bemühen, Ordnung auf den freien Märkten zu schaffen. Das gilt insbesondere in der industrialisierten Welt, wo es den Kapitalismus schon lange gibt und wo die demokra-

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8 Das Versprechen des Sozialunternehmens

tischen Regierungen Schritt für Schritt angemessene Kontroll-mechanismen eingeführt haben.

Die Verkehrsvorschriften für die freien Märkte regeln die Inspektion von Nahrungsmitteln und Medikamenten und be -inhalten Vorschriften, die Betrug an den Verbrauchern, den Verkauf mangelhafter Produkte, irreführende Werbung, Ver-tragsverletzungen und eine Schädigung der Umwelt verhindern sollen. Diese Rechtsvorschriften schaffen und regeln zudem den Informationsrahmen, in dem die wirtschaftliche Aktivität statt-findet, das heißt die Funktionsweise der Wertpapiermärkte, die Offenlegung der Finanzinformationen von Unternehmen und einheitliche Verfahren für Buchführung und Rechnungsprü-fung. Diese Regeln gewährleisten, dass alle wirtschaftlichen Akteure gleiche Bedingungen vorfinden.

Die Verkehrsvorschriften für die Wirtschaft sind allerdings nicht perfekt, und sie werden nicht immer richtig durchgesetzt. Immer noch täuschen manche Unternehmen die Verbraucher, verschmutzen die Umwelt oder betrügen die Investoren. Beson-ders gravierend sind diese Mängel in den Entwicklungsländern, deren Regierungen und Verwaltungen oft schwach oder korrupt sind. In der entwickelten Welt erfüllen die öffentlichen Ein-richtungen ihre Kontrollaufgaben normalerweise gut, ob wohl konservative Politiker seit den 80er-Jahren jede Gelegenheit ergreifen, um den Einfluss des Staates zurückzudrängen.

Doch auch ein ausgezeichnetes behördliches Regelwerk zur Kontrolle der wirtschaftlichen Tätigkeit genügt nicht, um zu gewährleisten, dass gravierende soziale Probleme in Angriff genommen oder gar gelöst werden. Der Staat kann die Funk-tionsweise der Wirtschaft beeinflussen, aber er kann nichts dagegen tun, dass die Unternehmen bestimmte Bereiche ver-nachlässigen. Die Wirtschaft kann nicht gezwungen werden, Probleme zu beheben, sondern man muss ihr Anreiz dazu geben, sich aus eigenem Antrieb um Lösungen zu bemühen. Die Verkehrsregeln können auf der globalen Wirtschaftsautobahn Platz für kleine Autos und Lastfahrzeuge und sogar für Rik-schas schaffen. Aber was ist mit den Millionen Menschen, die sich überhaupt kein Fahrzeug leisten können? Was ist mit den Millionen Frauen und Kindern, die ihre Grundbedürfnisse nicht

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erfüllen können? Wie kann die verarmte Hälfte der Weltbevöl-kerung in die Weltwirtschaft eingebunden werden, wie kann sie in die Lage versetzt werden, sich auf dem freien Markt zu behaupten? Mit wirtschaftlichen Stoppschildern und Verkehrs-kontrollen ist das nicht zu bewerkstelligen.

Die Regierungen versuchen seit Langem, diese Probleme zu lösen. Im späten Mittelalter versuchte man in England, die Ärmsten mit den Poor Laws vor dem Hungertod zu bewahren. Heute rücken die Staaten sozialen Problemen mit öffentlichen Programmen zu Leibe und beschäftigen Ärzte, Krankenschwes-tern, Lehrer, Wissenschaftler, Sozialarbeiter und Forscher, um die Situation der Benachteiligten zu verbessern.

In einigen Ländern haben die staatlichen Einrichtungen Fortschritte im Kampf gegen Armut, Krankheiten und andere soziale Übel gemacht. Das gilt auch im Fall der Überbevölke-rung in Bangladesch, das zu den am dichtesten bevölkerten Ländern der Erde zählt und auf einer Fläche, die nicht viel grö-ßer ist als jene Englands, 145 Millionen Einwohner hat. Um das Ausmaß des Problems anders zu erklären: Müsste sich die gesamte Weltbevölkerung auf dem Gebiet der Vereinigten Staa-ten zusammenzwängen, so wäre die Bevölkerungsdichte dort nur wenig geringer als in Bangladesch! Dennoch hat Bangla-desch wirkliche Fortschritte bei der Verringerung des Bevölke-rungsdrucks gemacht. In den letzten drei Jahrzehnten ist die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau deutlich gesunken, näm-lich von 6,3 im Jahr 1975 auf 3,3 im Jahr 1999, und der Rück-gang der Geburtenrate setzt sich fort. Dieser bemerkenswerte Fortschritt ist in erster Linie staatlichen Maßnahmen zu ver-danken, zu denen die Bereitstellung von Mitteln zur Empfäng-nisverhütung sowie von Informationen und Diensten zur Fami-lienplanung in einem landesweiten Netz von Kliniken zählt. Die Anstrengungen von Nichtregierungsorganisationen sowie die Tätigkeit der Grameen-Bank haben ebenfalls wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Verringerung der Armut beigetragen.

