Mummenschanz - Besuch in Paris, wo alles anfing

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VERANSTALTUNGS- UND FREIZEITMAGAZIN event. 49 I weltstars I 48 event. VERANSTALTUNGS- UND FREIZEITMAGAZIN Stille Welteroberer MUMMEN- SCHANZ Ab 4.10. Zürich «Ich habs geschafft», sagt sie, und sie zeigt ihm ihre leicht mit Mascara umrandeten Augen. «Ich habs geschafft, nicht zu wei- nen.» Auch er ist sichtlich gerührt: «Genau so, wie es früher war. Nichts hat sich verän- dert. Paris ist eine Stadt, die gebaut ist, da verändert sich nichts mehr.» Floriana Frassetto und Bernie Schürch kehren an den Ort zurück, wo vor 40 Jahren alles an- gefangen hat: ein kleines Theater an einer un- spektakulären Strassenecke im 5. Arrondisse- ment von Paris, ganz in der Nähe der Place Monge. «La Vieille Grille». «Ein Eingang, 40 Plätze und ein Loch in der Decke, wo sich die Bühne befindet, damit die Schauspieler genügend Platz zum Stehen haben», erinnert sich Bernie. «Das vieille Grille galt damals in der Szene als théatre suisse, weil der Inhaber Das kleine Theater «La vieille grille» in Paris. Hier starteten Floriana Frassetto und Bernie Schürch zusammen mit Andres Bossard «Mummenschanz». Legendär: Bernie und Floriana in ihrer berühmten Knetmasken-Nummer von Mummenschanz. Mummenschanz gehören zu den erfolgreichsten Kulturschaffenden der Schweiz. Von Paris aus eroberten sie den Broadway, dann die Welt. Jetzt kehren sie zu ihren Wurzeln zurück. einen guten Draht zu vielen Schweizer Künst- lern hatte.» So bot sich auch für Bernie, der zwei Jahre in Paris studierte, und seine junge Truppe im Vieille Grille die Gelegenheit, im kleinen Rah- men in einer kulturellen Metropole eine Show zu testen, die sie später weltberühmt machen sollte. Damals, Anfang der 70er Jahre waren sie zu dritt. Zusammen mit Andrès Bossard Mummenschanz zeigen, wo in Paris alles angefangen hat WELTBERÜHMTE SCHWEIZER KULTUR Seit vier Jahrzehnten prägen Mummen- schanz mit ihren originellen Ideen das Figurentheater und haben damit weltweit für Aufsehen gesorgt. In allen Kulturkreisen tauchen bis heute Men- schen aller Altersgruppen in ihre Welt ein, die erfüllt ist von vielen Geschichten, die wortlos von farbigen, futuristischen, immer faszinierenden Figuren erzählt werden. Jetzt starten Mummenschanz zur grossen Jubiläumstournee. hatten Bernie und «Flo» einen Mix aus Pan- tomime, bildender Kunst und Comedy erfun- den, den sie Mummenschanz tauften. Sich windende Röhren, die miteinander in einen Dialog treten. Zwei grüne Kugelhälften, die sich zu einem Mund formen, der stumm, aber nicht schweigend, mit dem Publikum kom- muniziert. Und dann die beiden Figuren, die sich mit Masken aus Knetmasse in die Haare kriegen und sich dabei gegenseitig die kunst- vollsten Fratzen formen. Das alles ohne Ton, ohne Musik, ohne Worte. «Der Dialog findet im Kopf der Zuschauer statt», sagt Bernie. «Ein jeder erfindet für sich dabei eine andere, eigene Geschichte. Das macht jede Vorstel- lung einzigartig.» Von Paris an den Broadway Mummenschanz wurde in Paris vom Geheim- tipp zu einem Publikumsrenner. Ein Erfolg, den das Schweizer Trio ermutigte, nach New York zu gehen und es am Broadway zu ver- suchen. Sie fanden ein Theater, und schon bald wurden die witzigen, mysteriösen Figu- ren auch die Lieblinge der Amerikaner. Eine grosse Hilfe war dabei das Fernsehen. «Wir waren mit Mummenschanz zu Gast in fast allen Late-Night-Shows», erinnert sich Bernie, «inklusive der legendären Muppet Show!» Zusammen mit Floriana und Andrès schaffte er es, vier Jahre lang am Broadway vor aus- verkauftem Haus zu spielen. Dann begann die Reise um die Welt. Moskau, Peking, Shang- hai, die grossen Städte Europas – und natür- lich inzwischen auch die Schweiz. Denn ob- wohl Mummenschanz anfangs mit ihrer Kunst bei den etablierten Veranstaltern in der Heimat auf Skepsis stiessen, hatten sie sich über unzählige Auftritte in der Kleintheater- szene ein grosses und treues Publikum erar- beitet. Denn wer Mummenschanz einmal ge- sehen hat, will immer wieder hingehen. Die Figuren, die Formen, die Geschichten sind zeitlos. Nur die Materialien, mit denen gear- beitet wird, verändern sich. Und da liegt das eigentliche Genie von Mummenschanz: Sie schaffen es, ganz alltäglichen Gegenständen wie einem Stück Papier, einer flirrenden Pla- stikfolie, einem Lüftungsrohr oder einem Bettduvet durch die Charakteristik der Mate- rie eine facettenreiche Persönlichkeit zu ver- leihen, die beim Zuschauer vielfältige Asso- ziationen weckt.

