„Natur Und Kunst“ Von Goethe

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7/24/2019 „Natur Und Kunst“ Von Goethe http://slidepdf.com/reader/full/natur-und-kunst-von-goethe 1/2 Die Sonette Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen Und haben sich, eh man es denkt, gefunden; Der Widerwille ist auch mir verschwunden, Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. s gilt wohl nur ein redliches !em"hen# Und wenn wir erst in abgeme$nen Stunden %it &eist und 'lei$ uns an die Kunst gebunden, %ag frei Natur im (erzen wieder gl"hen. So ists mit aller !ildung auch beschaffen) *ergebens werden ungebundne &eister Nach der *ollendung reiner (+he streben. Wer &ro$es will, mu$ sich zusammenraffen; n der !eschr-nkung zeigt sich erst der %eister, Und das &esetz nur kann uns 'reiheit geben. &N/0 KUN0/) /0U%1( !0 D &NN /0! 2 nter3retation zu 4Natur und Kunst5 von &oethe 2 Was die Dauerhaftigkeit und 6eitresistenz &oethescher Dichtung ausmacht 7vielleicht sogar aller Dichtung8, besteht im wesentlichen darin, da$ sie immer aufs &runds-tzliche hinarbeitet. 6war ist die 9bsicht, allgemeing"ltige 9ussagen treffen zu wollen, :eder <rik eingeboren, doch bei &oethe lie$e ;sich, technologisch ausgedr"ckt, fast von einer =zentralen Drehachse> s3rechen, welche seine Dichtung in !ewegung h-lt. Das 9llgemeine und 1rinzi3ielle aufzufinden und auch aufdecken zu k+nnen, ist &oethes eigentliche &enialit-t 2 nicht nur der 'lei$, zu dem schlie$lich auch Dressur zu f"hren vermag und der noch lange keine &arantie f"r das Werkgelingen darstellt. &oethes (ang und Drang zum &enerellen, zur *erallgemeinerung, verleiht also auch diesem &edicht seine !esonderheit) s gestattet esarten. %an mag es sowohl f"r eine 1oetologie halten wie f"r ein 1s<chogramm des Dichters, der, indem er die sub:ektiven *oraussetzungen des Schreibens eingesteht, dennoch mehr verk"ndet als eine individuelle Dis3osition. !ereits die fast formelhafte 'eststellung der ingangszeilen, da$ Natur und Kunst nur scheinbare) &egens-tze seien, sowie die eigent"mliche 9nmerkung "ber den eigenen, :edoch geschwundenen Widerwillen

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7/24/2019 „Natur Und Kunst“ Von Goethe

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Die Sonette

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehenUnd haben sich, eh man es denkt, gefunden;

Der Widerwille ist auch mir verschwunden,Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

s gilt wohl nur ein redliches !em"hen#Und wenn wir erst in abgeme$nen Stunden%it &eist und 'lei$ uns an die Kunst gebunden,%ag frei Natur im (erzen wieder gl"hen.

So ists mit aller !ildung auch beschaffen)*ergebens werden ungebundne &eister

Nach der *ollendung reiner (+he streben.

Wer &ro$es will, mu$ sich zusammenraffen;n der !eschr-nkung zeigt sich erst der %eister,Und das &esetz nur kann uns 'reiheit geben.

&N/0 KUN0/)/0U%1( !0 D &NN /0!2 nter3retation zu 4Natur und Kunst5 von &oethe 2

Was die Dauerhaftigkeit und 6eitresistenz &oethescher Dichtungausmacht 7vielleicht sogar aller Dichtung8, besteht im wesentlichen darin,da$ sie immer aufs &runds-tzliche hinarbeitet. 6war ist die 9bsicht,allgemeing"ltige 9ussagen treffen zu wollen, :eder <rik eingeboren, dochbei &oethe lie$e ;sich, technologisch ausgedr"ckt, fast von einer=zentralen Drehachse> s3rechen, welche seine Dichtung in !ewegung

