Nelli bar wieghardt biografische notizen

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Biografische Notizen von Nelli Wieghardt Nelli Wieghardt im Atelier, 1942

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Biografische Notizen - Nelli Bar Wieghardt

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BiografischeNotizen

von Nelli Wieghardt

Nelli Wieghardt im Atelier, 1942

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Mein unvergeßlichster Montagmorgen

An einem Montagmorgen Ende April 1924,kurz bevor ich zwanzig wurde, begann ichmein Kunststudium in Köln. Ich hatte mir immergewünscht, Künstlerin zu werden, aber meinerichtige Ausbildung begann erst später, weil ichdirekt nach dem Schulabschluß erst einmal einKindergartenseminar besuchte. Erst nachdemich hier meinen Abschluß erworben hatte,bewarb ich mich an der Kunstschule. Doch dieJahre am Seminar waren nicht verloren, denndort begegnete ich meiner ersten Kunstleh-rerin. Sie war selbst Künstlerin und durch siefand ich Zugang zur Dreidimensionalität. Jetztwußte ich: ich wollte Bildhauerin werden.

Neben der Arbeit im Bildhaueratelier mußte ichzunächst Unterricht in Zeichnen, Malen undAnatomie nehmen. Der Unterricht begann inder ersten Klasse mit freiem Zeichnen im Zoobei Professor Bernardelli vor. Ausgerüstet mitSkizzenblocks, Holzkohle, Stiften, Pinsel undso weiter hatten wir uns am Montagmorgen um9 Uhr am Zoo einzufinden. Ich hatte nie zuvorein sich bewegendes Tier gezeichnet und bis-lang lediglich einen kurzen Abendkurs mitmenschlichen Modellen besucht. Diese stan-den vollkommen ruhig. Die Tiere aber beweg-ten sich ständig - wo sollte man da anfangen?Professor Bernardelli war von ziemlich kleinemWuchs, aber ehrfurchterregend und sehranspruchsvoll. Als ein Mann von wenigenWorten (gewöhnlich scharf kritisierend) war erfür mich, die ich mir verwirrt und verloren vor-kam, wenig hilfreich. Eigentlich war ich mit demZoo sehr vertraut, weil meine Großmuttereines der Gründungsmitglieder war und viel-leicht sogar im Komitee des Zoos mitwirkte.Deshalb hatten meine Schwester und ich alsKinder die Erlaubnis, im Park mit Tony, deralten, freundlichen Schimpansendame, spazie-renzugehen. Es war ein außergewöhnlichesErlebnis, ihre rauhen, kleinen Hände in unse-ren zu fühlen. Tonys Wärter stand mit einemwollenen Schal in Bereitschaft, weil sie soempfindlich auf die geringste Temperatur-änderung reagierte.

Aber jetzt lebte Tony nicht mehr, und manerwartete von mir, daß ich in den nächsten dreiStunden einige gute Zeichnungen anfertigte.Ich begann und radierte, begann und radierte -würde denn nicht irgendeines der Tiere für eine

Zeitlang stillhalten, so daß ich endlich einenAnfang bekam? Ein blonder, schlankerKommilitone, der meine Hilflosigkeit sah, tratauf mich zu. Er war etwas älter und offenbarsehr erfahren im Zeichnen und Malen. Erschlug mir vor, mit einem Tier zu beginnen, dassich nur langsam oder fast gar nicht bewegte -wie die Schildkröten. Wir gingen zusammenzum Reptilienhaus und er zeigte mir, wie mananzufangen hatte. Von da an wurde er meinLehrer im Zoo, weit mehr als der Professor,und er wurde außerdem die wichtigste Personin meinem Leben: mein lebenslanger Gefährteund Ehemann.

Unsere erste Nacht in Paris

Als Paul und ich am 15. Mai 1931 in Parisankamen, holten uns am Bahnsteig des Garedu Nord unser Malerfreund Kurt Groeger undseine französische Freundin Simone ab. Kurtwar, wie auch Paul, Meisterschüler bei Profes-sor Robert Sterl an der Dresdner Kunstaka-demie, während ich dort Bildhauerei bei Pro-fessor Karl Albiker studierte.

Kurt Gröger war im Jahr zuvor nach Paris ge-gangen und hatte sich in die Stadt und inSimone, eine geborene Pariserin, verliebt. Siewar 18, Studentin an der Schule der schönenKünste und bildhübsch. In ihrem leicht gerun-detem Gesicht dominierten ihre ungeheuerdunklen Augen. Ihr dunkelbraunes Haar reich-te in zwei schweren Flechten hinunter bis aufihre Hüften. Als ich sie am Bahnhof sah,schloss ich sie sofort in mein Herz. Jetzt, nachmehr als sechzig Jahren, verbindet uns nochimmer eine enge Freundschaft.

Kurt und Simone brachten uns (ich glaube miteinem Taxi) zu dem kleinen Hotel, wo Kurt füruns ein Zimmer hatte reservieren lassen. Eswar das Hotel Vercingtorix in der gleichnami-gen Straße im 15. Arrondissement. Natürlichwollten wir nur solange bleiben, bis wir einAtelier gefunden hatten, was wir am nächstenTag zu finden hofften. Das Hotel war nicht sehreinladend, aber billig. Nach dem Abendbrot ineinem nahegelegenen Bistro verabredeten wiruns mit Kurt am nächsten Morgen auf Atelier-suche zu gehen. In unserem Zimmer dann,müde und erschöpft, sagte Paul: "Lass uns nur

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das Wichtigste auspacken und unser Gepäckin die Mitte des Raumes stellen". Mir war dasrecht, obwohl ich nicht ganz begriff, warum.Bald sollte ich es jedoch erfahren.Wir waren so erschöpft von der langen Bahn-fahrt und allen Aufregungen, dass wir alsbaldeinschliefen, doch nicht für lange. Ich glaube,es war weniger als eine halbe Stunde, als ichdurch einen heftigen Schmerz im linken Armaufwachte. In Minutenschnelle wurde der Armheiß und schwoll an. Ich hatte keine Ahnung,was das sein konnte, doch Paul wusste es:Bettwanzen. Während seiner frühen Studien-zeit hatte er in Großstädten einschlägigeErfahrungen in gemieteten Räumen gesam-melt. Seit Kindheit war ich gegen Insektensti-che allergisch; aber nie hatte ich etwas ande-res als Mückenstiche oder, in Portugal, einigeFlohbisse erlitten. Dies hier war etwasAnderes, nicht nur wegen des quälendenSchmerzes, sondern auch der Gedanke anBettwanzen war absolut ekelhaft und veräng-stigte mich. Wir sprangen aus dem Bett, stopf-ten unsere Schlafanzüge in die Waschschüs-sel aus Porzellan, übergossen sie mit Wasseraus dem Krug (es gab kein fließendesWasser), zogen uns an und verschlossen festunsere Koffer. Jetzt verstand ich, warum Pauldas Gepäck von der Wand entfernt stehen las-sen wollte; er war von Anfang an argwöhnisch.

Dann gingen wir hinaus in die milde Maien-nacht um den Rest der Nacht durch dieStrassen zu laufen. Mein Arm war mit einemnassen Handtuchumwickelt, um den Schmerzerträglicher zu machen. So begannen wir,Paris zu entdecken. Zuerst ging es durch engeGassen mit solch schmalen Gehwegen, dasswir es schwer hatten, dem Hundedreck auszu-weichen. Dann erreichten wir große Boule-vards, wo die Straßencafes während der gan-zen Nacht voller Menschen waren. Wir hatteneinen guten Stadtplan und steuerten auf dieSeine los. Wir fanden auch wirklich den Wegzum Fluss, aber trotz raschen Gehens brauch-ten wir dazu nahezu drei Stunden.

Wir erreichten die Seine vom "Boul Mich" (demBoulevard St. Michel) aus. Über dem schmalenStreifen des Wassers erhob sich Notre Dame,angestrahlt und geheimnisvoll. Wir schlender-ten an der linken Flussseite entlang und fan-den eine Bank. Auf der anderen Seineseite,

weiterentfernt, konnten wir die Umrisse desLouvre erkennen, uns vertraut von vielenFotos. Es muss zwischen zwei und drei amMorgen gewesen sein, als wir zum Rückwegaufbrachen. Im 6. Arrondissement, besserbekannt als "Mont Parnasse", dem Künstler-viertel, betraten wir für kurze Zeit ein Strassen-cafe. Dann suchten wir uns verschiedeneandere Strassen für den Weg zurück aus. Eswar noch ganz früh, vielleicht zwischen 6 und7, als wir unser Quartier erreichten um unsereSachen abzuholen und eilig das Hotel zu ver-lassen. Wir kehrten in das Bistro vom Vor-abend zurück, wo wir Kurt erwarten sollten. Wirwaren jetzt erschöpft. Bei einem Café au laitund zwei oder mehreren croissants wartetenwir bis Kurt erschien, um uns zur Ateliersucheabzuholen.

Trotz der vielen Stunden des Umherlaufensund jener dafür ziemlich widerwärtigen Ur-sache, waren wir unglaublich erregt über dieTatsache, dass wir schon direkt in der erstenNacht den Herzschlag dieser bezauberndenStadt verspürt hatten und ihren Anblick, dieGeräusche und die Gerüche in uns aufnehmenkonnten.

Im 15. Arrondissement

Die meiste Zeit unserer sieben Jahre in Parislebten wir in sehr bescheidenen Verhältnissenim 15. Arrondissement. Das ist im südöstlichenTeil von Paris, genau südlich des berühmtenMont Parnasse. Es war vorwiegend mitArbeitern in Blauleinen sowie einer HandvollKünstler und Schriftsteller bevölkert. Am süd-lichen Rand dieses Viertels liegen die "abatto-irs", die Viehhöfe, und wenn der Wind ausSüden blies - na, das war vielleicht etwas!Auch Port Versailles befindet sich in jenemViertel, und wenn man es auf diesem Wegeverläßt, ist Versailles nicht weit. Am Eingangder Villa Chauvelot, einer Sackgasse, in dersich unser Atelier befand, stand das Haus, indem in den zwanziger Jahren MalvinaHoffmann, die amerikanische Bildhauerin ausChicago, lebte. Als die Wirtschaftskrise kam,zog sie von dort weg.

Wir wohnten in der Mitte des Blocks, im HausNummer 8. Es war das Frühjahr des Jahres

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1933, der Beginn der Diktatur Hitlers inDeutschland. Mehrere unserer Künstlerkolle-gen kamen als Flüchtlinge nach Paris, undeinige blieben bei uns in beengten Wohnver-hältnissen, bis sie eine ähnlich billige Bleibe fürsich selbst fanden.

Sobald Hitler an die Macht kam, hatte Paul dieIdee, wir sollten heiraten, um mich vor einermöglichen Verfolgung wegen meiner jüdischenAbstammung zu schützen. In Wirklichkeit nütz-te das gar nichts, vielmehr brachte ich ihndadurch in Gefahr. Nachdem wir nunmehr achtJahre zusammenlebten, widerstrebte mir seineIdee sehr. Aus meiner Sicht war eine Heirats-urkunde für eine dauerhafte Beziehung nichtnotwendig. Das ist auch heute noch meineMeinung. Aber letztlich gab ich nach.

Nachdem wir alle erforderlichen Papiere be-schafft hatten, bestellten wir im Rathaus des15. Arrondissement unser Aufgebot, um zu hei-raten, ich glaube, es war der 3. Juni 1933. Wirwurden aufgefordert, zwei Trauzeugen mitzu-bringen. Wir hätten unsere guten Freunde Kurtund Simone Gröger oder Robert und HerthieLiebknecht fragen können, aber ich war zu ver-legen, ihnen gegenüber zuzugeben, daß wireinen solchen Schritt in ein bürgerliches Lebenerwägten. Wen also sollten wir wohl fragen?

Einer unserer Nachbarn um die Ecke warMonsieur Jacques, ein Taxifahrer. Vielleichtwürden er und seine Frau unsere Trauzeugensein, wenn wir ihm seine Ausfallzeit bezahltenund sie zum anschließenden Essen einluden.Monsieur Jacques war erfreut über unserAnsinnen, und auch seine Frau willigte ein. Erfuhr uns alle zum Standesamt. Zwischen zahl-reichen anderen Paaren, einige von ihnen inHochzeitskleidung, saßen wir wartend auf denBänken, bis endlich unsere Namen aufgerufenwurden. Nach einigen Unterschriften in einBüchlein, genannt "Carnet de famille", warenwir offiziell verheiratet.

Wir vier begaben uns dann zum Mittagessen inein Arbeiter-Bistro in der Nähe unseresHauses, wo üblicherweise die Steaks ausPferdefleisch bestanden. Das störte uns nicht,solange der Wein nur gut war - und das war er.Nach dem Essen dankten wir ihnen und sie

dankten uns und alle gingen wir heim. Aber ichbrauchte doch einige Tage, um den Mut zu fin-den, unseren Freunden das zu erzählen. Ichempfand es wie einen gegen unsere Überzeu-gung gerichteten Verrat. Doch bereut habenwir es nie.

Was macht man mit einem Loch im Tischoder in der Wand?

Paul und ich trafen im April 1934 mit dem Zugvon Paris kommend in Portugal ein, nachdemwir unterwegs in Madrid Station gemacht hat-ten, um das Prado-Museum zu besuche.Zunächst wohnten wir ungefähr eine Wochelang im Haus meiner Tante Laura. Für denSommer hatte sie uns in ihr Landhaus in Serpaeingeladen und wir blieben dort fünf Monate,um zu malen und zu bildhauern.

