My Keno Logie

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von Dr. Berit Hildebrandt Was ist die Mykenologie und womit beschäftigt sie sich? Die Mykenologie ist der jüngste Zweig der Altertumswissenschaften. Sie hat die Erforschung der frühgriechischen ?mykenischen? Schrift und Sprache sowie der zugehörigen Kultur und Geschichte zum Gegenstand. ?Mykenisch? wird diese Epoche deshalb genannt, weil die Ausgrabungen des berühmten Troja-Forschers Heinrich Schliemann in Mykene auf der Peloponnes wegbereitend für die Erforschung dieser frühen griechischen Hochkultur waren. In der Mykenologie verbinden sich verschiedene Disziplinen wie die indogermanische Sprachwissenschaft, die klassische griechische Philologie, die Epigraphik (Inschriftenkunde), die Archäologie und die Geschichtswissenschaft. Diese Interdisziplinarität erschwert allerdings auch die Zuweisung der Mykenologie an eine bestimmte Fachdisziplin. Im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich sowohl Indogermanisten als auch klassische Philologen, Althistoriker, Ur- und Frühgeschichtler sowie Klassische Archäologen mit mykenologischen Fragestellungen. Die Fundamente für diesen Forschungszweig wurden bereits im frühen 19. Jahrhundert gelegt, als im Zuge von Ausgrabungen immer wieder ?mykenische? Keramik und andere Fundstücke zum Vorschein kamen, die allerdings damals noch keiner bekannten Epoche zugeordnet werden konnten. Entscheidende Fortschritte erzielte Heinrich Schliemann mit seinen genannten Forschungen in Mykene sowie Arthur Evans, der im Palast von Knossos auf Kreta ausgrub und dort Hinterlassenschaften der kretisch-minoischen Kultur sowie der frühgriechischen mykenischen Kultur zum Vorschein brachte. Aufgrund von Funden mykenischer Keramik außerhalb Griechenlands, vor allem in Ägypten, wo die Befunde mit den dortigen Herrschaftsdynastien und -chroniken in Verbindung gebracht werden konnten, gelang schließlich auch die zeitliche Verortung der mykenischen Epoche zwischen ca. 1600 und 1200 v. Chr. Die Gründe für die Entstehung der mykenischen Paläste mit ihrem Territorium (in der Forschung zuweilen auch als ?Palaststaaten? bezeichnet) im späten 15. oder frühen 14. Jh. v. Chr. sowie vor allem für ihr Ende in der Zeit um 1200 v. Chr. sind nicht einfach zu fassen. Liegen ihre Anfänge bislang noch weitgehend im dunkeln, scheint ihr Ende durch multifaktorielle, regional unterschiedlich ausgeprägte Ereignisse bestimmt gewesen zu sein, zu denen neben Naturkatastrophen wie Erdbeben und Dürren auch feindliche Angriffen von außen (etwa durch die in den ägyptischen Texten erwähnten ?Seevölker?) sowie die negativen Auswirkungen eines hypertrophen Verwaltungssystems gehört haben könnten. Die These, daß die Einwanderung dorischer Bevölkerungselemente für den Untergang der mykenischen Paläste verantwortlich sei, ist heute nicht mehr haltbar. Die Ausgrabungen legten große palastartige Anlagen mit zentralen Thronhallen (?Megaronbauten?) und zahlreichen Neben-, Speicher- und Archivräumen frei, deren materielle Kultur sich ebenso wie ihre soziale Hierarchie und ihr kultisch-religiöser Bereich als erstaunlich einheitlich erwiesen (weshalb man auch von der ?mykenischen Koiné? spricht). Mykenische Paläste konnten archäologisch sowohl auf dem griechischen Festland in Mykene, Tiryns, Midea, Pylos, Theben und Orchomenos sowie in Knossos auf Kreta nachgewiesen werden. Ob sich in Lakonien, Athen, Eleusis, Iolkos, im böotischen Gla und in Chania/Kydonia auf Kreta Paläste befunden haben, konnte noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Wenn auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wichtige Fortschritte bei der archäologischen Erforschung der mykenischen Kultur gemacht wurden, konnte erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Schrift dieser Zeit entziffert werden. Bereits Arthur Evans suchte in Knossos nach Hinweisen auf frühe Schriftzeugnisse, die er auch fand. Er unterschied zwischen drei verschiedenen Schriften, die er als Hieroglyphisch (nicht mit den ägyptischen Hieroglyphen zu verwechseln), Linear A und Linear B bezeichnete. Keines dieser Schriftsysteme läßt sich formal mit der noch heute gebräuchlichen, dem phönizischen Alphabet entlehnten griechischen Schrift vergleichen, die jedem Laut einen Buchstaben zuordnet. Stattdessen besteht die Linear-B-Schrift aus Zahl-, Maß- und Gewichtszeichen sowie Silben- und Bildzeichen (Ideogrammen), Mykenologie Was ist die Mykenologie und womit beschäftigt sie sich? 1