h-lt. Das 9llgemeine und 1rinzi3ielle aufzufinden und auch aufdecken zuk+nnen, ist &oethes eigentliche &enialit-t 2 nicht nur der 'lei$, zu demschlie$lich auch Dressur zu f"hren vermag und der noch lange keine&arantie f"r das Werkgelingen darstellt.&oethes (ang und Drang zum &enerellen, zur *erallgemeinerung, verleihtalso auch diesem &edicht seine !esonderheit) s gestattet esarten. %anmag es sowohl f"r eine 1oetologie halten wie f"r ein 1s<chogramm desDichters, der, indem er die sub:ektiven *oraussetzungen des Schreibenseingesteht, dennoch mehr verk"ndet als eine individuelle Dis3osition.!ereits die fast formelhafte 'eststellung der ingangszeilen, da$ Natur

und Kunst nur scheinbare) &egens-tze seien, sowie die eigent"mliche9nmerkung "ber den eigenen, :edoch geschwundenen Widerwillen

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bezeichnet eine Sichtweise, die die Natur als intentionierten 1artner derKunstaus"bung akze3tiert, obschon sich gegen diesen Umstand anf-nglichstarke 9bneigung regte. Was aber bei &oethe =Natur> hei$t, istoffenkundig die der Kultivation noch nicht erschlossene nnenwelt des%enschen) seine eigene /riebstruktur. rst wenn diese gez-hmt und in

Dienst genommen und durch Selbstzw-nge =zivilisiert> worden ist, darfihr 0estbestand als kunstnotwendiges lement weiterw-hren.ine *orstellung, welche noch die christliche Dualit-t von eib und Seele,die :eweils anderen !ereichen zugeordnet sind, ahnen l-$t. &oethes=Natur> wird bew-ltigt, indem sie transformiert wird. =So ist?s mit aller!ildung auch beschaffen> meint, da$ Kultur "berhau3t die&rundbedingung gel-uterter menschlicher @istenz w-re. Der geistigenUngebundenheit wird die Aualifikation f"r (+he und &r+$e abges3rochen;Selbstbeschr-nkung und &esetz sind *oraussetzungen f"r %eisterschaftund 'reiheit. Nur zu offensichtlich 3r-sentiert der Dichter da seine

Selbsterfahrung als einen /rium3h "ber die eigene 1s<che, "ber die9nimalit-t, wobei :edoch die letzten 6eilen, :ede s3ruchartig den gleichenm3erativ variierend, wie Schl-ge fallen) 6usammenraffen, !eschr-nken,Unterwerfen unter das &esetz. Dem s3"rbaren Wiederholungszwangdieser 1ostulate merkt man an, wie sehr sie das rgebnis, nein, sogar die'olgen innerer K-m3fe gewesen sind. Die insicht in die zwangsl-ufige0eduktion der 3ers+nlichen Daseinsm+glichkeiten, die rkenntnis von*erzicht und *erlust als unabdingbaren intrittskarten zu mehr oderminder ol<m3ischen 0egionen, zeigt sich als Sieg "ber das =/ier> in unsund als vor2freudianscher (inweis f"r den eser, da$ =Kom3ensation> der

allererste 9rtikel menschlicher *erfassung sei 2 ergo auch dort &eltungbes-$e, wo es keineswegs nur um Kunst ginge.=Und das &esetz nur kann uns 'reiheit geben> "bertr-gt die aus der1ra@is des Schreibens gewonnene Weisheit 2 um ein &oetheents3rechendes Wort zu gebrauchen 2 auf die &esellschaft, welche derDichter nur zu gerne nach seinen (armonie schaffenden 0egeln geordnets-he.B

79us) 'rankfurter 9nthologie. (rsg. v. %. 0eich20anicki. !d. C.

nter3retationen zu &oethe2&edichte. EEF. S. CFGff.8