Der Frühling begann gerade. Draußen in derSonne war es warm, aber die Häuser, gebaut,um sie im Sommer kühl zu halten, waren eis-kalt. Wir trugen mehrere Pullover übereinanderund waren dankbar für die Holzkohlenbeckenmit wärmender Glut, die während derMahlzeiten unter den Tisch gestellt wurden.Und wie erfinderisch diese Wärmequellengenutzt wurden! Die Tischplatte war mitLöchern versehen, ungefähr anderthalb Zenti-meter im Durchmesser, so dass die glühendeHolzkohle nicht nur unsere Füße wärmte, son-dern auch die Speisen auf dem Tisch.

Während des Winters hatte ich auf eigeneFaust etwas Portugiesisch gelernt. Da ich vor-her schon zweimal in Portugal war, hatte ichbereits etwas Ahnung von der Aussprache.Laura, weit besser ausgebildet als portugiesi-sche Frauen ihrer Generation zu jener Zeit,sprach fließend Französisch und Englisch undebenfalls genügend Deutsch, um sich beiReisen zu verständigen. Bei der Verbesserungmeiner portugiesischen Sprachkenntnisse warsie mir deshalb sehr hilfreich.

Nach ungefähr einer Woche in Lissabon mein-te sie, ich würde in der Lage sein, in einem soentlegenen Ort wie ihre alte Heimatstadt, woniemand etwas anderes als Portugiesischsprach, allein zurechtzukommen. So brachenwir auf gen Süden nach Serpa. Laura kam mit,

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um uns in das Leben dort einzuführen undihren Freunden vorzustellen.

Dies war eine andere Welt! Südportugalbefand sich lange Zeit unter Sarazenenherr-schaft und überall war der maurische Einflussnoch offenkundig. Lauras Haus war da keineAusnahme. Ein niedriges, weiß gekälktesZiegelsteingebäude, errichtet um einen Innen-hof, in dessen Mitte sich ein Brunnen und einePumpe befand. Unsere eigene Wasserversor-gung zu besitzen, war ein ausgesprochenerLuxus in diesem kleinen ländlichen Städtchenmit ungefähr 7000 Einwohnern, wo die meistenFrauen, ein Tongefäß auf dem Kopf balancie-rend, den täglichen Wasservorrat am öffent-lichen Brunnen holen mussten.

Das Zimmer, an das ich mich gut erinnere, wardie Küche: ein heller rechteckiger Raum derauch als Speiseraum diente. In der Mitte einerWand befand sich ein weiter, offener Kamin, andem gekocht wurde. Dort hing ein großerKupferkessel zur Heißwasserbereitung, denman gegen einen anderen zum Kochen vonSuppen und zum Schmoren auswechselnkonnte.

Frühmorgens am Tag nach unserer Ankunftgingen wir um sechs Uhr zum Markt auf demPlatz im Zentrum, um einzukaufen. Es gab dortalles, was wir brauchten. Aber weil es nachSonnenaufgang sehr rasch heiß wurde,schloss der Markt bereits um sieben Uhr. Esgab keine Kühlschränke, und Gemüse würdewelken, Fisch, Fleisch und Geflügel würde ver-derben. Tatsächlich wurde jeder übrig bleiben-de Fisch weggeworfen - oder vielleicht denSchweinen gegeben. Wir kauften frischesGemüse, ein Hähnchen und einige kleineFische, die wie große Sardinen aussahen.Natürlich musste Lauras Hausmädchen allestragen. Später tat ich das allerdings selbst. Alswir nach Hause kamen, war ich gespannt, waswir mit den verschiedenen Sachen machenwürden. Zuerst wurde ein wundervoller Salathergerichtet mit einer Vinaigrette aus Olivenöl,Zitronen und Kräutern. Das Hähnchen wan-derte zusammen mit dem Gemüse in denSchmortopf über dem Kaminfeuer. Der Fischwurde gesäubert, um gebraten zu werden.Gebraten? Wie sollte das vor sich gehen?

Jetzt zeigte mir Laura, dass sechs oder achtZiegelsteine in der Wand fehlten. Sie ging zumKamin, wo unser Eintopf bereits langsam koch-te und dabei einen verführerischen Duft her-übersandte. Neben dem Kamin hing eine klei-ne langstielige Schaufel. Damit nahm Lauraaus dem Kaminfeuer etwas Glut und schobdiese in das Loch in der Wand. Sie wiederhol-te diesen Vorgang, bis die Glut ein Bett bildete.Dann stellte sie einen kleinen vierbeinigen Grillüber die glühende Kohle, nahm eine Bratpfan-ne von einem Haken an der Wand, füllte etwasOlivenöl hinein und stellte sie auf den Grill. InMinutenschnelle war das Öl heiß und der Fischkam hinein, um rasch gebraten zu werden, erstauf der einen, dann auf der anderen Seite.Zum Schluss wurde ein großes BüschelPetersilie mit Stengel und allem in die Pfannegeworfen. Der Fisch wurde zur Seite gescho-ben, so daß die Petersilie knusprig werdenkonnte. Voilá, ein köstlicher erster Gang warfertig, während der Eintopf langsam weiter-kochte. Diese Öffnung in der Wand hatte esmir angetan. Sie sollte mein bevorzugterKochplatz für kleine Gerichte werden, wennPaul und ich allein sein würden.

Die Flucht

In den frühen Morgenstunden des 8. April 1940lauschten Paul und ich mit Beklemmung demRadio. In dieser Nacht fanden wir keinenSchlaf, denn wir hatten aus den Nachrichtenvon der deutschen Invasion in Dänemarkerfahren, und daß jetzt Norwegen an der Reihesei - unvorstellbar, aber Tatsache. Währendder Nacht überdachten wir, was wir tun sollten.Als um fünf Uhr am Morgen die Nachrichtenbestätigten, daß die Einfahrt zum Oslo-Fjordbombardiert wurde, stand Pauls Entschluß festund seinem unfehlbarem Urteil vertrauend, wil-ligte ich ein: wir wollten auf der Stelle fliehen.Wir waren sicher, daß die Alliierten undbesonders England Hitler in Norwegen nichtdulden würden, und daß sie die Nazis in weni-gen Tagen hinauswerfen würden. Gegen achtUhr hatten wir unsere Rucksäcke fertiggepackt und unser Notgepäck genommen, dasjederzeit griffbereit war, und unsere Pässe,Sparbücher und all unser verfügbares Geldenthielt. Weil in der Nähe noch Schnee lag,hatten wir uns sehr warm angekleidet. Unseren

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guten Freunden Karl und Dagny Eide brachtenwir unsere Schlüssel. Sie wohnten im gleichenGebäudekomplex, nur ein Haus weiter. Wirverabschiedeten uns von ihnen, als würden wiruns nur auf eine Wanderung begeben unddachten dabei, in vielleicht einer Woche zurückzu sein.

Wir gingen nordwärts, aber ich kann mich nichtdaran erinnern, wie weit wir am ersten Tagkamen. Bei Einbruch der Nacht (ich glaube, eswar am ersten Tag) waren wir tief in denWäldern in einer bergigen Gegend. Wir hattenmehrere Schneeflächen überquert, aber dannfanden wir einen Platz, der leidlich trocken zusein schien: eine Rodung mit einer Holzfäller-hütte. Paul schnitt einige Kiefernzweige vonnahen Bäumen ab, die uns als Matratze dien-ten, und wir waren müde genug, um ganz gutdarauf zu schlafen. Am nächsten Tag hieltenwir uns nordöstlich. Wir kamen durch einigeAnsiedlungen und einmal, als wir auf derFahrstraße gingen, hielt ein norwegischerArmeelastwagen mit jungen Soldaten, die unsanboten, uns mitzunehmen. Es war eine großeHilfe, leider nur für eine kurze Strecke. Von denSoldaten erfuhren wir die letzten Neuigkeitenund die waren wahrhaftig nicht gut.

Gegen Nacht erreichten wir ein Dorf und spra-chen mit jemandem - ich weiß nicht mehr, obMann oder Frau - der uns anbot, uns zumLehrer zu bringen, um ihn zu fragen, ob er unsauf dem Boden im kleinen Schulgebäudeschlafen lassen würde. Der junge Lehrer willig-te sofort ein und es war viel besser als imWald, denn die Nächte waren noch bitter kalt.An der Wand hing eine genaue Landkarte derUmgebung und Paul zeichnete sie in seinenZeichenblock ab, damit wir eine Hilfe hatten,den Weg zur schwedischen Grenze zu finden.Inzwischen hatten wir erfahren, daß die Nazisschon an Oslo vorbei seien und sich nachNorden bewegten. Jetzt war uns klar, daß wirversuchen mußten, nach Schweden zu kom-men. In der nächsten Nacht, nach einem wei-teren Marschtag, schliefen wir wieder im Wald.Mit Hilfe unserer Landkarte ging es am ande-ren Morgen weiter. So weit ich mich erinnernkann, war das der mühsamste Tag. Als wir ineinen größeren Ort kamen, konnte ich kaumnoch laufen und nur Pauls Willenskraft hielt

mich auf den Beinen. Wir trafen einen etwazwölfjährigen Jungen, der uns zu einemBauernhof brachte. Wie wir später erfuhren,erwarteten die Bewohner an diesem AbendBesuch und er nahm wohl an, wir seien dieseLeute! Das war das unerwartete größte Glück.Der Bauer und seine Frau dachten, daß ihreVerwandten aus Oslo zu ihnen fliehen würden.Aber da sie zu dieser späten Stunde nochimmer nicht eingetroffen waren, hieß man unsan ihrer Stelle zur Übernachtung willkommen.Die mütterliche Bauersfrau bestand darauf,daß wir vor dem Schlafengehen erst essensollten - und wir waren so hungrig! Dann führ-te sie uns in ein hübsches Gästezimmer miteinem sauberen, warmen Bett. Wir konnten eskaum fassen - es erschien uns wie einMärchen! Und dieses Märchen setzte sich amnächsten Morgen tatsächlich noch fort. UnsereGastgeber baten uns, bei ihnen zu bleiben:"Bis Norwegen befreit ist, in ein oder zweiWochen." Aber Paul wußte es besser. Wir hat-ten im Radio erfahren, daß der König nachNorden geflohen war, und daß Elvrum, wenigeStunden nachdem er dort auf seiner Fluchtübernachtet hatte, bombardiert worden war.Darum wollten wir nicht bleiben.

Unsere Wirtin bereitete uns ein wunderbaresFrühstück, stopfte unsere Rucksäcke voll mitallem Eßbaren, das sie finden und uns nützenkonnte: herzhaftes Brot, Käse, Würste undObst. Wie schwer fiel es uns, diese warmherzi-ge und gastfreundliche Familie zu verlassenund wieder in die unbekannte Kälte zu ziehen.

Aber Pauls Intuition erwies sich wieder einmalals richtig. In dieser Gegend befanden sichErzminen und in der Nähe Stahlwerke.Innerhalb von einer Woche war es das ersteZiel der Eindringlinge. Wir erklärten unserenGastgebern, daß sie außerdem in großeSchwierigkeiten kämen, wenn die Naziskämen und uns bei ihnen finden würden. Sobrachen wir direkt nach dem Frühstück inRichtung Schweden auf. Ich bedauere nochheute, daß wir nicht ihre Adresse notierten, umihnen nach dem Krieg einige CARE-Pakete zusenden. In der nächsten Nacht, glaube ich,erreichten wir Lillehammer, eine bekannteTouristenstadt und historischer Ort. Aber jetztherrschte hier Kriegsatmosphäre. Elvrum ist

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nicht weit weg und die Menschen hatten dieBomber dorthin fliegen sehen. Wir betratenden Ort mit der Hoffnung, noch einmal eineSchule zu finden, in der man uns schlafen las-sen würde. Es war bereits dunkel als plötzlichdie Sirenen Bombenalarm gaben. Alle mußtendie Straße verlassen und sich in dieLuftschutzräume begeben. Und darin ver-brachten wir nun die Nacht. Der Schutzraum-wärter sprach uns sofort an, denn wir warendie einzigen Leute dort drin, die er nicht kann-te. Gegen Morgen wurde Entwarnung gege-ben. Dann traf ein Bote ein und der Wärtereröffnete uns, daß Sigrid Undset, die bekannteSchriftstellerin, mit uns sprechen möchte. Siewar katholisch geworden und hatte einemdeutschen Priester, der aktiv in der Zentrums-partei war, der politischen Partei der Katholikenin Deutschland, Obdach gewährt. Sie fürchte-te, er sei in Lillehammer in Gefahr und meinte,ob wir ihn nicht nach Schweden mitnehmenkönnten. Er sprach kein Norwegisch undwürde es möglicherweise allein kaum schaffen.Wir erklärten uns natürlich einverstanden undsetzten unseren Weg gen Schweden zu drittfort.

Nach einer Weile näherte sich ein wackligerAutobus - einige Busse waren noch im ört-lichen Verkehr eingesetzt - und unser Priester,älter als wir und recht rundlich, wollte sich dasGehen etwas ersparen und bestand darauf,den Bus in Richtung Elvrum zu besteigen. Wirverließen uns lieber auf unsere Füße und setz-ten unseren Weg in gleicher Richtung, einigeAbkürzungen benutzend, fort.

