Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 61 nach Christus

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152 | Jahre des Übergangs I (59–61) | 61 nach Christus Der große Aufstand in Britannien unter Boudicca (60/61) 122. Die Statthalter Aulus Didius und Quintus Veranius – Neros Gedanken an eine Aufgabe der Provinz Das Jahr stand ganz im Zeichen des großen Aufstands britannischer Stämme, in dessen Verlauf die römischen Truppen eine empfindliche Niederlage erlitten. Nach der raschen Eroberung Südwestbritanniens unter Claudius im Jahre 43 hatte die römische Administra- tion begonnen, die provinzialen Einrichtungen auszubauen – Legionsstützpunkte, Procura- tur mit Einnahme der geforderten Abgaben, Ausbeutung von Zinn- und Blei/Silberminen, Straßenbau, in Camulodunum den Herrscherkult des Claudius mit Veteranencolonie. Bei alldem half die Zwietracht der britannischen Stämme. 1 Der Legat Aulus Didius (52–57) hatte lediglich die römischen Gebiete Südwestbritanniens gehalten. Sein Nachfolger Quin- tus Veranius (57–58/59) 2 verfolgte eine expansive Vorgehensweise. Die Truppen verheerten jedoch in unbedeutenden Streifzügen nur das Gebiet der Siluren. Sein Tod in der Provinz 3 führte dazu, daß der Krieg nicht weiter geführt werden konnte. Solange er lebte, stand er im Ruf strenger Rechtlichkeit. In seinem Testament zeigte er allerdings niedrige Ehrsucht. Den vielen Schmeicheleien gegen Nero fügte er nämlich noch bei, daß er die gesamte Provinz ihm unterworfen hätte, wären ihm noch zwei Lebensjahre vergönnt gewesen. 4 Nero soll während seiner Regierung an die Aufgabe der Provinz Britannien gedacht haben, doch bleibt ungewiß, ob und wann er diese Überlegungen wirklich anstellte. 5 Wenn diese Nachricht der Wahrheit entspricht, so käme dafür die Zeit des großen Aufstands in Frage. Es ist aber auch möglich, daß ihn die bevorstehende Auseinandersetzung um Arme- nien seit 54/55 besorgt machte. Er scheute sich indes damals wie auch noch später, vermut- lich hingewiesen von Burrus auf die pietas, die er Claudius schulde, eine solche Entschei- dung zu treffen. 6 1 Die wesentlichen geschichtlichen Berichte bei Cass.Dio. 60.19ff.; Suet.Claud.17; Tac.ann.12.31ff. 2 Sein Vater diente im Militärstab des Germanicus (Tac.ann.2.56), seine Tochter heiratete Lucius Cal- purnius Piso Frugi Licinianus, den Galba später für seine Nachfolge adoptierte (CIL VI 31723 = ILS 240; Tac.hist.1.47f.; Plut.Galba 28; Plin.ep.2.20.1) 3 CIL VI 41075 = AE 1953, Nr. 251 4 Tac.ann.14.29.1; Tac.Agr.14.3 5 Suet.Nero 18: das scheint auch Tac.Agr.31.4 anzudeuten. 6 So auch Schiller, Nero, S. 419, Anm. 1; Bradley, Nero, S. 110–13 Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/7/14 3:55 PM

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152 | Jahre des Übergangs I (59–61)

| 61 nach Christus

Der große Aufstand in Britannien unter Boudicca (60/61)

122. Die Statthalter Aulus Didius und Quintus Veranius – Neros Gedanken an eine Aufgabe der Provinz

Das Jahr stand ganz im Zeichen des großen Aufstands britannischer Stämme, in dessen Verlauf die römischen Truppen eine empfindliche Niederlage erlitten. Nach der raschen Eroberung Südwestbritanniens unter Claudius im Jahre 43 hatte die römische Administra-tion begonnen, die provinzialen Einrichtungen auszubauen – Legionsstützpunkte, Procura-tur mit Einnahme der geforderten Abgaben, Ausbeutung von Zinn- und Blei/Silberminen, Straßenbau, in Camulodunum den Herrscherkult des Claudius mit Veteranencolonie. Bei alldem half die Zwietracht der britannischen Stämme.1 Der Legat Aulus Didius (52–57) hatte lediglich die römischen Gebiete Südwestbritanniens gehalten. Sein Nachfolger Quin-tus Veranius (57–58/59)2 verfolgte eine expansive Vorgehensweise. Die Truppen verheerten jedoch in unbedeutenden Streifzügen nur das Gebiet der Siluren. Sein Tod in der Provinz3 führte dazu, daß der Krieg nicht weiter geführt werden konnte. Solange er lebte, stand er im Ruf strenger Rechtlichkeit. In seinem Testament zeigte er allerdings niedrige Ehrsucht. Den vielen Schmeicheleien gegen Nero fügte er nämlich noch bei, daß er die gesamte Provinz ihm unterworfen hätte, wären ihm noch zwei Lebensjahre vergönnt gewesen.4

Nero soll während seiner Regierung an die Aufgabe der Provinz Britannien gedacht haben, doch bleibt ungewiß, ob und wann er diese Überlegungen wirklich anstellte.5 Wenn diese Nachricht der Wahrheit entspricht, so käme dafür die Zeit des großen Aufstands in Frage. Es ist aber auch möglich, daß ihn die bevorstehende Auseinandersetzung um Arme-nien seit 54/55 besorgt machte. Er scheute sich indes damals wie auch noch später, vermut-lich hingewiesen von Burrus auf die pietas, die er Claudius schulde, eine solche Entschei-dung zu treffen.6

1 Die wesentlichen geschichtlichen Berichte bei Cass.Dio. 60.19ff.; Suet.Claud.17; Tac.ann.12.31ff.2 Sein Vater diente im Militärstab des Germanicus (Tac.ann.2.56), seine Tochter heiratete Lucius Cal-

purnius Piso Frugi Licinianus, den Galba später für seine Nachfolge adoptierte (CIL VI 31723 = ILS 240; Tac.hist.1.47f.; Plut.Galba 28; Plin.ep.2.20.1)

3 CIL VI 41075 = AE 1953, Nr. 2514 Tac.ann.14.29.1; Tac.Agr.14.35 Suet.Nero 18: das scheint auch Tac.Agr.31.4 anzudeuten.6 So auch Schiller, Nero, S. 419, Anm. 1; Bradley, Nero, S. 110–13

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123. Die Statthalterschaft des Suetonius Paulinus und die Eroberung der Insel Mona