Der Staat kann einiges zur Lösung der sozialen Probleme tun. Er ist groß und mächtig, hat Zugang zu praktisch allen Bereichen der Gesellschaft und kann durch die Erhebung von

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Steuern beträchtliche Mittel mobilisieren. Selbst die Regie-rungen armer Länder mit geringen Steuereinnahmen können sich internationale Hilfe in Form von Zuschüssen und gering verzinsten Krediten beschaffen. Daher ist die Versuchung groß, die sozialen Probleme unserer Welt einfach dem Staat zu über-antworten, nach dem Motto: »Bringen Sie das hier in Ord-nung.«

Würde dieser Zugang funktionieren, so wären die Probleme seit Langem gelöst. Dass sie weiter bestehen, macht deutlich, dass der Staat allein nicht die Antwort sein kann. Aber warum nicht?

Es gibt eine Reihe von Gründen dafür. Zum einen können staatliche Verwaltungen ineffizient, langsam, anfällig für die Korruption und bürokratisch sein und ein extremes Behar-rungsvermögen entwickeln. All dies sind Nebenwirkungen der Vorteile des Staates, das heißt seiner gewaltigen Größe, seiner Macht und seiner Reichweite, die ihn fast zwangsläufig glei-chermaßen schwerfällig wie attraktiv für jene machen, die ihn benutzen möchten, um sich selbst Macht und Reichtum zu sichern.

Der Staat versteht sich oft gut darauf, Einrichtungen zu schaffen, aber es fällt ihm schwer, sie wieder zu beseitigen, wenn sie nicht länger benötigt werden oder zu einer Last wer-den. Mit jeder neuen Institution werden auch verbriefte Rechte geschaffen, insbesondere Arbeitsplätze. Beispielsweise hatten in Bangladesch jene öffentlich Bediensteten, deren einzige Auf-gabe darin bestand, die Uhren aufzuziehen, die in den Verwal-tungsbüros standen, noch Jahre, nachdem die altertümlichen Uhrwerke durch elektrische Uhren ersetzt worden waren, ihre Posten inne.

Auch die politischen Interessen schränken die Effizienz des Staates ein. Selbstverständlich bedeutet »Politik« auch »Rechen-schaftspflicht«. Die Tatsache, dass Personengruppen von der Regierung verlangen, ihren Interessen zu dienen, und zur Wah-rung dieser Interessen Druck auf ihre gewählten Vertreter aus-üben, ist ein wesentliches Merkmal der Demokratie.

Aber eben dieser Aspekt der Regierungstätigkeit führt manchmal dazu, dass der Fortschritt den Interessen einer oder

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mehrerer mächtiger Interessengruppen geopfert wird. Nehmen wir beispielsweise das widersinnige, schlecht konstruierte und ineffiziente Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten, das Millionen Menschen dazu verurteilt, ohne Krankenversiche-rung zu leben. Eine Reform dieses Systems ist bisher am Wider-stand der mächtigen Versicherungsgesellschaften und Pharma-unternehmen gescheitert.

Die inhärenten Schwächen der öffentlichen Verwaltung sind eine der Erklärungen dafür, dass die staatliche Planwirtschaft in den sozialistischen Staaten letzten Endes zusammenbrach. Diese Mängel führen auch dazu, dass Menschen in aller Welt mit den staatlichen Lösungen für die sozialen Probleme unzu-frieden sind.

Der Staat muss seinen Teil dazu beitragen, unsere schlimms-ten Probleme zu lindern, aber allein ist er nicht dazu in der Lage.

Die Beiträge der gemeinnützigen Einrichtungen

Vom Staat enttäuscht, haben viele Menschen, denen die Prob-leme der Welt am Herzen liegen, gemeinnützige Organisa tionen gegründet. Diese Einrichtungen nehmen verschiedene Formen an und erhalten unterschiedliche Bezeichnungen: Non-Profits, Nichtregierungsorganisationen, wohltätige Ein rich tun gen, phil-anthropische Stiftungen und so weiter.

Die Wohltätigkeit entspringt der Sorge des Menschen um andere Menschen. Jede große Religion verlangt von ihren Anhängern, den Bedürftigen zu helfen. Vor allem in Notsitua-tionen leisten die gemeinnützigen Hilfsorganisatio nen wichtige Beiträge zur Hilfe für die verzweifelten Opfer. In Bangladesch hat die großzügige Unterstützung durch Menschen im Land und aus der ganzen Welt nach Überschwemmungen und Sturm-fluten Zehntausende Leben gerettet.

