Nachbarn 1/12 Bern

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Nachbarn Nr. 1 / 2012 Arme Kinder in der Schweiz Im Kanton Bern sind 24 000 Kinder von Armut betroffen. Zwei Familien erzählen, was das für sie bedeutet. Bern Berne

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Magazin zu Kinderarmut in der Schweiz, soziale Integration, Caritas

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NachbarnNr. 1 / 2012

Arme Kinder in der SchweizIm Kanton Bern sind 24 000 Kinder von Armut betroffen. Zwei Familien erzählen, was das für sie bedeutet.

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Inhalt

Schwerpunkt

Arme Kinder in der Schweiz

Armut grenzt Kinder aus, ein Leben lang. Denn Armut wird vererbt, die soziale Mobi- lität in der Schweiz ist gering. Wer arm ist, wird hier selten reich. Für Kinder hat dies weitreichende Konsequenzen: Sie können nicht mit ihren Kameradinnen und Kamera- den mithalten und stehen im Abseits.Auch im Kanton Bern sind 24 000 Kinder von Armut betroffen. Zwei Familien erzählen, was das für sie bedeutet. Zudem stellt Cari-tas Zahlen, Fakten und Lösungsansätze vor. ab Seite 6

Zum Schutz der betroffenen Kinder haben wir Bilder von Models verwendet.

Inhalt

Wahre Freundschaft ist keine Frage des Geldes, sollte man meinen …

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Editorial

3 von Thomas StuderGeschäftsleiter Caritas Bern

Kurz & bündig

4 News aus dem Caritas-Netz

1963

12 In der Schweiz angekommen Wenn die Kinder von Saisonarbeitern zu ihren Vätern kommen.

Persönlich

13 «Was hat Ihnen als Kind am meisten gefehlt?»

Sechs verschiedene Antworten.

Caritas Bern

14 «Unsere Tochter fühlte sich oft ausgeschlossen»

Kinder aus armen Familien leiden nicht nur unter den knappen finanziellen Res-sourcen ihrer Eltern. Vielen von ihnen fehlt es auch an sozialen Kontakten. Das Patenschaftsprojekt «mit mir» von Cari-tas Bern hilft gegen diese Ausgrenzung.

16 Caritas Bern in ihrem bildhaften und aktiven Jubiläumsjahr

Anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums gab Caritas Bern ihrem Engagement in der Öffentlichkeit ein Gesicht.

Kiosk

18 Ihre Frage an uns

Gedankenstrich

19 Kolumne von Tanja Kummer

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Editorial

3

«Nachbarn», das Magazin der regionalen Caritas-Stellen, erscheint zweimal jährlich. Gesamtauflage: 38 500 Ex.

Auflage BE: 3 800 Ex.

Redaktion: Franziska Herren (Caritas Bern)Ariel Leuenberger (national)

Gestaltung und Produktion: Daniela Mathis, Urs Odermatt

Druck: Stämpfli Publikationen AG, Bern

Caritas BernEigerplatz 5 Postfach3000 BernTel. 031 378 60 00www.caritas-bern.chPC 30-1794-2

«Arme Kinder sind das schwächste Glied der Armutskette», sagt der Basler Soziologe Ueli Mäder. Die 24 000 im Kanton Bern lebenden armutsbetroffenen Kinder wohnen in Haushal-ten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind oder zu den «Working Poor» gehören. Sie leiden nicht nur daran, dass ihre Familien über zu wenig Geld verfügen, sondern sie sind vielfältig belas-tet: mit psychischem Stress in der Familie, ungesunder Ernäh-rung, Bildungsdefiziten, vor allem aber mit sozialer Ausgren-zung. Dies kommt im Beitrag «Unsere Tochter fühlte sich oft ausgeschlossen» zum Ausdruck. In der Schweiz sind die Bildungschancen ungleich verteilt. Kin-der, die in sozial unterprivilegierten Schichten mit tiefem Bil-

dungsstand aufwachsen, haben schlechte Chancen, zu Bildung zu kommen. Nebst dem Mangel an Gütern und Beziehungen bedeutet Armut vor allem eine Einschrän-kung an Wahlmöglichkeiten, an Perspektiven, an einer tragfähi-gen, hoffnungsvollen Zukunft. Der Nobelpreisträger Amartya Sen spricht von Armut als «Man-

gel an Verwirklichungschancen». Unsere Massnahmen zur Überwindung von Armut im Kanton Bern sollten deshalb helfen, die Chancen und Perspektiven von armutsbetroffenen Kindern zu verbessern, um nachhaltig zu wirken.Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für So-zialhilfe, hat es am Caritas-Forum auf den Punkt gebracht: «Ar-mut überwinden heisst Ausbruch aus einer Welt ohne Wahl.» Diese Vision begleitet die Mitarbeitenden der Caritas Bern in ihrer Arbeit und in ihrem Ziel, den Menschen in prekären Le-benssituationen eine bessere Perspektive zu ermöglichen.

Herzlichst

Liebe Leserin, lieber Leser

Thomas Studer Geschäftsleiter Caritas Bern

«Armut bedeutet Einschränkung an Wahlmöglichkeiten, an Perspektiven, an einer hoffnungsvol-len Zukunft.»

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Kurz & bündig

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Caritas-Markt

LichtblickeIn den Caritas-Märkten können Armutsbetroffene zu Tiefstpreisen einkaufen.

Mit dem Kauf von Produkten des täglichen Bedarfs können Ar-mutsbetroffene rund 30 Prozent sparen gegenüber dem Einkauf im Supermarkt. Zum Einkauf berechtigt sind Menschen, die am oder unter dem Existenzminimum leben. Nach einer Budget-überprüfung erhalten sie eine Einkaufskarte, die ein Jahr lang gültig ist, und kõnnen sich dafür etwas leisten, was ihnen sonst verwehrt wäre: einen Kinobesuch, einen Ausflug oder ein neues Paar Schuhe. Kleine Lichtblicke in einem sorgenreichen Alltag.Möglich ist dies dank der Solidarität, welche die Märkte täglich von vielen Seiten erfahren. Seit 20 Jahren unterstützen Freiwil-lige die Verantwortlichen in den Filialen, Unternehmen belie-fern die Zentrale mit Produkten, die sie nicht mehr verkaufen kõnnen, und Spenderinnen und Spender helfen die Kosten zu tragen. Ohne diese Hilfe kõnnten die Caritas-Märkte nicht exis-tieren, denn sie erwirtschaften keine Gewinne.Im Jubiläumsjahr 2012 wird es in allen Caritas-Märkten speziel-le Rabatttage geben, denn auch unsere Kundinnen und Kunden sollen ein Geschenk erhalten. www.caritas-markt.ch

Caritas-Markt

Erfolgs- geschichteVor 20 Jahren wurde der erste Caritas-Markt eröff-net, seither wächst das Netz ständig.