Suetonius Paulinus folgte Veranius als Befehlshaber der Legionen in Britannien (58/59–61).7 Nicht nur der öffentlichen Meinung, sondern auch seiner Erfahrung nach war er dem Corbulo ebenbürtig. Er hatte bereits 41–42 erfolgreich in Mauretanien befehligt,8 war darauf irgendwann Consul geworden und strebte jetzt danach, dem Ruhm Corbulos in Armenien durch die Unterwerfung der aufrührerischen Stämme Britanniens gleich-zukommen. Deshalb entschloß er sich, die Insel Mona (heute Anglesey vor der Nord-westküste von Wales gelegen), einen stark bevölkerten Zufluchtsort für alle Gegner der römischen Herrschaft, anzugreifen.9 Er ließ für die seichten und unsicheren Gewässer Schiffe mit flachem Kiel bauen. Auf ihnen setzte das Fußvolk über. Die Reiter aber gin-gen an einer Furt hinüber oder schwammen neben ihren Pferden her durch die tieferen Stellen.10 Am Gestade stand bereits die feindliche Schlachtreihe, die Menge der bewaff-neten Männer. Auch Frauen liefen hin und her. Sie waren mit schwarzen Gewändern bekleidet, hatten aufgelöstes Haar und trugen Fackeln. Unter der Ansammlung waren schließlich auch Druiden, die keltischen Priester der Britannier – überwiegend Männer, aber auch Frauen, die um die unerklärlichen Dinge wußten und den Verkehr mit den hö-heren Mächten besorgten.11 Sie waren der geistliche und geistige Rückhalt für diejenige britannische Stammeswelt, die sich der römischen Fremdherrschaft nicht fügen wollte. Die Priester reckten die Hände zum Himmel empor und stießen schreckliche Verwün-schungen aus. Dieser ungewohnte Anblick brachte die Soldaten so in Verwirrung, daß sie zunächst wie gelähmt zurück wichen. Suetonius aber feuerte sie an und bald ermahnten sie sich auch gegenseitig zum Mut: man solle doch nicht vor einer Schar von Weibern und verzückten Schwärmern erzittern. Damit rückten sie vor, griffen sie an, schlugen die Gegner zu Boden und trieben sie ins Feuer ihrer Fackeln. Später erhielten die Inselbe-wohner eine Besatzung, und die heiligen Haine, in denen nach keltischem Brauch auch Menschenopfer abgehalten wurden, und die grauenerregenden Kulthandlungen dienten, wurden zerstört.12

7 Tac.Agr.14.3 8 Plin.nat.hist.5.11; 14f.; Cass.Dio 60.9.1–5 9 Nach Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 82 soll dem ein Auftrag Senecas und Burrus’ vorausgegangen

sein; aus diesem Grunde sei es auch nicht richtig, wie Suet.Nero 18, von einer beabsichtigten Aufgabe der Insel zu sprechen. Einen Auftrag an Suetonius anzunehmen ist indes abwegig, weil er als Statthal-ter in eigener Verantwortung für die Sicherheit der Provinz zu sorgen hatte (s. auch Flaig, Usurpation, S. 264, Anm. 32). Hierbei handelte es sich um eine „Polizeiaktion“ gegen Widersetzliche. Cassius Dio 62.2.1 oder seine Quelle geben Seneca wegen seiner Geldspekulationen in Britannien eine Mitschuld am Aufstand, doch ist das so einfach, wie es ausgedrückt ist, nicht glaubwürdig.

10 Tac.ann.14.29.2f.11 Caes.bell.Gall.6.11–13; Diod.5.31.2; Strabo 4.4.3ff.(197f.); Pomp.Mela 3.18f.12 Tac.ann.14.29f.; Agr.14.3; 18.3; Cass.Dio 62.7.1; 8.1.

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124. Beginn des Aufstands bei den Icenern und der Königin Boudicca

Während Suetonius noch mit den Maßnahmen nach dem Siege beschäftigt war, wird ihm plötzlich der Abfall der gesamten Provinz Britannien gemeldet. Was sich nun ereignete, gefährdete die römische Herrschaft über Britannien in ihren Grundfesten.13

Prasutagus, der römische Clientelkönig der Icener, seit langem schon wohlhabend und berühmt, hatte den Kaiser neben seinen beiden Töchtern zum Erben eingesetzt, nicht indes seine Ehefrau Boudicca, vielleicht weil ihr die römische Herrschaft mißfiel. Prasutagus glaubte, sein Herrschaftsgebiet und seine Familie durch eine solche Erge-benheit für die Zeit nach seinem Tode gegen Gewalttat sicherzustellen. Es trat aber das Gegenteil ein: Sogleich nach seinem Ableben wurde sein Land von Centurionen, sein Herrschaftssitz von den beauftragten Sklaven des Procurators wie nach einer Eroberung geplündert. Seine Ehefrau Boudicca mißhandelte man, seine Töchter wurden vergewal-tigt. Die vornehmsten Icener beraubte man ihrer Erbgüter und die Verwandten des Kö-nigs behandelte man wie Sklaven.14 Infolge dieser schmachvollen Behandlung und der Furcht vor noch ärgeren Bedrückungen greifen die Icener, die man hierdurch zu rechtlo-sen Provinzialen gemacht hatte, zu den Waffen und bewegen auch die südlich von ihnen siedelnden Trinobanten zum bewaffneten Aufstand.15 Hinzu treten diejenigen Stämme, die sich, durch die Knechtschaft noch nicht gebrochen, heimlich verschworen hatten, für die Befreiung ihrer Heimat zu kämpfen. So sammeln Boudicca mit ihrem Ansehen und ihre icenischen Stammesgenossen innerhalb der nächsten Wochen ein aufständisches Heer, das schließlich etwa 120.000  Streiter umfaßt haben soll. Sie waren dabei umso erfolgreicher, als Suetonius mit den römischen Truppen, wie geschildert, in einem entle-genen Teil der Provinz beschäftigt war.16

13 So deutlich Tac.Agr.5.2. Zum Aufstand Tac.ann.14.31ff. Agr.15–16.2 und Cass.Dio 62.1–12. Der Wert der Quellen und ihrer Grundlagen in den verlorenen Berichten wird sehr abweichend beurteilt, dazu im einzelnen Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 84f.

Die ausführlichsten Schilderungen bei Tacitus und Dio (dieser aber nur im Auszug des Xiphilinos) geben im großen und ganzen den Verlauf übereinstimmend wieder – bei Tacitus inhaltsreicher und folgerichtiger, in dem verkürzten Text Dios sprunghafter, jedoch mit ergänzenden Einzelheiten, die Tacitus nicht hat (so etwa 62.2: die Anlässe für den Ausbruch des Zorns der Britannier; oder 62.8.1 Motiv des Suetonius für den Entschluß zur Entscheidungsschlacht). Die langatmigen fiktiven An-sprachen (62.3–6 und 9–11) haben in der Überlieferung Dios keinen Raum gelassen für genauere Nachrichten zu den Überlegungen der Beteiligten und die Vorgänge mit ihren Örtlichkeiten im einzelnen. Auch der Bericht des Tacitus zeigt trotz der ausreichenden Nachvollziehbarkeit der für das Verständnis wesentlichen Vorgänge, wie schwer es dem Historiker gefallen sein muß, angesichts unzureichender offizieller Berichte eine geschichtlich zutreffende Schilderung zu geben.

