Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

43

Click here to load reader

Transcript of Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

Page 1: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

394 | Die späten Jahre (65–68)

| 67 nach Christus

Nero in Griechenland und die Ereignisse in Rom

313. Ziele Neros auf der Griechenlandreise

Das Jahr 67 begann Nero fern von Rom in Griechenland. Die Planungen für die große Künstlertour sahen vor, daß er an den großen vier panhellenischen Spielen teilnahm. Dies waren die Olympischen Spiele, die Pythischen Spiele in Delphi, die Isthmischen Spiele in Korinth und die Nemeischen Spiele bei Argos. Seit Augustus kamen noch die Aktischen Spiele hinzu, die er am 2. September (?) 28 v. Chr. aus Anlaß des Sieges über Antonius gestiftet hatte. Rom genügte Nero nun nicht mehr, sondern er strebte nach dem Titel eines Periodonikes1 (περοδονίκης) – eines „Siegers der großen Tour“. Damit wurde der Sieger geehrt, der bei allen fünf Spielen in seiner Disziplin gesiegt hatte. Die Wettbewerbe, an denen er teilnehmen wollte, betrafen die Wagenrennen mit den Pferdegespannen, die musischen und vielleicht auch dichterischen Vorträge (Kitharödie, tragisches Schauspiel, Dichtung) und die kunstvolle Verkündigung (als Herold).2 Außerdem hatte Nero die Ab-sicht, noch an vielen weiteren Veranstaltungen teilzunehmen.

Über den Verlauf der Reise gibt es keine Nachrichten.3 Sie sind obendrein vielfältig ver-zerrt und legendarisch,4 besonders was Neros Aufenthalt in Delphi betrifft. Es ist müßig ein solches Itinerarium zu erstellen.5 Schon Sueton begnügt sich mit dem Hinweis, daß Neros Anordnungen und die Dienstbarkeit der Griechen dafür gesorgt haben, daß weder die herkömmlichen Festzeiten noch das traditionelle Festprogramm eingehalten worden

1 Cass.Dio 63.8.3; zur Münzprägung anläßlich der Reise Kierdorf, Claud./Nero, S. 1902 Cass.Dio 63.8.3; Oros.7.7.1; ferner Hier.Chron. 2080; Dion Chrys.71.93 Die Überlieferung zu den Ereignissen der letzten Jahre Neros und der Griechenlandreise im besonde-

ren ist sehr ungünstig, und die Angaben lassen sich im einzelnen nicht nachprüfen (so schon Hertz-berg, Kaiserreich, S. 254). Infolge des Fehlens der Berichte von Tacitus, der aus dem Geschichtswerk des Cluvius Rufus(?) geschöpft hat, gibt es keine authentischen Nachrichten. Alle sonstigen Berichte sind entweder nerofeindlich gefärbt, weil sie einer späteren Zeit angehören, die sich gegen die Re-gierung dieses Kaisers abzusetzen suchte; oder sie sind darüber hinaus geschichtlich von geringerem Wert, wie etwa Pseudo-Lukians Bericht über den Kanalbau von Korinth oder Philostrats Biographie des Apollonios von Tyana. Von den Griechen selbst haben sich keine Nachrichten erhalten und die byzantinischen Auszüge aus Cassius Dio sind in diesen Teilen oft wirr oder viel zu allgemein gehalten, als daß sich Genaueres ermitteln läßt, so daß große Vorsicht geboten ist.

4 So richtig schon gesehen von Heinz, Nerobild, S. 57, 1225 Zusammenfassung verschiedener Vorschläge Meier, HZ 286 (2008), S. 561, Anm. 3 (Schumann,

Hellenistische und griechische Elemente, S. 67ff.; Bradley, The Chronology of Nero’s visit to Greece in A.D. 66/67, Latomus 37 (1979), S. 61–72; Nicolas, De Néron à Vespasien, Vol. 1, Paris 1979, S. 245ff., 253ff.; Halfmann, Itinera Principum, S. 173ff.)

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 2: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 395

sind.6 Manche Spiele mußten sogar zweimal im selben Jahr gegeben werden.7 Ungewöhn-lich genug war schon, daß die vier gesamtgriechischen Spiele in ein Jahr gelegt wurden.8 Den traditionellen Festzeiten nach hätte sich etwa folgender Ablauf ergeben müssen: Daß Nero an den Aktischen Spielen teilgenommen hat, ist nicht bezeugt. Dennoch ist anzu-nehmen, daß er auch dort in den musischen Wettbewerben aufgetreten ist. Wenn sie am 2. September gefeiert wurden, so kommt dafür das Jahr 66 in Betracht. Dann wäre Nero bereits im August 66 aus Rom aufgebrochen, um daran teilzunehmen. Ansonsten wäre un-ter Beibehaltung der Festzeit noch mit dem 2. September 67 zu rechnen.9 Sodann folgten den Festzeiten nach zunächst bei Anbruch des Frühlings die Wettbewerbe der Isthmien im April, der Olympien Ende Juli (?), der Pythien Ende August und ebenfalls im Hochsommer die der Nemeen.

314. Die großen griechischen Spiele10

Was nun die großen gesamtgriechischen (panhellenischen) Spiele selbst angeht, so han-delte es sich um folgende:

Da waren die berühmtesten dieser Spiele, die Olympischen – alle vier Jahre gefeiert zu Ehren des Zeus in Olympia, in der Landschaft Elis gelegen. Dieses Austragungsjahr wird jeweils als das 1. Olympiadenjahr bezeichnet. Die Siegerliste reichte hinauf bis in das Jahr 776 v.Chr., als der erste Sieger im Stadionlauf ermittelt worden sein soll. Die fünftägigen Spiele wurden einen Monat nach der Sommersonnenwende (Ende Juli?) abgehalten und bestanden in athletischen Wettbewerben, Pferdegespannrennen, und Konkurrenzen der Herolde und Trompeter. Der Sieger erhielt einen Zweig vom wilden Olivenbaum.

An nächster Stelle standen die heiligen Spiele in Delphi zu Ehren des Apollo. Da sie an der berühmtesten Orakelstätte des Altertums stattfanden, wo die pythische Priesterin, die Pythia, ihre Sinnsprüche gab, wurden sie die Pythien genannt. Sie wurden jeweils im dritten Jahre der Olympiade etwa Ende August gefeiert. Siegespreis war anfangs Bargeld, später ein Lorbeerkranz. Neben den athletischen und gymnastischen Wettbewerben stan-den Pferderennen, sowie besonders künstlerische Wettbewerbe auf dem Programm. Die

6 Suet.Nero 23.1; bestätigt 24.2, wo die Isthmien in den November verlegt oder wiederholt wurden. 7 Auch die Münzprägung aus Anlaß von Neros Siegen gibt für die Ermittlung des Reisverlaufs nichts

her. 8 Themist.or.7.139.6ff. 9 Auch die Aktischen Spiele hätten dann verlegt werden müssen. Sie mußten turnusgemäß im Jahre 65

und dann wieder 69 gefeiert werden.10 Grundlegend und einführend Joh. Heinr. Krause, Olympia, oder Darstellung der grossen olympi-

schen Spiele etc., Wien 1838; Ders., Die Pythien, Nemeen und Isthmien aus den Schrift- und Bild-werken des Altertums, Leipzig 1841; P. Stengel, Die griechischen Kultusaltertümer, 3. Aufl. Mün-chen 1920, S. 190ff.; I. Weiler, Der Sport bei den Völkern der alten Welt, Darmstadt 1981, S. 103ff. Zu den in den Quellen erwähnten Orten von Neros Aufenthalt mit Stellen s. N.M. Kennell, ΝΕΡΩΝ ΠΕΡΙΟΔΟΝΙΚΗΣ, AJPh 109 (1988), S. 240f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 3: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

396 | Die späten Jahre (65–68)

Pythien lagen für die Teilnahme des Kaisers im Jahre 67 in ihrer regelmäßigen Wiederkehr und mußten nicht verlegt werden.

An dritter Stelle standen die viel besuchen Spiele von Korinth, die, weil sie auf der Land-brücke des Isthmos stattfanden, die Isthmien hießen. Sie wurden zu Ehren des Poseidon ab-gehalten und fanden an mehreren Tagen vermutlich im Monat April jeweils im zweiten und vierten Olympiadenjahr statt. Auch hier fanden alle Arten von sportlichen (gymnische und Pferde-Wettbewerbe) und künstlerischen (Kitharöden, Dichtung und Sänger) Wettbewer-ben ihre Austragung. Der Schwerpunkt lag aber auf Rennen mit Pferdegespann. Der Sieger wurde mit getrockneter Selleriestaude bekränzt.11

Schließlich noch die Nemeischen Spiele bei Argos. Sie wurden zu Ehren des Zeus im Tal zwischen Phleios und Kleonai mehrere Tage jeweils im Hochsommer des zweiten und vier-ten Olympiadenjahres abgehalten. Auch hier wurden wichtige Pferdegespannrennen, gym-nische und schwerathletische Wettkämpfe mit Fünfkampf ausgetragen, seit hellenistischer Zeit auch musische Wettbewerbe (Kitharöden), seit dem 1. Jahrhundert n.Chr. auch unter Teilnahme von Mädchen. Die Sieger erhielten hier Kränze aus der frischen Selleriestaude.

Wie die Isthmischen Spiele so mußten auch die Nemeischen Spiele von 66 oder 68 auf das Jahr 67 verlegt werden, um Nero die Teilnahme zu ermöglichen.

