Natur in den Adern - Transhelvetica

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45 TRANSHELVETICA #54 JÄGER & SAMMLER Am liebsten draussen unterwegs: Pirmina und ihre Hündin Leila Text — Anna Herbst Natur in den Adern INSPIRATION «JÄGER & SAMMLER» NATUR IN DEN ADERN 45 TRANSHELVETICA #54 JÄGER & SAMMLER Bild — Marco Theus

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45T R A N S H E LV E T I C A # 5 4 J Ä G E R & S A M M L E R

Am liebsten draussen unterwegs:Pirmina und ihre Hündin Leila

Text — Anna Herbst

Natur in den Adern

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Vrin — Auf der Alp Parvalsauns am Ende der Val Lumnezia steht eine kleine Jurte. Leuch-tend weiss hebt sie sich vom Grün der Umge-

bung ab. Beim Näherkommen bemerkt das Auge die bunten Tische und Stühle rund um die Jurte und die Tafel am Eingang, welche die Besucher auf romanisch im Café Greina willkommen heisst. Es ist der fünfte Sommer, in dem das Café am Fusse der Greina aufge-baut wurde. Die Saison ist kurz hier oben, denn so hart-näckig sich der Winter hält, so schnell bricht er auch wieder herein. Sechs Frauen arbeiten regelmässig im Café, in dem viele Wanderer ihre Tour durch die Hoch-ebene ausklingen lassen oder, etwas seltener, den Tag mit Kaffee und einem Stück Kuchen starten, bevor sie in die Greina aufbrechen. Eine der sechs Frauen ist die in der Val Lumnezia aufgewachsene Pirmina Camina-da. Sie ist nicht nur Gründerin des Cafés, sondern auch Wildhüterin, Jägerin, Ran-gerin und Kräuterfachfrau.

«Ich nenne das, was ich habe, Biophi-lie», sagt sie schmunzelnd. «Das ist eine grosse Liebe zu Lebendigem – dem Spru-deln der Bäche, der Vielfalt der Pflanzen und natürlich der Tiere.» Draussen zwi-schen Gräsern und Bäumen ist es auch, wo die 51-Jährige zur Ruhe kommt und Energie tanken kann. Was die Natur ihr gibt, strahlt Pirmina mit ihrer besonne-nen und gleichzeitig lebendigen Art wie-der aus. «Die Natur ist Balsam für Körper und Geist. Wenn ich mich eine halbe Stunde an den Bach setze, fühle ich mich wie neu geboren.» Die Liebe und Faszina-tion für ihre Umwelt waren auch Gründe, weshalb sie vor 30 Jahren das Jagdbrevet absolvierte. Dazu kam die sim-ple Motivation, Nahrung für ihre Familie nach Hause zu bringen. Wild aus der Region ist mittlerweile auch das einzige Fleisch, das bei Pirmina auf den Teller kommt. «Da bin ich mir sicher, dass das Tier artgerecht in freier Natur gelebt hat», sagt sie. Über das Töten von Tieren spricht Pirmina nicht leichtfertig und sie ist sich bewusst, dass der Preis für ein Stück Fleisch hoch ist. «Man nimmt einem wunderschönen Tier das Leben. Das berührt. Umso grösser ist danach die Wertschätzung.»

HÜTERIN DER WILDTIEREIn den letzten Jahren ist Pirmina in ihrer Freizeit kaum noch auf die Jagd gegangen, denn seit 2016 ist sie als Wildhüterin in der Val Lumnezia tätig, als erste Frau im Kanton Graubünden. «Heute erlege ich fast ausschliess-lich bei der Arbeit Tiere, wenn sie schwer krank sind oder bei einem Unfall verletzt wurden.» Dies ist aber nur ein Aspekt ihrer Arbeit.

Für die 65 Wildhüter in Graubünden steht der Schutz und die Pflege des Lebensraums der Wildtiere an obers-ter Stelle. Dafür stehen sie in engem Kontakt mit den Jägern sowie Vertretern der Land- und Forstwirtschaft und sind auch bei Bauvorhaben immer wieder invol-viert.