Doch es hat sich gezeigt, dass die Hilfsorganisationen allein die sozialen Probleme nicht lösen können. Die Tatsache, dass es weiterhin Armut, Krankheiten, Obdachlosigkeit, Hungersnöte

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und Umweltverschmutzung gibt und dass sich diese Übel sogar verschlimmert haben, zeigt deutlich, dass die gemeinnützigen Einrichtungen allein diesen Aufgaben nicht gewachsen sind. Die Hilfsorganisationen weisen ebenfalls eine inhärente Schwä-che auf: Sie hängen von einem stetigen Strom von Spenden großzügiger Personen, Organi sa tionen oder Regierungsbehör-den ab. Versiegen diese Quellen, so muss die Hilfe eingestellt werden. Und wie fast jeder Leiter einer gemeinnützigen Hilfs-organisation bestätigen wird, ist nie genug Geld vorhanden, um alle Bedürfnisse zu erfüllen. Selbst wenn die Geldbeutel der Menschen in den reichen Ländern dank einer vorteilhaften Wirtschaftsentwicklung gut gefüllt sind, werden sie nur einen begrenzten Teil ihres Einkommens für gemeinnützige Zwecke spenden. Und in wirtschaftlichen Krisenzeiten, das heißt gerade dann, wenn die Unglücklichen besonders auf Hilfe angewiesen sind, sinkt das Spendenaufkommen. Die Gemeinnützigkeit ist eine Form von Trickle-down-Mechanismus, und wenn von oben kein Geld nachfließt, sickert nichts mehr zu den Bedürf-tigen durch.

Die Abhängigkeit von Spenden verursacht noch weitere Probleme. In Ländern, in denen die soziale Lage besonders schlecht ist – in Bangladesch, in anderen Regionen Südasiens sowie in weiten Teilen Lateinamerikas und Schwarzafrikas – stehen normalerweise nur sehr geringe Mittel für gemeinnüt-zige Programme zur Verfügung. Und es ist oft schwierig, Spen-der in den reichsten Ländern zu einer nachhaltigen Unterstützung ferner Länder zu bewegen, die sie möglicherweise nie besucht haben und in denen die Hilfe Menschen zugutekommt, denen sie nie begegnen werden. Das ist verständlich, aber es führt dazu, dass gravierende soziale Probleme in diesen Ländern nicht in Angriff genommen werden können.

In Krisenzeiten werden die Probleme noch größer – wenn sich eine Naturkatastrophe ereignet, wenn ein Krieg die Bevöl-kerung entwurzelt, wenn eine Epidemie ausbricht oder wenn eine Umweltkatastrophe ganze Landstriche unbewohnbar macht. In einer solchen Situation übersteigt die Nachfrage nach Hilfsleistungen rasch das Angebot. Und in einer Zeit, da wir ständig mit Nachrichten aus aller Welt bombardiert werden,

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versuchen zahlreiche Hilfsorganisationen unsere Aufmerksam-keit auf ihre speziellen Vorhaben zu lenken. Der Großteil der Spenden geht an die Opfer von Katastrophen, über die im Fern-sehen dramatische Berichte gezeigt werden, während weniger medienwirksame Notsituationen, die ebenso großen Schaden verursachen können, ignoriert werden. Und irgendwann ist das Mitleid erschöpft, und die Menschen hören auf zu spenden.

Daher sind die Reichweite und die Wirksamkeit der Hilfs-organisationen begrenzt. Die Notwendigkeit, unentwegt Spen-den aufzutreiben, nimmt Zeit und die Energie in Anspruch, die die Hilfsorganisationen eigentlich für die Ausweitung ihrer Hilfsprogramme benötigen würden. So kann es nicht verwun-dern, dass sie in ihrem Kampf gegen die sozialen Übel keine großen Fortschritte machen.

Trotz der wertvollen Beiträge, die gemeinnützige Hilfsein-richtungen leisten, kann von ihnen keine Lösung der sozialen Probleme der Welt erwartet werden. Die von der Gesellschaft festgelegte Natur dieser Organisationen macht das praktisch unmöglich.

Multilaterale Institutionen: Die Entwicklungselite

Es gibt eine weitere Kategorie von Einrichtungen, die soge-nannten multilateralen Institutionen. Diese Einrichtungen wur-den von verschiedenen Staaten gegründet und werden von die-sen finanziert. Ihre Aufgabe besteht darin, die Armut zu beseitigen, indem sie die Wirtschaftsentwicklung in Ländern und Regionen fördern, die hinter den wohlhabenden Nationen in der nördlichen Hemisphäre herhinken. Die wichtigste der multilateralen Institutionen ist die Weltbank. Im Rahmen der Weltbank-Gruppe ist die International Finance Corporation (IFC) für die Förderung des Privatsektors zuständig. Zudem gibt es vier regionale Entwicklungsbanken, die sich an der Welt-bank orientieren.