14 Während Tac.Agr.15.2 diese Übergriffe nur angedeutet, sind sie bei Cass.Dio 62.2.1 gänzlich ausge-lassen.

15 Möglicherweise fallen die genannten Ereignisse wie auch die Eroberung von Mona noch in das Jahr 60.

16 Tac.Agr.15.5; Boudicca und das Heer Cass.Dio 62.2.2ff.; Tac.Agr.16.1

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125. Skizze der Stimmungslage – Lage und Fall von Camulodunum – Niederlage einer römischen Legion

Diese Vorgänge waren die Folge einer starken Inanspruchnahme der Bevölkerung zum Er-zielen von Gewinnen und Rendite und des schwerwiegenden Eingriffs in das britannische Stammesleben. Das mühselige, mal mehr, mal weniger ruhige Leben und Treiben der bri-tannischen Stammeswelt war mit der Fremdherrschaft vorüber. Man hatte überwiegend für fremde Gewinninteressen zu arbeiten, ohne daß die Mechanismen von Investitionen und Gewinnerwartungen im einzelnen bekannt sind. Der Unmut hatte sich örtlich unterschied-lich über Jahre hinweg gesteigert und kam nun mit einemmal gegen die Römer und ihre Clienten zum Ausbruch.17 Alle einte vor allem der Zorn gegen die unnachsichtige Eintrei-bung auferlegter Abgaben und Frondienste.18 Diese skizzierten Zustände und Stimmungen waren, auch nach dem unverdächtigen Urteil Tacitus’, das Ergebnis politischer Ignoranz und der Habgier und zeigen auf ihre Weise das Versagen der römischen Provinzialverwal-tung im frühen römischen Britannien. Inwieweit Rückzahlungsforderungen des römischen Procurators Catus Decianus gegen britannische Clientelhäuptlinge zu der Erhebung bei-trugen, ist unbestimmt.19 Diese Zahlungen hatte angeblich einst Claudius geleistet. Zusätz-lich aber erbitterte die Britannier noch die Rücksichtslosigkeit der römischen Veteranen. Diese waren erst seit einigen Jahren in Camulodunum (Colchester) angesiedelt worden. Entweder im Zuge der bereits ausgebrochenen Unruhen, oder zu ihrer Verstärkung trieben sie jetzt in zuchtloser Verwegenheit wie Räuber die einheimischen Einwohner aus ihren Häusern, verjagten sie von ihren ländlichen Besitzungen und nannten sie Kriegsgefangene und Sklaven. Die römischen Soldaten begünstigten noch das zügel- und gesetzlose Treiben der Veteranen, weil sie ein ähnliches Leben wie diese führten. Zudem sahen die Britannier den Tempel, den man dem Claudius dort noch zu seinen Lebzeiten errichtet hatte,20 wie eine Zwingburg dauerhafter Tyrannei an. Denn die für Claudius‘ Kult bestellten Priester, selbst einheimische britannische Führer, rafften für ihren aufwendigen Ehrendienst21 unter dem Vorwand religiöser Pflichten mehr zusammen als ihnen zustand und beteiligten sich so an der römischen Ausbeutung ihrer Stammesgenossen. Den Aufständischen erschien es auch nicht allzu schwierig, die Colonie zu zerstören, weil sie nicht mit Befestigungswerken umgeben war. Dafür war infolge der Nachlässigkeit der römischen Führer nicht gesorgt

17 Zum Beispiel Erschließung der Zinngruben im westlichen Britannien (Brodersen, Römisches Britan-nien, S. 75f.) ; ferner kaiserliche Ziegelei bei Calleva (Silchester) (Eph.Epigr. IX 1267). Ein Nachhall in der fiktiven Rede Boudiccas bei Cass.Dio 62.4.2.

18 Tac.Agr.15.3; s. auch die fiktive Rede Boudiccas Cass.Dio 62.3.2f. Daß sich hier Seneca besonders hervorgetan haben soll, ist wenig glaubwürdig und wird – wie oben gesagt – nur in der senecafeindli-chen Quelle, aus welcher Cassius Dio wiederholt geschöpft hat, ausdrücklich behauptet.

19 Cass.Dio 62.2.1 nennt die Maßnahmen des Decianus und Senecas „Wuchergeschäfte“ als Auslöser des Aufstandes. Tacitus‘ Bericht wirkt demgegenüber seriöser. Im übrigen treffen sie sich in der Schil-derung des Vorgehens gegen den Nachlaß des Prasutagus, bei dem ebenfalls beauftragte Sklaven des Procurators erwähnt werden. Möglicherweise sind die Vorgänge im Zusammenhang mit den bei Dio genannten Rückforderungen zu sehen.

20 Sen.Apocol.8.321 Epikt.Diatr.1.19.26

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worden, weil man eher auf Annehmlichkeit als auf die Sicherheit Bedacht nahm. Man hielt die Verhältnisse für befriedet, weil man die eigentliche Stimmung der britannischen Bevöl-kerung nicht kannte oder sich darum nicht kümmerte.22