Kurz vor Elvrum sahen wir den Bus, der einePanne hatte. Alle Passagiere standen drumhe-rum und unser Priester mittendrin. Wir überre-deten ihn, mit uns nach Elvrum und zur schwe-dischen Grenze weiterzugehen. Als wir Elvrumbetraten, oder vielmehr das, was von Elvrum(einige Tage zuvor) übrig geblieben war, ver-schlug es uns den Atem. Nichts stand mehr,außer einigen Schornsteinen hier und da, diewie Finger anklagend gen Himmel wiesen. DieStadt war vollständig zerstört. Paul, der imersten Weltkrieg in Frankreich verwundet wor-den war, sagte, dass er selbst in diesemschrecklichen Krieg nicht solche Verwüstunggesehen habe. Einige Schutthaufen qualmten

noch. Das alles nur, weil die Nazis hofften, denKönig hier zu treffen. Oder als Warnung für dieOrte, an denen er sich aufhalten würde.Glücklicherweise entkam er nach England.

Schon am Vortag auf der Straße nachLillehammer und auch heute wieder überflogenuns mehrere Male deutsche Bomber, und wirsuchten im Straßengraben Deckung. Endlichdann, an diesem Abend, erreichten wir mitunserem Priester im Schlepptau die schwedi-sche Grenze. Die Grenzwache war auf dasEintreffen von Flüchtlingen vorbereitet, vondenen wir die ersten an diesem Grenzüber-gang waren. Der schwedische König hatte ver-fügt, alle Flüchtenden die Grenze passieren zulassen, sie dann jedoch in eine Art Auffang-lager zu bringen, wo sie aussortiert werdensollten, denn die Schweden waren sehrbemüht, keine Nazis oder Kommunisten unterdem Vorwand, sie seien Flüchtlinge, einzulas-sen. (Hitler und Stalin waren zu der Zeit nochbefreundet). In Norwegen hatte sich die fünfteKolonne, die "Quislings", benannt nach ihremFührer, als gefährlich und verräterisch erwie-sen. So mußten wir in der Nacht in den Grenz-baracken bleiben und auf unseren Mänteln aufdem Holzboden schlafen. Wir bekamen nichtviel Ruhe, aber wenigstens war geheizt, dennich kann mich nicht daran erinnern, dass esdort besonders kalt war.

Am nächsten Morgen erschienen zweiPolizisten in einem kleinen Bus, die uns drei zudem Lager bringen sollten. Gegen Mittag, glau-be ich, hielten wir an einem weiteren Grenz-übergang, um dort noch mehrere Flüchtlingeeinsteigen zu lassen. Es war später Nachmit-tag, als wir an unserem Bestimmungsort anka-men. Das war ein kleiner, recht einfacherBadeort, der von der Regierung zur Erholungvon Arbeitern betrieben wurde. Es gab heißeMineralquellen. Jetzt, Mitte April, war nochkeine Badesaison und man hatte kurzfristigPersonal beschafft, um die Flüchtlinge zu emp-fangen. Wir wohnten dort in kleinen Häusern.Für Paare gab es einen eigenen Raum, wäh-rend Einzelpersonen zu zweit einen Raumbeziehen mussten - mit Ausnahme unseresPriesters, dem ein eigener Raum zugestandenwurde. Die Mineralbäder waren noch außerBetrieb, aber wir konnten die Badehäuser

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benutzen, um zu baden und unsere Kleidungzu waschen. Unsere Zimmer hatten altmodi-sche Waschschüsseln und kein fließendesWasser.

Das Essen wurde in einem großen Speisesaalserviert, der zu jeder Mahlzeit überfüllt war. Ichbot mich sofort freiwillig als Hilfe in der Kücheund zum Servieren an. In der Küche wurde ichnur einmal zum Säubern von Gemüsegebraucht, aber fast zu jeder Mahlzeit half ichbeim Servieren im überfüllten Speisesaal. Daich schlank und biegsam war, konnte ich michin den engen Zwischenräumen inmitten derTische rascher bewegen als die fülligerenschwedischen Frauen. Als Belohnung, sonehme ich an, erlaubte man mir, mehrmalskostenlos mit unseren schwedischen Freun-den zu telefonieren, damit wir bald entlassenwerden konnten. Einmal kam ein großerLastwagen, ausgestattet wie ein Verkaufs-laden, wo wir Zahnpasta, Seife, Zigaretten,Schokolade usw. kaufen konnten. Die Vorrätedes Wagens waren bald veräußert bei so vie-len Menschen, die diese Dinge für langeWochen hatten entbehren müssen. Nach dreiWochen waren Paul und ich, unser Priesterund ein anderer junger Mann die Ersten, denenerlaubt wurde, das Lager zu verlassen. Unsereschwedischen Freunde hatten sich für uns ver-bürgt.

Im Zug nach Stockholm eröffnete uns unserPriester, dass er in einem kleinen Kloster inStocksund bleiben wolle, einem Vorort ober-halb Stockholms. Zufälligerweise war das auchunser Ziel, weil ein Onkel von mir mit seinerFrau zu dieser Zeit dort lebte und uns einmöbliertes Zimmer in der Nähe beschafft hatte.Unser Priester wollte sich jetzt dafür erkennt-lich zeigen, dass wir ihn unter unsere Fittichegenommen hatten. Während der Zeit im Lagerhatte ich ihm seine Kleidung gewaschen undseine Socken gestopft. Er lud uns ein, ihn amnächsten Tag zu besuchen. Das Kloster warnur eine Haltestelle weit entfernt, weshalb esleicht war, dorthin zu gelangen. Am nächstenTag kamen wir zur Teezeit, wie versprochen. Erstellte uns der Mutter Oberin vor und erzählteihr von uns. Als sie hörte, dass wir gärtnerischeErfahrung hatten, engagierte sie uns auf derStelle, damit wir einen Gemüsegarten anlegen

und das große parkähnliche Besitztum inOrdnung halten sollten. Glücklicherweise hatteder schwedische König gerade genehmigt,dass alle Flüchtlinge aus Norwegen undDänemark eine Arbeitserlaubnis in Schwedenbekamen. So waren wir in der Lage, schon amfolgenden Tag zu beginnen.

Die Nonnen waren so nett zu uns. Besonderseine sehr junge aus Holland, die sich um ihreeigene Familie große Sorgen machte. Siemeinten, wir sähen "so dünn" aus und füttertenuns mit fünf Mahlzeiten am Tag. Wir nahmendas dankbar an, denn das Essen im Lager warzwar angemessen, aber nicht mehr. Natürlichwar unser Verdienst niedrig, gerade ausrei-chend für die Straßenbahn und unsere Miete,aber mit all dem guten Essen brauchten wirnichts weiter. Motiviert durch die uns gezollteAnerkennung, arbeiteten wir sehr hart in unse-rem Job. An einem Tag hatte ich die Hecke zuschneiden. Es war eine lange Hecke und dieSchere war ziemlich schwer, aber ich hieltdurch, sehr befriedigt über das Ergebnis. In derNacht dachte ich, meine Arme würden abfal-len. Aber am nächsten Tag war ich doch in derLage, zur Arbeit zurückzukehren.

Sonntags gingen wir oft in Museen undGalerien. Kurz vor dem Krieg hatte Paul eineAusstellung mit Aquarellen in der Galerie"Faerg och Form" in Stockholm gehabt. Manwünschte, dass die unverkauften Arbeitennoch eine Zeitlang dort blieben, denn man hoff-te, später mehr zu verkaufen. (Diese unver-kauften Werke kehrten 38 Jahre später zu mirzurück, als Freunde aus Evanston ihre schwe-dischen Freunde besuchten. Sie entdecktendie Galerie, obwohl sie einen neuen Eigen-tümer hatte und zweimal umgezogen war. ImLager fand man wundersamerweise eine Rollemit Pauls Namen. Niemand wusste mehr, werPaul war oder wo er lebte, aber in dem Paketwaren diese Bilder, und unsere Freunde brach-ten sie mir mit - eine mich bewegendeWiederkehr, weil Paul neun Jahre zuvorgestorben war.) Wann immer wir zum amerika-nischen Konsulat mussten oder andereBesorgungen erledigen wollten, die mit unse-rer Reise zusammenhingen, bekamen wireinen Tag frei. Bei einem dieser Besuche inStockholm sahen wir die Nachrichten, die als

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Laufschrift auf einem Zeitungsgebäude überein Schriftband rollten. Frankreich war gefal-len, Paris war in deutscher Hand, die Nazishatten die Macht und es gab kein Anzeichen,dass Hitler besiegt werden würde. Wir warengeschockt - ich glaube, ich weinte. Um etwasmehr Geld zu verdienen, arbeitete ich gele-gentlich Sonntags als Putzfrau für eine Familiein Stocksund. Inzwischen sahen die Anlagendes Klosters sehr gut aus und das Gemüsestand hervorragend. Auf dem Besitztum gab eseine schöne, alte Villa, die von den Nonnen alsZwischenstation für wiederhergestellte geistes-kranke Patienten eingerichtet wurde, die dortmit ihren Familien blieben, bevor sie wieder indas Alltagsleben zurückkehrten.

Diese Familien freuten sich besonders über diegut gepflegten Gärten und interessierten sichsogar für das wachsende Gemüse. DieserGemüsegarten war unsere spezielle Freude,er gedieh großartig. Als wir nach Moskau abrei-sten, was Anfang Juli war, gab es schon viel zuernten. Ich kann mich seltsamerweise nicht anunsere Empfindungen erinnern, als wirSchweden verließen. Nicht einmal an unserenAbschied von den Nonnen, von unserenFreunden und von meiner Tante und meinemOnkel in Stocksund. Es wird wohl eineMischung von Bedauern und aufgeregterVorahnung gewesen sein, gemischt mit derBefürchtung, dass zuguterletzt noch etwasschief gehen könnte. Diese Erzählung gibtinsoweit lediglich trockene Tatsachen wieder.Sie schildert nicht, was wir dabei empfanden.Wir hatten Oslo im Glauben verlassen, baldzurück zu sein. Alles, was wir besaßen, war inder kleinen Wohnung dort. Alle Bilder von Paul,sein Malzeug, meine Skulpturen. All unsereKleidung, Teppiche und einfachen, aber nütz-lichen Möbel. Dabei auch ein Sekretär vonmeiner Urgroßmutter, eine Nähmaschine mei-ner Großmutter und vor allem jede Menge anBüchern. Die beiden Erbstücke, einige Bücher,Bilder und Plastiken fanden nach dem Kriegdank Karl Eide den Weg zu uns.

Während unserer Flucht wurde es uns täglichmehr und mehr klar, dass wir nie mehr zurük-kkehren würden und möglicherweise niemalsmehr irgend etwas von unseren Sachenwiedersehen würden. Natürlich hatten unsere

Freunde, die Eides, unseren Schlüssel undwürden wahrscheinlich versuchen, einiges vonden Dingen zu retten. Unsere Miete war biszum Mai bezahlt und wir vertrauten auf KarlEide, einen aufrechten Geschäftsmann (undSonntagsmaler), dass er das Richtige tunwürde - was er auch tat. Aber die Ungewiss-heit und Gefahr, der wir ins Gesicht blickten,ganz zu schweigen von der Erschöpfung, Kälteund Furcht während dieser Wochen bevor wirnach Schweden kamen, ist nahezu unbe-schreibbar. Nur Pauls gutes Urteilsvermögenund seine Standhaftigkeit brachten uns durch.

Einmal in Stockholm und in der Lage zu arbei-ten, bemühten wir uns sofort um Kontakt mitdem amerikanischen Konsulat in der Hoffnung,dass unsere Visa uns bald erreichen würden,vielleicht im Diplomatengepäck von Oslo. Aberdie Verbindungen waren im Augenblick totalabgeschnitten. Der amerikanische Konsul em-pfahl uns, uns so nahe wie möglich an dieVereinigten Staaten zu begeben und dort aufunsere Visa zu warten. Wir suchten einen Wegzu finden, um das zu bewerkstelligen. Wäh-rend dieser Zeit wollte kein Land jemandem einDurchreisevisum geben, der nicht ein gültigesAufenthaltsvisum am Ende vorweisen konnte.Aber wie sollten wir das bekommen? Wir ver-suchten dieses und jenes, es schien hoff-nungslos. Zum Schluss brachte uns PaulsSchwägerin mit einem ihrer entferntenVerwandten, Ragnar Schlyter, in Verbindung,der in Schweden Konsul von Haiti war. Durchihn bekamen wir ein Aufenthaltsvisum für Haiti,und das ermöglichte uns, alle übrigen benötig-ten Durchreisevisa zu bekommen: fürRussland, Japan und Panama. Durch Hinter-legung unserer Sparbücher als Sicherheitwaren wir in der Lage, uns genug Geld zu bor-gen, um unsere Dritter-Klasse-Fahrkartennach Moskau, durch Sibirien, nach Japan undüber den Pazifik nach Panama zu kaufen. Dort,so hofften wir, würden uns unsere Visa einho-len, und es würde uns dann erspart, nach Haitizu reisen. Letztlich klappte dies dann auch,nachdem wir unseren Aufenthalt in Panamaverlängern konnten.

Nachsatz: Wir wurden gefragt: haben sich dieNorweger nicht gewehrt? Natürlich taten sie esund starben auch. Aber Norwegen war ein total

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friedensorientiertes Land und seine kleine,unerfahrene Armee, die niemals in einem Krieghatte kämpfen müssen, war kein Hindernis fürHitlers bestausgerüstete, kriegserfahreneStreitmacht. Selbst die Alliierten konnten nichtsausrichten ohne amerikanische Hilfe. MehrereMonate nachdem wir Sigrid Undset zum erstenMal in einem Luftschutzkeller in Lillehammersahen, trafen wir sie in einer Straße in Kobe,Japan. Sie befand sich ebenfalls auf der Reisein die USA (aber ausgerüstet mit einemVisum!). Dort erfuhren wir, dass ihr Sohn wäh-rend der Kriegshandlungen getötet wordenwar.