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event. - Das Veranstaltungs- und Freizeitmagazin - September 2011

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VERANSTALTUNGS- UND FREIZEITMAGAZIN event. 49

I weltstars I

48 event. VERANSTALTUNGS- UND FREIZEITMAGAZIN

Stille Welteroberer

MUMMEN-SCHANZAb 4.10.Zürich

«Ich habs geschafft», sagt sie, und sie zeigt

ihm ihre leicht mit Mascara umrandeten

Augen. «Ich habs geschafft, nicht zu wei-

nen.» Auch er ist sichtlich gerührt: «Genau

so, wie es früher war. Nichts hat sich verän-

dert. Paris ist eine Stadt, die gebaut ist, da

verändert sich nichts mehr.»

Floriana Frassetto und Bernie Schürch kehren

an den Ort zurück, wo vor 40 Jahren alles an-

gefangen hat: ein kleines Theater an einer un-

spektakulären Strassenecke im 5. Arrondisse-

ment von Paris, ganz in der Nähe der Place

Monge. «La Vieille Grille». «Ein Eingang,

40 Plätze und ein Loch in der Decke, wo sich

die Bühne befindet, damit die Schauspieler

genügend Platz zum Stehen haben», erinnert

sich Bernie. «Das vieille Grille galt damals in

der Szene als théatre suisse, weil der Inhaber

Das kleine Theater «La vieille grille» in Paris. Hier starteten Floriana Frassetto und Bernie Schürch zusammen mit Andres Bossard «Mummenschanz».

Legendär: Bernie und Floriana in ihrer berühmten Knetmasken-Nummer von Mummenschanz.

Mummenschanz gehören zu den erfolgreichsten Kulturschaffenden der Schweiz. Von Parisaus eroberten sie den Broadway, dann die Welt. Jetzt kehren sie zu ihren Wurzeln zurück.

einen guten Draht zu vielen Schweizer Künst-

lern hatte.»

So bot sich auch für Bernie, der zwei Jahre in

Paris studierte, und seine junge Truppe im

Vieille Grille die Gelegenheit, im kleinen Rah-

men in einer kulturellen Metropole eine Show

zu testen, die sie später weltberühmt machen

sollte. Damals, Anfang der 70er Jahre waren

sie zu dritt. Zusammen mit Andrès Bossard

Mummenschanz zeigen, wo in Paris alles angefangen hat

WELTBERÜHMTE SCHWEIZER KULTURSeit vier Jahrzehnten prägen Mummen-schanz mit ihren originellen Ideendas Figurentheater und haben damitweltweit für Aufsehen gesorgt. In allenKulturkreisen tauchen bis heute Men-schen aller Altersgruppen in ihre Weltein, die erfüllt ist von vielen Geschichten,die wortlos von farbigen, futuristischen,immer faszinierenden Figuren erzähltwerden. Jetzt starten Mummenschanzzur grossen Jubiläumstournee.