Kennell hat es wahrscheinlich gemacht, daß die „große Künstlertour“, die den Anspruch auf den Titel eines Periodonikes begründete im 1. Jahrhundert auch die Aktia in Nikopolis und Heraia in Argos umfaßte.

315. Lage und Vorbereitungen in Griechenland

Aus den Provinzen Makedonien und Achaia sind in jenen Jahren vor der Ankunft kaum Nachrichten auf uns gekommen. Anfang der 60er Jahre hat ein Erdbeben Schaden ange-richtet.12 Unruhen unbestimmter Art gingen in den frühen 60er Jahren von den Sparta-nern aus. Sie verärgerten damit den Statthalter von Achaia und zogen sich auch ein zor-niges Schreiben Neros zu.13 Seit 65 waren verschiedene griechische Inseln zum Teil öde Verbannungsorte für die Bestraften im Zuge der Verschwörungen.14 Und während an den Wettkampfstätten vereinzelt Instandsetzungsarbeiten für das große Ereignis vorgenom-men wurden, durchreisten Agenten Neros Griechenland und Kleinasien, um Kunstschätze zur Ausschmückung Roms und insbesondere des goldenen Palastes aufzukaufen oder zu beschlagnahmen. Die Stimmung dieser Jahre in Griechenland dürfte zwiespältig gewesen sein. Von Nero des Besuchs gewürdigt zu werden, stand neben gelegentlichen „Raubzü-gen“ seiner Gesandten, die man nicht billigte. Widerstand dagegen war sowohl zwecklos als

11 Iuv.8.225f.12 Sen nat.quaest.6.1.1513 Philostr.vit.Apoll.4.3314 Im einzelnen Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 96, Anm. 80a: Helvidius Priscus in Apol-

lonia Iuv.schol.5.36; Tac.ann.16.28; Andros: P. Glitius Gallus und seine Ehefrau Egnatia Maxi-milla CIG 2349; Gyaros: Der stoische Philosoph Gaius Musonius Rufus seit Mitte 66 (Philostr.vit.Apoll.7.16); vielleicht dort auch der Stoiker Annaeus Cornutus, Cass.Dio 62.29.3. Auch Naxos war eine Exilanteninsel (Tac.ann.16.9.1).

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 4: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 397

auch gefährlich. Jetzt wollte Nero selbst erscheinen und die Einsichtigeren konnten ahnen, was den griechischen Kunstwerken von hohem Rang drohte, bekäme der Kaiser sie erst selbst zu sehen.

Währenddessen gingen nun allerwärts die Vorbereitungen für die große Reise Neros weiter. Aus Olympia und Korinth sind Baumaßnahmen aus Anlaß des kaiserlichen Besuchs archäologisch nachgewiesen. Neronische Kaiserbauten im Südosten der Altis von Olym-pia, der ältere griechische Gebäude weichen mußten, sind durch ein Wasserrohr (aus Blei) geortet worden. Ein weiteres solches Wasserrohr (Blei) gehörte zu einer durch eine Quelle gespeisten Zisternenleitung bei dem „Speisepavillon“ im nördlichen Teil des Heiligtums am Westfuß des Kronoshügels. Ferner wurden zwei neue Mauern mit Torwegen und Tri-umphbogen errichtet. Die Bestimmung eines Gebäudes im Südwesten, dessen Entstehung bis in neronische Zeit zurückreicht, konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Die Arbeiten gelten als die umfangreichsten Veränderungen während der römischen Kaiser-zeit.15 In Korinth wurden Wiederherstellungsarbeiten am Zuschauerraum und der Skenē des Theaters vorgenommen. Kolossalstatuen zeigten Nero und Dionysos.

316. Neros Teilnahme an den panhellenischen Spielen

Möglicherweise hat Nero mit dem riesigen Troß seiner Begleitung, nachdem er durch Epi-ros ins eigentliche Griechenland kam, den Winter in der Provinzhauptstadt von Achaia, in Korinth, verbracht. Dort haben nach Aussagen der Berichte sich mehrere wichtige Er-eignisse zugetragen. Nero wird demzufolge des öfteren in Korinth geweilt, und dort seine Regierungszentrale eingerichtet haben.16 Sobald die Jahreszeit es zuließ, begann er, wie die Münzprägung vermuten läßt, zunächst mit kleineren Spielen, die er in Argos aufsuchte.17 Ob er sodann die Reihe der großen Festspiele mit den Isthmischen Spielen im April begann ist unklar. Hier hat Nero nicht nur an den Wagenrennen teilgenommen, sondern ist entge-gen dem Herkommen als Herold, Kitharöde und tragischer Schauspieler aufgetreten, was eigentlich durch Gesetz untersagt war.18 Dabei soll es zu einem Vorfall gekommen sein. Die Glaubwürdigkeit der Anekdote ist jedoch zugegebenermaßen gering. Im Wettbewerb der tragischen Schauspieler hatte sich auch ein berühmter Künstler aus Epiros eingeschrieben. Dieser machte keinen Hehl daraus, daß er Nero ernsthaft Konkurrenz machen werde, es sei denn, er wolle ihm für einen Verzicht an der Teilnahme zehn Talente Silbers zahlen. Doch das brachte Nero nur in Wut und als der Schauspieler, der vor ihm an der Reihe war, seine enormen Fähigkeiten zeigte, denen Nero nicht gewachsen war, schickte er nach einer vergeblichen Warnung seine Komparsen mit versteckten Griffeln auf die Bühne. Sie traten

15 Mallwitz, Olympia, S. 108; Bradley, Nero, 140f.; Sinn, Das antike Olympia, Götter, Spiel und Kunst, 2. Aufl., München 2004, S. 199–202

16 Der Inhaber des Proconsulats von Achaia für diese Zeit ist nicht bekannt (s. E. Groag. Die römischen Reichsbeamten von Achaia bis auf Diocletian, Schriften der Balkankommission – Antiquarische Abt., Wien und Leipzig, 1939)

17 Sievers bei Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 108, Anm. 19; s. ferner Paus.2.37.5 (Besuch des Halkyonischen Sees)

18 Iuv.schol.8.226; Philostr.vit.Apoll.4.24; Ps.-Lukian.Ner.8; Hier.Chron. 66

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 5: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

398 | Die späten Jahre (65–68)

dergestalt auf, als ob sie zur Szene gehörten und drängten den Mann gegen eine Säule, wo sie ihm die Griffel so lange in die Kehle stießen, bis dieser keine Luft mehr bekam.19

Dann rückte die wichtigste Veranstaltung, die Olympischen Spiele, heran. Für Neros Teil-nahme sind die Spiele, die hätten 65 stattfinden sollen auf den Sommer 67 verlegt worden.20 Aus diesem Grunde sind sie später in der fortlaufenden Zählung der Olympiaden ausgelassen worden.21 Den Olympischen Spielen maß Nero für seine Sammlung von Siegen die größte Bedeutung zu.22 Auf seine Anordnung hin wurden zum ersten- und einzigen Mal musische und poetische Wettbewerbe in das Programm aufgenommen.23 Der Kaiser ist dort als Tra-göde, als Kitharöde und als Wagenlenker aufgetreten. Den Heroldswettbewerb hat er dort aber nicht durchgesetzt, während er sonst überall, wo er auf dem Programm stand, daran teil-nahm.24 Während er in den musischen Disziplinen ohne Schwierigkeiten Sieger wurde, geriet er beim Wagenrennen in Lebensgefahr. Er wagte – vielleicht etwas tollkühn – das Rennen in einem Zehnspänner, obwohl er in einer Dichtung den berühmten König Mithridates VI. von Pontos (Sieger 88 v.Chr.) dafür gescholten hatte. Während des Rennens stürzte er aus dem Wagen und wäre beinahe von den anderen Teilnehmern überfahren worden. Regelwidrig hob man ihn aber wieder hinein, doch war er so verletzt, daß er das Rennen vor Erreichen der Ziellinie abbrechen mußte. Dennoch erhielt der Kaiser den Siegerkranz. Er bedankte sich bei den Kampfrichtern (Hellanodikai) mit einem Geldpreis von 1 Million Sesterzen. Die Summe verlangte Neros Nachfolger Galba indes zurück.25 Das Ereignis belegt immerhin die Tatsache, daß Nero den Rennsport auf hohem Niveau betrieben hat.26 Nach seiner Rückkehr in Rom soll er daran gedacht haben, zukünftig auch an athletischen und Ringer-Wettkämpfen teil-zunehmen.27 Mit seinen Erfolgen konnte er sich nun die Auszeichnung beilegen, dreifacher olympischer Sieger (trisolympionikēs, τρισολυμπιονίκης) zu sein.28

Bei den Pythischen Spielen an der Orakelstätte von Delphi hat Nero vermutlich an den Wagenrennen29 in der Ebene von Kirrha (Krisa) teilgenommen. Doch besonders reizte ihn die Teilnahme an den bedeutenden musikkünstlerischen Wettbewerben im Solo-Kithara-gesang, Chorgesang zur Flötenbegleitung, Dichtung, Deklamation (Tragöde) und Male-rei. Daß er auch hier in seinen Disziplinen siegte, war selbstverständlich, und er trug den Titel Pythionikēs mit Stolz.30 Nicht ungetrübt aber blieb das anfangs gute Verhältnis zur