Leider sind auch die multilateralen Organisationen den sozialen Zielen, die sie sich gesteckt haben, in der Praxis kaum

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näher gekommen. Wie die staatlichen Einrichtungen sind sie bürokratisch, konservativ, langsam und oft eigensüchtig. Wie die gemeinnützigen Einrichtungen leiden sie unter chronischer Unterfinanzierung, eignen sich kaum für ein dauerhaftes Enga-gement und sind vielfach politisch unbeständig. Die Folge ist, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten Hunderte Milliarden Dollar investiert haben, ohne damit eine große Wirkung zu erzielen, vor allem, wenn man ihre Leistungen an dem Ziel misst, Probleme wie die weltweite Armut zu lindern.

Multilaterale Institutionen wie die Weltbank bezeichnen die Beseitigung der Armut als ihr vorrangiges Ziel. Aber um dieses Ziel zu erreichen, konzentrieren sie sich ausschließlich auf die Förderung des generellen Wirtschaftswachstums. Das bedeutet, dass die Weltbank der Meinung ist, ihrem Ziel näher zu kom-men, wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes oder einer Region wächst. Dieses Wachstum kann verschwindend gering sein, es kann ohne jeden Nutzen für die Armen sein, ja es kann sogar zu ihren Lasten gehen, doch die Weltbank lässt sich nicht dazu bewegen, ihre Politik zu ändern.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es ohne Wirt-schaftswachstum nicht möglich ist, die Armut zurückzudrän-gen. Aber die Vorstellung, das einzige Mittel gegen die Armut sei die Förderung des Wachstums, bewegt die politischen Ent-scheidungsträger dazu, sich auf die Errichtung von Infrastruk-turen zu konzentrieren, um die Industrialisierung und Mecha-nisierung voranzutreiben.

Die Sorgen bezüglich der Gefahren des Weltbank-Ansatzes haben eine Debatte über die Frage ausgelöst, welche Art von Wachstum wir anstreben sollten. Das »Wachstum für die Armen« und das »Wachstum gegen die Armen« werden oft als separate politische Optionen betrachtet. Ich bin anderer An -sicht: Selbst wenn die Politiker ein Wachstum für die Armen anstreben, verfehlen sie das eigentliche Ziel. Das Ziel der Poli-tik ist es offenkundig, eine wirtschaftliche Dynamik zu erzeu-gen, die die Armen ins System holt. Aber in diesem Konzept werden die Armen als Objekte betrachtet. So entgeht den Poli-tikern das gewaltige Potenzial der Armen, insbesondere der armen Frauen und der Kinder armer Familien. Die Politik ist

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nicht in der Lage, die Armen als eigenständige Akteure zu betrachten. Die Politiker machen sich Sorgen über die Gesund-heit, die Bildung und die Arbeitsplätze der Armen, aber sie sehen nicht, dass die Armen selbst Akteure sein können. Sie können selbständige Unternehmer sein und Arbeitsplätze für andere schaffen.

Die politischen Entscheidungsträger beschränken sich im Bemühen um Wirtschaftswachstum zudem darauf, etablierte Einrichtungen zu fördern. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, dass diese Einrichtungen selbst möglicherweise zur Schaffung oder zur Verfestigung der Armut beitragen. Man kann die Beseitigung der Armut nicht jenen Einrichtungen und poli-tischen Eingriffen überlassen, die das Problem geschaffen haben. Stattdessen müssen neue Institutionen aufgebaut wer-den, die geeignet sind, die Probleme der Armen zu lösen.

Ein weiteres Problem sind die Kanäle, deren sich die Geld-geber bedienen, um Entwicklungsprojekte auszuwählen und durchzuführen. Sowohl die bilateralen als auch die multilate-ralen Geldgeber arbeiten fast ausschließlich mit den staatlichen Apparaten. Doch um wirklich eine Wirkung zu erzielen, sollten sie sich sämtlichen Segmenten der Gesellschaft öffnen und das kreative Potenzial des Privatsektors nutzen. Ich bin sicher, dass die Geldgeber, wenn sie ihre Fixierung auf die staatlichen Mechanismen erst einmal aufgeben, zahlreiche bedeutsame Innovationen durchsetzen werden. Sie können mit kleinen Pro-jekten beginnen und diese ausbauen, wenn sich positive Resul-tate einstellen.

Im Lauf der Jahre habe ich die Unterschiede in der Vor-gehensweise der Weltbank und der Grameen-Bank studiert. Theoretisch sind wir auf demselben Gebiet tätig – wir ver-suchen, den Menschen dabei zu helfen, sich aus der Armut zu befreien. Aber die Methoden, anhand derer wir dieses Ziel ver-folgen, könnten kaum unterschiedlicher sein.