Eine weitere Aufgabe der Wildhüter in Graubünden ist es, jeden Frühling eine Bestandsaufnahme zu ma-chen, anhand derer festgelegt wird, welche und wie viele Tiere während der Jagdsaison geschossen werden dür-fen. «Im Kanton Graubünden versuchen wir, die Jagd so zu gestalten, dass sie nachhaltig und für die Tiere mög-lichst stressfrei ist», erklärt Pirmina. Das fängt schon bei der kurzen Dauer der Jagdsaison an. Nur drei Wochen lang dürfen die Jäger auf Pirsch gehen, und nach der ers-ten Woche müssen sie eine einwöchige Pause einlegen.

Entscheidend ist auch, welche Tiere zur Jagd freigegeben werden. «Am meisten gejagt werden Jungtiere, von denen vie-le den Winter ohnehin nicht überstehen würden.» Die kalte Jahreszeit sei wie ein Nadelöhr, durch das es nur die stärksten Tiere schaffen. Gejagt werden natürlich auch ältere Tiere, dabei wird aber stets darauf geachtet, dass die sozialen Struk-turen der Herde möglichst geschont wer-den.

Zurzeit beschäftigt vor allem die Gäms- blindheit Pirmina und ihre Kollegen. Da-bei handelt es sich um eine hochanste-ckende Augenkrankheit, die von Schafen auf Gämsen und Steinböcke übertragen wird. Während Schafe kaum Symptome

zeigen, lässt die Infektion die Wildtiere fast komplett er-blinden. «Für die Tiere ist das extrem stressig, da sie die Orientierung verlieren und Mühe haben, sich in dem steilen Gelände zu bewegen», erklärt Pirmina. Ihr ist anzusehen, dass sie das Schicksal der Tiere nicht kalt-lässt. Behandeln können die Wildhüter die Krankheit nicht. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich die Tiere von alleine wieder erholen. Hat eine Gämse das Augenlicht aber komplett verloren, besteht keine Hoffnung mehr auf Besserung und das Tier wird mit einem Schuss erlöst.

MIT DER KRAFT DER KRÄUTERNach einer ersten Besucherwelle am Morgen ist am frühen Nachmittag in der Jurte auf der Alp Ruhe ein-gekehrt. Pirmina nutzt die Zeit, um frische Muffins zu backen, denn seit dem Morgen ist die Dessertauswahl schon deutlich geschrumpft. Vom Himmel strahlt die Sonne, also stellt sie die Butter zum Schmelzen in ei-nem Topf nach draussen, anstatt sie auf dem Gasherd

«Ich habe Biophilie, also eine

grosse Liebe zu

Lebendigem.»

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Pirmina Caminada hat viele Bezeichnungen. Jägerin, Sammlerin und erste Wildhüterin des Kantons Graubünden sind nur drei davon.

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Wolf (Canis lupus)

Neben Fleisch frisst der Wolf auch Früchte. Bei vielen

Völkern wird er als Beschützer und übernatürliches Wesen

verehrt.

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«Kein Kraut wächst umsonst»: Pirmina mischt aus den gesammelten Kräutern Salben und Tinkturen.Bil

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Wertschätzung für das Leben: Für Pirmina ein wichtiger Teil der Jagd.

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1 SchlummernNachdem Martina und Livio Caviezel-Caminada ihren Biohof in jüngere Hände ab-gegeben hatten, eröffneten sie in Vrin die Berglodge Albiert Greina. Sie besteht aus einem Gasthaus und zwei kleinen Zimmern, die alleine mitten auf der Wiese stehen.Vom Bett aus fällt der Blick durchs Dachfens-ter direkt auf den Sternenhim-mel und nach nur einem Schritt aus der Tür kitzeln Grashalme die Fusssohlen. Schlafen — in der Albiert Greina Berglodge in vrin, ab sFr. 70.– inkl. Frühstück, Gasthaus nur wäh-rend der Sommersaison geöffnet. albiertgreina.ch

2 SchlemmenDass diese Ziegen den ganzen Tag frische Bergkräuter fressen, ist aus dem leckeren Ziegen-käse von der Alp Parvalsauns herauszuschmecken. Das Café Greina serviert den Frischkäse mit einem Wildkräuterpesto, wer selber etwas fürs Picknick mitnehmen möchte, wird im Selbstbedienungskühlschrank vor dem Café fündig. Einkaufen — Ziegenkäse von der Alp Parvalsauns, beim Parkplatz vor dem Café Greina.