19 Ps.-Lukian.Ner.9; Meier, HZ 286 (2008), S. 564, Anm. 12: „abenteuerliche Mordgeschichte“20 Stengel, Gr. Kultusaltertümer, S. 212; Hier.Chron.; Philostr.vit.Apoll.5.7; Themist.or.7.139.6ff.21 Paus.10.36.422 Dion Chrys.31.11023 Suet.Nero 23.1; Philostr.vit.Apoll. 5.7f.; Hier.Chron.6524 Suet.Nero 24.125 Suet.Nero 24.2; Cass.Dio 63.14.1; Hier.Chron.65; vielleicht auch eine Entschädigung für die wieder-

holte kostspielige Abhaltung der Spiele in Korinth und Olympia26 Bradley, Nero, S. 144; Champlin. Nero, S. 5927 Suet.Nero 5328 Philostr.vit.Apoll.5.8. Nach Neros Sturz ist sein Name von den Inschriften in Olympia entfernt wor-

den: Paus.10.36.929 Suet.Nero 24.230 Cass.Dio 63.18.2; Philostr.vit.Apoll.5.9; Hier.Chron.66; Anwesenheit Neros belegt auch Themist.

or.19

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 6: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 399

Delphischen Priesterschaft. Zunächst hat er in seiner Zufriedenheit mit einigen Aussagen des Orakels, die er wohl zu seinem Vorteil deutete, der weissagenden Priesterin 400.000 Sesterzen geschenkt.31 Es heißt, das Orakel habe ihm den Hinweis gegeben, er solle sich vor dem 73. Lebensjahr in acht nehmen. Er bezog die Weissagung auf sein eigenes Lebensalter, meinte, noch sehr viel Zeit zu haben, um sich darauf einrichten zu können, und dachte nicht an das Alter seines Nachfolgers Servius Sulpicius Galba.32 Überhaupt wähnte er sich in einem dauerhaften Glück, nachdem die Gefahr des Verlusts von Britannien und Arme-nien beseitigt war.33 Später indes kam es wegen irgendwelcher unbekannten Vorgänge zum Zerwürfnis mit dem Orakel. Nero nahm von dem dem Apollo heiligen Land das soge-nannte kirrhaiische Gebiet weg und verschenkte es an Soldaten. Dem Orakel verbot er, weiterhin Weissagungen zu geben. Der Kaiser soll zur Probe einige Leichen in den Schlund haben werfen lassen, aus dem der heilige Dampf aufstieg.34 Vielleicht erst im Zuge dieser Ereignisse hat er auch die (500?) Standbilder von dort fortbringen lassen um Rom damit zu schmücken.35 Plutarch – ab etwa 95 Priester in Delphi – und Pausanias wissen von diesen Freveltaten nichts. Plutarch hat gemeinsam mit seinem Lehrer Ammonios die Teilnahme Neros an den Pythien als Augenzeuge erlebt und verhält sich in Bezug auf Nero auffallend neutral.36

Über Neros Teilnahme an den Nemeen ist nichts bekannt geworden. Daß er auch dort in den Wagenrennen37 und im Kitharödenwettbewerb gesiegt hat, ist jedoch selbstver-ständlich.

So ist Nero als erster und einziger Kaiser als Gesamtsieger der großen panhellenischen Feste in die Geschichte eingegangen. Von den Griechen ist er als „neuer Apollon“ geehrt und gefeiert worden.38 Sein Name wurde in die Verzeichnisse der Sieger eingetragen. Seine Siege verkündete auch er als sein eigener Herold selbst etwa dergestalt: „Nero Caesar be-steht siegreich diesen Wettkampf und bekränzt das Römische Volk und die bewohnte Erde, die sein Eigen ist.“39 Seine Titulaturen wurden mit der Zahl seiner Siege immer länger und umständlicher,40 und vielleicht weckte erst dies den Verdacht, daß sie seinen eigentlichen Fähigkeiten nicht entsprachen und es mit diesen nicht weit her sei.

Neben diesen großen Spielen, gab es eine Vielzahl kleinerer, an denen Nero, wenn im-mer es paßte, teilgenommen hat. Dabei bediente er sich stets seines Herolds Cluvius Rufus,

31 Auch diese Summe forderte später Galba zurück.32 Suet.Nero 40.3; Galba war damals entweder 70 (Suet.Galba 4.1) oder 72 (Plut.Galba 8.1; Eutr.7.16.1;

Tac.hist.1.49.2) Jahre alt.33 Suet.Nero 40.234 Ähnlich Lukian.Nero 1035 S. § 18936 Plut.de E apud Delphus 137 Suet.Nero 24.238 Statuenbasis mit Inschrift IG II2 3278. Nero selbst pflegte dabei die Nähe Apollons zum iulisch-

claudischen Herrscherhaus, die schon von Augustus hervorgehoben worden war (s. Abschnitt V., Anm. 287).

39 Cass.Dio 63.14.4; Suet.Nero 24.140 Cass.Dio 63.9.3; 10.1; Pythionike, Olympionike, Sieger der Großen Tour und Allgemeiner Sieger

oder ähnlich.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 7: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

400 | Die späten Jahre (65–68)

um sein Auftreten anzukündigen.41 Manche Spiele mußten auf seine Anordnung hin wie-derholt werden und dies betraf wahrscheinlich auch die panhellenischen Veranstaltungen. Doch über all dies ist nichts Greifbares bekannt.

Lediglich die zwei berühmtesten Städte Griechenlands, Sparta und Athen, hat Nero gemieden und nicht besucht. Über Sparta war er, wie gesagt, verärgert, aber auch seine Ab-neigung gegen die männliche Nüchternheit der spartanischen Gesetze des Lykurgos, die ei-nen entsprechenden Lebensstil forderten, wird dafür angegeben. Die Akropolis von Athen hatte nach Angabe einer allerdings späteren Nachricht besonders für die Ausschmückung Roms als Reservoir von Kunstschätzen zu dienen. Nero suchte auch diese Stadt aus religi-öser Scheu nicht auf, denn er kannte die Gewalt und Grausamkeit der Furien (Erinnyen), die den Muttermörder Orestes einst der Sage nach heimgesucht hatten.42 Die Einführung in die Mysterien von Eleusis lehnte er ebenfalls aus diesem Grunde ab. Der Heroldsruf in Eleusis pflegte zuvor jeden an der Teilnahme zu warnen, dessen Seele durch Gottlosigkeit und Niedertracht befleckt sei.43

317. Gesellschaftliche und kulturgeschichtliche Betrachtungen zu Neros Auftreten in Griechenland

Nach allem, was bekannt ist, ließen die Griechen Nero gewähren und gewährten ihm alles, was er wünschte, auch wenn es dem Herkommen widersprach. Dort wo der Kaiser mit seinem riesigen Gefolge erschien, kam die Griechen der Besuch in der Regel teuer zu ste-hen – moralisch wie materiell.

An namentlich bekannten Künstlern besiegte Nero nur Kitharöden: Terpnus, wohl sei-nen Lehrer aus früheren Tagen, der entweder sein Gefolge bildete oder nach Griechenland gezogen war, Diodorus, der mit Nero später auf seinem Wagen in Rom einfuhr und den alten Pammenes, dessen Blütezeit unter Caligula war. Nero soll ihn zum Wettkampf ge-zwungen und nach seinem Sieg dessen Statuen verunstaltet haben.44 Daß Nero den Befehl gegeben habe, sämtliche Siegerstatuen umzustürzen ist eine unzulässige Verallgemeinerung und völlig unwahrscheinlich.45

Hier in Griechenland kam Neros Schwärmerei und seine Selbststilisierung zu einem Höhepunkt. Er pflegte weiterhin seine Frivolitäten, die ihm eine gesteigerte Abneigung von Teilen der römischen, aber vielleicht auch der griechischen Oberschicht einbrachte. Jeden Tag umgab sich der Kaiser mit der bunten Schar seiner Schmeichler, Höflinge und Ad-

41 Cass.Dio 63.14.342 Dramatisch verarbeitet von Aischylos in der Tragödientrilogie „Oresteia“ (uraufgeführt 458 v.Chr in

Athen)43 Suet.Nero 34.4; Cass.Dio 63.14.3. Anders, aber nicht überzeugend die Annahme von Alcock, Nero

at Play? in Elsner – Masters, Nero, S. 105, Nero habe das neue Achaia als Reichsprovinz besuchen und bewerben und deswegen die wichtigsten Städte des alten Griechenland nicht besuchen wollen. Nach Kennell, AJPh 109 (1988), S. 250f. paßte der Besuch nicht in das populistische Konzept Neros, sich als „Allsieger“ der griechischen Spiele gefeiert zu sehen.

44 Cass.Dio 63.8.4f.; 20.3; s. auch Philostr.vit.Apoll.5.745 Schiller, Nero, S. 247; diese Nachricht nur bei Suet.Nero 24.1. Nach einer Angabe bei Plin.nat.

hist.34.16 erhielt jeder Sieger bei den Olympischen Spielen ein Bildnis.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 8: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 401

epten vor allem in Repräsentations-, Sport- und Kunstfragen.46 Großen Aufwand trieb er mit seinen Sangesübungen. Äußerlich stilisierte er sich als Künstler oder Wagenlenker mit wallendem Haupthaar und glattrasierten Wangen, was als Zeichen der Verweichlichung galt.47 Möglicherweise wollte er damit auch Alexander den Großen nachahmen.48 Bei den Wagenrennen warf er, wie der Berufsfahrer, die Toga über die Schulter.

