Nachts um zwei in der Innenstadt - hjr-verlag.de

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Fall 1 Nachts um zwei in der Innenstadt 10 Kandidat: In § 108 Abs. 1 JGG ist geregelt, dass die Zuständigkeit der Jugendgerichte auch für Heranwachsende gilt, und Abs. 2 stellt klar, dass das selbst dann gilt, wenn die Anwendung materiellen Erwachsenenstrafrechts zu erwarten ist. Prüfer: Gut. Das wird oft falsch gemacht. Bei der Frage der Gerichtszu- ständigkeit kommt es also auf ein Reifedefizit oder eine jugend- typische Verfehlung wie bei § 105 JGG überhaupt nicht an. Von ganz wenigen hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen, sind Heranwachsende immer zu den Jugendgerichten anzuklagen. Kandidat: Dann erhebe ich also Anklage zum Jugendrichter. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich bei Jugendlichen und Heranwachsen- den vorrangig nach dem Wohnort, § 42 Abs. 1 Nr. 2 JGG. Prüfer: Sehr schön. Fehlt noch etwas? Kandidat: Ich wüsste nicht. Prüfer: Dann denken Sie einmal daran, dass unser Beschuldigter ständig weiter Auto fährt. Sollte das bei diesen Delikten sein? Kandidat: Nein, §§ 315c, 316 StGB sind Katalogtaten nach § 69 Abs. 2 StGB, die regelmäßig die Entziehung der Fahrerlaubnis zur Folge haben. Diese Maßregel kann aber erst in der Hauptverhandlung mit dem Urteil angeordnet werden. Prüfer: Völlig korrekt. Und bis dahin lassen wir unseren Beschuldigten weiterfahren? Kandidat: Es gibt die Möglichkeit der vorläufigen Entziehung der Fahr- erlaubnis nach § 111a StPO, wenn dringende Gründe dafür be- stehen, dass sie endgültig entzogen werden wird. Prüfer: Richtig. § 111a StPO fordert also einen erhöhten Verdachtsgrad über den hinreichenden Tatverdacht hinaus. Kandidat: Den dringenden Tatverdacht, wie beim Haftbefehl. Prüfer: Genau. Bejahen Sie ihn in unserem Fall? Kandidat: Mit einem Blutalkoholgutachten wäre das kein Problem. Da ich den Tatverdacht der Fahruntüchtigkeit aber nur auf Zeugenaus- sagen stützen kann, ist das schon etwas schwierig. Ich denke aber, dass die Indizienlage noch ausreicht, um einen dringenden Tatver- dacht anzunehmen. Ich habe eigentlich keine ernstlichen Zweifel, dass es zu einer Verurteilung kommen wird.

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Fall 1 Nachts um zwei in der Innenstadt

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kandidat: In § 108 Abs. 1 JGG ist geregelt, dass die Zuständigkeit der Jugendgerichte auch für Heranwachsende gilt, und Abs. 2 stellt klar, dass das selbst dann gilt, wenn die Anwendung materiellen Erwachsenenstrafrechts zu erwarten ist.

Prüfer: Gut. Das wird oft falsch gemacht. Bei der Frage der Gerichtszu-ständigkeit kommt es also auf ein Reifedefizit oder eine jugend-typische Verfehlung wie bei § 105 JGG überhaupt nicht an. Von ganz wenigen hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen, sind Heranwachsende immer zu den Jugendgerichten anzuklagen.

kandidat: Dann erhebe ich also Anklage zum Jugendrichter. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich bei Jugendlichen und Heranwachsen-den vorrangig nach dem Wohnort, § 42 Abs. 1 Nr. 2 JGG.

Prüfer: Sehr schön. Fehlt noch etwas?

kandidat: Ich wüsste nicht.

Prüfer: Dann denken Sie einmal daran, dass unser Beschuldigter ständig weiter Auto fährt. Sollte das bei diesen Delikten sein?

kandidat: Nein, §§ 315c, 316 StGB sind katalogtaten nach § 69 Abs. 2 StGB, die regelmäßig die Entziehung der Fahrerlaubnis zur Folge haben. Diese Maßregel kann aber erst in der Hauptverhandlung mit dem Urteil angeordnet werden.

Prüfer: Völlig korrekt. Und bis dahin lassen wir unseren Beschuldigten weiterfahren?

kandidat: Es gibt die Möglichkeit der vorläufigen Entziehung der Fahr-erlaubnis nach § 111a StPO, wenn dringende Gründe dafür be- stehen, dass sie endgültig entzogen werden wird.

Prüfer: Richtig. § 111a StPO fordert also einen erhöhten Verdachtsgrad über den hinreichenden Tatverdacht hinaus.

kandidat: Den dringenden Tatverdacht, wie beim Haftbefehl.

Prüfer: Genau. Bejahen Sie ihn in unserem Fall?

kandidat: Mit einem Blutalkoholgutachten wäre das kein Problem. Da ich den Tatverdacht der Fahruntüchtigkeit aber nur auf Zeugenaus-sagen stützen kann, ist das schon etwas schwierig. Ich denke aber, dass die Indizienlage noch ausreicht, um einen dringenden Tatver-dacht anzunehmen. Ich habe eigentlich keine ernstlichen Zweifel, dass es zu einer Verurteilung kommen wird.