Die Grameen-Bank ist seit jeher davon überzeugt, dass wir einer Kreditnehmerin helfen müssen, die in Schwierigkeiten geraten ist und ihr Darlehen nicht zurückzahlen kann. Haben wir ein Problem mit einer Kreditnehmerin, so sagen wir uns, dass sie im Recht ist, dass wir einen Fehler bei der Gestaltung

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oder Umsetzung unserer Maßnahmen gemacht haben müssen. Also prüfen wir uns und beheben den Fehler. Wir gestalten unsere Regeln ausgesprochen flexibel, um sie den Bedürfnissen der Kreditnehmerin anpassen zu können.

Wir halten unsere Kreditnehmerinnen auch dazu an, selbst zu entscheiden, wie sie das geliehene Geld verwenden wollen. Wenn eine Kreditnehmerin ihren Grameen-Betreuer bittet, ihr eine gute Geschäftsidee vorzuschlagen, so hat unser Mitarbei-ter Anweisung, wie folgt zu antworten: »Es tut mir leid, aber ich bin nicht klug genug, um Ihnen Vorschläge zu unterbreiten. Grameen hat viel Geld, aber keine Geschäftsideen. Deshalb haben wir uns mit Ihnen zusammengetan. Sie haben die Idee, wir das Geld. Hätte Grameen gute Geschäftsideen, so würden wir das Geld selbst verwenden, um noch mehr Geld zu verdie-nen, anstatt es Ihnen zu geben.«

Wir möchten, dass sich unsere Kreditnehmerinnen wichtig fühlen. Wenn eine Frau versucht, einem Kreditangebot mit der Erklärung auszuweichen, sie habe keine geschäftliche Erfah-rung, bemühen wir uns, sie zu überzeugen, dass sie selbst eine Geschäftsidee entwickeln kann. Es ist kein Problem, wenn sie zum ersten Mal unternehmerisch tätig wird. Schließlich muss man alles im Leben irgendwann ein erstes Mal tun.

Die Weltbank geht ganz anders vor. Wer das Glück hat, von dieser Einrichtung finanziert zu werden, erhält von ihr nicht nur Geld, sondern auch Anregungen, fachliche Beratung, Trai-ning, Geschäftspläne, unternehmerische Prinzipien und betrieb-liche Verfahren. Der Kreditnehmer hat den vorgezeichneten Linien zu folgen und die Anweisungen gewissenhaft zu befol-gen. Doch trotz all dieser Bemutterung entwickeln sich die Pro-jekte nicht immer wie geplant. Und wenn das geschieht, muss normalerweise das Empfängerland die Schuld auf sich nehmen und die Konsequenzen tragen.

Auch zwischen den Anreizsystemen der beiden Einrich-tungen gibt es wesentliche Unterschiede. In der Grameen-Bank haben wir ein fünfstufiges Bewertungs- und Anreizsystem für unsere Mitarbeiter und Filialen. Zahlen 100 Prozent der Kreditnehmerinnen eines Mitarbeiters (das sind üblicherweise 600 Frauen) ihren Kredit zurück, so erhält dieser Mitarbeiter

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einen grünen Stern. Erzielt er mit seiner Arbeit einen Gewinn, so erhält er zudem einen blauen Stern. Für Spareinlagen, die den Gesamtbetrag seiner offenen Kredite übersteigen, gibt es einen violetten Stern. Sorgt der Mitarbeiter dafür, dass sämt-liche Kinder seiner Kreditnehmerinnen die Schule besuchen, so erhält er einen braunen Stern. Und wenn alle von ihm betreu-ten Frauen die Armut hinter sich lassen, bekommt er einen roten Stern. Der Mitarbeiter kann die Sterne auf seiner Jacke tragen. Unsere Betreuer sind ungeheuer stolz auf einen solchen Erfolg.

Im Gegensatz dazu hängt der Erfolg eines Mitarbeiters der Weltbank nicht mit den Ergebnissen seiner Arbeit, sondern mit der Höhe der von ihm vermittelten Kredite zusammen. In un -serem Belohnungssystem wird die Höhe der von unseren Mit-arbeitern vergebenen Kredite überhaupt nicht berücksichtigt.

Immer wieder wird die Auflösung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds gefordert. Ich lehne diese For-derung ab, denn dies sind wichtige globale Einrichtungen, die einem guten Zweck dienen. Anstatt sie aufzulösen, sollten wir sie vollkommen neu gestalten. Seit deren Gründung hat sich die Welt sehr verändert. Offenkundig werden der Aufbau und die Arbeitsverfahren dieser Einrichtungen den heutigen Anforde-rungen nicht mehr gerecht. Würde man mich nach Anregungen fragen, so würde ich folgende Änderungen vorschlagen:

Die Weltbank sollte sowohl staatlichen als auch privaten Investoren offenstehen, wobei die privaten Investitionen jenen Sozialunternehmen zufließen sollten, die ich im Fol-genden beschreiben werde.