Sein Hauptinteresse galt den publikumswirksamen Wettbewerben, an denen Nero, dem äußeren Anschein nach, wie ein gewöhnlicher Sportler oder Künstler teilnahm. Wenn er sich in Italien sicher sein konnte, stets als Sieger hervorzugehen, so schien ihm diese Zuver-sicht in Griechenland angesichts der großen professionellen Tradition der alten Festspiele und der berühmten stimmungsabhängigen Wankelmütigkeit des griechischen Volksgeistes nicht ohne weiteres gegeben zu sein. Von Künstlereitelkeit und Eifersucht war auch er be-herrscht. Wenn es zutrifft, so hat er gelegentlich mit provozierenden Reden Gegner einzu-schüchtern gesucht und Aufsichtsbeamte der Spiele bestochen, um ihre Gunst zu erkaufen und gegebenenfalls unbestraft zu bleiben.49

Höchstwahrscheinlich hatte Nero bereits in Italien sein Star-Repertoire gefunden, das er nun in Griechenland zur Aufführung brachte. Das schließt nicht aus, daß er eigens für die griechische Tour neue Arrangements und Zusammenstellungen vornahm. Er gab über-wiegend die hochdramatischen Rollen der Tragödie auf dem Kothurn und in Maske. Be-richtet wird vom Auftritt in der Rolle eines bettelnden entlaufenen Sklaven, als kreißende Kanake, Muttermörder Orestes (eine nicht unverfängliche Rolle), blinder Oedipus, rasen-der Hercules, Thyestes, Alkmaion, Kreon, und in weiblichen Rollen als Antigone oder Me-lanippe. Während die Masken oft seine eigenen Gesichtszüge wiedergaben, trug er bei der Verkörperung weiblicher Hauptrollen Masken, die denen Poppaeas nachgebildet waren.50 Hier kam Neros Schauspielkunst insoweit zu einem Höhepunkt, als er (1.) offensichtlich nur oder überwiegend in Griechenland den tragischen Gesang zur Aufführung brachte. (2.) Darüber hinaus war es recht eigentlich erst diese Verkörperung tragischer Helden- und auch Frauen-Rollen, durch die er sich auf ein seiner kaiserlichen Stellung zuwiderlaufendes Betätigungsfeld begab und sich den gesellschaftlich verachteten Schauspielern gleichstellte. Das konnte man nicht einmal von seinen Gesangsauftritten in der Gestalt des edlen mythi-schen Sängers Apollo in Rom behaupten.51

Neros Verhalten vor den Auftritten war für gewöhnlich eine Mischung aus gespielter Bescheidenheit, Unsicherheit und Zuversicht. Ehrerbietig trat er auf die Bühne, sprach so-dann die Kampfrichter unterwürfig wie ein einfacher Künstler an, daß er alles getan habe, was in seiner Macht stehe, sie aber als kluge und gelehrte Männer ohne Ansehen der Person

46 Cass.Dio 63.8.4; Ps.-Lukian.Nero 947 Cass.Dio 63.9.1; Suet.Nero 51; Quint.inst.1.6.44; 12.10.47; Schiller, Nero, S. 259, Anm. 3 mit Anga-

ben zu den Münzbildern48 Bradley, Nero, S. 28549 Ähnlich Tac.ann.16.4.3f. zu den Neronia 65; Suet.Nero 23.2. Nero soll auch Künstler, deren Fähig-

keiten er fürchtete, bestochen haben. S. dagegen die Nachricht zu dem epirotischen Schauspieler. Vielleicht geriet Nero da in Zorn, weil er den Kaiser offen herausforderte, sozusagen die Rivalität öffentlich machte.

50 Belege im Einzelnen in der Darstellung zum Jahre 5951 Schmidt, Nero und das Theater, S. 154f. und Anm. 18

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 9: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

402 | Die späten Jahre (65–68)

objektiv entscheiden und dem Zufall keinen Raum bieten mögen. Von Seiten der Kommis-sion ermunterte man ihn durch guten Zuspruch und forderte ihn auf, sich nur zu ermutigen und seine Kunst zu zeigen. Durch das darauf entstehende Schweigen infolge seiner Kon-zentration auf den Vortrag stieg die Spannung, und die vermeintlich gefühllosen Mienen einiger Kampfrichter deutete er gelegentlich als Mißgunst und äußerte später, daß mancher ihm verdächtig sei.52

Eine nicht ganz unverdächtige Quelle aus dem 2. Jahrhundert53 äußert über Neros Auftritte in Griechenland, daß seine Stimme an sich nicht unangenehm gewesen sei, aber bei sehr hohen und tiefen Tönen die angestrengte Künstlichkeit nicht habe verleugnen können. Immerhin wird ihm gute Melodieführung und virtuoses und geschmackvolles Ki-tharaspiel zu seiner eigenen Begleitung bescheinigt. Seine Bewegungen auf der Bühne und der jeweilige Gesichtsausdruck (wenn ohne Maske) unterstützen die Wirkung seines Auf-tritts. Andererseits soll Nero, wenn er es wahren Meistern dieser Kunst durch Gebärden, Grimassen und anderes habe gleichtun wollen, lächerlich gewirkt haben. Seine ohnehin rötliche Gesichtsfarbe sei dann infolge seines Atemmangels angeschwollen.

Peinlich achtete Nero darauf, daß er die Vorschriften, die für den Vortrag galten, nicht übertrat.54 Als er aber einmal eine Königsrolle, vielleicht den Kreon, darstellte, pas-sierte ihm das Mißgeschick, daß er während des Gesangs das Szepter fallen ließ und es geschwind wieder aufhob. Man konnte Nero nach dem Auftritt darüber lange nicht be-ruhigen, weil er befürchtete, vom weiteren Wettkampf ausgeschlossen zu werden. Erst als ihm sein Pantomime, der den Inhalt des Gesangs ausdrucksvoll darstellte, immer wieder versicherte, sein Mißgeschick sei im Beifallsgeschrei untergegangen, beruhigte sich der Kaiser allmählich.55

Was die Reaktionen des Publikums anging, so ist aus den Nachrichten außer einigen wohlfeilen und satirischen Kleinigkeiten kaum Glaubwürdiges überliefert. Daß die mit-gereisten Soldaten der Leibwache seine Auftritte mit ansahen und mit ansehen mußten, ist nichts Ungewöhnliches. Ob sie das Verhalten des Kaisers billigten oder nicht, ist unbe-kannt.56 Widerstand hat es dagegen nicht gegeben. Daß sich die griechischen Zuschauer bei Neros Darbietungen gelangweilt und abgewendet hätten, ist nirgendwo bezeugt. Allenfalls die Länge der Auftritte beziehungsweise das Warten, bis der Kaiser auf der Bühne erschien, oder auch schier endloses Lobgehudel könnte manche verärgert und ungeduldig gemacht haben. Bei diesen Aufführungen mag es gelegentlich zu außergewöhnlichen Szenen gekom-men sein – etwa daß die Zuschauer gezwungen wurden, im Theater zu bleiben, daß Stadt-tore während Neros Aufenthalt geschlossen worden sind. Daß dabei Frauen geboren haben sollen, daß etliche von der Stadtmauer gesprungen seien oder sich tot gestellt hätten, um hinaus getragen zu werden, sind erfundene Geschichten; ferner auch, daß ein Soldat den

52 Suet.Nero 23.353 Ps.-Lukian.6f.54 Ähnlich Tac.ann.16.4.355 Suet.Nero 24.156 Bei Cass.Dio 63.10.2 heißt es nur, daß niemand es wagte, Nero zu bemitleiden oder zu hassen.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 10: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 403

Kaiser, den er auf der Bühne in Ketten gelegt sah, befreien wollte, oder ein anderer aufge-klärt werden mußte, daß Nero in der Rolle der Kanake gerade gebäre.57

Beiläufig scheint durch die antiken Nachrichten hindurch, daß Nero und sein Gefolge wahrscheinlich gegen sehr hohe Gagen in verschiedenen griechischen Städten aufgetreten sind. Glaubwürdig ist es auch, daß Nero je länger desto öfter von eifernden und geldgierigen Leuten in seiner unmittelbaren Umgebung zu den Darbietungen angetrieben wurde.58

Was Neros Erwiderungen auf das Verhalten des Publikums angeht, so sind durch die Quellen auch hier manche Einzelheiten unzulässig verallgemeinert worden. Ungezogenes Betragen wie Gelächter oder Einschlafen wird nur selten vorgekommen sein. Man darf da-von ausgehen, daß die griechischen Zuschauer in der Regel dem Auftritt des Kaisers schon seiner Prominenz wegen mit großem Interesse folgten. Seine Claqueure werden sich oft-mals als Aufpasser betätigt und dem Kaiser nach der Aufführung manches zugetragen ha-ben. Gelegentlich, abhängig von Stimmung und dem Betroffenen, wird Nero unterschied-lich reagiert haben.59 Daß er dann nicht durchweg überreagierte,60 zeigt gerade der Fall des Vespasianus, der, wenn es zutrifft, entweder in Rom, wahrscheinlich aber erst später in Griechenland (Ende 66?) anläßlich künstlerischer Vorträge Neros abwesend gewesen oder eingenickt sein soll. Er hatte sich vom Hof zu entfernen, wurde nicht einmal mehr bei öffentlichen Empfängen vorgelassen und zog sich in eine griechische Landstadt zurück, bis man seiner bedürftig wurde.61

318. Neros Ehe mit Sporus

Nero hat in Griechenland unter riesiger Anteilnahme der Öffentlichkeit seinen Eunu-chen Sporus förmlich geheiratet und als rechtmäßige „Ehefrau“ zu sich genommen. Die Abweichungen in den einzelnen Berichten haben zu Zweifeln geführt, ob hier durch die geschichtlichen Nachrichten nicht ein Skandal inszeniert worden ist, der sich in Wirklich-keit so nicht zugetragen hat62 und Nero in seiner ganzen Entartung darstellen sollte. Doch die Berichte stimmen hinsichtlich der ehelichen Verbindung überein. Durch die rechtlich einwandfrei erworbenen Kaisertitel des Sporus (s.u.) ergab sich zudem die Möglichkeit, bei öffentlichen Anlässen die römische Aristokratie zu demütigen und zu brüskieren. Allenfalls an der an Blödsinn grenzenden Darstellung der Reaktionen seiner griechischen Gastgeber (Schiller), die die Berichte enthalten, könnte man Anstoß nehmen.