3 EinkehrenDas Café Greina, auch Café am Ende der Welt genannt, ist ein kleines Paradies am Fusse der

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zu erhitzen. Später, als die Muffins im Ofen sind, zieht ein verführerischer Duft durch die Jurte. Zur Freude der müden Wanderer, die sich gerade in der Jurte ein-gefunden haben. Bevor sie sich aber über die frischen Backwaren hermachen, studieren sie interessiert die Sirupauswahl: Mädesüss, Traubenkirsche, wilde Minze oder Holunderblüten? Die Gastgeberin gibt gerne Aus-kunft über die verschiedenen Kräuter. Ein paar Dolden des eher wenig bekannten Mädesüss hat sie neben dem Sirup in eine Vase gestellt. «Die Blüte schmeckt ähnlich wie Bittermandeln und tut sehr gut, wenn man ein biss-chen zu viel Sonne erwischt hat», erklärt Pirmina. «Eine erfrischende und anregende Wirkung hat auch die wilde Minze.» Ist die Wahl getroffen, wird der Sirup mit Was-ser aus dem Brunnen neben der Jurte verdünnt. Wilde Kräuter stehen im Café Greina auch in Form von einem würzigen Pesto auf der Speisekarte, das zusammen mit Ziegenfrischkäse auf kleinen Crackern serviert wird. Ein striktes Rezept gibt es für das Pesto nicht – Pirmina verwendet immer das, was gerade am besten schmeckt.

Dass man aus wilden Pflanzen auch noch viel mehr als nur Sirup und Pesto machen kann, lernte Pirmina schon als Kind. Ihre Eltern brachten ihr viel über die Wirkung und den Nutzen verschie-denster Kräuter bei und zeigten ihr, wie man daraus Salben und Tinkturen her-stellt. Dieses Wissen vertiefte und er-weiterte sie im Laufe ihres Lebens stetig und liess sich an der Kräuterakademie in Salez im Kanton St. Gallen zur Kräu-terfachfrau ausbilden. «Nichts wächst umsonst, jede Pflanze hat auch eine spe-zifische Wirkung», ist Pirmina überzeugt. Tiere sind sich dieser Wirkung ebenfalls bewusst, das konnte sie als junges Mäd-chen bei den eigenen Kühen beobachten. «Eine kranke Kuh frass plötzlich Salbei und Kümmel, Pflanzen, denen sie im Normalfall keine Beachtung schenkte. Kaum war sie wieder gesund, liess sie die bei-den Kräuter links liegen.»

Viele Wildpflanzen sind nicht nur potenziell nütz-lich oder lecker, sondern auch noch schön anzusehen. So dekoriert Pirmina den «Coupe Greina» liebevoll mit selbstgepflückten Veilchen und jeden Tisch schmückt ein kleines Sträusschen aus bunten Blumen. Diese klei-nen Details liegen der Wirtin sehr am Herzen und sie sind im ganzen Café zu entdecken. In einer Ecke steht ein kleiner Zimmerofen und auf dem Stuhl daneben liegt ein kuschliges Schaffell, mit dem man es sich bei kälteren Temperaturen gemütlich machen kann. Und draussen vor der Jurte steht eine Schale mit frischem Brunnenwasser, in das Wanderer ihre müden Füsse tau-chen können.

TREUE BEGLEITERINWenn Pirmina als Jägerin, Sammlerin oder Wildhüterin durch die Landschaft streift, ist ihre zweijährige Hün-din Leila stets an ihrer Seite. Auch an den Tagen, an de-nen ihr Frauchen im Café arbeitet, ist sie mit dabei, tollt draussen herum, beschnüffelt Neuankömmlinge und macht Jagd auf Fliegen. Dazwischen kommt sie immer wieder vorbei, um sich bei Pirmina ein paar Streichel-einheiten abzuholen.