hatten Bernie und «Flo» einen Mix aus Pan-

tomime, bildender Kunst und Comedy erfun-

den, den sie Mummenschanz tauften. Sich

windende Röhren, die miteinander in einen

Dialog treten. Zwei grüne Kugelhälften, die

sich zu einem Mund formen, der stumm, aber

nicht schweigend, mit dem Publikum kom-

muniziert. Und dann die beiden Figuren, die

sich mit Masken aus Knetmasse in die Haare

kriegen und sich dabei gegenseitig die kunst-

vollsten Fratzen formen. Das alles ohne Ton,

ohne Musik, ohne Worte. «Der Dialog findet

im Kopf der Zuschauer statt», sagt Bernie.

«Ein jeder erfindet für sich dabei eine andere,

eigene Geschichte. Das macht jede Vorstel-

lung einzigartig.»

Von Paris an den BroadwayMummenschanz wurde in Paris vom Geheim-

tipp zu einem Publikumsrenner. Ein Erfolg,

den das Schweizer Trio ermutigte, nach New

York zu gehen und es am Broadway zu ver-

suchen. Sie fanden ein Theater, und schon

bald wurden die witzigen, mysteriösen Figu-

ren auch die Lieblinge der Amerikaner. Eine

grosse Hilfe war dabei das Fernsehen. «Wir

waren mit Mummenschanz zu Gast in fast

allen Late-Night-Shows», erinnert sich Bernie,

«inklusive der legendären Muppet Show!»

Zusammen mit Floriana und Andrès schaffte

er es, vier Jahre lang am Broadway vor aus-

verkauftem Haus zu spielen. Dann begann die

Reise um die Welt. Moskau, Peking, Shang-

hai, die grossen Städte Europas – und natür-

lich inzwischen auch die Schweiz. Denn ob-

wohl Mummenschanz anfangs mit ihrer

Kunst bei den etablierten Veranstaltern in der

Heimat auf Skepsis stiessen, hatten sie sich

über unzählige Auftritte in der Kleintheater-

szene ein grosses und treues Publikum erar-

beitet. Denn wer Mummenschanz einmal ge-

sehen hat, will immer wieder hingehen. Die

Figuren, die Formen, die Geschichten sind

zeitlos. Nur die Materialien, mit denen gear-

beitet wird, verändern sich. Und da liegt das

eigentliche Genie von Mummenschanz: Sie

schaffen es, ganz alltäglichen Gegenständen

wie einem Stück Papier, einer flirrenden Pla-

stikfolie, einem Lüftungsrohr oder einem

Bettduvet durch die Charakteristik der Mate-

rie eine facettenreiche Persönlichkeit zu ver-

leihen, die beim Zuschauer vielfältige Asso-

ziationen weckt.

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Zeitlose Poesie. Bernie und Floriana verwandeln sich in Röhrengestalten oder grosse Gesichter.

Floriana ist dabei die grosse Tüftlerin und

Bastlerin. In ihrem grossen Atelier im St. Gal-

lischen Altstätten sammelt sie Materialien von

der WC-Rolle bis zum Benzinkanister. Zusam-

men mit Bernie entwickelt sie Fi-

guren, schneidert Kostüme, kre-

iert Masken. «Das ist alles un-

glaublich viel Handarbeit», sagt

sie. «Und die Utensilien müssen

alle auch instand gehalten wer-

den.» Trotzdem ist es erstaun-

lich wenig, mit dem Mummen-

schanz die Welt eroberten:

«Etwa 1000 Kilo, verpackt in 25

Kisten», sagt Bernie. «Das kann man in einem

Kleinlaster transportieren.»

Gerade hat sie Paris wieder einmal eingela-

den. Am grossen Sommerfestival «Quartier

d’été» spielen Mummenschanz in der «Cou-

pole du Théatre» der Cité Universitaire. Im

Programm des Festivals sind grossmundig

viele Highlights aufgeführt. Mummenschanz

sind einfach als «Les légendaires» aufgeführt.