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von Dr. Berit Hildebrandt

Was ist die Mykenologie und womit beschäftigt sie sich?

Die Mykenologie ist der jüngste Zweig der Altertumswissenschaften. Sie hat die Erforschung derfrühgriechischen ?mykenischen? Schrift und Sprache sowie der zugehörigen Kultur und Geschichte zumGegenstand. ?Mykenisch? wird diese Epoche deshalb genannt, weil die Ausgrabungen des berühmtenTroja-Forschers Heinrich Schliemann in Mykene auf der Peloponnes wegbereitend für die Erforschungdieser frühen griechischen Hochkultur waren.

In der Mykenologie verbinden sich verschiedene Disziplinen wie die indogermanische Sprachwissenschaft,die klassische griechische Philologie, die Epigraphik (Inschriftenkunde), die Archäologie und dieGeschichtswissenschaft. Diese Interdisziplinarität erschwert allerdings auch die Zuweisung der Mykenologiean eine bestimmte Fachdisziplin. Im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich sowohl Indogermanisten alsauch klassische Philologen, Althistoriker, Ur- und Frühgeschichtler sowie Klassische Archäologen mitmykenologischen Fragestellungen. Die Fundamente für diesen Forschungszweig wurden bereits im frühen19. Jahrhundert gelegt, als im Zuge von Ausgrabungen immer wieder ?mykenische? Keramik und andereFundstücke zum Vorschein kamen, die allerdings damals noch keiner bekannten Epoche zugeordnet werdenkonnten. Entscheidende Fortschritte erzielte Heinrich Schliemann mit seinen genannten Forschungen inMykene sowie Arthur Evans, der im Palast von Knossos auf Kreta ausgrub und dort Hinterlassenschaften derkretisch-minoischen Kultur sowie der frühgriechischen mykenischen Kultur zum Vorschein brachte.Aufgrund von Funden mykenischer Keramik außerhalb Griechenlands, vor allem in Ägypten, wo dieBefunde mit den dortigen Herrschaftsdynastien und -chroniken in Verbindung gebracht werden konnten,gelang schließlich auch die zeitliche Verortung der mykenischen Epoche zwischen ca. 1600 und 1200 v. Chr.

Die Gründe für die Entstehung der mykenischen Paläste mit ihrem Territorium (in der Forschung zuweilenauch als ?Palaststaaten? bezeichnet) im späten 15. oder frühen 14. Jh. v. Chr. sowie vor allem für ihr Ende inder Zeit um 1200 v. Chr. sind nicht einfach zu fassen. Liegen ihre Anfänge bislang noch weitgehend imdunkeln, scheint ihr Ende durch multifaktorielle, regional unterschiedlich ausgeprägte Ereignisse bestimmtgewesen zu sein, zu denen neben Naturkatastrophen wie Erdbeben und Dürren auch feindliche Angriffen vonaußen (etwa durch die in den ägyptischen Texten erwähnten ?Seevölker?) sowie die negativen Auswirkungeneines hypertrophen Verwaltungssystems gehört haben könnten. Die These, daß die Einwanderung dorischerBevölkerungselemente für den Untergang der mykenischen Paläste verantwortlich sei, ist heute nicht mehrhaltbar.