Der erste Caritas-Markt õffne-te 1992 in Basel seine Tore, bald darauf folgten weitere Märkte in Luzern und Bern. Schweizweit be-treibt Caritas heute 23 Märkte, und das Netz wächst: Im letzten Jahr sind neue Märkte in Baar, Baden und Biel erõffnet worden.

Eine Zentrale in Rothenburg (LU) ist für die Akquisition und die Verteilung der Waren zuständig – jährlich rund 13 000 Paletten. Hier kommen Lieferungen aller Gross-verteiler der Schweiz an. Waren aus Überproduktionen, schadhaf-ten Serien, Falschlieferungen oder Liquidationen sowie gespendete Lebensmittel. Die Qualität der Le-bensmittel ist einwandfrei und un-terliegt den strengen Bestimmun-gen des Lebensmittelgesetzes.

Caritas-Märkte gibt es in der ganzen

Schweiz.

2011 gab es neue Märkte in

Baar, Baden und Biel.

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Migration

Flüchtlingstag in labyrinthischer FormFlüchtlinge und vorläufig Aufgenommene leisten einen wichtigen Beitrag zur Schweizer Berufswelt und Gesellschaft.

Im Rahmen des UNHCR-Weltflüchtlingstags veranstalten am Samstag, 16. Juni 2012, verschiedene Schweizer Städte und Ge-meinden einen nationalen Flüchtlingstag. Auf dem Berner Bun-desplatz und auf dem Zentralplatz in Biel wird ein Labyrinth interaktiv und spielerisch den Weg zur Integration von Flücht-lingen aufzeigen. Integration ist ein Gewinn für beide Seiten, und Flüchtlinge haben der Schweiz viel zu geben: Talent, Be-rufserfahrung, Motivation und die Begeisterung über ihre neu-en beruflichen und sozialen Möglichkeiten. Organisiert wird der Anlass von mehreren Hilfswerken, darunter die Caritas Bern. Vorgängig wird ein «Flashmob» auf den Flüchtlingstag auf-merksam machen. Vielerorts organisiert die Caritas, gemein-sam mit anderen Organisationen, die Flüchtlingstage. So in Aarau, Arbon, Bern, Basel, Luzern, St. Gallen, Sarnen, Zofingen und Zürich.

NEWS Sport hebt die Stimmung

Ein gesunder Körper stärkt den Geist, wussten schon die Römer. Dass diese Weisheit auch für Arbeitslose gilt, zeigt ein Pilotprojekt der Suva bei Caritas Lu-zern: Im Caritas Bauteilmarkt turnen die Teilnehmenden jeden Morgen ein paar Minuten. Das Programm ist fest in den Tagesablauf integriert, rund 70 Arbeits-lose machen mit.

Frauen reden die gleiche Sprache

Rapperswil-Jona, Gossau, Wil, Flawil und Uzwil starteten zusammen mit Cari-tas St. Gallen-Appenzell das Projekt «FemmesTISCHE». Das ist ein Elternbil-dungsprogramm mit Migrantinnen: Frau-en tauschen sich in einer Gesprächs- runde mit einer Moderatorin in ihrer Mut-tersprache aus. Sie reden über Erzie-hung, Familie oder Ernährung, behan-deln Integrationsthemen und erhalten Informationen über das Schulsystem.

KulturLegi vergünstigt Ferien

Caritas und Reka arbeiten bei der Kultur-Legi zusammen: Armutsbetroffene kön-nen neu bei der Reka ohne administrati-ven Aufwand Ferien buchen, praktisch gratis. Zu einem Solidaritätspreis von 100 Franken können sie eines der reser-vierten 100 Arrangements für Ferien in der Schweiz beantragen. Das Anmelde-formular kann hier heruntergeladen wer-den:www.kulturlegi.ch, www.reka.ch

Pfarreien sammelten für Caritas

Die Opfer der Gottesdienste Ende Janu-ar und Anfang Februar 2012 spendeten zahlreiche Pfarreien der Deutschschweiz erneut zu Gunsten von regionalen Cari-tas-Projekten. Dieses Jahr wurden ar-mutsbetroffene Kinder in der Schweiz un-terstützt. Durch die Sammlung kamen über 130 000 Franken zusammen. Wir danken den Pfarreien für die vielen Spenden. Dass es viel zu tun gibt, zeigt das Hauptthema dieses Magazins.

An über 200 Orten in der Schweiz gibt es Veranstaltungen zum Flüchtlingstag.

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Rubrik

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Freundschaften machen Kinder stark und zuversichtlich – das Leben macht mehr Spass, wenn man schöne und schwierige Momente mit anderen teilen kann.

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Schwerpunkt

ichel (14), schwärmt vom Bugatti, den er kürzlich in einem Automobilmuseum gesehen hat. Sven

(12) spielt gerne Fussball und hat sich gerade einen blauen Schal ge-strickt. Bryan (11) hat in der Schule lieber Englisch als Mathe und spielt am freien Nachmittag gerne mit Kollegen im Freien. Natalie (11) hat Freude am Velofahren und will spä-ter einmal Physiotherapeutin oder Topmodel werden. Michel, Sven, Bryan und Natalie – vier Kinder mit unterschiedlichen Neigungen und Wünschen, die eine Erfahrung ge-meinsam haben: Sie wissen, was es heisst, von der Sozialhilfe zu leben.

Michel und seine FamilieDie Mutter von Michel lebt seit der Trennung von ihrem Partner vor bald elf Jahren alleine mit ihm und seinem jüngeren Bruder Yves. Bis vor vier Jahren war auch noch

«Unsere Mutter kann zaubern»In der Schweiz sind viele Kinder von Armut betroffen. Wie erleben sie ihre Situation? Wo spüren sie am meisten, dass bei ihnen daheim weniger Geld da ist als bei ihren Kolleginnen und Kollegen? Wie gehen sie damit um? Begegnungen mit Kindern aus Sozialhilfe beziehenden Familien.