Die Bank sollte mit Regierungen, NRO und jenen neuar-tigen Organisationen arbeiten, für deren Schaffung ich mich in diesem Buch einsetze, das heißt mit Sozialunternehmen.

Die Finanzierung des Privatsektors sollte nicht länger über die International Finance Corporation, sondern über ein Sozialunternehmen erfolgen.

Der Präsident der Weltbank sollte von einem Komitee aus-gesucht werden, das qualifizierte Kandidaten aus aller Welt berücksichtigen müsste.

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Die Weltbank sollte statt Länderbüros ohne jeden Einfluss halbautonome nationale Niederlassungen mit eigenen Bera-tern betreiben.

Die Leistungen der Mitarbeiter sollten nicht am Kreditvolu-men, sondern an der Qualität und den Ergebnissen ihrer Arbeit gemessen werden. Schlägt ein Projekt fehl oder ent-wickelt es sich schlecht, so sollten die an der Gestaltung und Durchführung beteiligten Mitarbeiter zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Weltbank sollte alle Projekte und die einzelnen natio-nalen Niederlassungen jährlich aufgrund ihrer Beiträge zur Armutsbekämpfung einstufen.

Soziale Verantwortung der Unternehmen

Eine weitere Reaktion auf das hartnäckige Fortbestehen der globalen Armut und anderer sozialer Übel besteht darin, die Wirtschaft aufzufordern, soziale Verantwortung zu überneh-men. NRO, soziale Aktivisten und Politiker üben Druck auf die Unternehmen aus, damit diese ihre Einstellung zu den Arbeits-kräften, zur Umwelt, zur Produktqualität, zur Preisgestaltung und zu fairen Handelspraktiken ändern.

Es muss vielen Unternehmen zugutegehalten werden, dass sie auf diese Forderungen reagiert haben. Es ist noch nicht allzu lange her, da führten viele Manager ihre Unternehmen mit der Einstellung »zum Teufel mit der Öffentlichkeit«. Sie beuteten ihre Beschäftigten aus, verschmutzten die Umwelt, verfälschten ihre Produkte und begingen Betrug – alles im Namen des Unter-nehmensgewinns. In weiten Teilen der entwickelten Welt sind diese Zeiten längst vorbei. Zum Teil ist dies den staatlichen Vorschriften, zum Teil der Bewegung für die soziale Verantwor-tung der Unternehmen (Corporate Social Responsibility, CSR) zu verdanken.

Millionen Menschen sind heute besser als je zuvor darüber informiert, wie die Unternehmen Gutes tun und Schaden anrichten können. In den Medien wird das Fehlverhalten von Unternehmen untersucht und angeprangert. Viele Verbraucher

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meiden die Produkte und Dienstleistungen von Unternehmen, die gesellschaftlichen Schaden anrichten. Dies hat zur Folge, dass sich die meisten Unternehmen um ein positives Image bemühen. So hat die CSR-Bewegung an Kraft gewonnen.

Die Corporate Social Responsibility nimmt zwei Formen an. Da ist zum einen das »schwache Verantwortungsbewusst-sein«, das auf folgendem Credo beruht: Schädige die Menschen und den Planeten nicht (es sei denn, diese Vorgehensweise be einträchtigt die Gewinne). Von Unternehmen, die sich ein schwaches Verantwortungsbewusstsein angeeignet haben, darf angenommen werden, dass sie keine mangelhaften Produkte verkaufen, die Umwelt nicht mit Produktionsabfällen verseu-chen und darauf verzichten, Beamte zu bestechen.

Sodann gibt es das »starke Verantwortungsbewusstsein«, das auf folgendem Grundsatz beruht: Trage zum Wohl der Menschen und des Planeten bei (solange dadurch nicht die Gewinne beeinträchtigt werden). Unternehmen, die sich ein starkes Verantwortungsbewusstsein angeeignet haben, suchen aktiv nach Möglichkeiten, der Gemeinschaft zu dienen. Bei-spielsweise bemühen sie sich um die Entwicklung umwelt-freundlicher Produkte und Betriebsverfahren, investieren in die Weiterbildung und in die medizinische Versorgung ihrer Mit-arbeiter und unterstützen Initiativen, deren Ziel es ist, die Transparenz und Fairness der staatlichen Regulierung der Unternehmenstätigkeit zu sichern.

Wirkt sich die CSR positiv auf das Verhalten der Unterneh-mensführungen aus? Ist sie möglicherweise der Mechanismus, nach dem wir gesucht haben, das Werkzeug, anhand dessen zumindest ein Teil unserer gesellschaftlichen Probleme gelöst werden kann?