Im Dritter-Klasse-Abteil durch Sibirien

Im Frühjahr 1940 schlug in Europa der Kriegmit erneuter Gewalt zu. Anfang April besetztendie Nazis Dänemark und Norwegen und einwenig später die Niederlande, Belgien undFrankreich. Viele Menschen, die vor Hitler indiesen Ländern Zuflucht gesucht hatten,saßen in der Falle. Paul und ich konnten vonNorwegen nach Schweden fliehen, von wo wirnach etwa zwei Monaten aufbrachen, demguten Rat des US-Konsuls in Stockholm fol-gend, um uns zu bemühen, so nahe wie mög-lich an die Vereinigten Staaten heranzukom-men. Wir hatten uns seit zwei Jahren um Visabemüht und sollten sie in der folgenden Wocheerhalten, als die Invasion begann. So mußtenwir ein Land finden, das uns kurzfristig solange aufnehmen würde, bis wir unserEinreisevisum in die Vereinigten Staatenerhielten. Das einzige Land, das sich dazubereit erklärte, war Haiti. Auf dem Weg dorthinwurde uns in Panama ein vierwöchentlicherAufenthalt zugestanden. Wir hofften, daß unsdort die Visa erreichen würden, damit wir denUmweg über Haiti nicht machen mußten.Zuguterletzt gelang uns das auch so, aber daswußten wir noch nicht, als wir Stockholm ver-ließen auf dem Weg nach Moskau, der erstenStation unserer Reise. Schwedische Freundeliehen uns das Reisegeld, gerade genug, umFahrkarten dritter Klasse zu kaufen. InSchweden konnten wir damit unseren Lebens-unterhalt verdienen, daß wir den Garten eineskleinen Klosters in der Nähe von Stockholmpflegten. Dort wurden wir zwar sehr gut ver-pflegt, aber erhielten nur wenig Lohn, so dass

wir auf die Leihgabe unserer Freunde ange-wiesen waren. Um in der Sowjetunion zu rei-sen, mußte man im voraus ein Intourist-Gutscheinheft erwerben. Neben den Zugbilletsgab es für jede Hotelübernachtung und jedeMahlzeit einen eigenen Gutschein. Weil Ruß-land gerade Riga besetzt hatte, mußten wirvon Stockholm nach Moskau fliegen. In einerwinzigen zwölfsitzigen Maschine war es unsererster Flug überhaupt.

Sofort nach der Landung übernahm einIntourist-Führer unsere Betreuung. Als wir ineinem Hotel für diese Nacht untergebrachtwurden, vier Personen in einem Zimmer, fan-den wir heraus, daß wir zu einer vierzigköpfi-gen Gruppe gehörten, fast alles Europäer mitAusnahme von zwei Amerikanern. Der Sibiren-Express, der uns nach Wladiwostok bringensollte, fuhr wöchentlich nur zweimal. Deshalbmußten wir auf seine Abfahrt warten. Ich glau-be, wir blieben zwei Tage in Moskau. Wir durf-ten gruppenweise nach eigenen WünschenBesichtigungsausflüge unternehmen. Paul undich hatten das Glück, einige Stunden in einerberühmten Sammlung zeitgenössischer Kunstzu verbringen, die noch immer in dem elegan-ten kleinen Palast untergebracht war, wo derGraf sie einst gesammelt hatte. Wir besuchtenauch den Kreml und andere Museen und spa-zierten durch die Stadt, immer begleitet voneiner jungen Führerin und zwei britischenIngenieuren von unserer Gruppe, die unsereInteressen teilten. Eines Abends konnten wirden Zug dann besteigen. Paul und ich hattenso wenig Gepäck, daß es für uns leicht war,aber eine aus unserer Gruppe, die schwedi-sche Schauspielerin Signe Hasso, die auf demWeg nach Hollywood war, verlor einige ihrerKoffer. Das wurde erst bemerkt, als wir schonlängst unterwegs waren. Aber unser Führer aufdieser Reise, ein Student, der alle wichtigenSprachen fließend beherrschte, ermöglichtees, daß die Taschen mit dem nächsten Zug einpaar Tage später eintrafen. Unser Zug warsehr lang. Zweite und erste Klasse befandensich vorn, nicht weit hinter der Lokomotive.Dann kam der Speisewagen, dann alle dieDritte-Klasse-Wagen, Wagen an Wagen anWagen besetzt mit russischen Reisenden undschließlich am allerletzten Ende unser Wagen. Paul und ich waren im vorletzten Abteil unter-

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gebracht, zusammen mit einer schwedischenDame. Im letzten Abteil befanden sich die bei-den britischen Ingenieure, ein Amerikaner mitt-leren Alters, der bei einem Besuch seinerVerwandten in Norwegen von der Invasionüberrascht worden war, und ein neunzehnJahre alter amerikanischer Seemann derHandelsmarine, dessen Schiff vor der norwegi-schen Küste torpediert worden war. Wir siebenwaren die einzigen Nichtrussen in der drittenKlasse. Schon bei unserer ersten Mahlzeitgewahrten wir, daß der Ausdruck "DritteKlasse" nur in Bezug auf unsere Unterbringungzu verstehen war. In jeder anderen Beziehungwurden wir nicht anders als die übrigenNichtrussen behandelt. So wurden Alle unsererGruppe eingeladen, unsere Mahlzeiten mit denanderen Erste-Klasse-Passagieren einzuneh-men. Wir wurden vor den vielen hundertRussen bedient, welche den Speisewagen erstbetreten durften, wenn wir vierzig fertig waren.Wir vom letzten Wagen mußten uns unserenWeg durch die Korridore bahnen, Wagen nachWagen vollgepackt mit Menschen - es schie-nen Tausende.

Von unserer kleinen Gruppe konnten allerdingsnur sechs in den Speisewagen gehen, weilunser junger Seemann kein Geld besaß, sichdie Essensgutscheine zu kaufen. Aber wir fan-den einen Ausweg. Die Mahlzeiten waren zwareinfach, aber reichlich, und es war immergenug Schwarzbrot, Aufschnitt, saure Sahneund Preisselbeersauce auf dem Tisch, um diemonotonen Mahlzeiten zu ergänzen. So konn-ten wir sechs genügend Butterbrote machen,mit allem, was wir kriegen konnten und unsereTaschen damit vollstopfen, um unserem hun-grigen jungen Reisegefährten etwas Nahrungmitzubringen. Heißen Tee gab es sowiesoimmer umsonst von unserem Schaffner, einemfreundlichen jungen Russen. Er bediente, soglaube ich, nur die beiden letzten Wagen undumsorgte uns mütterlich, obwohl wir uns nur inZeichensprache mit ihm verständigen konnten.(Außer den paar russischen Wörtern, die wirunterwegs aufgeschnappt hatten.)

Natürlich gab es auch noch unseren mehrspra-chigen Führer, der zeitweilig nach uns schaute,um sich zu überzeugen, daß es uns gut ging,und daß wir alles hatten, was wir benötigten,

der auch unserem Schaffner bei Bedarf über-setzte und uns außerdem ein paar WorteRussisch mehr beibrachte.

Die meiste Zeit verbrachte er natürlich mit denPassagieren der ersten und zweiten Klasse. Erschaffte es, Signe Hasso in Wladiwostok mitihrem verlorengegangenen Gepäck zu verei-nen, und es war offensichtlich, daß er sich insie verliebt hatte. Die ersten zwei Tage undNächte fuhren wir durch mehr oder wenigerindustrielle Gebiete. Wir hielten gelegentlich inverschiedenen Städten wie Nichnij-Nowgorodund anderen, was nicht sehr interessant war.Während des Tages hatte jeder von uns einenEckplatz in dem Sechserabteil. Da wir nur dreiPersonen in unserem Abteil waren, war immerein Eckplatz frei, so daß manchmal währenddes Tages eine oder zwei Personen dieErlaubnis erhielten, zwischen Zusteigebahn-höfen bei uns im Abteil zu sitzen. Nachts wur-den von der oberen Wand zwei Klappen her-untergelassen, die als Kojen dienten, so daßsich vier Leute ausstrecken konnten. Zwei aufden unteren Bänken, zwei auf den Kojen.Unter den Sitzen war Stauraum für Matratzenund Kissen, vielleicht auch für Decken. Darankann ich mich nämlich nicht mehr so genauerinnern, weil ich die Nächte stehend im Gangverbrachte. Ich bin sehr allergisch gegenInsektenbisse, und sobald ich versucht hatte,mich in der ersten Nacht hinzulegen, wußteich: da waren Wanzen (deren Bekanntschafthatte ich schon vor neun Jahren in unsererersten Nacht in Paris gemacht). Obwohl ichverschiedene Schachteln mit Insektenpulverbei mir hatte, welche mir und unserenMitbewohnern in Moskau gute Dienste leiste-ten, fühlte ich mich nicht sicher genug undschaute mir lieber das Zwielicht des sommer-lichen Nordhimmels aus dem Korridorfensteran. Nachdem die Matratzen weggepacktwaren, bestäubte ich die Bänke mit meinemInsektenpulver und konnte so tagsüber hin undwieder ein wenig schlafen. Dann stellte ichfest, daß wir Glück hatten, in der dritten Klassezu sein und nicht in der gepolsterten Erstenoder Zweiten, wo man auch tagsüber vonWanzen bedroht war.

Je weiter wir fuhren, desto interessanter wurdedie Landschaft. Kurz nach Tomsk waren wir in

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Sibirien. Hier waren die Sommer kurz, aberintensiv - und es war Anfang Juli. Die hellenMitsommernächte ließen Blumen und Früchtesehr schnell wachsen. Wir konnten kaum glau-ben, welche Unmengen von Iris es in allen ver-schiedenen, unwahrscheinlichen Farben gab.Angefangen vom reinsten Weiß, zartem Beige,feinem Neapel-Gelb zu leuchtendem undimmer leuchtenderem Orange, Rot und Blauund glühendem Lila bis hin zu einem Violett,das so dunkel war, daß es fast schwarz wirkte.In der Nähe sah man kleine Haine von dünn-stämmigen Birken, wahrscheinlich die einzigeBaumart, die in der kargen Erde und dem har-ten Klima gedeihen konnte. Und sogar diekonnten sich nicht zur ganzen Stärke entwik-keln. Neben der Irisfülle auf den Wiesen undentlang den kleinen Flüssen war die Böschungneben den Schienen übersät mit kleinen wil-den Blumen und wilden Erdbeeren. Unser Zughielt öfters auf freier Strecke. Manchmal wares ein Begegnungspunkt, wo wir auf denGegenzug warten mußten, bevor wir unsereReise auf dieser eingleisigen Strecke fortset-zen konnten. Manchmal konnten wir keinenGrund für das Anhalten erkennen, aber öfterund öfter sprangen einige Russen, meist jün-gere Männer, aus den benachbarten Abteilenunseres Wagens vom Zug, kletterten dieBöschung hinauf und kehrten mit einem Straußvon kleinen Wildblumen oder einer Handvollduftender Erdbeeren zurück. Merkwürdiger-weise fuhr der Zug dann langsam wieder an,ohne jedoch auch nur ein Signal zu geben.Wenn wir auf dem Weg zum Speisewagen anunseren russischen Mitreisenden vorbeika-men, sahen wir viele Abteile mit frischenBlumen in Teegläsern oder Bechern ge-schmückt. Schließlich waren diese kleinenRäume für zehn Tage unser Zuhause undkonnten etwas Verschönerung vertragen.-Als wir einmal bei einem erneuten Halt unsereNachbarn aus dem Wagen springen sahen,und sie die blühende Böschung emporkletter-ten, beschloss Paul, auch mir einen solchenBlumenstrauß zu bringen und vielleicht sogarein paar Beeren. Bevor ich wußte, was ge-schah, war er schon draußen, den steilenBahndamm hinauf, höher und weiter weg alsdie Anderen und begann zu pflücken, völligversunken in die Fülle von Farben und Düften.

Es verstrichen nur Minuten, als ich die anderenMänner zurücklaufen sah und der Zug sich inBewegung setzte. Panik überfiel mich, ichschrie, bis Paul sich endlich aufrichtete. Erbemerkte, daß der Zug sich bewegte und kamheruntergerannt. Glücklicherweise hatte unsernetter Schaffner alles mitbekommen und standan der offenen Tür des letzten Wagens bereit,Paul zu helfen. Paul, der ein guter Athlet war,rannte und sprang, während unser Schaffnersich so weit wie möglich aus dem Abteil lehnte,sich mit einer Hand am Griff festhielt und mitder anderen Paul glücklich in den Zug herein-zog. Wahrscheinlich vergingen nur Sekunden,aber für mich war es eine Ewigkeit, und meinHerz stand fast still. In meinem Geiste sah ichPaul schon in dieser Wildnis ohne Paß, ohneGeld, ohne Sprachkenntnisse und viele Tagekein vorbeikommender Zug. Sicherlich würdeunser Schaffner die Notbremse gezogenhaben, wenn er es nicht geschafft hätte, PaulsHand zu ergreifen. Aber das ging mir erst vielspäter auf. Diese beklemmenden Momente,die mir so unendlich lang erschienen, grubensich für den Rest meines Lebens in meinGedächtnis ein.