Text: Ursula Binggeli Bilder: Zoe Tempest

M te Mal vor acht Jahren begegnet, obwohl er gar nicht so weit weg wohnt. Nun ist Michel der Mann im Haus, er nimmt den Gästen beim Eintreten die Mäntel ab und bringt ihnen ein Glas Mineralwasser. Im Gespräch erzählt er dann, dass es ihm im Moment in der Schule nicht gut laufe. Dem Vierzehnjährigen ist das Lernen verleidet, er steht auf Kriegsfuss mit den Hausaufgaben, seine Leistungen werden immer schlechter. Seine Mutter hat ihm das Fussballspielen so lange un-tersagt, bis er wieder bessere Noten heimbringt. Nun hofft sie, dass der bevorstehende Umzug der Familie in eine andere Gemeinde die Wende bringt: Ein neues Schulhaus, neue Kollegen, eine neue Lehrperson – vielleicht packt es Michel dann! In der Freizeit zeigt Michel bereits jetzt, was er kann. Im Freizeittreff für Behinderte, den sein Bruder ein Mal im Monat besucht, ist er neu-erdings Leiter. Er freut sich über

Michels Schwester dabei, aber sie ist unterdessen 20 und wohnt nun bei ihrem Freund. Michels Mutter hat früher als Coiffeuse gearbeitet und dann verschiedene Teilzeitjobs gehabt. Seit sie mit den Kindern alleine ist, arbeitet sie jedoch nicht mehr ausser Haus. Eine Tagesmut-ter sei zu teuer, sagt sie. Und: «Ich wollte und konnte mich nicht von den Kindern trennen.» Vor allem Yves braucht viel Aufmerksamkeit. Er hat eine leichte geistige Behin-derung und besucht eine heilpäda-gogische Schule. Die Familie lebt schon lange von der Sozialhilfe. Michels Mutter hat sich in den letzten zehn Jahren sehr zurückgezogen. Zum Ausge-hen habe sie weder Zeit noch Geld gehabt, sagt sie dazu. Ihre Kontakt-freude lebt sie heute am Computer aus: Im Internet hat sie Kollegen gefunden, mit denen sie sich regel-mässig online austauscht. Seinem Vater ist Michel das letz-

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Rubrik

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die neue Aufgabe, doch er ist kei-ner, der Zukunftspläne schmieden mag – auch beruflich: Er weiss noch nicht, was er werden möchte. Seit kurzem hat Michel vom Projekt «mit mir» der Caritas einen Götti und eine Gotte vermittelt erhalten. Das Ehepaar unternimmt mit ihm regelmässig Ausflüge – zum Bei-spiel ins Automobilmuseum oder in den Europapark. Lässig sei das, sagt er, und lächelt.

Zu Besuch bei Sven, Bryan und Natalie In Svens Klasse ist im Klassenrat einmal das Sackgeld thematisiert worden. Seither weiss der Zwölfjäh-rige, dass eine seiner Kolleginnen regelmässig 50 Franken bekommt, wenn sie eine gute Prüfung ge-schrieben hat. Er erzählt das ganz

Diese bezahlt Frau S. nun einen Sprachkurs, ihr Deutsch wird von Monat zu Monat besser und sie hofft, in absehbarer Zeit Arbeit zu finden. Sven, Bryan und Natalie be-wegen sich bereits ziemlich selbst-verständlich in der neuen Sprache. Dass Familie S. eisern sparen muss, wird nicht nur beim Sack-geld deutlich. Im Winter kann je-weils nur eines der Kinder mit der Klasse ins Skilager reisen. Wenn Sven und Natalie in den Sommer-ferien die regionale Fussballwo-che für daheimgebliebene Kinder besuchen, übernimmt das Sozial-amt zwar den Kurs, aber nicht die Busbillette hin und zurück. Die elf-jährige Natalie erzählt, dass diese Zusatzkosten das Familienbudget jeweils sehr belasten, «weil dort alles schon ganz genau eingeteilt

Zusammenhalten, auch wenn es manchmal schwierig ist: Wahre Freunde sind immer füreinander da.

sachlich. Seine jüngere Schwester Natalie berichtet, sie kenne Mäd-chen, die sich vom Sackgeld sogar neue Kleider kaufen können. Ihr Zwillingsbruder Bryan übersetzt daraufhin, was die Mutter der drei Geschwister gerade auf Portugie-sisch gesagt hat: «Unsere Mutter hat manchmal Schuldgefühle, weil sie uns kein Taschengeld geben kann.» Und dann fügt er spitzbü-bisch an: «Aber sie gebe uns dafür ganz viele liebe Küsse, sagt sie.» Alle lachen. Frau S. ist vor dreieinhalb Jahren mit ihren Kindern von Brasilien in die Schweiz gekommen, in die Heimat des Ex-Mannes, in der Hoffnung, als Alleinerziehende ih-ren Kindern hier bessere Chancen bieten zu können. Seit die Familie da ist, lebt sie von der Sozialhilfe.

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Schwerpunkt

ist». Mit dem Sparen kennt sich je-des der Kinder bestens aus. Letztes Jahr konnte Familie S. eine Ferienwoche im Tessin verbrin-gen. Das Wetter war schön, es war warm, es hatte so viele Ameisen wie in Brasilien, aber weil das Sozi-alamt den Bungalow bezahlte, aber halt nichts an die Extras, die auch zum Ferienglück gehören, gab es für die Familie keine kleinen Freu-den wie hie und da eine Glace oder Besuche im Schwimmbad. Natalie sagt zwar: «Mami kann zaubern!», wenn sie davon erzählt, wie ihre beiden Brüder und sie von der Mutter zum Geburtstag stets Geschenke erhalten. Aber sie weiss, dass ihr grosser Wunsch für den nächsten Geburtstag – mit ihren Freundinnen eine Bowlingbahn in einem Restaurant besuchen, so wie es andere Mädchen in ihrer Klasse auch machen – möglicherweise ein Wunsch bleiben wird. «Es kostet halt», sagt sie nüchtern. «Mami sagt, dass sie es probiert, aber viel-leicht geht es nicht.»

Haustiere liegen nicht drinSven weiss, dass sein Wunsch nach einem Hund unerfüllbar ist. Haus-tiere sind im Budget nicht vorge-sehen. Die Meerschweinchen und Hamster, die sie vor einiger Zeit von einem wegziehenden Nachbarn übernommen hatten, mussten sie aus demselben Grund weiterver-schenken. «Das Futter war zu teu-er», erklärt Sven.Aber daneben gibt es viele Dinge, die Spass machen und wenig bis nichts kosten. Gemeinsam Kuchen backen! Gemeinsam brasiliani-sche Gerichte kochen! Gemeinsam Spiele spielen! «Ich liebe meine Kinder und ich liebe es, mit ihnen Zeit zu verbringen», sagt Frau S. Und Sven fügt an: «Es kommt gar nicht so fest drauf an, was wir ma-chen – Hauptsache, wir machen es gemeinsam.»

Michael Marugg, Mitglied der Eidg. Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ)

KommENtAr Wie beeinträchtigt Armut die Entwicklung von Kindern?