57 Cass.Dio 63.10.2; 22.5; Suet.Nero 21.3 (spricht dort ehrlicherweise von einer fama); Kierdorf, Claud./Nero, S. 189

58 Suet.Nero 23.2; Cass.Dio 63.10.2; 15.359 Nach Cass.Dio 63.15.2 soll Nero verschiedenen Leuten seine Freundschaft oder Feindschaft in Aus-

sicht gestellt haben, je nach dem Maß ihres Beifalls bei seinen Darbietungen, doch ist der Wahrheits-gehalt solcher Mitteilungen schwer zu beurteilen.

60 Ps.-Lukian.761 Belege zum Jahre 65. Nach Hertzberg, Gesch. Griechenlands, S. 109, Anm. 21 gehört die Begeben-

heit nur ins Jahr 65. Sollte dies der Fall sein, so wäre Nero außerordentlich großzügig gewesen, Vespa-sian in das Gefolge nach Griechenland aufzunehmen – es sei denn, er war ihm für irgendeinen Dienst unverzichtbar.

62 Schiller, Nero, S. 251f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 11: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

404 | Die späten Jahre (65–68)

Sporus hatte Nero, weil er Poppaea ähnlich sah, bereits im Jahre 65 in Rom in den Pa-last aufgenommen.63 Jetzt wurde die Eheschließung von Tigellinus vorbereitet und nach den gesetzlichen Vorschriften geschlossen. Sporus erhielt eine reichliche Mitgift. Fortan be-gleitete Sporus Nero im Aufputz einer Kaiserin, erhielt die entsprechenden Ehrentitel und mußte als Gebieterin, Kaiserin und Herrin angesprochen werden. Die Griechen sollen die Eheschließung mit guten Wünschen gefeiert haben und baten, wenn die Abgeschmackt-heit den Tatsachen entspricht, noch darum, daß dem Paar Kinder beschieden sein mögen. Aus Neros Umgebung soll sich ein Mann lobend über die Verbindung geäußert haben mit dem Ausruf, hätte sich doch auch Neros Vater Domitius eine solche Gattin gesucht.64 Auch reichsweit, wie eine Nachricht vermeldet, wurde diese Eheschließung gefeiert. Sporus wurde auf Reisen in einer Sänfte getragen und begleitete Nero in Griechenland zu allen Märkten und Gerichtstagen. In Rom ließ sich Nero entweder vor oder nach der Griechen-landreise öffentlich mit Sporus sehen und zwar anläßlich der Sigillaria, die im Dezember gefeiert wurden.65 Das kann nur im Jahre 65 oder, sofern die Rückkehr aus Griechenland bereits im Dezember 67 erfolgte, in diesem Jahr vorgekommen sein. Dabei liebkoste und küßte er Sporus in aller Öffentlichkeit.66 Sporus blieb bis an Neros Lebensende in seiner engsten Umgebung.67 Unklar bleibt, in welchem Verhältnis diese Eheschließung zu Neros bestehender Ehe mit Statilia Messalina stand.

319. Politische Betrachtungen

Die Nachrichten lassen nicht erkennen, welche besonnenen Mitarbeiter seines Vertrauens auf der Griechenlandreise in Neros Begleitung waren, die den Kaiser auf die Notwendig-keiten des politischen Lebens hingewiesen und seine Extravaganzen gemildert hätten, und dennoch muß es solche haben. Überhaupt lassen die Quellenberichte für diese Zeit ein sachgerechtes Urteil der neronischen Politik im engeren Sinne gar nicht zu. Allenfalls Ti-gellinus, die Freigelassenen als Abteilungschefs der Verwaltung, der integere Cluvius Rufus oder Vespasian, der sich später als fähig erwies, mochten in ihrem gelegentlichen Unbeha-gen, wenn Nachrichten von Helius aus Rom oder anderwärts eintrafen, Nero auf das eine oder andere hingewiesen haben. Die politischen Erfordernisse traten, sofern sie für Nero eine Rolle spielten, im Laufe der Zeit noch weiter in den Hintergrund. Diese mußten an-dere für ihn übernehmen.

Auch auf dem Feld der neronischen Politik in Griechenland haben die antiken Berichte sehr verzerrt und übertrieben. Nach allem was bekannt ist, hat Nero selbst und dort, wo er eingreifen konnte, darauf geachtet, daß sein Ansehen bei den griechischen Gastgebern nicht mutwillig zerstört würde. Der Kunstraub, so unverschämt und verletzend er anmu-tet – er war dies in Griechenland nicht überall und geschah vermutlich noch im Jahre 64

63 Belege s. dort64 Cass.Dio 62.28.3a und Suet.Nero 28.165 Einzelnes Marquardt, Röm. Staatsverwaltung, Bd. 3, S. 586ff.66 Suet.28.2; 29; Cass.Dio 62.28.3; 63.13.1f.; ferner 63.22.4; Dion Chrys.21.7; Oros.7.7.267 Suet.Nero 48.1; 49.3; Cass.Dio 63.27.3; 29.2

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 12: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 405

aus gegebenem Anlaß.68 Die Wegnahme beschränkte sich gemäß den Nachrichten zudem auf wenige allerdings auch bedeutende griechische Gemeinden (Olympia, Athen, Delphi). Was dies angeht, so steht den Übertreibungen Dion Chrysostomos das Schweigen Suetons gegenüber. Im Verhältnis zu den Beschlagnahmungen nahmen sich die Weihgeschenke des Kaisers bescheiden aus.69 Unter den Gefolgsleuten Neros waren zweifellos raffgierige Ge-stalten, die viel Schaden anrichten konnten. Auch Nero und Tigellinus waren von Geldgier nicht frei. Der Geldbedarf des Hofes zur Finanzierung des Lebensstils, der verschiedenen Schenkungen und Vorhaben (s.u.) war riesig.70 So ist von Enteignungen, Hinrichtungen und Morden die Rede, von Zwangsvererbungen an den Kaiser und Tigellinus, von Verban-nungen der Kinder von Hingerichteten per Erlaß und anderes mehr.71 Das meiste scheint eher in den Zusammenhang mit der Pisonischen Verschwörung zu gehören. Daß Nero ganz Griechenland ausgeplündert hat, indem er alle, die irgend über Reichtum verfügten enteignet und beraubt hat, ist unwahrscheinlich.72 Schandtaten gingen wahrscheinlich auf das Konto seines Gefolges. Namentlich Calvia Crispinilla wird als eine habsüchtige Frau genannt. Plutarch und Pausanias wissen von Hinrichtungen reicher Griechen nichts zu be-richten. Wären diese in großer Zahl wirklich vorgekommen, dürfte man wenigstens Spuren davon in der Überlieferung finden. All dies steht auch im Widerspruch zu der enormen Beliebtheit, in der Nero noch lange nach seinem Tod in weiten Teilen des Ostens gestanden hat.

Was nun Neros Begleitung anbelangt, so ist es nicht ausgeschlossen, daß manch ein Se-nator oder dessen Sohn es sich zur Ehre anrechnete, den Kaiser auf seiner Tour begleiten zu dürfen. Daß Nero verdächtige Senatoren unter dem Vorwand mit sich führte, deren Hilfe zu benötigen, um sie in Griechenland leichter beseitigen zu können, ist unwahrscheinlich, in Einzelfällen jedoch denkbar.73 Aber seine unmittelbare Umgebung war sicher von Se-natoren nahezu frei. Daß es, wenn überhaupt, viele gewesen sind,74 ist schon deshalb aus-geschlossen, weil der Kaiser gerade den gefährlichen Verhältnissen in Rom entfliehen und sich nicht weiterer Lebensgefahr aussetzen wollte. Wie so häufig werden auch zu diesen angeblichen Verbrechen keine Namen überliefert, so daß den Angaben nicht zu trauen ist. Neros Umgebung hat dagegen seinen bekannten Haß auf die Senatsaristokratie wach gehal-

68 Im einzelnen mit besonnenem Urteil Schiller, Nero, S. 247–5169 Siehe die Einzelheiten zum Jahre 6470 Der Sache nach richtig Cass.Dio 63.17.171 Die Mehrzahl dieser allgemeinen Angaben aus Cass.Dio 63.11 kann man weder der Art noch dem

Umfang nach sinnvoll werten.72 Wenn Philostr.vit.Apoll.5.2 behauptet, Nero habe mehr Schaden in Griechenland angerichtet als sei-

nerzeit Xerxes, ist dies nichts weiter als rhetorische Übertreibung.73 Vielleicht sind, wie gesagt, auch spätere Bestrafungen im Zusammenhang mit der Vinicianischen

Verschwörung vorgekommen. Die Angaben bei Cass.Dio 63.15.2 im Rahmen der Darstellung der Künstlerreise Neros über das Ausspähen der Senatoren und anderer im Hinblick auf ihr Verhalten während der kaiserlichen Darbietungen bezieht sich hauptsächlich auf die Zeit in Rom.