Kurz nach diesem Zwischenfall hielt unser Zugan einer Station bei einem Dorf, wo zwei großejunge Männer zu uns dreien ins Abteil stiegen.Sie wollten am nächsten Bahnhof einigeStunden später wieder aussteigen. DieseStation war Byrobidjan, eine neue jüdischeSiedlung. Da sie Jiddisch sprachen, das demalten Deutsch verwandt ist, konnten wir unsmiteinander verständigen. Sie waren wirklichlustig und vielleicht auch ein bißchen betrun-ken. Sie versuchten, uns zu überreden, mitnach Byrobidjan zu kommen, um dort zu leben:"Warum wollt ihr nach Amerika gehen? Hier istes viel schöner" (in Sibirien !!!). Natürlich wardas nur ein Scherz. Ich vergaß, zu erwähnen,daß es noch einen Mann im Zug gab, der abund zu bei uns vorbeikam, anscheinend einBeamter. Als einziger trug er bei dieser Hitzeeinen Hut, was sonst niemand tat. Er war soetwas wie eine Aufsichtsperson, aber sprachnur russisch, so daß er, wenn er mit uns redenwollte, unseren Übersetzer brauchte. Wir sie-ben nannten ihn den "Kommissar". Als also diezwei jungen Juden in unser Abteil gekommenwaren, kam der Kommissar ein paarmal vor-

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bei, um mit ihnen zu reden, anscheinend rechtfreundlich. Kurz nach seinem letzten Besucherreichten unsere jungen Gefährten ihr Zielund verließen händeschüttelnd und winkendden Zug. Nicht lange darauf kam derKommissar schon wieder vorbei, offenbar, umzu überprüfen, ob sie dort, wo sie aussteigensollten, auch ausgestiegen waren. Aber dies-mal war er ohne Hut und blickte suchend in alleAbteile und jede Ecke, wobei er offenbar etwassuchte: seinen Hut. Er mußte ihn auf unsererBank liegengelassen haben, während er mitden jungen Männern sprach. Im Rußland von1940 war ein Hut ein sehr wertvollerGegenstand, ein Symbol für Reichtum undStatus. Irgendwie müssen ihn unsere jungenFreunde weggezaubert haben, wahrscheinlich,um ihn im nächsten Dorf für eine FlascheWodka zu versetzen. Nachdem unserKommissar nun wie jeder andere hutlos war,büßte er auch viel von seiner Autorität ein.Schon bald danach wurde die Landschaft wun-derschön und eines Morgens zwischen dreiund vier Uhr in der Früh passierten wir denBaikalsee. Die Sonne war schon aufgegangenund tauchte den Morgennebel über dem See ingeheimnisvollen Schimmer. Jetzt war es nichtmehr weit bis zu unserem Ziel, und wir erreich-ten Wladiwostok ohne weitere Zwischenfälle.

Hier noch einige Fußnoten: Unsere Mitbewohner in dem Moskauer Hotel(auf vier Matratzen auf dem Fußboden) warenFritz und Tilde Schlenk, ein junges deutscheshalbjüdisches Ehepaar (so wie wir). Sie hattenihre USA-Visa und würden die VereinigtenStaaten lange vor uns erreichen. Er war einWissenschaftler, der dort zu der Zeit sehrbegehrt war. Sie ließen sich in der Nähe vonChicago nieder, weil er bei den Argonne-Laboratorien Arbeit bekam, und als wir nachChicago zogen, sahen wir sie wieder, vieleJahre nach unserer gemeinsamen Zugfahrt(aber sie reisten in der zweiten Klasse). Eineandere Fußnote über den "Kommissar": ImAbteil neben uns auf der rechten Seite befandsich eine russische Familie mit einer Tochter,die ungefähr zwanzig war. Eines nachmittags,als es besonders heiß und schwül war, wurdesie ohnmächtig. Ich war gerade im Gang, sahes und holte schnell mein Kölnisch Wasser,das mir Freunde für die Reise geschenkt hat-

ten. Ich tränkte damit ein Taschentuch und gabdas dem Mädchen zum Einatmen. Es half ihrwirklich, aber in diesem Moment kam derKommissar vorbei, verscheuchte mich undbeschimpfte die russische Familie, daß sieHilfe von einem Nichtrussen angenommenhatte, was ein Zeichen von Schwäche oderUnzulänglichkeit sei. Wenigstens war dasunsere Interpretation. Unser Aufenthalt inWladiwostok war kurz, aber unvergeßlich.Mehr darüber später.

Wladiwostok

Als wir vierzig nichtrussischen Passagiere desTrans-Sibirien-Expreß an einem heißen Julitagim Jahre 1940 in Wladiwostok eintrafen, wur-den wir sofort in einem einfachen, aber saube-ren Hotel untergebracht. Am nächsten Morgenwürden sich unsere Wege trennen. Die mei-sten von uns waren auf dem Weg nach Nord-und Südamerika, doch ein junges englischesEhepaar mit einem kleinen Baby und die bei-den britischen Ingenieure, die zu unserer klei-nen Gruppe in der dritten Klasse gehörten,hofften, trotz der U-Boote im Atlantik nachEngland zu gelangen. (Vielleicht sind sie aberauch in Kanada gelandet.) Ein paar Leute woll-ten nach China. Schanghai war zu dieser Zeitein begehrtes Ziel für Menschen, die vor Hitlerflüchteten. Wir Restlichen sollten ein Schiff be-steigen, das entlang der koreanischen Küstenach Tsuruga fahren sollte, dem nördlichstenjapanischen Hafen. Von da an würde jeder sei-nen eigenen Weg gehen.

Als wir uns alle am nächsten Morgen zumFrühstück versammelten, gab unser Führerbekannt, dass unser Schiff mehrere Tage ver-spätet sei, und dass wir hier in Wladiwostok aufseine Ankunft zu warten hätten.

Panik überfiel uns !!! Alle unsere Intourist-Gutscheine waren mit diesem Frühstück auf-gebraucht. Da jede Übernachtung und jedeMahlzeit im voraus bezahlt war, sorgfältig Tagfür Tag abgezählt, konnten wir uns keineVerspätung erlauben. Niemand hatte russi-sches Geld. Das war nicht erlaubt, und einige,wie der junge amerikanische Seemann sowiePaul und ich, hatten keinen Pfennig zuviel, nurunsere Fahrkarten und ein Minimum. Was

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würde auf uns zukommen? Vielleicht landetenwir alle im Gefängnis?

Aber dann schlug unser Führer vor, uns amMittag noch einmal zu treffen. Er hoffte, bisdahin eine Lösung gefunden zu haben. In derZwischenzeit durften wir das Hotel nicht verlas-sen, weil Wladiwostok einen Militärhafen hatteund sich im Kriegszustand befand (zu diesemZeitpunkt waren Stalin und Hitler noch befreun-det). Im Hotel hatten Paul und ich ein kleinesZimmer im Untergeschoss ganz für uns allein.Es hatte ein vergittertes Fenster. Trotzdem wares uns möglich, in Straßenhöhe herauszu-schauen, und so nutzten wir die Zeit bis zumMittag, um die vorbeikommenden Leute zuzeichnen. Jeder war nervös, als wir uns mit-tags trafen. Als wir alle beisammen waren,erschien unser Führer mit strahlendemGesicht. Er verkündete, es sei ihm gelungen,die Behörden zu überzeugen, dass wir ohneeigenes Verschulden in diese Situation geratenseien. Es wurde verfügt, dass wir uns bis zurAnkunft unseres Schiffes als Gäste derSowjetunion betrachten durften. Übernachtungund Verpflegung mit ausgezeichneten Mahl-zeiten (welch ein Unterschied zu dem einfa-chen Essen im Zug!) und sogar Unterhaltungwürde alles vom Staat getragen.

Zum Auftakt wurden wir zu einer Aufführungeines berühmten Chinesisch-RussischenZirkus am selben Abend eingeladen.Langanhaltender Applaus folgte dieserAnkündigung und Erleichterung und Freudefüllten den Raum. Allerdings gab es dieBedingung, dass niemand das Hotel allein,sondern nur in Gruppen und mit Führer verlas-sen durfte. Nun aber, nachdem unsereunmittelbare Zukunft gesichert war, konntenwir ein gutes Abendessen genießen und denwirklich außergewöhnlichen Zirkus mit erstaun-lichen Akrobaten und haarsträubenden Bären-Dressurakten.

Unser Führer war ebenfalls glücklich, denn erdurfte Signe Hasso zu dem Zirkus begleitenund ihre Gesellschaft den ganzen Abendgenießen. Am dritten Morgen kam unser Schiffund wir konnten abreisen, wobei wir wegendieses Erlebnisses mit mehr Vertrauen in dieZukunft blickten.

Über den Pazifik und weiter

Mitte Juli 1940 hatten Paul und ich Schwedenverlassen, um den nächsten Teil unsererOdyssee über Moskau mitten durch Sibirennach Japan und Panama zu beginnen. Icherzählte schon von unserer Reise von Moskaunach Wladiwostok. Von diesem russischenHafen fuhren wir per Schiff die koreanischeKüste entlang nach Tsuruga, dem nördlichstenjapanischen Hafen. Auf unserem Schiff befan-den sich überwiegend Asiaten. Unter den weni-gen Nichtasiaten war jedoch ein junges engli-sches Paar mit einem vielleicht vier Monatealten Sohn. Die Eltern trugen ihn zwischen sichin einem Korb. Dieses hübsche blauäugigekleine Wesen zog die Aufmerksamkeit einesJeden auf sich, als wir in Tsuruga ankamen.Alle japanischen Frauen in Sichtweite versam-melten sich um die junge Familie, betastetendas Baby und wollten alles darüber wissen.Paul und ich bestiegen den nächsten Zug nachKobe, von wo wir vier Tage später auf einemjapanischen Schiff den Pazifik überqueren soll-ten.

Nachdem wir nach einer sehr schnellen acht-stündigen Fahrt in Kobe ankamen, standen wirhilflos mit unserem schäbigen Gepäck auf demBahnsteig und wussten nicht, was wir tun soll-ten. Genau in diesem Moment kam ein distin-guiert aussehender Mann mittleren Alters ineinem weissen Leinenanzug auf uns zu. Er warein amerikanischer Geistlicher, ein gewisserDr. Meyers, der gerade seine Frau und seineTochter zu einem Zug gebracht hatte, der sie indie kühleren Berge bringen sollte. Er hattegleich erkannt, was wir waren: völlig verwirrteFlüchtlinge.

Als er erfuhr, dass wir keine Unterkunft hatten,brachte er uns in eine kleine Studentenherber-ge, die von seiner Kirche geleitet wurde. DieHerbergseltern waren ein japanisches Ehe-paar, das Englisch sprach. Ich glaube, es waran einem Freitag, weil uns Dr. Meyers fürSonntagmorgen in seinen Gottesdienst einlud.Natürlich gingen wir aus Höflichkeit dorthin,aber ich erinnere mich an gar nichts, außer,dass es sehr heiß war und wir einen Fächererhielten. Diese Fächer benutzte jeder ständig,wir eingeschlossen. Wir waren mitten in eine

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Hitzewelle geraten - es waren 100 GradFahrenheit. Am Morgen nach unserer Ankunftin Kobe sahen wir den norwegischen Konsulvorbeigehen, der in der Nähe unserer Pensionlebte. Er war nur mit Shorts bekleidet und trugSandalen, um den Hals ein schmales Hand-tuch geschlungen, um den Schweiß aufzufan-gen. Diese Aufmachung erheiterte uns, aberwir würden es ihm gern nachgemacht haben.

Beim Einchecken bei unserem Reiseagentenerfuhren wir, dass unser Schiff in Indien aufge-halten wurde und es bis zu zehn TagenVerspätung haben könnte. Wir gingen durchdie Straßenmärkte und sahen viele erstaunli-che Dinge, wie zum Beispiel Heimchen in klei-nen Holzkäfigen, die man in die Fenster hän-gen konnte. Für Pfennige kauften wir ein paarZeichenblocks, die sich wie eine Ziehharmo-nika öffnen ließen, und für zehn Cents ein 1904erschienenes englisch-deutsches Wörterbuch,das ich noch immer besitze. Wir gingen zu derantiken Stadt Kyoto, um dort die berühmtenTempel zu sehen. Wir wollten auch Narasehen. Aber obwohl wir schon viele Schutz-impfungen vor unserer Reise in Stockholmbekommen hatten, fehlte eine - ich glaube, eswar Typhus oder Gelbfieber. Ohne dieseSchutzimpfung durften wir unsere Reise nichtfortsetzen. Als Reaktion auf diese Impfungbekamen wir, vielleicht noch verstärkt durchdie Hitze, ein hohes Fieber. Dieses machteunseren Ausflug nach Nara unmöglich, und alses uns wieder besser ging, war unser Schiffendlich eingelaufen.

Einige Eindrücke der zwölf Tage in Kobe: Wirmussten ein paar leichtere Kleidungsstückefinden, besonders Paul mit seinem schwerenTweed, der für Norwegen genau richtig war,aber unmöglich in dieser 100 bis 105-Grad-Hitze. So gingen wir in ein großes Kaufhaus,um etwas Bequemeres zu kaufen. DiesesGeschäft hatte eine Klimaanlage, eine neueErfahrung für uns, und es war richtig kühl, fastkalt. Es war so angenehm, dass wir stunden-lang dort blieben. Im vierten Stock nahmen wirin der Cafeteria einen Imbiss zu uns, was auchetwas Neues für uns war. Als wir dann endlicham Nachmittag das Kaufhaus verließen undauf die Strasse traten, schlug uns die Hitze wieeine Feuerwand entgegen. Wir rangen nach

Luft, und ich hatte das Gefühl, auf denBürgersteig geschleudert zu werden. Es dau-erte mehrere Minuten, diesen Schock zu über-winden.