Die Ausgrabungen legten große palastartige Anlagen mit zentralen Thronhallen (?Megaronbauten?) undzahlreichen Neben-, Speicher- und Archivräumen frei, deren materielle Kultur sich ebenso wie ihre sozialeHierarchie und ihr kultisch-religiöser Bereich als erstaunlich einheitlich erwiesen (weshalb man auch von der?mykenischen Koiné? spricht). Mykenische Paläste konnten archäologisch sowohl auf dem griechischenFestland in Mykene, Tiryns, Midea, Pylos, Theben und Orchomenos sowie in Knossos auf Kretanachgewiesen werden. Ob sich in Lakonien, Athen, Eleusis, Iolkos, im böotischen Gla und inChania/Kydonia auf Kreta Paläste befunden haben, konnte noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Wenn auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wichtige Fortschritte bei der archäologischen Erforschung dermykenischen Kultur gemacht wurden, konnte erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Schrift dieserZeit entziffert werden. Bereits Arthur Evans suchte in Knossos nach Hinweisen auf frühe Schriftzeugnisse,die er auch fand. Er unterschied zwischen drei verschiedenen Schriften, die er als Hieroglyphisch (nicht mitden ägyptischen Hieroglyphen zu verwechseln), Linear A und Linear B bezeichnete. Keines dieserSchriftsysteme läßt sich formal mit der noch heute gebräuchlichen, dem phönizischen Alphabet entlehntengriechischen Schrift vergleichen, die jedem Laut einen Buchstaben zuordnet. Stattdessen besteht dieLinear-B-Schrift aus Zahl-, Maß- und Gewichtszeichen sowie Silben- und Bildzeichen (Ideogrammen),

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wobei letztere zur Präzisierung einer Bedeutung auch miteinander kombiniert werden konnten.Linear-B-Texte auf etwa 5000 Tontafeln aus der Zeit zwischen ca. 1400 und 1200 v. Chr. (die Datierungensind z. T. umstritten) sind mittlerweile in Knossos, Pylos, Theben, Mykene, Tiryns und Chania gefundenworden, wobei Neufunde, zuletzt vor allem in Theben und nun auch in Iolkos, unser Bild ständig erweitern.Linear-B-Schrift findet sich ferner auf Vasen und Tonsiegeln.

Das Wissen um Bedeutung und Inhalt der Linear-B-Schrift verdanken wir vor allem dem englischenArchitekten und begeisterten Sprachenforscher Michael Ventris, dem als 33jährigem im Jahr 1952 derentscheidende Durchbruch gelang. Zuvor waren zwar bereits grundlegende Erkenntnisse über den Aufbauder Linear-B-Schrift bekannt geworden, wobei besonders die Verdienste der früh verstorbenenUS-amerikanischen Philologin Alice Kober hervorgehoben werden müssen, doch erst Ventris konntezusammen mit dem Philologen John Chadwick überzeugend nachweisen, daß es sich um eine frühe Form desGriechischen und damit eine indogermanische Sprache handelte. Tragischerweise kam Ventris bereits 1956bei einem Autounfall ums Leben.

Obwohl die Ergebnisse von Ventris und Chadwick unmittelbar durch neue Linear-B-Tafelfunde bei denAusgrabungen Carl Blegens in Pylos bestätigt wurden, gab es vor allem in Deutschland Forscher, die dieEntzifferung anzweifelten (besonders einflußreich war der Philologe Ernst Grumach) und damit dieEntfaltung einer mykenischen Philologie in Deutschland erheblich beeinflußten. Die Skeptiker sahen sichunter anderem dadurch in ihren Zweifeln bestätigt, daß die Linear-B-Schrift das Griechische nurunvollkommen wiedergab und viele Interpretationen nicht eindeutig beweisbar waren. Dies ist dem Umstandgeschuldet, daß die Linear-B-Schrift auf der früheren, im minoischen Kreta gebräuchlichen und bis heutenicht entzifferten Linear-A-Schrift basiert, die für eine nicht-indogermanische Sprache geschaffen wordenwar. Dies führte bei der Wiedergabe des konsonantenreichen Griechisch zu Mehrdeutigkeiten, die zum Teilbis heute nicht eindeutig gelöst werden konnten. Zum Beispiel kann pa-te in den Linear-B-Tafeln sowohl fürgriechisch pantes, ?alle?, als auch für pat?r, ?Vater? stehen. Der Vergleich mit späteren griechischenSchriftzeugnissen, vor allem den Epen Homers, spielte daher eine wichtige Rolle bei der Entzifferung undDeutung der Texte.