Unterdessen fiel in Camulodunum das Standbild der Siegesgöttin Victoria ohne er-sichtlichen Grund um, und zwar nach rückwärts, so als weiche es vor Feinden zurück.23 Frauen weissagten daraus, den Römern stehe der Untergang bevor. Und noch manchen anderen Erscheinungen glaubte man das zukünftige Geschehen zum Nachteil der Besat-zungsmacht entnehmen zu können. Das alles machte die Britannier ebenso zuversichtlich wie die Veteranen ängstlich. Weil aber Suetonius fern war, erbaten sie vom Procurator Ca-tus Decianus Hilfe. Dieser schickte aber nur 200 Mann, die unzureichend bewaffnet wa-ren. Und in Camulodunum lag nur eine unbedeutende Besatzung. Im Vertrauen auf den Schutz des Tempels und an weiteren Maßnahmen von den Leuten gehindert, die als ge-heime Mitwisser des Aufstands alle Gegenmaßnahmen zu hintertreiben suchten, hatte man weder Wall noch Graben gezogen. Niemand regte an, Frauen und ältere Leute abzuziehen, so daß nur eine kampffähige Mannschaft zurückgeblieben wäre. Mehr sorglos und ohne Auskundschaftung ließ man sich von den entschlossenen britannischen Aufständischen einschließen. Auf ein plötzliches Zeichen hin wurde alles im ersten Ansturm genommen, geplündert und in Brand gesteckt. Die Spuren und Folgen des Brandes und der weiteren Zerstörungen sind auch archäologisch nachgewiesen.24 Allein der Tempel hielt sich noch, weil sich dort die Soldaten zur Wehr verschanzt hatten. Nach zweitägiger Belagerung aber wurde auch er erstürmt. Darauf zogen die siegreichen Britannier der IX. Legion unter Füh-rung des Legaten Petilius Cerialis,25 der zum Entsatz herbeigeeilt war, entgegen, schlugen sie in die Flucht und machen das gesamte Fußvolk nieder. Cerialis entkam mit der Reiterei ins Lager und fand in den Festungswerken Schutz. Wahrscheinlich wurde auch dieses bald darauf erobert.26 Durch diese Niederlage und den Haß der Provinz, die er besonders durch seine Habsucht in den Krieg getrieben hatte, wurde der Procurator in Schrecken versetzt und floh zu Schiff nach Gallien.27

126. Fall von Londinium und Verulamium – Suetonius‘ Maßnahmen

Suetonius dagegen zog mit seinen Truppen von Wales her kommend entschlossen durch die Feinde hindurch nach Londinium (London). Die Stadt nahm durch die Menge der römi-schen Kaufleute und Bürger und den lebhaften Handelsverkehr eine bedeutende Stellung ein. Dort überlegte der Statthalter zunächst, ob er Londinium zum Hauptquartier machen sollte.

22 Tac.ann.14.31; Agr.16.123 Verschiedene Vorzeichen in Rom bei Cass.Dio 62.1.224 Tac.Agr.31.4; Brodersen, Britannien, S. 101 (s. auch den umgestürzten Grabstein RIB 200)25 Ein Verwandter Vespasians (Tac.hist.3.59.2), war er 70 erstmals Ersatzconsul, übernahm dann er-

folgreich militärische Führungsaufgaben in Germanien (Tac.hist.4.68; 71–79; 5.14–26); seit 71–74 wieder in Britannien, wo er erfolgreich gegen Aufständische vorging (Tac.Agr.8.2; 17.1f.). 74 erneut in Germanien (CIL III 2), sodann zum zweitenmal (nach 62) Ersatzconsul zusammen mit Eprius Marcellus (CIL XVI 20, 21. Mai 74).

26 ...wenn dies Tac.Agr.31.4 gemeint ist27 Tac.ann.14.32; Agr.16.1

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Dann aber sah er ein, daß die Zahl seiner Soldaten zu gering und Cerialis’ Verwegenheit schon gründlich genug bestraft worden sei. Daher beschloß er, durch Aufopferung dieser Stadt die Provinz zu retten. Er ließ sich auch nicht durch die Klagen und Tränen der um Hilfe fle-henden Bewohner von seinem Entschluß abbringen. Er gab das Zeichen zum Aufbruch und reihte nur diejenigen ein, die sich als Kämpfer dem Heer anschließen wollten. Bald darauf wurde Londinium von den Britanniern angegriffen und die Bewohner, die nicht ausgezogen waren, fanden dabei zu Tausenden den Tod. Ebenso erging es Verulamium (St. Albans) – wahrscheinlich durch Verrat eingenommen.28 Die Britannier mieden auf ihrem Zug oftmals die Festungen und bewaffneten Plätze und stürzten sich in ihrer Gier auf die beutereichsten und schwach verteidigten Landsiedlungen und Vorratslager. Etwa 70000 römische Bürger und Bundesgenossen29 sollen damals an beiden Orten umgekommen sein. Die Britannier machten nämlich keine Gefangenen, trieben auch keinen Sklavenhandel oder andere im Krieg übliche Handelsgeschäfte. Sie mordeten eher in aller Eile, knüpften die Gefangenen auf, verbrannten und kreuzigten, und nahmen schon vorzeitig Rache, so als ob sie sich bewußt wären, daß sie all dies späterhin mit dem Tod würden büßen müssen.30

127. Die Entscheidungsschlacht31

Suetonius hatte schon die XIV. Legion mit wenigen Sonderabteilungen (vexillarii) der XX., dazu die bundesgenössischen Truppen aus der Nachbarschaft, insgesamt etwa 10.000 Mann beisammen. Da entschließt er sich, seine abwartende Haltung aufzugeben und eine offene Schlacht zu wagen. Aber er wurde zusätzlich durch eigene Nachschubschwierigkei-ten und die unablässigen Angriffe der Britannier gezwungen, zu handeln.32 Die Einzelhei-ten, insbesondere die Vorbereitungen und die Örtlichkeit zum entscheidenden Aufein-andertreffen der feindlichen Heere sind ungewiß. Als Platz für die Schlacht wählt er eine Ebene mit einer engen Schlucht und Wald im Hintergrund, weil er gewiß sein wollte, daß seine Soldaten die feindlichen Linien nur vor sich hätten und die offene Ebene keinen Hin-terhalt befürchten lasse. Daher stellten sich die Legionssoldaten in dichter, regelmäßiger Gestaltung auf, zu beiden Seiten die leichtbewaffneten Cohorten, an den äußersten Flügeln in eng geschlossenen Haufen, die Reiterei.

Auf der anderen Seite stand die mehr oder weniger geordnete Masse der Britannier. Ihre Truppen schwärmten allenthalben in Haufen und Scharen zu Fuß oder zu Pferde um-

28 Cass.Dio 62.9.229 Cass.Dio 62.1.1 hat 80000; ferner ebd. 62.7.1; Eutr.7.14.4; Oros.7.7.1130 Tac.ann.14.33; zu den Grausamkeiten der Britannier allgemein Tac.Agr.16.1; Cass.Dio 62.7.1–3

(Abschneiden der weiblichen Brüste; Aufspießen der weiblichen Körper auf spitze Pfähle der Länge nach); 11.4 (Pfählen, Herausschneiden der Eingeweide bei lebendigem Leibe, Aufspießen an glühen-den Stäben, Kochen in siedendem Wasser); von zwei geplünderten Städten spricht auch Suet.Nero 39.1

31 Tac.ann.14.34–37; Cass.Dio 62.8.1ff. Die Örtlichkeit der Schlacht ist nicht bekannt (n. Wacher, CAH 2nd Ed., S. 509 im mittleren Abschnitt der Watling Street). Die scharfe Kritik Mommsens (Röm. Gesch, Bd. 5, S. 165) an Tacitus’ militärischen Kenntnissen verkennt die enormen Schwierig-keiten der Geschehensermittlung durch den Historiker.