74 Wie Cass.Dio 63.11.4 behauptet; unkritisch Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 108f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 13: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

406 | Die späten Jahre (65–68)

ten und geschürt, um sich in seine Gunst zu setzen und aus der Zerrüttung der römischen Oberschicht Vorteile zu ziehen – so der Hofnarr Vatinius.75

Schließlich stellt sich auch die Frage, ob Nero neben der Pflege seiner privaten Interessen mit dem Aufenthalt in Griechenland als Kaiser auch höhere politische Ziele verfolgt hat. Da ist allerdings wenig zu sehen. Eine Symbiose der römischen und der griechischen Kultur hat er nicht angestrebt. Die Grundlegung einer neuen Legitimation seiner Herrschaft vor dem Senat durch seine griechischen Künstlersiege ist völlig ausgeschlossen.76 Schon eher ging es ihm darum, nach seiner Rückkehr die römische Plebs zu beeindrucken. Am ehesten kommen als Zeugnisse für Neros politischen Willen das Kanalprojekt von Korinth und die Freiheitserklärung in Frage (s.u.). Auch sie tragen jedoch ein eher persönliches Gepräge.

320. Tod der Brüder Scribonii, des Corbulo und des Paris

Die Politik im eigentlichen Sinne mußte nolens volens auch während dieser Zeit mit ad-ministrativen oder Personal-Entscheidungen fortgeführt werden. Nero ließ nach Cassius Dio in großer Zahl ausgezeichnete Männer in hohen Stellungen beseitigen, angeblich weil er Geld brauchte und in Furcht vor Anschlägen war. 77 Aber auch hier werden, wenige Fälle ausgenommen, keine Namen genannt.

Neben der schon erwähnten Absetzung und Verbannung des Praefecten von Ägypten Caecina Tuscus,78 handelte es sich um die beiden Brüder Scribonius Rufus und Scribonius Proculus, die gemeinsam die Befehlshaberstellung bei den nieder- und oberrheinischen Legionen innehatten und um Corbulo. Noch 58 waren die Scribonii, wie berichtet, als Sonderbeauftragte Neros in Puteoli eingesetzt. Neros Begleiter, Paccius Africanus, soll sie irgendwelcher unbekannter Vergehen verdächtigt oder angeklagt haben.79 Vielleicht stan-den sie in irgend einer Verbindung zur Vinicianischen Verschwörung und wollten Trup-pen stellen. Jetzt bestellte Nero die beiden Brüder zu sich an sein Hoflager, vermutlich in Korinth, empfing sie aber nicht, sondern ließ andere in seinem Auftrag Beschuldigungen gegen sie erheben. Sie begriffen – zu spät -, daß sie in Ungnade gefallen waren und der Selbstmord von ihnen erwartet wurde. So schnitten sie sich die Adern auf.80 Die Nachfolger der Scribonii wurden am Niederrhein Fonteius Capito (cos. 67) und am Oberrhein Lucius Verginius Rufus (cos. 63).

Corbulo war ohne Zweifel frei von Umsturzabsichten. Schon Tiridates soll Nero ge-genüber geäußert haben, was er doch in Corbulo für einen treuen Sklaven habe.81 Gefähr-lich aber war dem Kaiser dessen Ruf, durch den er Nero an virtus übertraf und deswegen in Verdacht geriet.82 Nach den Ereignissen der Jahre 64 und 65 wird vielleicht manch einer

75 Cass.Dio 63.15.176 Dazu Meier, HZ 286 (2008), S. 568, 57877 So Cass.Dio 63.17.1f.78 Von Cass.Dio 63.18.1 ins Jahr 67 gelegt, in Wirklichkeit aber früher.79 Er hatte sich deswegen 70 vor dem Senat zu verantworten (Tac.hist.4.41.3).80 Cass.Dio 63.17.3f.; zum Vorgang auch Rutledge, Imperial Inquisitions, S. 171f.; Richter, Vitellius, S.

15 bringt sie in Verbindung zu Unruhen bei den rheinischen Legionen.81 Ebd. 63.6.482 Cass.Dio 62.19.4; Tac.hist.2.76.3

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 14: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 407

in Rom an den erfolgreichen und integeren Corbulo als Ersatz für Nero gedacht haben.83 Corbulo hat Neider in Neros Umgebung gehabt, die seine Verdienste anzuschwärzen suchten.84 Doch darüber hinaus ließen die Ereignisse der vergangenen Jahre seine Existenz für Nero gefährlich erscheinen. Weil dessen Schwiegersohn eine Verschwörung geleitet hatte und dabei umgekommen war, wurde ihm auch Corbulo verdächtig. Unter den eh-renvollsten Bezeichnungen wie „Vater“ oder „Wohltäter“ bat Nero den Generalissimus des Ostens zu sich. Der kam auch unbewaffnet und landete in Kenchreiai bei Korinth. Dort erhielt er, ohne Nero zu Gesicht zu bekommen,85 den Befehl, sich zu töten. Da reute es Corbulo, unbewaffnet zu Nero gekommen zu sein und mit den Worten, „Du verdienst es“! stieß er sich sein Schwert, daß er augenblicklich ergriffen hatte, in seinen mächtigen Körper. So starb der fähigste Feldherr und außenpolitische Diplomat der neronischen Zeit, bei Freunden und Feinden gleichermaßen angesehen, der dem Kaiser seine Triumph-feiern möglich gemacht hatte.86

Neben den Genannten ist damals auch der Schauspieler und Pantomime Paris, der erstmals 55 am Hof erwähnt wird, auf Neros Befehl getötet worden. Die wirklichen Hin-tergründe der Mordtat sind völlig dunkel. Angeblich hatte Nero von Paris in der Kunst des Ausdruckstanzes eingewiesen werden wollen, doch zeigte Paris’ Bemühen beim Kai-ser keine Fortschritte. Denkbar ist aber auch, daß Paris Teilnahme an einer Verschwörung nachgewiesen wurde, denn er wird an anderer Stelle als gefährlicher Gegner des Kaisers bezeichnet. Es bleibt jedoch ungewiß, ob dies im künstlerischen oder politischen Sinne ge-meint ist.87

321. Das Kanalprojekt von Korinth

Nero wollte nach all diesen prächtigen Ereignissen nun auch durch eine quasi-militärische Großtat Ruhm erlangen. Daher ließ er den Durchstich der Landenge bei Korinth durch einen Kanal beginnen88 – ein Vorhaben, das erst am Ende des 19. Jahrhunderts erneut durchgeführt und dann 1893 zum Abschluß gebracht worden ist. Durch diese Maßnahme wird die gefährliche Umfahrung der Peloponneshalbinsel – besonders am Kap Malea – vermieden. Es ist nicht auszuschließen, daß auch die Förderung der Wirtschaft Achaias ein Beweggrund für Nero gewesen ist.89

83 Verallgemeinernd und deshalb ungenau wieder Cass.Dio 62.19.4, der von „dem Volk“ spricht, das sich Corbulo als Kaiser gewünscht habe.

84 Tac.hist.3.6.1: Arrius Varus, der unter ihm in Armenien gedient hatte.85 Es ist vermutlich erfunden, daß Nero gerade mit den Vorbereitungen für einen Auftritt beschäftigt

gewesen sein soll und von Corbulo nicht in der ungegürteten Tunica gesehen werden wollte. Siehe die abgewogenen und vorsichtigen Äußerungen zu diesem Ereignis bei Schiller, Nero, S. 252f.

86 Cass.Dio 63.17.5f.; Amm.Marc.15.2, Sueton erwähnt diese Todesfälle nicht, obwohl dies Nero 37 passend gewesen wäre.

87 Cass.Dio 63.18.1; Suet.Nero 5488 Der Kanalbau begann angeblich unter ungünstigen Vorzeichen, mit denen das Vorhaben als eine Fre-

veltat Neros gegen die Götter bezeichnet werden soll (Cass.Dio 63.16.1).89 Alcock, Nero at Play? in Elsner – Masters, Nero, S. 102

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 15: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

408 | Die späten Jahre (65–68)

Wahrscheinlich im Oktober 67 wurde bei Lecheion mit dem Aushub von Erde begon-nen. An dem festgesetzten Tage trat Nero vor die versammelte Menge der Honoratioren, der Praetorianer und der übrigen großenteils Zwangsverpflichteten und sang zunächst Hymnen zu Ehren von Poseidon, Amphitrite, Leukothea und Melikerte.90 Sodann hielt er eine pathetische Ansprache, vielleicht eine Verkündigung nach Heroldsart. Er sprach den Wunsch aus, daß das Unternehmen für ihn und das römische Volk von Vorteil sein möge, ohne dabei den Senat zu erwähnen. Schließlich forderte er die Praetorianer auf, nunmehr mit den Arbeiten zu beginnen und ließ gleichsam, als ob ein militärisches Un-ternehmen angegangen werde, ein Trompetensignal ertönen. Mit einem goldenen Spaten schaufelte er die ersten Erdhaufen in einen Korb und trug diesen selbst auf seinen Schul-tern fort. Es ist möglich, daß Nero sich hierbei als der Heros Hercules gesehen und insze-niert hat.91 In den folgenden Monaten wurden die Aushubarbeiten von mehreren Tau-send Leuten durchgeführt.92 Die Praetorianer wurden durch 6000 Kriegsgefangene aus Iudaea ergänzt, die Vespasian Nero zugesandt hatte;93 vereinzelt auch durch Verbannte von den griechischen Inseln, wie etwa den stoischen Philosophen Musonius Rufus von der Insel Gyaros.94