Materielle Armut bedeutet nicht nur weniger Geld, sie zieht Nach-teile für die Kinder und die ganze Familie in vielen Lebensbereichen nach sich. Weniger soziale Kontakte, schlechtere Lernmöglichkei-ten, mangelhafte Gesundheitsvorsorge müssen aufgeholt werden, bevor eine chancengleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich wird. Materielle Armut kann Eltern derart beanspruchen, dass sie ihre Verantwortung gegenüber den Kindern nicht mehr wahrnehmen können, und der Stress kann sogar das Risiko von Misshandlungen erhöhen.

Fallen arme Kinder auf?Armut versteckt sich und will sich suchenden Blicken entziehen. Arme Kinder sind als Persönlichkeiten nicht auffälliger oder unauf-

fälliger als andere. Trotz-dem weiss man, in welchen Quartieren sicher keine rei-chen Leute wohnen. Gleich-altrige haben einen schar-fen Blick dafür, wem die Minimalausstattung an ma-teriellen Dingen fehlt. Die Statistik zeigt, dass armuts-betroffene Kinder schlech-

teren Zugang zu höherer Bildung haben. Ein einzelnes armes Kind fällt vielleicht nicht auf, die Armut von Kindern dagegen schon, wenn man nicht wegschaut.

Welche Perspektiven haben Kinder aus armen Familien?Vom-Tellerwäscher-zum-Milliardär-Karrieren sind möglich, werden aber die Ausnahme zur Regel eines hohen Risikos sein, dass sich Armut vererbt. Das muss nicht tatenlos hingenommen werden. Die Startlinie für armutsbetroffene Kinder kann verbessert werden, bei-spielsweise mit einer adäquaten Existenzsicherung, Mentoring-Pro-jekten oder situationsgerechter Unterstützung der Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe. Haben Kinder eine gute Gegenwart, haben sie auch bessere Zukunftschancen. Dafür hat sich die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) im Bericht «Jung und arm: das Tabu brechen» engagiert.

«Armutsbetroffene Kinder haben schlechteren Zugang zu höherer Bildung.»

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Schwerpunkt

er Begriff der Armut ist stark mit Bildern aus anderen Weltgegenden verbunden. Traurige Kinder mit Hungerbäuchen, Kin-dersoldaten, Bauern, die ihre kargen Äcker von Hand bestellen. Armut in einer rei-

chen Gesellschaft wird als «Luxusproblem» verstan-den, soziale Auffangnetze verhindern zum Glück das Schlimmste. Aber hier sind Armutsbetroffene ausge-schlossen, während in ärmeren Gesellschaften die Ge-meinschaft mitträgt und das Verständnis viel grösser ist. In der Schweiz sind rund 260 000 Kinder von Armut betroffen – das sind ungefähr 13 000 Schulklassen. Sie leben in Haushalten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind oder zu den «Working Poor» gehören. Kinder, die von Armut betroffen sind, leiden nicht nur daran, dass

ihre Familien zu wenig Geld haben. Auch weniger ge-sundes Essen, prekäres Wohnen, unmodische Kleider belasten sie. Dadurch verlieren sie an Selbstwertge-fühl; oft entwickeln sie Schulschwächen und verwen-den ihre Energie hauptsächlich dazu, den familiären Zusammenhalt zu sichern und von ihren Freunden nicht ausgeschlossen zu werden.

Armut wird vererbtDie soziale Herkunft hat auf die Entwicklung und die Chancen der Kinder einen überdurchschnittlich grossen Einfluss, gerade in der Schweiz. Kurzum: Reichtum und Armut sowie damit verbundene Mög-lichkeiten und Einschränkungen werden vererbt. So kann von Chancengleichheit keine Rede sein. Das hat weitreichende Folgen: Wenn die Nachteile der sozialen

Arme Kinder in der SchweizArmut grenzt Kinder aus, ein Leben lang. Denn Armut wird vererbt, die soziale Mobilität in der Schweiz ist gering. Die Betroffenen können nicht mit ihren Kameradinnen und Kameraden mithalten und stehen im Abseits.

Text: Ariel Leuenberger Illustration: Christoph Fischer

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Herkunft nicht ausgeglichen werden, bleiben sie über das ganze Leben erhalten. Wer keinen guten Schulab-schluss erreicht, hat Schwierigkeiten, eine adäquate Berufsausbildung zu absolvieren und einen guten Ar-beitsplatz zu finden. Das ist später selbst bei der Höhe der Rente noch erkennbar.

Bildung und FreizeitSchon beim Schuleintritt weisen die Kinder in der Schweiz sehr unterschiedliche Kompetenzen auf – Bil-dungsdefizite nehmen bereits in der Vorschulphase Form an. Die ersten Lebensjahre stellen eine kritische Phase für die intellektuelle, kognitive und emotiona-le Entwicklung eines Kindes dar. Denn Kinder lernen in dieser Zeit besonders leicht, und allfällige Defizite lassen sich leichter ausgleichen als später. In der früh-kindlichen Bildung besteht daher ein grosses Potenzial für die Verhinderung von Armut.Erziehung findet nicht nur in der Schule oder im El-ternhaus statt. Vereine, Freunde und Familienausflü-ge tragen wesentlich zur Bildung des sozialen Netzes, zur Integration und auch zur Entwicklung und Vertie-fung der Interessen und Fähigkeiten bei. Arme Kinder können aber oft nicht mithalten, weil die Kosten für diese Aktivitäten das Budget ihrer Eltern sprengen. Einmal mehr sind sie benachteiligt und stehen abseits.

Gleiche Chancen für alleDie Stärke einer Gesellschaft misst sich bekanntlich am Wohl der Schwachen. Caritas setzt sich dafür ein, dass in der Schweiz alle Kinder gleiche Chancen haben. Wir helfen armutsbetroffenen Familien direkt mit per-sönlicher Beratung und verschiedenen Projekten. Zu-dem setzen wir uns anwaltschaftlich für Betroffene ein, indem wir die Rahmenbedingungen, welche zu Armut führen, mit Forderungen an die Politik zu ver-bessern versuchen.

Links und Publikationen

Kampagne für arme KinderMit der Kampagne «Abseits» machen die regionalen Caritas-Organisationen in der Deutschschweiz auf Pro-bleme und Lösungsansätze aufmerksam. Details auf www.kinderarmut.ch

Sozialalmanach 2012Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage in der Schweiz mit dem Schwerpunktthema «Arme Kinder». Unter ande-rem mit Beiträgen von Ueli Mäder, Ludwig Gärtner, Mi-chael Marugg, Carlo Knöpfel, Margrit Stamm. Zu bestellen unter www.kinderarmut.ch/publikationen

Caritas fordert MassnahmenDie bestehenden Rahmenbedin-gungen genügen nicht, um die Kinderarmut in der Schweiz zu verringern.