32 Dies nur bei Cass.Dio 62.8.1

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her. Man sah eine ungewöhnlich große Masse von Kämpfern,33 während das römische Heer der Zahl nach viel kleiner war.34 So bunt die Menge der britannischen Streiter auch war – es beseelte sie ein so wilder und trotziger Mut, daß sie als Zeugen ihres Sieges sogar die Frauen mitbrachten. Sie setzten sie auf die Wagen, die sie am äußersten Umkreis des auf ihrer Seite gelegenen Teils der Ebene aufstellten. Unterdessen hielt Boudicca, indem sie ihre geschändeten Töchter mit sich auf einem Wagen führte, stammesweise Ansprachen, um den Mut der Kämpfer anzufeuern.35 Bei den Britanniern sei es ja nichts neues, auch von Frauen in die Schlacht geführt zu werden; jetzt aber kämpfe sie, die von hoher Abstam-mung sei, nicht um ihre Herrschaft oder um ihre Schätze, sondern räche, wie eine Frau aus dem Volke, ihre verlorene Freiheit, die ihr zugefügten Mißhandlungen und die geschändete Jungfräulichkeit ihrer Töchter. Ihre verbrecherischen Gelüste hätten die Römer so weit ge-trieben, daß sie weder die Körper alter Frauen noch jungfräulicher Mädchen ungeschändet ließen. Doch die Götter hätten schon gerechte Rache geübt, wobei sie die Göttin Adraste anrief.36 Die Legion, die den Kampf gewagt, sei untergegangen, die anderen versteckten sich im Lager oder sännen auf Flucht. Sie würden nicht das tosende Kampfgeschrei so vieler Tausende aushalten, vom Angriff und Einzelkampf zu schweigen. Wenn sie die Masse der Bewaffneten und die Ursachen dieses Krieges bedächten, so könne es in diesem Kampf nur Sieg oder Tod geben. Sie, eine Frau, sei zum Sterben bereit. Mögen die Männer nur, wenn sie überlebten, Sklaven werden!

Suetonius‘ Heer war der Zahl nach auch deswegen viel kleiner, weil er keinen Zuzug von der II. Legion erhalten hatte. Der Praefect Poenius Postumus hatte aus Furcht oder anderen Gründen die Ausführung von Suetonius‘ Befehlen verweigert und infolgedessen war die II. Legion wahrscheinlich in ihrem Lager in Isca Dumnoniorum (Exeter) verblieben. Nach einem der Berichte hatte Suetonius sein Heer in drei kampfstarke Teile aufgegliedert.37 So-dann trat angesichts dieser schicksalsschweren Entscheidung auch er vor seine Truppen hin, erhob seine Stimme und hielt eine Ansprache.38 Obwohl er der Tapferkeit seiner Soldaten vertraute, mahnte und bat er sie doch, das Kampfgetöse und die leeren Drohungen der Barbaren zu verachten. Man sehe ja da drüben mehr Frauen als tapfere Krieger. Die unkrie-gerische und waffenlose Menge, die doch so oft geschlagen worden sei, werde sofort die Flucht ergreifen, sobald sie die blanken römischen Waffen und die Tapferkeit der Soldaten wiedererkannt hätten. Auch wenn die britannischen Reihen zahlreicher seien, seien es doch nur wenige Kämpfer, die die Schlachten entschieden. Ihr Ruhm werde umso größer sein, wenn sie als kleine Schar den Ruf eines ganzen Heeres gewännen. Sie sollten nur in dichter Schar vorgehen und nach dem Abwurf der Speere mit den Schildbuckeln und Schwertern

33 Cassius Dio setzt die Zahl des Heeres mit 230.000 viel zu hoch an (62.8.2); glaubwürdiger dagegen die 62.2.3 genannten 120.000.

34 Das geht mittelbar auch aus der fiktiven Feldherrnansprache Cass.Dio 62.9.2 hervor.35 Bei Cassius Dio ist Boudiccas (fiktive) anfeuernde Rede an den Beginn des Aufstands gesetzt, die des

Suetonius hingegen unmittelbar vor die Schlacht.36 Cass.Dio 62.6.237 Ebd. 62.8.338 Ebd. 62.9

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die Feinde niederstoßen, alle töten und ja nicht an Beute denken. Nach errungenem Sieg werde alles ohnehin nur ihnen zufallen.

Durch diese Worte war der Kampfeseifer so groß, daß besonders die älteren Soldaten sich bereits zum Abwurf der Speere bereitgemacht hatten; und in der festen Zuversicht auf den Sieg gab Suetonius das Zeichen zum Angriff.

Anfangs blieben die römischen Truppen unbeweglich stehen und nutzten die enge Schlucht als Deckung.39 Nachdem aber die Soldaten ihre Wurfspeere mit sicherer Hand auf die näher herangerückten Feinde geschleudert hatten, brach die gesamte Legion in Gestalt eines Keils mit Wucht hervor. Ebenso ungestüm war der Ansturm der bundesgenössischen Hilfstruppen. Die Reiterei durchbrach mit angelegten Lanzen alles, was ihr entgegentrat und Widerstand leistete.40 Die Britannier zogen auch mit Streitwagen in den Kampf.41 Jetzt aber wandte sich die Masse ihrer Kämpfer zur Flucht, aber das Entkommen war schwierig, weil die umherstehenden Wagen die Ausgänge ins Freie versperrten. Die Soldaten schonten nicht einmal das Leben der Frauen. Die von den Geschossen durchbohrten Lasttiere erhöh-ten die Leichenhaufen noch zusätzlich. Man berichtet von 80.000 gefallenen Britanniern, doch ist das viel zu hoch gegriffen.42 Auf römischer Seite sollen gerade 400 getötet und weitere 400 verwundert worden seien. Zahlreiche Britannier gerieten in Gefangenschaft, doch nach dem Parallelbericht soll auch eine nicht unerhebliche Anzahl der Kämpfer dem Schlachtfeld entkommen sein.43 Boudicca endete ihr Leben nach den einen durch Gift, nach anderen starb sie an einer tödlichen Erkrankung.44 Als Poenius Postumus, der nicht zu Hilfe gekommen war, von den Erfolgen der XIV. und XX. Legion hörte, stürzte er sich in sein Schwert.45

Nach diesem Ausgang wurde Nero in Rom zum VIII. oder IX. Mal zum Imperator ausgerufen,46 um den Ansehensverlust, den auch der Kaiser durch die römische Niederlage erlitten hatte, wieder wett zu machen. Die vorangegangene Katastrophe, die beinahe zum Verlust der Provinz geführt hätte, ließ sich jedoch nicht vertuschen.