Obwohl auch die Münzprägung das Ereignis feierte,95 sind die Arbeiten bald einge-stellt worden. Vermutlich fehlten die finanziellen Mittel oder wurden an anderer Stelle ge-braucht, so um neue militärische Einheiten zu bilden. Etwa 4 Stadien waren die Arbeiten vorangekommen und hatten noch nicht das felsige Land erreicht. So blieb dieses der Sache nach sinnvolle Projekt angesichts der Mittel und der folgenden Ereignisse eine Ruine und dienten als Beleg für den kaiserlichen Größenwahn. Noch Pausanias hat etwa 100 Jahre später die Spuren der Arbeiten gesehen.96

322. Die Autonomieerklärung Neros für Achaia auf dem Marktplatz von Korinth am 28. November 67

Mit der von ihm begonnen Großtat des Kanalprojekts begnügte sich Nero nicht. In ehr-licher Begeisterung für die Erfolge, die ihm die Unterwürfigkeit und Dienstbarkeit der Griechen ermöglicht hatten und aus Schwärmerei für das Griechentum,97 erklärte Nero in einer schwülstigen Verkündigung die Provinz Achaia für frei. Diese Autonomieerklä-rung hat sich auf einer Bronzetafel aus der kleinen Stadt Akraiphia in Boiotien (heute Kar-

90 Ps.-Lukian.Nero 391 Meier, HZ 286 (2008), S. 59492 Suet.Nero 19.2; 37.3; Plin.nat.hist.4.10; Cass.Dio 63.16; Ps.-Lukian.Nero 2–5; Philostr.vit.

Apoll.4.24; 5.7; vit.Sophist. 2.1.6(551)93 Ios.bell.Iud.3.54094 Philostr.vit.Apoll.5.1995 Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 114, Anm. 45: Poseidon-Münzen96 Philostr.vit.Apoll.4.24; Paus.2.1.597 S. die Diskussion um Formulierungen und Inhalt Meier, HZ 286 (2008), S. 566, 595. Nach Meier

ging es Nero in seiner Schwärmerei um das Lob der kulturellen Blütezeit Griechenlands.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 16: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 409

ditsa) erhalten.98 Die gesamte Provinz und nicht nur einige Städte empfingen durch diese Erklärung „Freiheit und Steuerfreiheit“. Dies hieß der Sache nach, daß Achaia fortan eine eigene Selbstverwaltungseinheit sein sollte. Die römische Provinzverwaltung wurde dem-nach aufgelöst.99 Gefolgspflichtig waren die Griechen nur noch bei Stellung von Truppen und in außenpolitischen Angelegenheiten. Was die Besteuerung anging, so fielen die Tri-butzahlungen der griechischen Bevölkerung an Rom fort. Die beabsichtigten finanziellen Vergünstigungen für Griechenland waren bedeutender als allgemein angenommen.100 Ob die Gemeinden unter einer gewissen Oberaufsicht des Statthalters von Makedonien stehen, oder freie und verbündete Staaten Roms sein sollten ist ungewiß – wahrscheinlicher ist das Letztere.

Im Jahre 196 v. Chr. hatte der römische Feldherr Titus Quintius Flamininus ebenfalls in Korinth eine Verkündigung dieser Art ausgesprochen und damit eine immer wieder er-hobene Forderung der Griechen nach Beseitigung von Fremdherrschaft erfüllt. Für den 28. November 67101 hatte Nero die Griechen aus der Provinz Achaia, so viele eben kom-men wollten, nach Korinth gerufen, um ihnen diese Mitteilung nach Art eines Herolds zu verkünden. Er hatte dazu entweder die Isthmischen Spiele verlegt, wahrscheinlich aber wiederholen lassen.102 Hier hielt Nero auf dem Marktplatz (Agora),103 nach anderen im Stadion,104 seine Ansprache und der darauf folgende Jubel konnte nicht gebändigt werden. Man träumte noch einmal von den altgriechischen Zeiten autonomer Stadtgemeinden (Po-leis). Wie in Akraiphia so wurden auch in anderen Städten der Provinz Denkmäler mit Standbildern zu Ehren Neros aufgestellt, die ihn als „neue Sonne“, als den „Befreier Zeus, Nero“ und als „einzigen Philhellenen“ oder ähnlich titulierten. Schon 61/62 wurde in ei-ner Inschrift von der Akropolis in Athen Nero als der größte Kaiser bezeichnet.105 Auch Münzen feierten dieses Ereignis mit ähnlichen Aufschriften.106 Zahlreiche griechische In-tellektuelle, die ansonsten dem Auftreten des Kaisers reserviert gegenüber standen,107 prie-

98 ILS 8794 = Ditt.Syll.3 814 = IG VII 2713; erwähnt auch Suet.Nero 24.2; Plin.nat.hist.4.22; Cass.Dio 63.11.1; Philostr.vit.Apoll.5.41

99 Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 113; Schiller, Nero, S. 256, Anm. 3100 So meines Erachtens richtig Bradley, Nero, S. 146 gegen Alcock, Nero at Play? in Elsner – Masters,

Nero, S. 103 und Meier, HZ 286 (2008), S. 569101 So auch Schumann, Hellenistische und griechische Elemente, S. 70–73; Bradley, Nero, S. 139 u.

145; Meier, HZ 286 (2008), S. 566, Anm. 23. Für das Jahr 66 Halfmann, Itinera Principum, S. 175–77. Daß das Ereignis ins Jahr 67 fällt, scheint Suet.Nero 24.2 zu bestätigen („bei seiner Abreise“, was nicht wörtlich zu nehmen ist)

102 Kierdorf, Claud./Nero, S. 193103 Plut.Flam.12.8; nach Griffin, Nero, S. 295, Anm. 17 wohl hier richtig lokalisiert104 Suet.Nero 24.2105 IG II2 3277106 Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 114, Anm. 39; Schiller, Nero, S. 256, Anm. 2; ehrende

Münzlegenden für Nero aus Asien ebd. S. 602, Anm. 5107 Plut.Mor.56F (Quomodo adulator ab amico internoscatur 12) Philostr.vit.Apoll.5.7; Dion

Chrys.71.9

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 17: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

410 | Die späten Jahre (65–68)

sen diese Entscheidung und legten den Grundstein zu der lang anhaltenden Begeisterung der Griechen für Nero.108

Weil Achaia eine senatorische Provinz und der Senat durch diese Maßnahme gleichsam enteignet worden war, wurde er mit der kaiserlichen Provinz Sardinien entschädigt.109

In der Umsetzung dieser Gewährung aber mußten sich große Schwierigkeiten einstel-len. Die griechischen Gemeinden hatten sich in alter Zeit stets als hochgradig zerstritten gezeigt, eifersüchtig auf eigene Vorteile bedacht und infolgedessen fast beständig im Kriegs-zustand. Viel Zeit blieb ihnen nicht, neue Gestaltungen des politischen Zusammenlebens zu finden, da schon bald die Regierung Neros zu Ende gehen sollte. Kaiser Vespasian hat diese Vergünstigungen denn auch sofort zurückgenommen und den alten Zustand wieder hergestellt.110

323. Ereignisse in Rom

Während Nero eine Erfolgstour ohnegleichen in Griechenland durchlief, wurden die Ge-schäfte in Rom, wie es den Anschein hat, mehr schlecht als Recht geführt. Von der ad-ministrativ-politischen Arbeit erfahren wir in den Berichtsresten so gut wie nichts. Hier handelte sein Freigelassener Helius mit Neros unumschränkter Vollmacht. Durch sie besaß er die Befugnis, Enteignungen, Verbannungen und Hinrichtungen von Bürgern, Senato-ren und Rittern zu veranlassen. In welchem Umfang er davon Gebrauch machte, ist nicht genau zu ermitteln. Des Kaisers Vertretung durch einen Freigelassenen war neu und ge-sellschaftlich ein Ungeheuerlichkeit. Das geschichtliche Urteil über Helius ist durchweg ungünstig. Als gedungener Mörder im Auftrag Agrippinas, als einer der üblen Parteigänger Neros hat er sich verhaßt gemacht, wurde nach Neros Tod zur Schau durch die Stadt ge-führt und anschließend hingerichtet. Gleiches traf Polyclitus, der der eigentliche Räuber in Rom gewesen sein soll.111 Immerhin scheinen Helius’ Maßnahmen dem Bestand von Neros Herrschaft gedient zu haben. In welchem Verhältnis der von Nero bevollmächtigte Freigelassene zu Nymphidius Sabinus, dem zweiten Praetorianerpraefecten, gestanden hat, ist nicht bekannt. Vermutlich nutzte dieser mit großer Vorsicht die lange Abwesenheit des Tigellinus, um, wo möglich, Teile der Garde dem politisch wenig erfahrenen und zuneh-mend unterhaltungssüchtigen Kaiser zu entfremden. Und Helius scheint sich nicht nur auf die Absicherung von Neros Herrschaft in Rom beschränkt zu haben. Mit seiner Billi-gung dürften einige berüchtigte Ankläger, zum Teil senatorischen Standes, die später zur Rechenschaft gezogen wurden, in dieser Zeit manchen Unheil gebracht haben. Bekannt

108 Paus.7.17.2; Plut.de ser.num.vind.21f.; ferner Philostr.vit.Apoll.5.41 – geschichtlich allerdings we-nig aussagekräftig.