Arme Kinder haben nicht die gleichen Chan-cen wie ihre besser gestellten Freundinnen und Freunde. Armutsbekämpfung und Ar-mutsprävention müssen den Ausschluss-mechanismen entgegenwirken. Caritas for-dert Massnahmen zur Existenzsicherung einerseits und solche zur Chancengleichheit andererseits. Beide sind notwendig, um die Vererbung von Armut zu durchbrechen. Die Erwerbsarbeit von Eltern muss erleichtert, günstiger Wohnraum für Familien gefördert werden. Es braucht Ergänzungsleistungen für Familien sowie den Ausbau von Betreu-ungs- und Bildungsangeboten. In Quartieren verankerte Familienunterstützungszentren können dazu beitragen, armutsbetroffenen Familien früher, besser und umfassender zur Seite zu stehen. Nur so haben ihre Kin-der die Chance, aus dem Abseits zu treten und mit ihren Freunden wieder mithalten zu können. Verschiedene Caritas-Projekte wie die KulturLegi, der Caritas-Markt oder das Patenschaftsprojekt «mit mir» helfen ihnen schon heute.

Die Schweiz liegt unter dem Durchschnitt: Ausgaben für Familien in OECD-Staaten, in Prozent des BIP (2007).

0.5%

1%

1.5%

2%

2.5%

3%

3.5%

4%

Steuererleichterungen für Familien

Dienstleistungen für Familien

Beiträge für Familien

USAJpPorItCanCHSpPol

Ø O

EC

D

CzAtGerNeNorSwDenUKFr

Öffentliche Ausgaben für Familien in % des BIP, 2007

Steuererleichterungen für Familien

Beiträge für Familien

Dienstleistungen für Familien

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In der Schweiz angekommen Seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts lebten viele Italiener als Saisonarbeiter in Bara-ckensiedlungen. Als sie später ihre Familie nach-ziehen konnten, arbeiteten meist auch die Mütter, und die Kinder waren sich selbst überlassen. Noch in den Siebzigerjahren gab es mehr als 10 000 ille-gal in der Schweiz lebende Kinder von Saisonarbei-tern.

Bild: Rob Gnant – Barackensiedlung an der Luggwegstrasse in Zürich © Fotostiftung Schweiz / 2012, ProLitteris, Zürich

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Persönlich

Hans Trampitsch, Fleisch-fachverkäufer:Am meisten gefehlt hat mir, dass der Vater nicht mehr Zeit gehabt hat, mit uns Kindern etwas zu unternehmen, zu spielen. Aber

das war natürlich auch schwierig. Ich bin mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Auch die Mutter hatte zu wenig Zeit. Sie musste ja damals zum Beispiel die Windeln noch von Hand auswaschen.

Angela Falk, Studentin:Ich wurde mit sechs Wochen ad-optiert, meine Wurzeln haben mir aber nie gefehlt. Da ich eine Nach-züglerin bin – meine Geschwister sind 12 und 14 Jahre älter als ich

–, haben mir gleichaltrige Geschwister gefehlt, mit denen ich mich hätte austauschen und zusammen rebellisch sein können. Ich ging dafür zu Freunden nach Hause, bei mir zuhause war alles ein bisschen zu leer und zu steril.

Ruth Becker, kfm. Ange- stellte, Familienfrau:Ich hatte eine sehr schöne Kind-heit und hab gar nicht das Gefühl, dass mir etwas gefehlt hätte. Nur etwas kommt mir in den Sinn. Ich

hätte wahnsinnig gerne einen Hund gehabt. Da wa-ren meine Eltern aber strikt dagegen, weil das doch viel Aufwand bedeutet hätte.

Letina Okbamichael, Eritrea:Als ich zehn Jahre alt war, starb mein Vater. Für mich und mei-nen sechsjährigen Bruder war das eine schlimme Erfahrung. Die Mutter musste arbeiten gehen

und ich hatte viel auf meinen Bruder aufzupassen. Der Vater fehlte mir sehr.

Pascal Tschudin, Auszu- bildender:Bis zum 16. Lebensjahr lebte ich in Ecuador. Ich hatte eine gute Kindheit, mir hat nichts gefehlt. Ich schätzte vor allem den Zu-

sammenhalt in unserer Grossfamilie und hatte viele gute Freunde. Vor gut zwei Jahren kamen wir in die Schweiz. Hier herrscht eine andere Mentalität: Ich habe nur wenige Bekannte und mir fehlt der Kontakt zur Grossfamilie, vor allem zu meinen Grosseltern.

«Was hat Ihnen als Kind am meisten gefehlt?»Diese Frage haben wir unterschiedlichen Menschen auf der Strasse gestellt. An verschiedenen Orten in der Deutschschweiz.

Anina Jost, Studentin:Ich würde meine Kindheit eins zu eins wieder so erleben wollen, wie ich sie erlebt habe. Ich hatte alles, was ein Kind überhaupt ha-ben kann. Ich hatte Liebe, Zeit mit

meinen Eltern, Freunde, Spass und eine gute Erzie-hung genossen. Mir wurden aber auch Grenzen auf-gezeigt und ich machte auch schlechte Erfahrungen. Genau diese haben sich als sehr wichtige Momente herausgestellt.

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Caritas Bern

«Unsere Tochter fühlte sich oft ausgeschlossen»Kinder aus armen Familien leiden nicht nur unter den knappen finanziellen Ressourcen ihrer Eltern. Vielen von ihnen fehlt es auch an sozialen Kontakten. Das Patenschaftsprojekt «mit mir» von Caritas Bern knüpft Beziehungen zwischen freiwilligen Patinnen oder Patenpaaren und Familien, die in einer sozial oder finanziell schwierigen Situation stecken.

Text: Franziska Herren Bilder: Andreas Schwaiger

ir sind finanziell nicht auf Rosen ge-bettet», gesteht Ur-

sula Kuhn*. Sie und ihr Mann, der wegen Krankheit nicht arbeiten kann, sowie ihre drei Kinder leben am Existenzminimum. Lebensmit-tel kauft die Familie nach Möglich-keit im Caritas-Markt ein, Kleider in der Kleiderbörse. Für die Frei-zeit müssten sie sich halt etwas vornehmen, das wenig koste. Am Fluss grillieren oder mit der Kul-turLegi ins Hallenbad gehen. Die fünfköpfige Familie ist in einem Mehrfamilienblock, in einer Vier-einhalbzimmerwohnung, zuhause. Es sei zwar eng, aber sie seien zu-frieden, erklärt Ursula Kuhn. Die beiden jüngeren Kinder, die noch zur Schule gehen, teilen sich einen Raum. Die älteste Tochter, die eine Lehre macht, hat ihr eigenes Zim-mer. «Etwas Besseres finden wir nicht», sagt Ursula Kuhn.