128. Weitere Kämpfe – Wechsel des Personals in der Provinzführung

Jetzt erst wurde das gesamte Heer in einem Marschlager mit Zelten zusammengezogen. Obwohl es schon spät im Jahr war, durchstreifte man allerwärts das Land, um Widerstands-nester zu beseitigen. Auch die Truppenzahl wurde noch vermehrt. Aus Germanien kamen 2000 Legionssoldaten, acht Cohorten Hilfstruppen der Bataver und 1000 Reiter. Nach de-ren Eintreffen wurde die IX. Legion durch die Legionssoldaten ergänzt. Die Hilfstruppen

39 Anders Cass.Dio 62.12.1, demzufolge die feindlichen Reihen sich aufeinander zu bewegten.40 So etwa auch bei Cass.Dio 62.12.1f.41 Schon anläßlich der Eroberungskämpfe im Jahre 43 (Cass.Dio 60.20.3)42 Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 9843 Cass.Dio 62.12.544 Ebd. 62.12.645 Tac.ann.14.37; Agr.16.246 Kienast, Röm. Kaisertabelle, S. 97

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und die Reiter wurden in ein neues Winterlager verlegt.47 Währenddessen ließ Suetonius sämtliche Stämme, die sich als wankelmütig oder feindlichen Sinnes gezeigt hatten, mit Feuer und Schwert heimsuchen. Am schlimmsten aber quälte die Britannier der Hunger. Um die Aussaat des Getreides hatte man sich nicht gekümmert, weil alle in den Krieg gezo-gen waren und mit der römischen Lebensmittelzufuhr gerechnet hatten. Dennoch waren die besiegten, aber stolzen und mutigsten Stämme der Britannier nur schwer zum Friedens-schluß zu bewegen. Der neue Procurator Gaius Iulius Alpinus Classicianus,48 Catus Decia-nus’ Nachfolger und Suetonius’ Feind, vertrat die Auffassung, wenn man die Ruhe der Pro-vinz wiederherstellen wolle, so sei es unzuträglich, an Rache zu denken, sondern man müsse Sorge dafür tragen, daß das wirtschaftliche Leben sich normalisiere. So verbreitete er, man müsse den neuen Legaten abwarten, der ohne feindselige Erbitterung und Siegerhochmut Milde gegen die Unterworfenen anwenden werde. Zugleich berichtete er nach Rom, man könne auf ein Ende der Kämpfe nicht rechnen, wenn nicht für Suetonius ein Nachfolger bestimmt werde. Seine Anwesenheit sei für die Britannier eine Provokation und erinnere sie stets an ihre Niederlage. Suetonius stellte er als einen Versager dar und dessen Erfolge schrieb er nur dem Glück zu.49

Infolgedessen sandte Nero, um die Lage in Britannien untersuchen zu lassen, einen seiner Freigelassenen namens Polyclitus ab. Er war räuberisch, durchtrieben, intrigant und charakterlos, wie die späteren Zeiten zeigen sollten.50 Damals hoffte Nero sehr, es werde des-sen Einfluß gelingen, nicht nur die Eintracht zwischen dem Legaten und dem Procurator herzustellen, sondern auch die aufgeregten Gemüter der Britannier zu befrieden. Polyclitus versäumte nicht, zunächst durch großspurigen Auftritt seines zahllosen Gefolges von Para-siten Italien und Gallien zur Last zu fallen,51 um dann nach der Überfahrt in Britannien in seiner Eigenschaft als Gesandter des Kaisers dem römischen Heer Angst einzujagen. Die Britannier indes belustigte all dies, weil bei ihnen damals noch ein freier Geist herrschte und ihnen die Allgewalt der kaiserlichen Freigelassenen unbekannt war. Sie waren darüber erstaunt, daß ein Feldherr und ein Heer, die einen so großen Krieg durchgefochten hatten, jetzt von einem dünkelhaften Freigelassenen Anweisungen entgegen nähmen. Suetonius verteidigte seine Maßnahmen mit Erfolg und Nero erhielt durch Polyclitus einen abgemil-derten Bericht. Infolgedessen verblieb Suetonius in seiner Stellung. Die Schilderungen des Classicianus über Suetonius‘ hartes Vorgehen und sein arrogantes und strenges Verhalten den Provinzbewohnern gegenüber dürfte somit der Wahrheit entsprechen.52 Insgeheim scheint man jedoch seine Absetzung vorbereitet zu haben. Als Suetonius nämlich an der Küste durch Unachtsamkeit oder Piratenüberfall einige Schiffe samt der Ruderbesatzung

47 Nach Tac.hist.1.59 finden sich im Jahre 68 die batavischen Cohorten bei der XIV. Legion.48 Nach Brodersen, Britannien, S. 111 von gallischer Abstammung aus Augusta Treverorum (Trier); ge-

storben um 65. Reste seines Prunkgrabmals mit der Inschrift RIB 12 = AE 1936, Nr. 3 im British Museum London.

49 Tac.ann.14.38; Brodersen, Britannien, S. 11350 Cass.Dio 63.12.3; Tac.hist.1.37.5; 2.95.2; Plin.ep.6.31.951 Man fühlt sich erinnert an die bei Seneca ep.123.7 in satirischem Ton gehaltene Darstellung des Rei-

seluxus wohlhabender Leute der Zeit.52 Tac.Agr.16.2f. verglichen mit ann.14.39 erweist, daß Tacitus zu einem eindeutigen Urteil über Sueto-

nius’ Amtsführung, besonders im Hinblick auf seine Abberufung, nicht gelangt ist.

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verloren hatte, tat man, als ob der Krieg noch andauere, und gab ihm den Befehl, das Heer dem Petronius Turpilianus zu übergeben, der bereits sein Consulat niedergelegt hatte (nach dem 15. März 61?). Turpilianus (61–63) reizte die Feinde nicht und verfolgte viel-mehr eine auf Milde und Beruhigung gestimmte Amtsleitung, die auch von seinem Nach-folger Marcus Trebellius Maximus (63–69) fortgeführt wurde, jedoch widersprüchlichen Angaben bei Tacitus zum Trotz zunehmend von schweren Rivalitäten unter den römischen Befehlshabern gekennzeichnet war.53 Seit dieser Zeit besaß die siegreiche XIV. Legion ei-nen ausgezeichneten Ruf54 und bis über das Ende der neronischen Regierung hinaus blieb es in Britannien ruhig.