Das Verständnis der Linear-B-Texte wird auch dadurch erschwert, daß es sich primär um stichwortartigeVerwaltungstexte auf Tontafeln handelt, die nur durch Zufall in den großen Bränden beim Untergang derPaläste gehärtet wurden und sich in der Regel nur auf ein Verwaltungsjahr beziehen (selten auch auf dasvorangegangene und folgende). Die Texte enthalten vor allem lange Listen mit Bestandsangaben,Zuteilungen und Ablieferungen von handwerklich gefertigten Gütern (z. B. Tuche, Metallobjekte), Tieren,Menschen und Nahrungsmitteln, die die zentrale politische und ökonomische Bedeutung des redistributivenPalastwirtschaftssystems bezeugen. Wir besitzen aber keine Herrscherlisten, keine Historiographie und keineLyrik. Historische Informationen zu Wirtschaft, Religion und Kult sowie zur sozialen und administrativenStruktur lassen sich daher nur indirekt gewinnen. Es zeichnet sich jedoch eine hierarchisch organisierteSozialstruktur ab, an deren Spitze ein Herrscher (?König?) stand. Viele der Termini finden ihre sprachlicheEntsprechung in späteren griechischen Texten, etwa den Epen Homers, wie z. B. der genannte Herrscher(wa-na-ka, homerisch anax) oder ein lokales Gemeindekollektiv, der da-mo, dessen Aufgaben undBefugnisse in mykenischer Zeit allerdings von denen eines damos bzw. demos (?Volk?) in archaischer Zeitzu unterscheiden sind. Auch die Namen griechischer Götter und Helden archaischer Zeit finden ihreEntsprechungen in den Linear-B-Texten, ohne daß wir in allen Fällen sagen könnten, ob und inwiefern diesetatsächlich identisch waren. Über die Bedeutung weiblicher ?Titel? wie ?po-ti-ni-ja? (homerisch potnia),?Herrin? wird gestritten.

Zusammenfassend leistet die Mykenologie nicht nur die Erforschung einer der ersten europäischenHochkulturen, sondern gibt auch zentrale Impulse an benachbarte Disziplinen wie die Homerforschung: Erstdurch die Entzifferung der Linear-B-Texte traten die großen Unterschiede zwischen der kleinteiligen Weltder homerischen Helden und den zentral verwalteten Palaststaaten mit ihren Territorien zutage, die auch in

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der damaligen internationalen Diplomatie Gewicht besaßen.

Literaturhinweise

H. G. Buchholz ? V. Karageorghis, Altägäis und Altkypros, Tübingen 1971;• J. Lesley Fitton, Die Minoer. Aus dem Engl. v. Tanja Ohlsen, Darmstadt 2004 (engl. 2002);• M. Ventris ? J. Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, 2. Aufl. Cambridge 1973;• J. Chadwick, Die mykenische Welt, Stuttgart 1979;• S. Hiller ? O. Panagl, Die frühgriechischen Texte aus mykenischer Zeit, Darmstadt 1986;• A. Bartonek, Handbuch des mykenischen Griechisch, Heidelberg 2003;• S. Deger-Jalkotzy ? O. Panagl (Hrsg.), Die neuen Linear-B-Texte aus Theben. Ihr Aufschlußwert fürdie mykenische Sprache und Kultur. Akten des internationalen Forschungskolloquiums an derÖsterreichischen Akademie der Wissenschaften, 5.-6. Dezember 2002, Wien 2006;

S. Deger-Jalkotzy ? I. Lemos (Hrsg.), Ancient Greece. From the Mycenaean Palaces to the Age ofHomer, Edinburgh 2006;

K. Strunk, Vom Mykenischen bis zum klassischen Griechisch, in: H.-G. Nesselrath (Hrsg.),Einleitung in die griechische Philologie, Stuttgart-Leipzig 1997, 135-155;

Sigrid Deger-Jalkotzy, Lesarten mykenischer Kontexte. Deutungsmuster für das Verständnis einerfrühgriechischen Hochkultur, in: Oswald Panagl, Ruth Wodak (Hrsg.), Text und Kontext.Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdisziplinären Vergleich, Würzburg 2004,205-218;

F. R. Adrados, Geschichte der griechischen Sprache. Von den Anfängen bis heute, Tübingen-Basel2002;

F. Aura Jorro, Diccionario Griego-Español Anejo I+II: Diccionario Micénico Vol. I+II, Madrid 1985und 1993.

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