Wie ich schon erwähnte, trafen wir eines TagesSigrid Undset auf der Strasse wieder underfuhren, dass ihr Sohn, der in der norwegi-schen Armee diente, im Kampf gefallen war.Sie war auch auf dem Weg in die VereinigtenStaaten, aber hatte natürlich ein Visum undkonnte direkt weiterreisen, während wir erstnach Panama mussten, um dort auf unsereVisa zu warten. Nachts hatten wir oft einSchauspiel, welches besonders willkommenund unterhaltend war, während wir mit Fieberim Bett lagen. Es war eine winzige graue Mausmit enorm großen Ohren, ein richtiger Akrobat.Irgendwie gelangte sie auf die Gardinenstan-ge, wo sie die amüsantesten Tänze aufführte.

Das Schiff, das wir bestiegen, war ein alterdeutscher Frachter, halb Passagier- halbFracht. Dieses Schiff wurde den Japanernnach dem ersten Weltkrieg als Wiedergut-machung übereignet. Japan war im 1. Welt-krieg auf Seiten der Alliierten, was ich ganzvergessen hatte. Für einen Ozeanriesen wares recht klein, aber bequem genug. Wir warenzweiter Klasse untergebracht. Das hieß, dassPaul seine Kabine mit drei anderen Männernteilte und ich die meinige mit drei anderenFrauen. Zwei von ihnen waren Mutter undTochter, auch deutsche Flüchtlinge mit demZiel Lima, Peru. Die Dritte war eine Lehrerin,ungefähr in meinem Alter, Marian Thayer vonWilmette, Illinois, die an der japanischenSchule, an der der Kronprinz erzogen wurde,Englischunterricht gab. Sie wurde nach Hausezurückgerufen, weil ihr Vater unheilbar krankwar. Später, als man uns an das Art Instituteberief, war sie uns eine grosse Hilfe,besonders, als wir nach Wilmette zogen. Hierauf dem Schiff half sie Paul bei seinenEnglischstudien, und wir wurden gute Freunde.Fritz und Tilde Schlenk, die wir schon inMoskau getroffen hatten und die die Reisenach Wladiwostok zusammen mit uns gemachthatten, befanden sich auch auf dem Schiff,allerdings erster Klasse. Ich glaube, sie bestie-gen unser Schiff, als wir in Yokohama anleg-ten, von wo wir in den Pazifik ausliefen.

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Das Essen auf diesem unscheinbaren Schiffwar sehr gut, und die offenbar von einemJapaner in Englisch verfassten Speisekartenwaren für unsere Gespräche eine Quelle derErheiterung. Ich erinnere mich an ein Menü:"Gebackener Frühling vom Hühnchen".

Einer unserer Tischgenossen - wir saßen anlangen, einfachen Tischen - war ein katholi-scher Priester, schlank und mit Bart, genanntVater Walters. Er hatte während der Reiseeinen wichtigen Geburtstag, vielleicht den 75.,und Kapitän und Mannschaft bereiteten ihmeine sehr schöne Feier. Zur Mannschaft, dienur aus Japanern bestand, gehörten auch zweijunge Ärzte, von denen einer in Heidelberg stu-diert hatte. Wir hatten die Gelegenheit, seinKönnen auszuprobieren, als Paul kurz nachunserem Aufenthalt in Hawaii eine Anginahatte. In Hawaii blieben wir, glaube ich, zweiTage im Hafen. Die meisten Passagiere gingenzur Besichtigung an Land, aber Paul und ichdurften nicht von Bord, da wir keine US-Visahatten. Was wir nicht bedauerten, denn farben-prächtige Besucher und Verkäufer kamen aufsSchiff. Paul skizzierte emsig all diese interes-santen Typen von Menschen und eine vonunseren Mitpassagieren brachte uns die aller-saftigste Ananas, die ich jemals gegessenhatte. Kostenpunkt: ein viertel Dollar! DieseMitreisende, eine amerikanische Dame mittle-ren Alters, schenkte mir ein altes Sommerkleid.Ich begann rasch, es mir zurechtzuschneidern.Dieses Kleid war sehr praktisch, während wirnach Süden fuhren. Ich wünschte, ich hätte esschon in Japan gehabt!

Nachdem wir Hawaii verlassen hatten, gerie-ten wir in schlechtes Wetter. Wir hatten neuePassagiere und Fracht aufgenommen. Ein wei-terer Passagier kam in Pauls Kabine. Paul botdem Neuankömmling natürlich seine Koje anund schlief auf der Couch unter dem Bullauge.Während der Nacht, als die Wellen hoch gin-gen, schlug eine durch das Bullauge, daswahrscheinlich nicht fest verschlossen war. Aufjeden Fall wurde Paul völlig durchnässt. Da erdie anderen nicht stören wollte, blieb er unterseinem nassen Laken liegen. Nach etwa zweiTagen bekam er dann hohes Fieber und eineAngina. Das war, als wir die Bekanntschaft mitden zwei Doktoren machten. Der Ältere, der in

Heidelberg studiert hatte, war wirklich ausge-zeichnet und hatte Paul so gesund bekommen,dass er an Deck stehen konnte, als wir in SanFranzisko anlegten und die US-Inspektoren anBord kamen, um zu überprüfen, ob es irgend-welche kranken Menschen an Bord gab. Nachdieser Untersuchung konnten die Passagieremit Ziel San Franzisko das Schiff verlassen.Später, in San Diego, konnte man ohne weite-re Formalitäten ausschiffen. Wir allerdingsdurften unseren Fuss noch nicht auf amerika-nischen Boden setzen, aber mit unserenTransitvisa nach Panama war es uns möglich,in Mexiko und in Nicaragua an Land zu gehen.In Mexico war es der kleine Hafen vonMonterey. Unser Schiff lag dort zwei Tage vorAnker und wir gingen an Land. Es gab dorteine kleine, vor Haien geschützte Bucht, wo wirschwimmen konnten, und zum erstenmalsahen wir Pelikane außerhalb eines Zoos. Siewaren überall um uns herum, ließen sich aufden sanften Wellen schaukeln und tauchtennach Fischen. Der Sand glitzerte wie Gold undan Bord erfuhren wir, dass es eine ArtFischleim, vermischt mit dem Sand war, der ihnso golden erscheinen ließ. Wir sahen wiederetwas Neues für uns: auf der Strasse geröste-te Maiskolben, die noch mit Blättern versehenwaren, um sie vor dem Verbrennen zu schüt-zen und sie saftig zu halten. Bei einemAufenthalt in Nicaragua konnten wir am frühenAbend an Land gehen und lange dort bleiben,um das prächtige Feuerwerk zu Ehren des dor-tigen Nationalfeiertags zu sehen. Menschen infarbenfrohen Kostümen trugen die Feuer-werkskörper auf ihren Rücken, und währendsie in einem großen offenen Park tanzten,explodierten die Feuerwerkskörper einer nachdem anderen. Es war aufregend, aber auchetwas beängstigend. Während der vielen kur-zen Aufenthalte, die wir entlang der Küste hat-ten, luden und entluden wir Fracht und ein paarneue Passagiere kamen an Bord.

Die meisten der Amerikaner hatten in SanFranzisko oder in San Diego das Schiff verlas-sen. So gab es weniger Passagiere an Bord.Nach San Diego wurde ein kleines Schwimm-becken aus Segeltuch auf dem Oberdeck auf-gebaut. Paul schwamm in seinen Unterhosen,während ich einen improvisierten Zweiteilertrug, den ich mir aus dem mir geschenkten

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alten Sommerkleid anfertigte. Nach Nicaraguawaren wir bald in Panama. Dort hatte uns meinjunger Cousin, Hans J., ein Zimmer besorgt.Als Mathematiker und Statistiker war er bei derpanamesischen Regierung angestellt, um beider 1940 abgehaltenen Volkszählung zu hel-fen. Unsere Vermieter waren auch Flüchtlingeund unser Zimmer war sehr hübsch. Der obereTeil der Wände war offen, um Luft hindurchzu-lassen - dies waren bereits die Tropen.Vorrangig für uns war es, den amerikanischenKonsul sofort aufzusuchen, damit er unsereVisa nach hierher anfordern konnte, sobald siedurchkamen. Wir hofften, sie würden eintref-fen, bevor unsere vier Wochen lang gültigenTransitvisa ausliefen. Doch es sollte nicht sein.Sieben weitere Wochen vergingen, bis wir end-lich unsere Visa erhielten, den magischenSchlüssel, der die Vereinigten Staaten für unsöffnen sollte.

Während dieser sieben Wochen mussten wirjeden Pfennig zweimal umdrehen, da wir miteinem so langen Aufenthalt nicht gerechnethatten. Glücklicherweise waren die Bananensehr billig und nahrhaft, und man bekam sie inverschiedener Art. Ein Höhepunkt war es, alsuns Hans J. ins Kino einlud, um einen neuenFilm zu sehen,: "Vom Winde verweht".

Ein paar Notizen von Panama: Beim Gangdurch die Stadt sahen wir in der Mitte eineskleinen Parks eine interessante Statue. Ichging um sie herum und rannte fast in eineandere Person, eine amerikanische Damemittleren Alters. Sie begann sofort eineUnterhaltung und innerhalb weniger Minutenkannte ich ihre gesamte Lebensgeschichte.Natürlich war sie auch sehr neugierig, etwasüber uns zu erfahren. Paul sass zeichnend inder Nähe. Ich war überrascht über eine solchintime Unterhaltung mit einer völlig Fremden.Bis heute fällt es mir schwer, mehr als ein paarhöfliche Worte mit Fremden zu wechseln,gewöhnlich über das Wetter.

Nach etwa vier Wochen in Panama gingenunsere finanziellen Reserven zu Ende, weil wirmit einem solch langen Aufenthalt nichtgerechnet hatten. Ich telegrafierte meinemCousin Robert in New York, der für uns bürgteund bat um Hilfe. Die Antwort kam schnell,

auch per Telegramm, aber ich musste damit zueiner Bank gehen, um Bargeld zu bekommen.Eine Bank, in der man Englisch sprach, befandsich an der Seite eines kleinen Platzes mitBänken und spielenden Kindern. Da keinGrund vorlag, dass Paul mit mir kommen mus-ste, nahm ich unsere Pässe mit und ging in dieBank, während es sich Paul auf einer Bankgemütlich machte und spielende Kinder zeich-nete. Ich brauchte am Bankschalter etwa fünf-zehn bis zwanzig Minuten und als ich heraus-kam war Paul verschwunden! Ich umrundeteden ganzen Platz und versuchte mit meinembegrenzten Spanisch, einen Hinweis zu finden- ohne Erfolg. Endlich, endlich sah ich Paul auseiner der Strassen, die in den Platz führte, ander Seite eines Polizisten kommen. Ich liefihnen entgegen, erleichtert und beunruhigtzugleich. Der Polizist sprach kein Englisch,aber eins war klar: wir sollten mit ihm zurWache kommen, wo ein anderer PolizistEnglisch sprach, so dass wir unsere Situationerklären konnten. Der Kern der Sache war: inKriegszeiten wurde die Kanalzone als einesehr verletzliche Stelle betrachtet und einePerson, die zeichnend und ohne Pass im Parksass, war höchst verdächtig, auch wenn erbloss Kinder zeichnete. Mit meinemErscheinen und unseren Pässen war allesschnell geklärt und der englischsprechendePolizist wünschte uns viel Glück, als wir gin-gen.

Dann endlich, nach sieben Wochen desWartens und Hoffens, bekamen wir unsereVisa und fuhren mit dem Zug den Panama-kanal entlang zu dem Schiff, das uns nachNew York bringen sollte. Es war ein sogenann-ter Bananendampfer der United-Fruit-Linie.Die Hauptfracht bestand tatsächlich ausBananen, aber es gab auch ungefähr zwölfPassagiere. Obwohl dies ein Frachtschiff war,zogen sich die Damen zum Abendessen um,und ich hatte das Gefühl, meine Garderobe seivöllig unpassend. Aber wir waren gehobenerStimmung und glücklich, so dass es mir nichtviel ausmachte. Als wir die Freiheitsstatue imFrühnebel auftauchen sahen, war das einMoment voller heftiger Gefühlsregung, und ichweiß, dass ich weinte - ich erinnere mich nichtmehr, was Paul empfand. Als wir anlegten,waren mein Cousin Robert und seine Frau

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Audrey da, und alles ging reibungslos. Es warder 17. November 1940. Sieben Monate vollerUngewissheit, Angst und Hoffnung kamen zueinem Ende.

Unser erstes Jahr in den VereinigtenStaaten

Wenn ich ein guter Geschichtenerzähler wäre,würde ich dieses bestimmt besser hinkriegen,aber ich will es versuchen. Wir kamen im NewYorker Hafen auf einem Bananendampfer vonPanama aus an, wo wir letztlich unsereEinreisevisa für die Vereinigten Staaten erhal-ten hatten. Sie waren weitergeleitet worden,als die Nazis Norwegen besetzten. Dieser 17.November 1940 war ein milder Tag und für unsdas Ende einer sieben Monate langen Reise.Mein amerikanischer Cousin Robert und seineFrau Audrey, die zur Ausstellung der Visa füruns gebürgt hatten, waren am Kai und wir ver-brachten unsere ersten Tage in ihrem gemiete-ten Sommerhäuschen an der Küste von LongIsland. Ein paar unvergessliche Erlebnisse ausdiesen Tagen: Der kleine Hund meinerCousine, Penny, verliebte sich sofort in Paul,was uns umso mehr willkommen hieß. Dernächste Tag war ein richtig heißer Tag des"Indiansummer" und Paul bekam den schlimm-sten Sonnenbrand seines Lebens - und dasam 18. November!