Über Geld wird am Familientisch nicht gesprochen. Gewisse Regeln sind jedoch klar. So zum Beispiel, dass die älteste Tochter ihren Lehr-lingslohn für die Fahrkosten und Verpflegung einsetzen muss. «Es kommt vor, dass wir unseren Kin-dern Spielsachen, Kleider oder Freizeitaktivitäten nicht finanzie-ren können», sagt Ursula Kuhn nachdenklich. «Wir versuchen, ih-nen etwas zu gönnen, und stecken unsere Bedürfnisse zurück. Doch manchmal geht es einfach nicht.»

Armut hat viele Gesichter Im Kanton Bern erleben 24 000 Kinder ein ähnliches Schicksal. Sie leben in Familien, die auf Sozial-hilfe angewiesen sind oder deren Eltern trotz Erwerbseinkommen am oder unter dem Existenzmini-mum leben. «Arme Kinder sind das schwächste Glied der Armutsket-te», schreibt der Basler Soziologe

Ueli Mäder im «Sozialalmanach 2012». Armut hat viele Gesichter und trifft Kinder unterschiedlich. «In Haushalten von erwerbstäti-gen Armen spüren Kinder den fi-nanziellen Stress. Sind die Eltern arbeitslos, beeinträchtigen psychi-sche Verstimmungen die Lebens-freude von Kindern», erklärt Ueli Mäder. Kinder aus armen Familien haben einen geringeren Selbstwert und leiden unter mehr gesund-heitlichen Problemen. Auch macht vielen armutsbetroffenen Kindern der Vergleich mit Kolleginnen und Kollegen, die sich mehr leisten kön-nen, zu schaffen. Auch Ursula Kuhns Kinder bekom-men es mit, wenn ihre Klassen-kameradinnen oder –kameraden am Wochenende Ski fahren gehen oder im Sommer in die Ferien fah-ren. «Die älteste Tochter beschwert sich oft und vergleicht sich mit Ju-gendlichen, die sich mehr leisten

«W

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Caritas Bern

können», sagt Ursula Kuhn. Ihre Tochter ist in der Schule zeitweise gemobbt worden. Nicht nur, weil ihre Familie über wenig Geld ver-fügt, sondern allem voran, weil ihr Vater arbeitsunfähig und immer zuhause war. Gerade an Vater-Toch-ter-Tagen, an denen die Väter den Töchtern ihren Arbeitsplatz zeigen würden, sei die Situation für die Tochter schwer zu ertragen gewe-sen, führt Ursula Kuhn aus. «Un-sere Tochter fühlte sich oft ausge-schlossen», meint die Mutter. «Die Mädchen aus ihrer Klasse wollten nicht mit ihr abmachen, und sie selbst lud auch niemanden nach Hause ein.»

Die Patenschaft eröffnet eine neue WeltWeil sie über ein kleines Bezie-hungsnetz verfügt, hat sich Ursula Kuhn vor mehr als drei Jahren ent-schieden, ihre beiden jüngeren Kin-der im Patenschaftsprojekt «mit mir» der Caritas Bern anzumelden. «Ich fand es wichtig, dass die Kin-der eine Patin erhalten. Eine Per-son, von der sie lernen können, und die ihnen Neues zeigt.» Die frei-willigen Patinnen oder Patenpaare des Projekts «mit mir» verbringen Zeit mit den Kindern und holen die Kinder so aus einer möglichen Isolation heraus. «In einer Paten-schaft lernt ein Kind eine neue Welt kennen. Es bekommt von der Patin oder dem Patenpaar Zeit und Auf-merksamkeit geschenkt, und da-durch erweitern sich für das Kind die Möglichkeiten und der Hori-zont», erklärt Maria Teresa Ossola, Leiterin Patenschaftsprojekt «mit mir». In Bern und Biel profitieren zurzeit 60 Kinder von einer Paten-schaft. «Ein Kind zu akzeptieren, so wie es ist, unabhängig von Ge-schlecht, Nationalität und Status, ihm Zuwendung und Aufmerksam-keit zu schenken und es ernst zu nehmen, ist ein wertschätzendes Geschenk, und das Kind gewinnt dadurch an Selbstvertrauen», führt Maria Teresa Ossola weiter aus.

Rund zwei Nachmittage pro Mo-nat verbringen Ursula Kuhns Kin-der bei ihrer Patin. Sie backen oder spielen mit ihr, gehen in den Wald oder verrichten zusammen Garten-arbeiten. «Hie und da lädt die Patin sie ins Theater ein, und sie lernen dabei etwas kennen, das wir ihnen nicht bieten können», sagt ihre Mutter. «Die Kinder schätzen ihre Patin und freuen sich darauf, mit

ihr etwas zu unternehmen.» Und auch Ursula Kuhns Alltag erfährt Entlastung: «Wenn die Kinder weg sind, kann ich die Zeit nutzen, um mal spazieren oder schwimmen zu gehen. Und manchmal, um einfach in Ruhe Hausarbeiten zu erledi-gen.»

*Name von der Redaktion geändert

Arme Kinder haben einen geringeren Selbstwert. Sie vergleichen sich oft mit Kolleginnen und Kollegen.

Freizeit ist teuer. Arme Kinder können mit Kameradinnen und Kameraden nicht mithalten und stehen im Abseits.

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Caritas Bern

n dem im Juni auf dem Wai-senhausplatz in Bern durch-geführten «Kultursprung»-

Fest stand Caritas Bern für den Dialog zwischen den Kulturen ein. Die über 5000 Besucherin-nen und Besucher erfreuten sich an den kulturellen und kulinari-schen Spezialitäten aus der gan-zen Welt. Ein Gericht aus Süd-

Caritas Bern in ihrem bildhaften und aktiven JubiläumsjahrAnlässlich des 25-Jahre-Jubiläums gab Caritas Bern ihrem Engagement in der Öffentlichkeit ein Gesicht. Mit der Eröffnung eines dritten Caritas-Marktes im Kanton Bern setzte sie zudem eine Forderung der Kampagne «Armut halbieren» um.