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Nachts um zwei in der Innenstadt Fall 1

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Prüfer: Gut vertretbar. Was bedeutet das für Ihre staatsanwaltliche Abschlussverfügung?

kandidat: Zugleich mit Anklageerhebung beantrage ich, dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vorläufig nach § 111a StPO zu entziehen.

Prüfer: Richtig. Damit beenden wir den Fall. Vielen Dank.

Auf einen Blick

Prägen Sie sich die Verdachtsgrade (von unten nach oben) ein:

Der Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) berechtigt und verpflichtet die Staatsan-waltschaft, in strafprozessuale Ermittlungen einzutreten.

Der hinreichende Tatverdacht (§ 170 Abs. 1 StPO) bezeichnet die Schwelle zur Anklageerhebung.

Dringender Tatverdacht ist insbesondere für die Anordnung der Untersuchungshaft (§ 112 StPO) und die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) erfor-derlich).

Ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille wird die Fahruntüchtigkeit i. S. d. §§ 315c, 316 StGB unwiderleglich vermutet (absolute Fahruntüchtigkeit). Dabei kommt es auf die Tatzeit, nicht auf die Entnahmezeit an.

Bei Blutalkoholkonzentrationen zwischen 0,3 und 1,1 Promille spricht man von rela­tiver Fahruntüchtigkeit. Hier müssen weitere Merkmale hinzutreten, die die kausa-lität zwischen Alkoholisierung und Fahruntüchtigkeit belegen, zum Beispiel Fahr-fehler.

§ 315c StGB verlangt als konkretes Gefährdungsdelikt eine konkrete Gefahrensitua-tion (Unfall oder „Beinahe-Unfall“).

Nach der Rechtsprechung des BGH gelten für den „bedeutenden Schaden“ i.S.d § 69 Abs. 3 Nr. 3 StGB und die „Sache von bedeutendem Wert“ i. S. d. § 315c StGB unterschiedliche Wertgrenzen: dort 1.300 €, hier 750 €.

Der Rechtssatz „In dubio pro reo“ gilt für die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Prognoseentscheidung (nur) mittelbar.

Bei Heranwachsenden gilt für die Gerichtszuständigkeit § 108, nicht § 105 JGG – es kommt hier also nicht auf Reifedefizite oder jugendtypische Verfehlungen an.

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Fall 1 Nachts um zwei in der Innenstadt

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Zur Vertiefung

Fahrlässigkeitsdelikte: Wessels/Hettinger Rdnr. 656 ff.

konkurrenzen: Wessels/Hettinger Rdnr. 751 ff.

§§ 315c, 316 StGB: Wessels/Hettinger Rdnr. 983 ff.Küper Gefahr, konkrete

Ermittlung der Blutalkoholkonzentration: Haller/Conzen Rdnr. 648 ff.

§ 142 StGB: Wessels/Hettinger Rdnr. 999 ff. Küper Unfallort, Sich-Entfernen vomKüper Unfall im StraßenverkehrKüper Unfallbeteiligter

Verdachtsgrade: Haller/Conzen Rdnr. 199 ff.Beulke Rdnr. 114 ff.

Gerichtszuständigkeit: Haller/Conzen Rdnr. 208 ff.Beulke Rdnr. 34 ff.Tofahrn Rdnr. 41 ff.

Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis: Haller/Conzen Rdnr. 1177 ff.Charchulla/Welzel Rdnr. 39 ff.

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Fall 2 Ein gewissenhafter Handwerker

StGB Allgemeiner Teil: Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes, insbeson-dere bei Tötungsdelikten (§ 15 StGB)Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB), insbesondere:Straffreiheit bei eingeplantem Rücktritt?

StGB Besonderer Teil: Heimtückemord

Strafprozessrecht: Recht der Untersuchungshaft, insbesondere – Voraussetzungen eines Haftbefehls (§§ 112, 112a

StPO)– Begriff des dringenden Tatverdachts– Haftgründe (§§ 112 Abs. 2, 3; 112a StPO)– Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO)– Rechtsbehelfe und Rechtsmittel gegen den Haftbe-

fehl (§§ 117, 304, 310 Abs. 2 StPO)Einfache und sofortige Beschwerde (§§ 304 ff., 311 StPO)Rechtsbehelfe gegen polizeiliche Eingriffsmaßnahmen

Fall: Sie sind Anwalt. Sie erhalten einen Anruf von einem Mandanten, der Sie dringend um Hilfe bittet. Er sei soeben von der Polizei festgenommen worden. Er sei Elektrikergeselle und habe auf einem Neubau gearbeitet. Man werfe ihm nun versuchten Mord vor. Er soll noch heute dem Haftrichter vorgeführt werden. Außerdem habe die Polizei Fotos von ihm gemacht und Fingerabdrücke genom­men. Was tun Sie?

kandidat: Wenn ich es ermöglichen kann, würde ich sofort hinfahren und mit ihm sprechen. Auf jeden Fall empfehle ich ihm dringend, derzeit keinerlei Angaben zur Sache zu machen, nichts zu unterschreiben und zu keiner Maßnahme sein Einverständnis zu erklären.

Prüfer: Warum?

kandidat: Er kann sich ja um kopf und kragen reden und mir die Verteidi-gung sehr erschweren.

Prüfer: Er kann aber doch später von seinem Schweigerecht Gebrauch machen?

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