Leider muss diese Frage mit Nein beantwortet werden. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Das Konzept des sozial verantwortlichen Unternehmens entspringt guten Absichten. Aber einige Unternehmensführun-gen missbrauchen es, um ihren Unternehmen Vorteile zu ver-schaffen. Sie scheinen zu denken: Verdienen wir möglichst viel Geld – selbst auf Kosten der Armen – und spenden wir anschlie-ßend einen winzigen Teil der Gewinne für soziale Zwecke oder

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richten wir eine Stiftung ein, um Dinge zu tun, die den Interes-sen unseres Unternehmens dienen. Und sorgen wir dafür, dass die Öffentlichkeit von unserer Großzügigkeit erfährt!

Für solche Unternehmen wird die Corporate Social Respon-sibility immer nur ein Vorwand sein. Oft investiert dasselbe Unternehmen, das einen Cent für die CSR aufwendet, 99 Cent in geschäftliche Projekte, die die sozialen Probleme verschlim-mern. Das ist keine Formel für den gesellschaftlichen Fort-schritt!

Es gibt einige wenige Unternehmen, deren Führungen wirk-lich am sozialen Wandel interessiert sind. Ihre Zahl wächst, da eine jüngere Managergeneration ans Ruder kommt. Die jungen Führungskräfte, die mit dem Fernsehen und dem Internet auf-gewachsen sind, sind sich der globalen Probleme eher bewusst als frühere Generationen. Sie machen sich Gedanken über den Klimawandel, die Kinderarbeit, Aids, die Frauenrechte und die Armut in der Welt. Mit dem Aufstieg dieser Generation in den Firmenhierarchien rücken auch die globalen Probleme ins Blickfeld der Unternehmensführungen. Die neuen Führungs-kräfte versuchen, die Corporate Social Responsibility zu einem zentralen Bestandteil der Unternehmensphilosophie zu machen.

Diese Entwicklung ist durchaus zu begrüßen. Aber sie stößt auf ein grundsätzliches Hindernis: Die Manager dienen den Eigentümern des Unternehmens, seien dies nun die Teilhaber eines Privatunternehmens oder die Aktionäre eines börsen-notierten Unternehmens. Und die Eigentümer haben nur ein einziges Ziel: Ihre Investition soll Erträge abwerfen. Also sind die Manager, die ihnen Rechenschaft schulden, dazu verpflich-tet, den Wert des Unternehmens zu erhöhen. Und das können sie nur erreichen, indem sie die Gewinne des Unternehmens maximieren. Die Gewinnmaximierung ist sogar ihre gesetzliche Verpflichtung gegenüber ihren Aktionären, sofern diese ihnen keinen anderslautenden Auftrag erteilt haben.

Unternehmen, die sich zu ihrer sozialen Verantwortung bekennen, tun dies stets unter diesem – ausdrücklichen oder unausgesprochenen – Vorbehalt. De facto sagen sie: »Wir wer-den uns sozial verantwortlich verhalten, solange uns das nicht davon abhält, den höchsten möglichen Gewinn zu erzielen.«

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Einige Verfechter der CSR sehen keinen Widerspruch zwischen Gewinnstreben und sozialer Verantwortung. Manchmal trifft diese Einschätzung durchaus zu. Gelegentlich deckt sich das Gewinnstreben dank einer glücklichen Fügung tatsächlich mit den Bedürfnissen der Gesellschaft.

Was geschieht jedoch, wenn Gewinnstreben und sozial verantwortliches Handeln nicht Hand in Hand gehen? Was geschieht, wenn die Forderungen des Marktes und die langfris-tigen Interessen der Gesellschaft einander widersprechen? Was werden die Unternehmen tun? Die Erfahrung zeigt, dass das Gewinnstreben durchweg die Oberhand behält. Da die Mana-ger eines Unternehmens seinen Eigentümern verpflichtet sind, müssen sie dem Gewinn Vorrang einräumen. Würden sie Ge -winneinbußen hinnehmen, um dem gesellschaftlichen Wohl zu dienen, so hätten die Eigentümer allen Grund, sich betrogen zu fühlen und die soziale Verantwortung des Unternehmens als finanzielle Verantwortungslosigkeit zu betrachten.

Die Befürworter der Corporate Social Responsibility ver-langen, die Unternehmen an der »dreifachen Bilanz« zu mes-sen, das heißt an ihren finanziellen Ergebnissen, ihren sozialen Leistungen und ihren Beiträgen zum Schutz der Umwelt. Doch letzten Endes gibt nur eine einzige Bilanz den Ausschlag, und das ist die finanzielle.

In den 90er-Jahren und zu Beginn des neuen Jahrhunderts haben die Autobauer riesige SUVs produziert, die Unmengen an Treibstoff und enorme Produktionsressourcen verschlingen und die Umwelt schwer belasten. Doch diese Fahrzeuge sind sehr beliebt – und sehr rentabel –, weshalb die Automobilher-steller weiterhin Millionen davon verkaufen. Die SUVs sind schlecht für die Gesellschaft, schlecht für die Umwelt und schlecht für die Welt, aber das vorrangige Ziel der Hersteller besteht nun einmal darin, Gewinne zu erzielen, weshalb sie wei-terhin ein gesellschaftlich sehr verantwortungsloses Verhalten an den Tag legen.