Ereignisse in Rom

129. Ein Testamentsfälschungsskandal und seine Folgen

Im gleichen Jahr wurden in Rom zwei aufsehenerregende Verbrechen begangen, das eine von einem Senator, das andere von einem Sklaven. Domitius Balbus war ein ehemaliger Praetor, der infolge seines hohes Alters, seiner Kinderlosigkeit und seines Reichtum arg-listigen Nachstellungen der Erbschleicher und Testamentsfälscher ausgesetzt war.55 Einer seiner Verwandten, Valerius Fabianus, der für ein Staatsamt vorgesehen war, fälschte das Testament des Balbus. Hinzu zog er die römischen Ritter Vinicius Rufinus und Terentius Lentinus.56 Diese zogen noch Antonius Primus57 und Marcus Asinius Marcellus58 hinzu. Antonius war zu jeder Verwegenheit rasch bereit. Marcellus war durch seinen Urgroßva-ter Asinius Pollio berühmt und galt eigentlich nicht als sittlich anrüchig, doch hielt er die Armut für das schlimmste aller Übel. Er war der Enkel der ersten Ehefrau des Kaisers Tiberius namens Vipsania Agrippina. Fabianus läßt also die Urkunde von den vier Ge-nannten und drei anderen, unbekannten Männern, unterzeichnen, weil sieben Schriftzeu-gen zur Gültigkeit benötigt wurden.59 Dieser Tatbestand wurde in dem Verfahren vor dem Senat festgestellt: Nach dem Cornelischen Gesetz Sullas über die Testamentsfälschungen aus dem Jahre 81 v.Chr. wurden sodann Fabianus, Rufinus und Terentius zur Verbannung60 verurteilt; Antonius wurde aus der Liste der Senatoren gestrichen, verließ aber bald darauf

53 Der Ton des Tacitus Agr. 16.3 ist milder als in der polemisch gehaltenen Stelle ann.14.39.3, wo es heißt, Turpilianus habe seiner trägen Ruhe die ehrenvolle Bezeichnung des Friedens gegeben. Zur weiteren Entwicklung Tac.hist.1.9; 60; Agr. 16.3ff.

54 Tac.hist.2.11.155 S. zum Beispiel auch Tac.hist.1.7356 Über diese Personen ist sonst nicht bekannt.57 Geboren im Jahre 20 (?) (Martial.10.23) in Tolosa (Suet.Vit.18; Martial.9.99.3), spielte er nach dem

Tode Neros als Truppenführer eine bedeutende Rolle. Die hier genannten Vorgänge werfen kein gu-tes Licht auf die Persönlichkeit des Antonius Primus.

58 Ob es sich bei ihm um den Consul des Jahres 54 handelt, ist nicht sicher.59 Gai.2.119; 147; Iust.inst.2.10.360 Paul.sent.4.7.1; 5.15.5; Dig.48.10.1

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ebenfalls Italien.61 Den Marcellus rettete die Rücksicht auf seine Vorfahren und die Für-bitte des Kaisers zwar vor der Bestrafung; doch durch die Aufdeckung und den Prozeß war sein Ruf fortan geschändet. Mit hineingezogen wurde auch Pompeius Aelianus, ein junger Mann und ehemaliger Quaestor, weil er angeblich von Fabianus’ Schandtaten gewußt habe. Jetzt wurde ihm der Aufenthalt in Italien und in seiner Heimatprovinz Spanien untersagt.

Mit der gleichen entehrenden Strafe wird Valerius Ponticus belegt. Er hatte mit den Angeklagten gemeinsame Sache gemacht und war den übrigen Anklägern, die die Machen-schaften aufdeckten, in der Weise zuvor gekommen, daß er eine „Scheinklage“ vor dem Praetor erhob, bevor die übrigen Ankläger die Klage vor dem Stadtpraefecten erheben konnten. Hintergrund der komplizierten Rechtsmaterie war die Tatsache, daß der Stadt-praefect in einer Art Schnellverfahren eine Verurteilung aussprechen konnte. Da die Klage vor dem Praetor zuerst erhoben wurde, mußte nun ein weit umständlicheres Verfahren vor ihm geführt werden, und es bestand die in solchen Fällen oft ausgeschöpfte Möglichkeit, es durch Verfahrenstricks zu verzögern und hinzuziehen, zu beeinflussen oder gar durch eine Art Rechtsbeugung zu beenden.

In dem Senatsbeschluß, der gleichzeitig das Urteil war (SC Turpilianum), wird hinzu-gefügt, es solle jeder, der jemanden zu einem solchen Dienst in rechtsverwehrender Absicht erkauft oder sich selbst dazu hergegeben habe, mit der gleichen Strafe belegt werden, wie jemand, der wegen wissentlich falscher Anklage vor Gericht verurteilt worden wäre. Die Regelung wegen wissentlich, also vorsätzlich falscher Anklage versuchte einen unerträgli-chen Mißstand im Verfahrensrecht zu beheben. In dem Verfahren vor dem Praetor wurden Angeklagte entweder zunächst inhaftiert oder sie hatten unter hohen Kosten und Vernach-lässigung ihrer Geschäfte zu erscheinen, bis ihr Fall zur Verhandlung kam. Im Verlauf des sich oft lange hinziehenden Verfahrens nahmen dann Kläger sehr häufig ihre Klage zurück und der oder die im nachhinein zu unrecht Beklagten hatten ihre finanziellen Aufwendun-gen und Geschäftsverluste zu tragen, die ihnen niemand ersetzte.62

Und weil bereits im Jahre 55 ein aufsehenerregender Kriminalfall von Fälschung vorge-kommen war,63 gab der Senat für die Zukunft Bestimmungen zur Form und Abfassung von Testamenten. Die Schreibtafeln sollten durch eine versiegelte Schnur zusammengebunden werden. Auf den ersten beiden Seiten stand nur der Name des Erblassers zu lesen. Diese Sei-ten sollten von den Zeugen unterschrieben werden um allein dessen Identität zu bestätigen, ohne den Inhalt zu kennen. In Wiederholung einer bereits unter Claudius ergangenen Vor-schrift64 war es demjenigen, welcher ein Testament für einen anderen aufsetzte, untersagt, für sich ein Vermächtnis einzutragen.65

61 Tac.hist.2.86f.62 Dig.38.2.14.2; 47.15.3.3; 48.16; Cod.Iust.9.45; Tac.ann.14.40f.; ferner zur Kollision der Gerichte

Mommsen, Röm. Staatsrecht, Bd. 2,2, S. 98663 Cass.Dio 61.6.764 Dig.48.10.15; Senatsbeschluß bei Paul.Sent.5.25.6; ferner dazu Gai.2.11965 Suet.Nero 17

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130. Ermordung des Praefectus urbi von Rom durch einen Freigelassenen seines Haushalts und die Folgen