Mitte September, wenn der Winter langsam Einzug hält, schliesst das Café seine Tür und die Jurte wird Stück für Stück wieder abgebaut. «Mir ist es wichtig, den Ort so zu hinterlassen, wie ich ihn vorgefunden habe», sagt Pirmina. Ob das Café im nächsten Sommer wieder aufgebaut wird, ist wegen Bauarbeiten in der Umgebung noch ungewiss. Langeweile würde bei Pir-mina aber auch ohne Café keine aufkommen. Wenn sie nicht gerade als Wildhüterin unterwegs ist, im Café ar-beitet oder Kräuter sammelt, ist sie als Rangerin in der Rheinschlucht tätig. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Besu-

cher über die Fauna, Flora und Geologie der einzigartigen Landschaft zu infor-mieren. Damit will sie die Leute für die Natur sensibilisieren und sie ermuntern, sich freiwillig korrekt zu verhalten. Denn anders als als Wildhüterin darf sie als Rangerin keine Bussen verteilen. Dafür macht sie Führungen, Vorträge und be-sucht Schulen. Alles mit dem Ziel, ihren Mitmenschen etwas von ihrer Liebe und Faszination für die Natur mitzugeben.

Anna Herbst ist transhelvetische Redakteurin und plant schon den nächsten Ausflug zum Café Greina.

Stephan Boesch ist freischaffender Fotograf. Beim Foto-grafieren ist ihm wichtig, den Menschen und der Natur ihren Raum zu lassen. sichtweise.ch

die baumlose Hochebene und wache Augen können dabei Steinböcke, Murmeltiere und Steinadler erspähen. Die Greina kann über fünf verschie-dene Zugänge erreicht werden, denn sie verbindet gleich drei Täler: Die Val Lumnezia und das Val Sumvitg im Kanton Graubünden und das Bleniotal im Tessin. Wandern — durch die Greina, versch. Routen möglich. surselva.info/greina

5 ÜberquerenErst im Juli dieses Jahres wurde die 65 Meter lange Hängebrü-cke Punt la Greina eröffnet und ist nun der direkteste und sicherste Weg vom Pass Diesrut zur Terrihütte. Die Überque-rung mag von all jenen, die nicht ganz schwindelfrei sind, etwas Mut abverlangen, einen

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Greina. Auf der Speisekarte stehen kleine Zwischenmahl-zeiten und köstliche Backwa-ren, grösstenteils zubereitet mit Produkten aus der Region. Auch Bier und Wein kommen aus Graubünden und die Auswahl an hausgemach-tem Sirup macht nicht nur Kinder glücklich. Wer seinen Wanderproviant noch aufbes-sern möchte, kauft ein Stück Bergkäse oder eine aromatische Wurst. Essen — im Café Greina in Vrin, Ende Jun – Mitte Sept, tägl. 9 – 18 h. cafegreina.ch

4 WandernEine Wanderung durch die naturbelassene Landschaft der Greina ist ein Muss für Naturliebhaber. Mehrstündige Wanderungen führen über

Blick in die Tiefe zum Fluss Rein da Sumvitg sollte man aber trotzdem wagen. Wandern — über die Punt la Greina von Péz Tgitschen zur Muot la Greina, immer geöffnet. surselva.info/greina

6 TräumenFür eine Durchquerung der Greina braucht es etwas Zeit – mindestens zwei Tage sollten es sein. Zum Übernachten gibt es verschiedene SAC-Hütten, zum Beispiel dieTerrihütte. Das bereits 1925 erbaute Haus bietet in Massenlagern insgesamt 110 Schlafplätze sowie drei Aufent-haltsräume an. Schlafen — in der SAC-Terrihütte im Val Sumvitg, Mitte Juni – Mitte Okt, Halbpension ab sFr.72.–. terrihuette.chK

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GreinaDurch die unberührte Natur

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«Nichts wächst

umsonst. Jede Pflanze

hat auch eine

spezifische Wirkung.»

FLIEGENPILZ (Agaricus muscarius)

Wie er zum Glückssymbol wurde, ist nicht ganz klar.

Vielleicht wegen der berauschenden Wirkung, die sein Gift

haben soll. Oder weil in seiner Nähe oft essbare Pilze wachsen.

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