Dieses Beispiel verdeutlicht das grundlegende Problem der Corporate Social Responsibility. Es liegt nicht in der Natur eines Unternehmens, sich mit gesellschaftlichen Problemen aus-einanderzusetzen. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass die

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Manager selbstsüchtig, gierig oder böse sind. Vielmehr liegt das Problem in der Natur der wirtschaftlichen Tätigkeit, genauer gesagt im Konzept der wirtschaftlichen Tätigkeit, das dem Kapitalismus zugrunde liegt.

Der Kapitalismus ist eine unvoll-kommene Struktur

Der Kapitalismus geht von einer beschränkten Vorstellung von der menschlichen Natur aus, die auf der Annahme beruht, die Menschen seien eindimensionale Wesen, denen es allein darum gehe, einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen. So wie es allgemein verstanden wird, stützt sich das Konzept der freien Marktwirtschaft auf dieses eindimensionale Menschenbild.

Die vorherrschende Theorie des freien Marktes besagt, dass ein Mensch am besten zum gesellschaftlichen Wohl und zur Entwicklung der Welt beiträgt, indem er sich darauf konzen-triert, möglichst viel für sich selbst herauszuholen. Wenn die Anhänger dieser Theorie besorgniserregende Nachrichten im Fernsehen sehen, sollte sich ihnen eigentlich die Frage aufdrän-gen, ob das Gewinnstreben wirklich ein Allheilmittel für die Probleme der Welt ist, aber sie zerstreuen ihre Zweifel übli-cherweise, indem sie alles Schlechte in der Welt den »Fehlfunk-tio nen« des Marktes zuschreiben. Sie wiegen sich in dem Glauben, gut funktionierende Märkte könnten einfach keine unangenehmen Ergebnisse zeitigen.

Ich glaube, dass die Fehlentwicklungen nicht mit »Fehl-funktionen« der Märkte zu erklären sind. Das Problem liegt sehr viel tiefer. Die vorherrschende Theorie des freien Marktes leidet unter einem konzeptuellen Fehler, nämlich unter dem Unvermögen, das Wesen des Menschlichen zu begreifen.

In der herkömmlichen Wirtschaftstheorie wurde ein ein-dimensionales menschliches Wesen geschaffen, das die Rolle des Unternehmensführers, des sogenannten Entrepreneurs spielen soll. Wir haben die unternehmerische Tätigkeit vom übrigen Leben, das heißt vom religiösen, emotionalen, politi-schen und sozialen Leben getrennt. Der Unternehmer hat nur

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eine einzige Mission: die Gewinnmaximierung. Unterstützung erhält er von anderen eindimensionalen menschlichen Wesen, die ihm ihr Geld anvertrauen, um diese Mission zu erfüllen. Um es mit Oscar Wilde zu sagen: Sie kennen von allem den Preis und von nichts den Wert.

Unsere ökonomische Theorie hat eine eindimensionale Welt geschaffen, die von jenen bevölkert wird, die sich dem Spiel des Wettbewerbs auf freien Märkten verschrieben haben, einem Spiel, in dem der Erfolg ausschließlich am Gewinn gemessen wird. Und da man uns davon überzeugt hat, dass das Gewinn-streben die beste Art ist, die Menschheit glücklich zu machen, machen wir uns die Theorie mit Begeisterung zu eigen und ver-suchen, uns ebenfalls in derart eindimensionale menschliche Wesen zu verwandeln. Die Theorie ist also nicht der Realität nachempfunden, sondern wir zwingen die Realität, sich der Theorie anzupassen.

Die Welt ist derart gefesselt vom Erfolg des Kapitalismus, dass sie nicht wagt, Zweifel an der ökonomischen Theorie zu äußern, die diesem System zugrunde liegt.

Doch die Wirklichkeit unterscheidet sich erheblich von der Theorie. Die Menschen sind keine eindimensionalen Wesen, sondern weisen eine faszinierende Vielfalt von Dimensionen auf. Ihre Emotionen, Überzeugungen, Prioritäten und Verhal-tensmuster sind am ehesten den Millionen Farbtönen vergleich-bar, die aus den drei Primärfarben gemischt werden können. Selbst die berühmtesten Kapitalisten haben vielfältige Interes-sen und Neigungen, was der Grund dafür ist, dass sich Wirt-schaftszaren wie Andrew Carnegie, die Rockefellers und Bill Gates vom Spiel der Gewinnmaximierung abgewandt haben, um sich auf höhere Ziele zu konzentrieren.

Da wir mehrdimensionale Persönlichkeiten haben, sollte nicht jedes Unternehmen gezwungen sein, allein dem Ziel der Gewinnmaximierung zu dienen.

Und hier setzt das neue Konzept des Sozialunternehmens an.