Bald darauf fiel der höchste Beamte Roms, der Stadtpraefect Lucius Pedanius Secundus aus Spanien, (cos. 43) einem Mordanschlag in seinem Hause zum Opfer. Die Bluttat war von einem seiner Sklaven begangen worden. Entweder hatte er ihm die Freilassung ver-weigert, für die er mit ihm schon einen Preis ausgehandelt hatte,66 oder der Sklave war von leidenschaftlicher Liebe zu einem Lustknaben entflammt und wollte seinen Herrn als Nebenbuhler nicht dulden. Als nun nach traditionellem Recht67 die Gesamtheit der etwa 400 Sklaven, die in seinem Haushalt geweilt hatten, zur Hinrichtung geführt werden sollte, kam es durch Zusammenrottung des Volkes, das so viele Unschuldige retten wollte, zum offenen Aufstand. Daher befaßte sich der Senat mit dem Fall, und es wurden Stim-men laut, die die allzu harte Strenge mißbilligten.68 Namentlich der Senator und Rechts-gelehrte Gaius Cassius Longinus sprach sich aber dagegen aus und begründete die Härte der Rechtsfolge mit dem Sicherheitsbedürfnis der Wenigen vor den Vielen, die nur durch Furcht in Schranken gehalten werden könnten, und sei es nur die Furcht vor der Rache der senatorischen Standesgenossen. Auch wenn dabei Unschuldige mit dem Tode bestraft würden, sei es hinzunehmen, daß gewisse Ungerechtigkeiten aufträten. Der Schaden, den Einzelne dabei erlitten, werde aber durch den Nutzen für die Gesamtheit der Hochgestell-ten aufgewogen.69

Dieser Meinung wagte keiner einzeln entgegenzutreten, aber in dem Gewirr der Stim-men wurden vereinzelt Gegenmeinungen laut, die nach den Verhören mit der ohne Zweifel unschuldigen Mehrzahl der Betroffenen, ihrer Jugend oder dem Geschlecht, Mitleid oder Bedenken gegen das allzu harte Vorgehen äußerten. Dennoch hatte die Partei, die schließ-lich für die Hinrichtung stimmte, das Übergewicht. Der Vollzug der vom Senat beschlos-senen Bestrafung war jedoch zunächst nicht möglich, weil das Volk sich zusammenrottete und mit Steinhagel und Brandstiftung drohte. Darauf erließ Nero ein tadelndes Edict an die Bürgerschaft, und die gesamte Straße, auf der man die Verurteilten zur Hinrichtungsstätte vor das Esquilinische Tor (?) führte, wurde durch bewaffnete Abteilungen abgesperrt.70

Cingonius Varro71 hatte zudem noch gleichsam als Präzedenzfall den Antrag gestellt, auch Freigelassene, die früher in einem solchen Haus gelebt hatten, aus Italien auszuweisen. Nero aber untersagte dies aus Furcht vor weiteren öffentlichen Aufregungen, und weil er nicht zulassen wollte, daß die harte und auch im Senat umstrittene Bestrafung auch noch ausweitet werde.72

66 Sen.ep.80.467 Cic.ad fam.4.12.368 Tac.ann.14.4269 Ebd. 14.43f.70 Ebd. 14.45.171 Im Jahre 68 designierter Consul; fand in den Wirren nach Neros Ende auf Veranlassung Galbas den

Tod (Tac.ann.1.6.1; 37.3; Suet.Galba 14)72 Tac.ann.14.45.2; Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 112

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131. Verschiedene Geschäfte und Ereignisse Verurteilung des Tarquitius Priscus – Censuskommission für Gallien – Tod des Publius Memmius Regulus

Im selben Jahre wurde Tarquitius Priscus auf Antrag der Bithynier wegen Erpressung verur-teilt. Er hatte einst als Legat in Africa 52/53 unter dem Proconsul Statilius Taurus gedient. Zurück in Rom, half er Agrippina durch eine falsche Anklage Taurus aus dem Wege zu räumen. Dennoch wurde er zu ihrem großen Ärger aus dem Senat ausgestoßen, unter Nero aber wieder zugelassen und sodann Proconsul von Bithynien. Die Freude und Genugtuung über die Verurteilung dieses Anklägers war groß, weil man sich des früheren fingierten Ver-fahrens gegen Taurus erinnerte.73

In Gallien wurde von Quintus Volusius Saturninus (Consul 56), Titus Sextius Africa-nus (Ersatzconsul 59) und Marcus Trebellius Maximus (Ersatzconsul 56) eine Vermögens-schätzung vorgenommen. Während Volusius und Africanus miteinander in der Vornehm-heit wetteiferten, lief ihnen Trebellius, der von beiden verachtet wurde, den Rang ab.74

Im gleichen Jahr starb Publius Memmius Regulus, ein Mann von hohem Ansehen, gro-ßer Charakterstärke und bedeutendem Ruf, soweit das bei der alles überragenden Erha-benheit des Kaisers möglich war. Er war einst ein Günstling des Tiberius, gelangte so zum Ersatzconsulat am 1. Oktober 31 und wirkte in dieser Stellung maßgeblich am Sturz Seians (18. Oktober) mit. Er erhielt sodann Aufnahme in zahlreiche Priesterkollegien: die Septem-viri epulonum, die Sodales Augustales und die Arvalbrüder (bis 60 belegt). Von 35 bis 44(?) verwaltete er höchst gewissenhaft die Provinzen Moesien, Makedonien und Achaia.75 Er verlor 38 seine Gattin Lollia Paulina an Caligula, der sie aber 39 wieder fortschickte. Etwa 48/49 war er Proconsul der Provinz Asia und kehrte danach dauerhaft nach Rom zurück, wo er von 55 an wieder der Arvalbruderschaft angehörte.

Sein Ruhm war so groß, daß selbst Nero, als er einmal krank lag76 und die Schmeichler seiner Umgebung klagten, des Reiches Ende sei nahe, wenn ihm etwas zustoße, die Antwort gab, der Staat habe ja eine Stütze. Als er gefragt wurde, in wem, hatte er den Namen des Memmius Regulus genannt. Er hätte vielleicht hierdurch zu einem Rivalen für Nero wer-den können, wenn Gegner des Kaisers sich seiner bedient hätten, doch schützte ihn davor seine Persönlichkeit, zurückgezogen und besonnen wie er war, und auch die Tatsache, daß sein Adel nicht altehrwürdig war und sein Vermögen keinen Anlaß zu Neid gab.77

73 Tac.ann.12.59.1; 14.46.174 Ebd. 14.46.275 Cass.Dio 58.2576 Vermutlich ist die Erkrankung im Jahre 60 gemeint.77 Tac.ann.14.47; Cass.Dio 61(62).21.1

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