Text: Franziska Herren Bilder: Guy Perrenoud, Christoph Wider

an und liess die Caritas Bern im Frühherbst die Filmreihe «Rand-sichten» zum 25-Jahre-Jubiläum im cineMovie in Bern programmie-ren. Die an fünf Dienstagabenden gezeigten preisgekrönten Filme nahmen Lebenssituationen von Menschen in den Fokus, mit denen Caritas Bern in ihrer täglichen Ar-beit konfrontiert ist. Die Filmreihe wurde von 350 Leuten besucht. 80 Prozent der Einnahmen spendete Quinnie Cinemas der KulturLegi der Caritas Bern. Diese Verbindung machte Sinn, denn: «Auch in den Quinnie-Kinos können die Besu-cherinnen und Besucher mit einer KulturLegi günstiger ins Kino», erklärte Ana-Marija Gröndahl von Quinnie Cinemas. Die KulturLegi ist im Kanton Bern gut verankert. Ende 2011 führten 14 Gemeinden die KulturLegi. Drei neue Gemeinden – Langenthal, Nidau und Port – stiessen auf den 1. Januar 2012 dazu. Seit ihrer Ein-führung im Kanton Bern im Jahr 2006 ist keine Gemeinde aus dem Programm ausgestiegen.

15. Operngala im Stadttheater BernMit dem 25-Jahre-Jubiläum der Caritas Bern fiel 2011 auch der 15-jährige Geburtstag des Förder-vereins zusammen. An der traditi-onell im November im Stadttheater durchgeführten Operngala wur-de «Der fliegende Holländer» von Richard Wagner aufgeführt. Der Präsident des Fördervereins der Caritas Bern, Robert Landtwing, konnte zu dieser romantischen Oper Prominenz aus Wirtschaft, Politik und aus kirchlichen Kreisen begrüssen. Den Abschluss des Jubiläumsjah-res bildete die bereits zum siebten Mal auf dem Bundesplatz durch-geführte Solidaritätsaktion «Eine Million Sterne». Die Miss Earth Schweiz, Irina De Giorgi, zündete zusammen mit den prominenten Berner Politikerinnen Edith Olibet und Evi Allemann Feuersonnen als

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Der neue Caritas-Markt in Biel ist am 15. September 2011 offiziell eröffnet worden.

amerika, dem Mittleren Osten, Ostafrika und der Schweiz wurde am «Kultursprung»-Fest zuguns-ten der Caritas Bern verkauft.

Filme über Menschen an den RändernAuch Quinnie Cinemas unterstütz-te die Caritas Bern in ihrem Jubilä-umsjahr. Sie bot sich als Partnerin

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Caritas Bern

Zeichen der Solidarität mit armuts-betroffenen Menschen an. Junge Führungskräfte der JCI-Kammer Bern unterstützten die Caritas Bern im ganzen Jubiläums-jahr bei Anlässen und Massnahmen durch freiwillige Einsätze. «Als ich Ende 2010 zum Präsidenten der JCI Bern ernannt wurde, wollte ich ein soziales Projekt durchführen, in dem einer NGO nicht Geld, sondern Zeit und Fachwissen zur Verfügung gestellt wird», sagte Dave Weilen-mann, Präsident der JCI-Kammer Bern.Mit ihrem fünfjährigen Bestehen konnte auch die Berner Vermitt-lungsstelle für interkulturelle Übersetzerinnen und Übersetzer «comprendi?» ein kleines Jubiläum feiern. Seit ihrem Start hat sich die Zahl der Übersetzungsstunden pro Jahr mehr als verdoppelt. Sie liegt heute bei 17 239 Stunden in rund 50 verschiedenen Sprachen. Ein Wachstum erfuhr auch der Flüchtlingsdienst der Caritas Bern. Die Sozialarbeitenden be-gleiteten gut 200 Personen mehr als im Vorjahr. Bei der Fachstelle Wohnen erforderte das Wachstum eine personelle Erweiterung so-wie eine Konzeptanpassung. Eine Massnahme daraus ergibt sich in der Beratung: Die Mitarbeitenden der Fachstelle Wohnen werden die anerkannten Flüchtlinge vermehrt darauf hinweisen, den Radius bei der Wohnungssuche geografisch auf die Regionen auszuweiten.

Erster zweisprachiger Caritas-Markt eröffnetDie Caritas-Kampagne «Armut halbieren» spielte im Jubiläums-jahr weiterhin eine wichtige Rol-le. Mit der Eröffnung eines dritten Caritas-Marktes im Kanton Bern kam Caritas Bern der Forderung nach der Schaffung von mehr Lä-den für armutsbetroffene Men-schen nach. Der im letzten Sommer in Biel neu eröffnete Markt wird als erster Caritas-Markt nicht von der Caritas selbst, sondern von der

Den Rechenschaftsbericht der Caritas Bern 2011 finden Sie unter www.caritas-bern.ch.

FONDATION gad STIFTUNG be-trieben. «In den ersten fünf Mona-ten wurden 3000 Einkaufskarten im Raum Biel-Bienne/Seeland an zur Abgabe berechtigte Institutio-nen und Personen verteilt», erklärt Marianne Kuchen, Leiterin Bereich Gastronomie der FONDATION gad STIFTUNG. «Der Umsatz konnte in den ersten Monaten kontinuierlich gesteigert werden, was den von uns erwarteten Bedarf für das Angebot bestätigt», führt Marianne Kuchen weiter aus. Beim neu geschaffenen Geschäft in Biel handelt es sich aus-serdem um den ersten zweisprachi-gen Caritas-Markt der Schweiz. Die beiden anderen Caritas-Märkte in Bern und Thun erfuhren im ver-gangenen Jahr kleine Neuerungen. Dank Spenden zum Tod des Pfar-rers Michael Dähler und dank des innovativen Zivildienstleistenden Patrick Wüthrich ist im Thuner Caritas-Markt eine neue Café-Ecke entstanden. Auch in Bern erfuhr die Kaffeeecke als sozialer Treff-punkt eine Auffrischung.

Robert Landtwing, Präsident Förderverein, und Judith Ackermann, Vizepräsidentin Förderverein, konnten an der Operngala Prominenz aus Wirtschaft, Politik und aus kirchlichen Kreisen begrüssen.

Aus Solidarität mit Armutsbetroffenen zündete die Miss Earth Schweiz, Irina De Giorgi, an der Aktion «Eine Million Sterne» auf dem Bundesplatz Kerzen an.

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Kiosk

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AGENDA

Delegiertenversammlung 2012 der Caritas Bern

An der Delegiertenversammlung der Caritas Bern steht der Rechenschafts-bericht mit der Jahresrechnung im Zentrum. Nebst einem Rückblick auf das Jahr 2011 wird den Teilnehmenden auch ein Ausblick ins laufende Jahr 2012 ge-währt.Mittwoch, 6. 6. 2012, 18 UhrPfarrei St. Marien in Bern

Menschenwürde – ein Luxus?