Das genügt für die Schweizer Truppe, um in

der Weltstadt drei Wochen lang vor ausver-

kauftem Haus zu spielen. Bernie und Flo ge-

niessen den Aufenthalt in der Stadt, wo alles

für sie anfing. Das Konzept von Mummen-

schanz blieb gleich. Doch andere Dinge

haben sich für Bernie und Flo verändert: Vor

20 Jahren starb ihr langjähriger Partner und

Mitbegründer der Truppe Andrès Bossard. Ein

tiefer Einschnitt, doch Bernie und Flo be-

schlossen, weiter zu machen. Heute bilden sie

mit Raffaella Mattioli und Pietro Montandon

ein Ensemble. Aber Bernie, der dieses Jahr 67

Jahre alt wird, denkt ans Aufhören. «Ehrlich

gesagt, mag ich nicht mehr», sagt der Berner.

«Ich bin sehr dankbar für alles, was ich mit

Mummenschanz erleben durfte und dass die-

ses Konzept bis heute so gut funktioniert.

Aber ich wünsche mir heute, einmal länger an

einem Ort zu bleiben und nicht ständig auf

Achse zu sein. Ich will Zeit haben, über all das

Erlebte einmal zu reflektieren

und es in mein Leben einzu-

ordnen, damit wieder Platz

für Neues entsteht.» Eigent-

lich hatte er sich für den Ab-

schied schon ein Szenario für

einen letzten grossen Auf-

tritt, ein Mummenschanz-

Begräbnis ausgedacht. Doch

Floriana will weitermachen.

Und so war es an ihr, einen Nachfolger für

Bernie zu suchen. «Ich träumte einmal von

zwei Eiern, die auf die Bühne trollten, an-

einanderstiessen und aufbrachen», erzählt

Flo.«Dabei sprang aus dem einen Ei ein gros-

ses Auge und aus dem anderem Ei ein guter

Freund, ebenfalls ein Schauspieler. Für mich

war es das Zeichen, dass er Bernies Nachfolge

antreten soll.»

So wirds Zeit für ein Abschiedsfeuerwerk.

Und diese führt wieder in die Schweiz. Am

4. Oktober starten Mummenschanz im Thea-

ter 11 in Zürich ihre «40 Jahre Mummen-

schanz Jubiläums Tournée», in der sie die

Highlights aus 40 Jahren Schaffensperioden

zusammenfassen. Wer hingeht, merkt, dass

Mummenschanz genau so innovativ, überra-

schend und kunstvoll sind wie eh und je. Man

erwischt sich dabei, wie man sich fragt, wie

diese abstrakten Figuren zum Leben erweckt

werden, welche Verrenkungen die gesichts-

losen Darsteller in ihren Kostümen wohl

machen müssen, um diese wortlose Sprache

“ Ich bin sehr dankbar für alles, was ich mit

Mummenschanz erleben durfte. Aber ich wün-

sche mir heute, einmal länger an einem Ort zu

bleiben und nicht ständig auf Achse zu sein.’’

Zu Gast in Paris. Im Kleintheater (o. l.) spielen Mummenschanz am Sommerfestival, in den Cafés und auf den Boulevards fühlen sie sich zu Hause.

so deutlich zum Ausdruck zu bringen. Natür-

lich verraten Bernie und Floriana nichts von

ihrem Geheimnis. Nur so viel: «Du kannst Dir

nicht vorstellen, wie sehr der Körper manch-

mal nach so einer Vorstellung schmerzt», sagt

er. Und sie ergänzt: «Mir hilft dann meistens

eine warme Badewanne mit Badesalz.» Ein-

fach, bescheiden, leidenschaftlich, professio-

nell. Das sind Attribute, die Mummenschanz

jeden Tag leben. Obwohl weltberühmt, sind

Bernie und Flo auf und hinter der Bühne harte

Arbeiter geblieben. Text: Zeno van Essel

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