Als nächstes: Audrey wurde von einer Maus inihrer Küche belästigt. Paul, praktisch und ein-fallsreich, bat um einige Glasscherben, die erin das Mäuseloch steckte und es damit festabdichtete. Damit fanden die Mäusebesucheihr Ende. Ich glaube, am nächsten Tag verlie-ßen wir die Insel und zogen in ein möbliertesZimmer, das Robert für uns gemietet hatte. Eslag in einem angenehmen Vorortviertel, inRego Park, wo zu der Zeit viele der neuenEmigranten aus Mitteleuropa lebten. DieUntergrundbahn war nicht weit. Am nächstenMorgen fuhren wir in die Innenstadt, um unsbei einem der Flüchtlingsbüros als Arbeits-suchende registrieren zu lassen. Das war nichtso einfach, weil die Zeit der Wirtschaftsflautenoch immer nicht zu Ende war. Aber dieDirektorin dieses Büros empfahl uns dasAmerican Friends Service Commitee, denn siewusste, dass dort gerade ein Kursus für Leute

in unserer Situation begonnen hatte, dieInteresse hatten, zu unterrichten. Der Direktordieses Kurses war Francis Bosworth, kurz"Boz" genannt. Mit unserer Begegnung amnächsten Tag entwickelte sich eine lebenslan-ge Freundschaft. Boz, der eine besondereAusstrahlung besaß und der überzeugendsteMensch war, den ich jemals traf, hatte esgeschafft, einige seiner Freunde, zumeistCollege-Professoren, zu überreden, in ihrerFreizeit Fächer wie englische Grammatik,amerikanische Geschichte, Literatur und Musikzu unterrichten. Wir trafen uns zweimal in derWoche, glaube ich, und mussten sogarHausaufgaben machen. Außerdem machtenwir Ausflüge zu innerstädtischen Schulen undNiederlassungen.

Die Quäkergemeinde war sehr gastfreundlich.Sie luden die Gruppe zum Kaffee in ihreHäuser ein, wo wir die Möglichkeit hatten,"echte Amerikaner" zu treffen. Bei einem sol-chen Nachmittagskaffee lernte ich eine jungeBildhauerin, Jo Jenks, kennen. Sie bot mir an,ihr Atelier mit mir zu teilen. Als Ausgleich dafürsollte ich ihr beibringen, wie man in Gipsgiesst. Für mich wurde das ein richtigerDurchbruch. Ich habe verschiedene Skulp-turen dort gemacht und hatte die Möglichkeit,ein paar Portraitaufträge auszuführen. Gleich-zeitig begann ich damit, eine Keramikklasse ander Henrystreet-Niederlassung zu unterrichten.Nebenher war ich noch "Putzfrau", einmal inder Woche in der Nachbarschaft, währendPaul damit beschäftigt war, Motive auf hand-geflochtene, aus dem Orient importiertePapierkörbe zu malen. Wir fanden, es sei eineSchande, diese wundervollen Körbe so zu"verschönern", aber sie verkauften sich nichtgut, und der Importeur, der Chef meinesCousins, fand, dass ein farbenfrohes Motiveventuell helfen könnte. Offensichtlich stimmtedas, denn jede Woche bekamen wir eineLadung von etwa hundert Körben zumBemalen. Ich bin überrascht, dass unsereVermieterin nichts gegen diese "Heimarbeit"hatte. Währenddessen verschaffte mir meinePutztätigkeit wichtige Einblicke in das amerika-nische Leben.

Ein Rückblick hierzu: Ich putzte in derWohnung eines Arztes. Beide, er und seine

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Frau, waren italienischer Herkunft und dieDame war hellauf begeistert, als sie erfuhr,dass ich schon Florenz, Venedig, Verona undMailand besucht hatte. Sie war noch niemals inItalien gewesen.

Nun, wenn ich in einem Haus sauber machte,war mir klar, dass auch die Fenster dazugehörten. Eines Tages begann ich also, dieFenster zu reinigen. Das Apartment befandsich im sechsten Stock. Als ich die Fenster voninnen und außen putzte, bemerkte ich verwun-dert in den gegenüberliegenden FensternFrauen, die eine nach der anderen auf michzeigten und miteinander redeten, während ichauf dem Fenstersims hockte und mich weit hin-auslehnend versuchte, alle Ecken der Fensterzu reinigen. Als ich dies am nächsten Tag eineramerikanischen Bekannten erzählte, lachte diesich halbtot: keine Putzfrau in New York putztjemals die Fenster, nicht einmal im Erd-geschoss - im 6. Stock ist es Wahnsinn! DieDame, für die ich arbeitete (für 40 cents dieStunde) hat nie ein Wort darüber verloren, aberdanach habe ich nie wieder ein Fenster für siegeputzt. Nach ein paar Monaten in unseremKursus stellte uns Boz, der sich immer unge-wöhnliche Dinge ausdachte, Mrs. Warburg vor,die Grande-dame der Fifth Avenue. Sie kauftenicht nur ein paar von Pauls Zeichnungen, son-dern lud uns auch zum Tee in ihr Apartmentein. Wir waren so naiv, dass wir das ganz nor-mal fanden, aber als wir eintraten, verschlug esuns bei soviel Eleganz und Reichtum denAtem. Zum Tee reichte ein uniformiertesHausmädchen winzige Sandwiches, manchemit weißem Spargel gefüllt, was mir besondersimponierte.

Die Parties, zu denen wir mit unsererUnterrichtsgruppe normalerweise eingeladenwurden, fanden immer in schön ausgestattetenHäusern mit guten Bildern und grossenKlavieren etc. statt, aber dies war auf einemvöllig anderen Niveau. Bald nach diesemBesuch im Mai war der Kurs beendet und wirkonnten es kaum erwarten, New York zu ver-lassen, um unser richtiges amerikanischesLeben zu beginnen. Wir hatten zwei Möglich-keiten: Ein Angebot, als Ehepaar auf demGrundbesitz eines Professors der Kunst-geschichte von Yale zu arbeiten, oder einer

kleinen Gruppe von Künstlern und Kunsthand-werkern beizutreten, die in einem Heim ineinem kleinen Dorf in Massachusetts lebte, wowir uns auf unsere Kunst konzentrieren konn-ten. Die Arbeit in Connecticut war verlockend,weil wir dort fünfundsiebzig Dollar monatlich(zusammen) verdienen würden, was damalsein Vermögen war, ausserdem Übernachtungund Verpflegung dazu. Es würde ja nur einVersuch sein und jede Seite könnte dieVereinbarung lösen, ohne sich böse zu sein.So nahmen wir diese Arbeit mit der Möglichkeitan, gegebenenfalls auf die andere Optionzurückzukommen.

Wir hatten ein hübsches kleines Apartmentganz für uns allein. Ich sollte kochen und dieKüche versorgen, während Paul draußen tätigsein sollte. Es war eine große Familie: dieEltern, drei erwachsene Kinder, zwei jüngereKinder, eine Gesellschafterin (eine jungeDeutsche, die uns sehr behilflich war) und einschöner Bernhardiner. Eine Putzfrau kammehrmals die Woche, um sauberzumachenund zu waschen, aber für die Küche war ichzuständig. Es war ein weitläufiges altes Land-haus. Die große Küche hatte einen Kohleherdund nur einen kleinen Gaskocher auf demTisch, um Expresso zuzubereiten. Ich mussterasch lernen, auf einem Kohleherd zu kochenund zu backen, das Feuer während der Nachtnicht ausgehen zu lassen, so dass ich es amnächsten Morgen schnell wieder anfachenkonnte. Letztlich war der Frühstückstisch füracht Personen zu decken: mit drei Tellern, zweiGläsern und Tassen und Untertassen für jedePerson. Sehr viel Geschirr! Und der Abwaschnatürlich per Hand mit auf dem Herd erwärm-tem Wasser. Das Mittagessen vollzog sich ein-fach, weil gewöhnlich nur die kleinen Kinder,ein Junge und ein Mädchen, und dieGesellschafterin da waren. Es war ein leichtes,zwangloses Mahl, aber das Abendbrot war eingroßer Akt. Der Professor aß während derersten Abende in seinem Club, bis sich dieDame des Hauses meiner Kochkünste versi-chert hatte. Sie schienen anzukommen - dieFamilie mochte auch mein Gebäck und meinehausgemachten Allerleis. Doch die Außen-arbeiten waren zu anstrengend für Paul, der zuder Zeit sehr schmächtig war, und eigentlichwurde es auch für mich ein bisschen zu viel.

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Nach einem Monat entschieden wir uns des-halb, aufzuhören, und während der nächstenzwei Wochen buk ich so viel, dass jederKekskasten im Haus gefüllt war, bevor wirabreisten.

Eine nachhaltige Erinnerung aus dieser Zeit:An einem unserer freien Tage gingen wir zurKapelle der Yale-University, wo PicassosGemälde "Guernica" vorübergehend unterge-bracht war. Wir hatten das Bild schon 1937gesehen, als die Farbe noch feucht war. Eshing in dem spanischen Pavillon während derWeltausstellung in Paris. Es jetzt zu sehen,während der Krieg in Europa wütete, Parisunter Naziherrschaft geraten war und meineEltern im besetzten Dänemark festsaßen, warbei der Macht dieses Bildes fast zuviel. Späternatürlich sahen wir es in der MONA, und kürz-lich sah ich es erst wieder in Madrid, wohin eszurückgebracht wurde. Jedesmal war es sehrbewegend, aber der Eindruck, den es auf unszu jener Zeit in New Haven gemacht hatte, warüberwältigend. Wir standen von Ehrfurcht undSchauer ergriffen und weinten. Unsere zweiteWahl wurde jetzt Wirklichkeit, als uns ReferentCarl Sangree und seine Frau in Connecticutabholten, um uns nach Cummington, Massa-chusetts zu bringen, wo Dr. Sangree Pfarrerder einzigen Kirche des Ortes und der umlie-genden Bauernhöfe war - einer kleinen weiß-getünchten Gemeindekirche. Wir sollten indem Flüchtlingsheim leben, das die Sangreesgegründet hatten. Eine Stiftung, die aus einemschönen alten Haus bestand, Wohnung undArbeitsplatz für sieben bis acht Künstler undKunsthandwerker, alles Flüchtlinge aus Mittel-europa.

Soweit ich mich erinnern kann, waren zweiEhepaare aus Wien und ein Mann ausDeutschland unsere Mitbewohner in dem klei-nen roten Haus. Neben unseren Schlafzim-mern erhielten wir eine geräumige Scheune alsAtelier mit einem bauchigen mit Holz beheizba-ren Ofen. Da es noch Juni war, begannen Paulund ich, einen Gemüsegarten anzulegen, umuns mit Nahrung zu versorgen. Das Heimwurde vom Gemeindekomitee der Kircheunterstützt und die Hausarbeit zwischen denMitbewohnern aufgeteilt. Aber unser Haupt-bestreben galt unserem künstlerischen

Schaffen. Paul und ich arbeiteten mit großerIntensität. Es war, als würden wir von einerangestauten kreativen Kraft getrieben. Bis zumHerbst entstanden genug Werke, so dass wiran eine Ausstellung dachten. Karl Sangree warzwar nur der Pfarrer einer kleinen Landkirche,aber seine Interessen und Ambitionen gingenweit darüber hinaus. Er war wahrscheinlichkeine zehn Jahre älter als Paul, weit gereist, anjeder Art Kunst interessiert und mehr Lehrer alsPrediger. Er bemühte sich mit viel Geschickdarum, die Künstler in unserem Heim zu för-dern und ermöglichte mir und Paul unsereerste Ausstellung in diesem Land. Das warAnfang Dezember im Berkshire Museum inPittsfield, Massachusetts.

Einige Notizen aus dieser Zeit: Paul hatte ver-schiedene private Schüler und wurde danngefragt, ob er nicht alle Malklassen an der"Cummington School in the Hills", einer beach-teten Sommerakademie, übernehmen wolle.Diese Schule existiert noch heute alsKunstanstalt.

Ich verdiente mir etwas Taschengeld imSeptember beim Äpfelpflücken in einer dergroßen Plantagen. Eines Tages traf ich einejunge Frau auf der Strasse, die ich ganz gutkannte. Am Tag zuvor war ich gefragt worden,ob ich zu ihrem "bridal shower" (wörtlich:Brautdusche) kommen wollte. Ich wusste nichtgenau, was "shower" bedeuten sollte, aber mirwurde gesagt, ich müsse ein kleines Geschenkmitbringen (ich glaube, ich suchte ein kleinesBild von Paul aus). Als ich sie also traf, sagteich ihr, dass ich mich freuen würde, sie amnächsten Tage bei ihrem "shower" zu sehen.Sie errötete vor Verlegenheit, legte ihrenFinger auf die Lippen und sagte: "Bitte sageniemandem, dass Du mir das wegen der "sho-wer" gesagt hast. Das soll eine Überraschungsein und es würde den Anderen den Spaß ver-derben, wenn ich nicht völlig überrascht seinwürde." Ich hatte nie zuvor von einer Überra-schungsparty gehört. So war dies eine weitereLektion in "Americana".