Die Fachtagung der Interkonfessionellen Arbeitsgruppe Sozialhilfe und der Berner Konferenz für Sozialhilfe, Erwachsenen- und Kinderschutz zum Thema «Men-schenwürde» richtet sich an Sozialarbei-tende und kirchliche Mitarbeitende von öffentlichen und andern Organisationen im Sozialbereich sowie kirchliche, kom-munale und regionale Behördenmitglie-der.Dienstag, 12. 6. 2012, 8.15 bis 17 UhrReformierte Kirchgemeinde Paulus, Bern

Tag des Flüchtlings

In Bern und Biel veranstalten mehrere NGOs den nationalen Flüchtlingstag. Ein Labyrinth wird auf interaktive und spiele-rische Weise den Weg zur Integration von Flüchtlingen aufzeigen. Vorgängig wird ein Flashmob auf die Veranstaltung aufmerksam machen.Samstag, 16. 6. 2012, 15 bis 22 UhrBerner Bundesplatz und Biel

Eine Million Sterne

Armut trifft Kinder ganz besonders hart. Darum unterstützt die Caritas-Aktion «Eine Million Sterne» arme Familien in der Schweiz. Jedes Licht, das angezün-det wird, ist ein Bekenntnis der Solidari-tät mit Menschen in Not.Samstag, 15. 12. 2012, ab 16 UhrBundesplatz, Bern

Software-Spende an Caritas Bern

Im Rahmen der Microsoft Donation spendete Microsoft der Caritas Bern im letzten Herbst 50 Gratis-Office-2010-Lizenzen. Auch unter-stützte Microsoft die Caritas Bern mit kostenlosen Grafikprogram-men – 50 VisioPro-2010- und 10 Prjct-Lizenzen. Diese hätten Cari-tas Bern im Handel 25 000 Franken gekostet. Microsoft zeigt sich bei der Vergabe von Gratis-Software an kleine NGO sehr grosszü-gig. Im letzten Jahr durfte die Caritas Bern davon profitieren. Wir danken Microsoft sehr für ihre Spende!

Ihre Frage an uns

Sind Menschen, die mit dem Auto zum Caritas-Markt fahren, wirklich arm? Ein Auto kostet jeden Monat viel Geld, das man sicher sinnvoller einsetzen könnte. (Anna Schmid, Bern)

Liebe Frau SchmidEs stimmt: Ein Auto ist teuer. Unsere Sozialberaterinnen und -berater empfehlen bei der Budgetberatung stets, auf das Auto zu verzichten und die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Doch es gibt Situationen, in denen ein eigenes Auto unverzicht-bar ist. Wer zum Beispiel Schichtarbeit verrichtet, kommt kaum ohne Auto nach Hause. Und wer abgelegen auf dem Land wohnt, wo die Wohnungen besonders günstig sind, ist unter Umstän-den auch auf ein Auto angewiesen.Wir bei Caritas sind der Meinung, dass jeder Mensch sein Geld so einsetzen soll, wie er es für richtig empfindet. Wenn arme Menschen auf Ferien oder auf eine grössere Wohnung verzichten und sich dafür das eigene Auto leisten, so ist das ihre Entschei-dung, die es zu respektieren gilt – wenn sie Prioritäten setzen können. Aber wenn sich unsere Klientinnen und Klienten nicht

an das gemeinsam erarbeitete Budget halten, stellen wir die Beratung ein. Denn ohne Auto hat jede Familie am Ende des Monats mehr Geld zur freien Verfügung. Schliesslich kann man sich auch ein Fahrzeug leihen, von Freunden oder bei Mobility.

Haben Sie auch eine Frage an uns? Gerne beantworten wir diese in der nächsten Ausgabe von «Nachbarn». Senden Sie Ihre Frage per E-Mail an [email protected] oder per Post an:

Redaktion Nachbarn Caritas ZürichBeckenhofstrasse 16Postfach8021 Zürich

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Gedankenstrich

«Sie haben ja keine Ahnung!» Das hören wir oft. Wir, die Geld haben. Dass wir keine Ahnung hätten, was es heisst, arm zu sein. Und uns da-rum nicht einmischen sollen. Aber spenden sollen wir trotzdem, am besten viel. Kein Problem, das ma-che ich gerne. Nicht einmischen, meine ich.Aber einiges müsste mir wirklich erklärt werden. Warum man zum Beispiel Kinder in die Welt setzt, wenn man kein Geld hat. Ohne mein Vermögen hätte ich keine Familie gegründet. Die Ausbildung der vier Kinder ist teuer. Aber je-mand muss ja eines Tages die Fir-ma übernehmen. Lange dachte ich an unsern Jüngsten, Carl. Er ist zehn. Aber jetzt enttäuscht er mich. Er gibt sich mit dieser Angela ab. Ich weiss nicht, wo er die kennen-gelernt hat. Sicher nicht an der Pri-vatschule. Sie ist aus schlechtem Haus: zwei Geschwister, die Mutter alleinerziehend, arbeitslos, arm und offenbar dumm.

Ich habe keine Ahnung

Auf sein Drängen hin habe ich Carl erlaubt, das Mädchen zum Lunch einzuladen. Beim Essen erzählte sie tatsächlich, dass sie ein Handy hat! So ein Mädchen vertelefoniert doch Unsummen! Und zuhause hätten sie sogar einen Computer. Als ich Carl auf diesen liederlichen Umgang mit Geld hinwies, erwider-te er: «Sie braucht ein Handy und einen Compi, um mit andern Men-schen in Kontakt zu sein, so wie wir alle, das gehört auch zur Chan-cengleichheit, das haben wir in der Schule durchgenommen!» Chan-cengleichheit! So ein Blödsinn.Ob es auch mit Chancengleichheit zu tun hat, dass sich Angela unan-ständig gierig auf alles gestürzt hat – egal, ob Fleisch, Gemüse oder Kar-toffeln –, was beim Lunch angebo-ten wurde? «Kein Wunder», sagte ich zu Carl, «die Mutter sitzt sicher den ganzen Tag vor dem Fernseher und kocht nie etwas Anständiges!» «Nein», entgegnete Carl, «sie sucht unter anderem gutes, billiges Ge-

müse. Du hast einfach keine Ah-nung!» Keine Ahnung, so so. Ich wette, dass er nichts dagegen hätte, wenn ich seiner Freundin Geld ge-ben würde. Doch ich habe ja keine Ahnung und darum halte ich mich da raus.

Tanja Kummer ist Schriftstellerin. Ihr Erzählband «Wäre doch gelacht» und andere Bücher sind im Zytglogge-Verlag erschienen. 2010 leitete die Autorin die Schreibwerkstatt «wir sind arm» der Caritas. Die so entstandenen Texte können Sie nachlesen auf www.wir-sind-arm.ch.

Illustration: Christoph Fischer

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Armut grenzt Kinder aus. Ein Leben lang. Ihre Spende hilft, die Armut in der Schweiz zu halbieren: www.kinderarmut.ch. Danke.

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