In einer kalten regnerischen Novembernachthörten wir gegen drei Uhr morgens draußengroßen Tumult, dann den Ruf "Feuer, Feuer"und ein Klopfen an der Tür. "Alle gesunden

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Männer zur Hilfe in die Feuerbrigade" (Es gabnoch keine Feuerspritze zu der Zeit; ich hörte,jetzt haben sie eine). Paul, der Jüngste aus derHerbergsgruppe, zog sich schnell so warm wiemöglich an und rannte los. Das Feuer war aufeinem der Höfe in den Hügeln ausgebrochen,und die Scheune brannte völlig nieder. DieTiere und das Haupthaus konnten aber geret-tet werden. Nach vielen Stunden kam Pauldurchnässt und kalt nach Hause. An diesemTag sprachen mich Leute an, wo immer ich hinging, um mir zu erzählen, wie wundervoll sichPaul verhalten habe. Wie er den Löscheinsatzorganisierte, wobei die Wassereimer von Handzu Hand gereicht wurden, und wie unermüdlicher gearbeitet habe, völlig durchnässt durch denRegen und das überschwappende Wasser. "Erwar der Beste von all den Männern."

Dann kam "Thanksgiving", der amerikanisch-ste aller Festtage. Dies war schon unser zwei-tes Fest. Im Jahr zuvor waren wir nur zehnTage vorher in New York angekommen, unddie jüngere Schwester meines Cousins Roberthatte uns in ihr kleines Junggesellinnen-Apartment eingeladen. Sie reichte damalsHühnerschenkel mit Preißelbeer-Sauce und eswar ein unvergessliches Festessen! Jetzt, inCummington, war die ganze Heimgruppe beiden Sangrees eingeladen, und Paul und ichprobierten zum ersten Mal Truthahn. Natürlichhaben wir drei Heimbewohnerfrauen auch jedeetwas gekocht oder gebacken, um sie denguten Dingen auf dem Tisch hinzuzufügen.Zum nächsten Thanksgiving luden wir dieSangrees in unser Heim und 1943 waren Paulund ich schon nach Philadelphia gezogen, uman der Friend's Neighborhood Guild zu unter-richten. Aber jetzt war es noch 1941 und wirarbeiteten fieberhaft an den letzten Vorberei-tungen für unsere Ausstellung, die am Freitag,dem 5. Dezember, eröffnet werden sollte. Wirwurden rechtzeitig fertig, und die Ausstellungwurde im Berkshire Museum eröffnet, nur einJahr und drei Wochen nach unserer Ankunft inden USA. Für uns war dies ein großerAugenblick. Es kamen viele Leute zurEröffnung. Die Zeitungen brachten einen lan-gen Artikel (ich habe noch heute einenAusschnitt davon), und eine ganze Mengewurde bereits verkauft. Die Resonanz war weitgrößer als unsere Erwartungen! Aber zwei

Tage später, am 7. Dezember, kam die nieder-schmetternde Nachricht von Pearl Harbour.Die Vereinigten Staaten waren im Krieg undüber Nacht wurden wir das, was man offiziellals "feindliche Ausländer" bezeichnete.

In den Berkshires

Am 17 . November 1940, kamen mein MannPaul und ich nach einer sieben Monate wäh-renden Reise in New York an. Wir lebten da biszum Mai 1941 und hatten verschiedene Jobsund besuchten einen Kursus der durch dasAFSC angeboten wurde, geleitet von FrancisBosworth ("Boz," Foulkeways 1975-1983), fürFlüchtlinge aus Europa, meist Schauspielerund Musiker die am Unterrichten interessiertwaren. Nach dem Kursus nahmen wir im Maieine Einladung von Dr. Carl Sangree an, um ineinem Wohnheim für geflüchtete Künstler undKunsthandwerker in Cummington, einer klei-nen Stadt in den Berkshires zu leben und zuarbeiten. Dieses Wohnheim war die Erfindungvon Dr. Sangree und seiner Frau, die ihr"Kleines Rotes Haus." zur Verfügung gestellthatte. Dr.Sangree war der Pfarrer der einzigenKirche dort, Congregational, einem kleinemweissen hölzernen Gebäude.

In dem Wohnheim trafen wir zwei Paare ausWien und einen Journalisten aus Frankfurt,Holzdrechsler. Die grosse rückwärtigeScheune sollte unser Atelier sein. Es war einwunderbarer Ort mit einem Kanonenofen, sehrwichtig in jenen kalten, langen BerkshireWintern. Aber jetzt war es Anfang Juni undPaul und ich legten einen Gemüsegarten aufdem Grundstück zwischen dem Haus undunserem Atelier an. Jeder tat seine schöpferi-sche Arbeit und bei der Reinigung und demKochen beteiligten sich alle Bewohner. Paulund ich arbeiteten mit großer Begeisterung indieser günstigen Umgebung. Paul hatte einigePrivat-Studenten und bald wurde er gefragt,Malen an den "Playhouse in the Hills" zu leh-ren, einer Sommer-Akademie, die von einemMusiklehrer vom nahegelegenem SmithCollege gegründet wurde. Früh im September,verdienten ich und ein anderer Bewohner einTaschengeld mit dem Pflücken von Äpfeln ineinem großen Obstgarten. Später imSeptember erlebten wir unseren ersten Land-

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Jahrmarkt. Obwohl klein, hatte Cummingtonbekannte Jahrmärkte auf ungeheuerenMessegeländen. Es gab Pferde-, Kuh- undSchweine-Auktionen und Wettkampf-Veran-staltungen. Und, natürlich, selbstgemachteKonfitüre, Kuchen und gehäkelte Teppiche.Paul malte viele Bilder von dieser farbenpräch-tigen Szenerie. Bald nach dem Jahrmarktwurde es kälter.

Einmal während einer sehr kalten, regneri-schen Nacht wurden wir von aufgeregtemGeschrei draußen um 3 Uhr morgens aufge-weckt "Feuer, Feuer - alle tauglichen Männerkommen mit uns!" Paul bekleidete sich schnellso warm wie möglich und lief mit der Gruppe,um den gefährdeten Bauernhof auf einemnahegelegenen Hügel zu retten. Stunden spä-ter kehrte er durchfroren und durchnässt durchden Regen und das Löschwasser zurück. Esgab damals keinen Löschwagen. (Jetzt habensie einen.) Am nächsten Tag hielten mich Leuteauf der Strasse an, um mir zu erzählen , wiewunderbar Paul beim Organisieren derWassereimer gewesen sei, um sie reibungslosvon Hand zu Hand zu reichen, und wie schneller war. Die Tiere wurden alle gerettet und dasHaupthaus auch -- nur die Scheune brannteab. Danach waren wir tatsächlich in derGemeinde akzeptiert.

Dann kam Thanksgiving, der amerikanischstenaller Feiertage. Alle Bewohner wurden von denSangrees' eingeladen. Paul und ich genossenunseren ersten Puter mit Preißelbeer-Sosseund allen Garnierungen. Natürlich brachten wirdrei Wohnheim-Frauen einige selbstgemachteNachtische. Und im nächsten Jahr luden wirdie Sangrees ins"Kleine Rote Haus"ein. EinigeJahre später waren wir fähig, Studenten zuThanksgiving in unser Haus bei Chikago einzu-laden.

Während des Sommers und Herbstes hattenwir mit großer Hingebung in unserem Ateliergearbeitet und hatten genug Werke für eineAusstellung geschaffen. Dr. Sangree mag nurein Land-Pfarrer mit einer kleinen Kirche gewe-sen sein, aber er war weit gereist und hattegroßes Kunstinteresse. Er war auch sehr über-zeugend und erfolgreich in Fördern derBewohner. Er arrangierte eine Ausstellung für

Paul und mich am Berkshire Museum inPittsfield. Wir arbeiteten praktisch Tag undNacht (Rahmen anfertige, usw.), und waren inder Lage, die Ausstellung rechtzeitig für dieÖffnung am 5. Dezember 1941 zu hängen. DieVernissage verlief überraschend gut. VieleArbeiten wurden verkauft und die Zeitungschrieb einen langen Artikel.

Aber dann, am Sonntag, dem 7. Dezember,kam die verheerende Nachricht von Pearl-Harbor und die Vereinigten Staaten waren imKrieg. Das machte uns zu "feindlichenAusländern", weil wir noch nicht US-Bürgerwaren und deutsche Pässe besaßen, wenn wirauch Europa wegen Hitler verlassen hatten.Aber unsere Cummington Freunde standenden Bewohnern bei, und unser Leben dortkonnte in Harmonie fortgesetzt werden.

Einmal gab es eine besonders starkeKältewelle und unsere Wasserrohre froren ein.Es gab keinen Keller unter dem Haus, nureinen Kriechraum , wo die zugefrorenen Rohreher liefen. Dr. Sangree, Paul und ich (die jüng-ste und wendigste), kletterten hinunter um zuversuchen, die Rohre zu entfrosten. Wirbenutzten flache Bügeleisen (noch keine elek-trischen). Die wurden auf dem Ofen erhitztund man gab sie an uns weiter. Ich konntenahe an die Rohre herankriechen und mit denheißen Eisen, die man mir eins nach demanderen reichte, funktionierte es. Als die Rohrefreigelegt waren, schichteten alle fleißigenMänner Strohpacken um das Haus, so dass soetwas nicht wieder geschehen würde.

Während eines Sommers zogen wir in einekleine Hütte um, die man das "Honig Haus"nannte, weil dort Ahorn-Zucker hergestelltwurde. Sie gehörte einem Fräulein A., dieSommer-Gäste in ihrem großen Haus auf-nahm. Wir hatten eine Kerosin-Lampe für dieBeleuchtung und einen Kerosin-Ofen zumKochen. Das Trinkwasser mussten wir uns ausdem großen Haus holen. Auf unserer hinterenVeranda stand eine große Wanne umRegenwasser zum Waschen aufzufangen.Mehrmals nahm uns Fräulein A. zumHeidelbeerenpflücken in ihrem Ford Modell Tmit.. Sie brachte uns zu einem Hang voll vonHeidelbeer-Büschen, von denen es drei Arten

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gab: einige wuchsen tief am Boden, die zwei-te Art war ungefähr zwei Fuß hoch und die letz-ten waren fünf bis sechs Fuß hoch. Wir kann-ten bislang nur die bodenwüchsige Art.Jedesmal kehrten wir mit einer reichen Erntezurück.

Wegen der fehlenden Elektrizität in unseremHonig-Haus, buddelten wir an einer schattigenStelle ein Loch und gruben eine Kaffeekannedarin ein, in der wir kleinere Essensvorrätekühl halten konnten. Paul hatte ein altesFahrrad entdeckt. Das machte es leichter fürihn, seine Klassen an der Schule auf demgegenüberliegenden Hügel zu erreichen, auchwenn er es steil bergan schieben musste. ImTal war ein kleiner Fluß wo man vor früherenJahren Schleifsteine hergestellt hatte. Dortfand ich einige sehr gute Wetzsteine zumSchärfen meiner Bildhauer-Werkzeuge (undunserer Messer).

Einige Sommer-Gäste kamen jedes Jahr wie-der, und wir freundeten uns mit einer Familieaus Pottstown, Pennsylvania, an. Ihre zwölf-jährige Tochter kam oft in unser Atelier, weil sieauch gern malte. Sie brachte immer ihre Katzemit, eine goldene Perserkatze, die in jedemSommer Junge bekam. Wir verliebten uns ineines von ihnen mit langem seidenem Haarund einem goldenen Streifen auf dem Rücken.Sobald sie entwöhnt war, kam sie zu uns.Während wir in dem Honig-Haus lebten, lerntesie, auf die Bäume zu klettern. Sie liebte es,draußen zu sein, aber wir mussten auf sie auf-passen, weil uns ein Fuchs regelmäßig seineBesuche abstattete. Chucky war noch einBaby und wäre für ihn sicher ein wohlschmek-kendes Mahl gewesen. Als wir umzogen kamsie natürlich mit und lebte 16 ½. Jahre mit uns.

Das Dorf hatte nur einen kleinen Laden, derauch als Postamt diente. Es gab dort aber nurTrockenlebensmittel und Konserven, keine fri-schen Waren. Für solche mussten wir bis nachPittsfield, 25 Meilen weit, fahren. Wegen desKrieges, bekamen nur Geistliche, Ärzte undHandwerker genug Sprit für ihre Wagen.Immer wenn Dr. Sangree einkaufen fuhr, nahmer einen unserer Mitbewohner mit. Das war einVergnügen und wir wechselten uns ab. EineSommernacht wurden wir nach Tanglewood

eingeladen , wo wir die Bostoner Symphonikerhörten, die von Kousevitzki dirigiert wurden.

Unseren letzten Winter in den Berkshires ver-lebten wir in Pittsfield, wo wir in der Garagevon Freunden wohnen konnten, die durcheinen großen Öl-Ofen geheizt wurde. Paulsammelte die Sonntagszeitungen für seineAgentur und ich war ein Halbtags-Kindermädchen für ihre drei Kinder. Außerdemunterrichteten wir mehrere Klassen desMuseums. Im Herbst von 1943, fragte uns Boz,mit dem wir in engem Kontakt gebliebenwaren, ob wir bereit seien, eine Kunst-Abteilung an der Friends' Neighborhood Guildin Philadelphia aufzubauen. Das war einegroßartige Gelegenheit und wir nahmen freu-dig an, obgleich wir die Berkshires auch mitBedauern verließen. Aber viele Bilder undSkulpturen (und Chucky) hielten dieErinnerung wach.