109 Paus.7.17.2; dazu Hirschfeld, Kaiserl. Verwaltungsbeamte, S. 373; s. auch die auf CIL X 7852 = ILS 5947 bezogenen Ausführungen Marquardt, Röm. Staatsverwaltung, Bd. 1, S. 249, Anm. 1

110 Suet.Vesp.8.4; Paus.7.17.2 mit SIG3 796A (Alcock, Nero at Play? in Elsner – Masters, Nero, S. 104 mit Anm. 22); zu den Absichten, die Nero geleitet haben könnten mit etwas zuviel Betonung der Programmatik Alcock, ebd., S. 106.

111 Cass.Dio 63.12.1ff.; 64.3.41; Plut.Galba 17.2

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 18: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 411

geworden112 sind Sariolenus Vocula,113 Nonius Attianus,114 die sonst unbekannten Cestius Severus, Aponius115 und der Consul des Jahres 67(?) Gaius Paccius Africanus. Namentlich ist nur der Fall des vornehmen Sulpicius Camerinus überliefert, den Helius gemeinsam mit seinem Sohn hinrichten ließ, weil er sich weigerte den Siegerbeinamen „Pythicus“ abzule-gen. Dieser Beiname schien mit dem Titel Neros als „Pythischer Sieger“ zu konkurrieren.116 Vermutlich als eine Verletzung der Maiestas führte damals der eifrig-giftige Aquilius Regu-lus die Anklage. Er nutzte die Abwesenheit Neros, um dem Kaiser vermeintlich nützliche Dienste zu leisten, indem er auch die Familienoberhäupter der Crassi und Orfiti zugrunde richtete, namentlich den Consul von 64 Marcus Licinius Crassus Frugi.117 Daß den Hin-tergrund dieser Fälle schwerwiegende Unruhen und Verschwörungen gegen Nero bildeten, ist, obwohl Indizien dafür vorgebracht werden, wenig wahrscheinlich.118

Offensichtlich als eine Art Loyalitätsbezeugung sahen sich die Ritter unter Anführung der Augustani, der kaiserlichen Claque, veranlaßt, die Kosten einer 1000 Pfund schweren Ehrenstatue zu tragen. Und der Senat kündigte Beschlüsse aus demselben Grund an, die inflationär zahlreiche Opfer und Dankfeste bei Neros Rückkehr betrafen.119

324. Helius bewegt Nero zur Rückkehr nach Italien

Schon mehrfach hatte Helius schriftlich vergeblich versucht, den erfolgverwöhnten Kai-ser von den Höhen seiner Selbstverliebtheit und seinem exaltierten Künstlertum, das er in Griechenland gepflegt hatte, herunter zu holen und zur Rückkehr nach Rom zu bewegen. Nero schrieb ihm zurück, er wolle erst zurückkehren, wenn er eines Nero würdig wieder erscheinen könne.120 Vielleicht haben Helius oder andere Vertrauensleute Neros von dro-hendem Aufruhr oder Unmut bei den Praetorianern oder in den Provinzen eine Ahnung bekommen. Daß der Ausbruch des Aufstands selbst Nero aus Griechenland nach Italien zurück gescheucht habe, wie späte Quellen behauptet haben,121 ist eine Verkürzung des wirklichen Geschehens. Schließlich faßte Helius Ende 67 den Entschluß selbst über das schon winterliche Meer zu fahren und den Kaiser in Griechenland aufzusuchen. Sieben Tage später trat er vor Nero hin und versetzte ihn mit der Mitteilung, es sei eine Verschwö-rung gegen ihn im Gange, in große Furcht. Sogleich brach er mit dem Gefolge auf und schiffte sich ein. Noch war er voll Vertrauen auf ein hohes Alter und ein außerordentliches und dauerhaftes Glück. Als er Schiffbruch erlitt, wobei er selbst nicht in Gefahr geriet, dabei aber sehr wertvolle Gegenstände verlor meinte er zu seiner Umgebung, wie einst dem Polykrates von Samos, so würden auch ihm die Fische seine Kostbarkeiten zurückbringen.

112 Tac.hist.4.41113 Sonst unbekannter Ankläger senatorischen Standes114 Ob er bereits zu Neros Zeit Senator war, ist nicht bekannt.115 Plut.Galba 8116 Cass.Dio 63.18.2117 Tac.hist.1.48.1; 4.42.1; Plin.ep.1.5118 Rutledge, Imperial Inquisitions, S. 172f.; Richter, Vitellius, S. 16119 Cass.Dio 63.18.3120 Suet.Nero 23.1; Cass.Dio 63.19.1121 Ps.-Lukian.Nero 5; Philostr.vit.Apoll. 5.10

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 19: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

412 | Die späten Jahre (65–68)

Verschiedene Vornehme hatte dem Vernehmen nach damals für Neros Untergang gebetet und sollen dafür später hingerichtet worden sein.122

325. Schlußbemerkungen zur Griechenlandreise Neros

So ging Neros Aufenthalt in Griechenland nach etwa 15–16 Monaten zuende. Der Besuch Alexandrias und ein Feldzug im Osten ließen sich nicht mehr durchführen, weil der Jüdi-sche Krieg alle Kräfte band. Je länger desto mehr besaß die Künstlerreise den Charakter einer Flucht vor den Gefährdungen und den im Grunde unbequemen Verhältnissen in Rom und Italien. Daß eine Rückkehr nicht beabsichtigt war, zeigt gerade die Tatsache, daß Helius den Kaiser persönlich aufsuchen und drängen mußte. Die scheinbar endlose Reihe großer Erfolge und erhabener Ereignisse, das Gefühl von Allmacht – wenn auch nur auf dem künstlerischen Gebiet – erreichten in Griechenland ihren Höhepunkt und mußten bei Nero zu Zügen von Wirklichkeitsverlust führen. Wenn nicht schon zuvor, so war vielleicht jetzt die Zeit gekom-men, da er den Ausspruch wagen konnte: keiner seiner Vorgänger habe wirklich gewußt, was alles einem Kaiser erlaubt sei. Ähnlich hatte sich bereits Caligula geäußert.123

Neros Aufenthalt machte auf die Griechen großen Eindruck. In Italien und auch ander-wärts nahm sein Ansehen dagegen Schaden. Besonders schwer wog die Beseitigung fähiger Führungspersönlichkeiten unter den hohen Beamten in den Provinzen. Die neronischen Säuberungen erreichten jetzt erstmals das außeritalische Spitzenpersonal und ließen bei den Übrigen vielleicht schlimme Befürchtungen aufkommen.124 Helius war in Rom un-beliebt und ohnehin ließ sich die unerhörte Statthalterschaft eines Freigelassenen in Rom nicht dauerhaft aufrecht erhalten. Man hatte dort, ob zu recht oder nicht, den Eindruck, daß dem Kaiser durch gefällige Berater unangenehme Dinge ferngehalten würden und die eigentliche Regierung in den Händen von Freigelassenen und Schmeichlern lag. Die allge-meine Stimmung im breiten Stadtvolk ist nicht bekannt – nur zu vermuten von früheren Reaktionen, daß auch hier Eifersucht bestand, weil Nero sich zugunsten der verachteten Griechen nicht sehen ließ.125 Zudem wurde Neros Gegnerschaft zu den Senatoren bestän-dig wach gehalten und sein anfänglicher Respekt war nunmehr der Ignoranz und dem Haß gewichen. Er wurde um so größer als eine gewisse unmittelbare Berührung mit dem Senat jetzt, als er nach Italien zurückzukehren sich gezwungen sah, unvermeidlich war. Aus den schönsten, erhebendsten und prachtvollsten Erlebnissen seines Lebens wurde Nero jäh in die Wirklichkeit zurückgeholt mit begründeten oder vorgeblichen Schreckensnachrichten. Er hat vielleicht gewünscht, die herrlichen Erlebnisse möchten nicht zu Ende gehen. He-lius besaß möglicherweise konkrete Hinweise auf Umsturzbewegungen, aber wenn nicht, so war Neros Anwesenheit nun erforderlich, und im letzten Moment vor Ausbruch einer antineronischen Bewegung ist er nach Italien zurückgekehrt.

122 Suet.Nero 40.3 bezieht sich möglicherweise auf den bei Cass.Dio 63.19.2 erwähnten Schiffbruch.123 Suet.Nero 37.3; Cal.29.1124 CAH 1st Ed., S. 738 (Momigliano)125 Das Bild der flavischen Zeit gibt Iuv.8.225f.; ferner Walter, Nero, Zürich 1956, S. 260

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 20: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 413

Vorgänge in Iudaea und Syrien

326. Judenverfolgung in Antiochia (Februar/März 67)

In Fortsetzung des Jüdischen Krieges war schon bald nach den blutigen Ereignissen des vergangenen Jahres die Pogromstimmung gegen die Juden weit über die Grenzen Iudaeas hinaus geschwappt und hatte die Provinzhauptstadt Syriens Antiochia erreicht. Dort war der Sohn des Gemeindevorstehers der großen Judengemeinde aus einem unbekannten Grund vom Judentum abgefallen, rief die nichtjüdische Bevölkerung im Amphitheater zur Versammlung und beschuldigte vor der Menge seine früheren Glaubensgenossen des Vor-habens der Brandstiftung. Man wollte diesem Apostaten namens Antiochos um so mehr Glauben schenken, da er noch irgendwelche auswärtigen Juden als angebliche Brandstifter vorführen ließ. Die verhetzte Menge half sofort mit, diese Männer ohne genaue Untersu-chung auf einem rasch zusammen gebrachten Scheiterhaufen zu verbrennen. Damit hob eine Verfolgung der antiochenischen Juden an. Man verfiel auf den Gedanken, sie zu Op-ferhandlungen vor griechischen oder syrischen Heiligtümern zu zwingen, wobei Antiochos voran ging und damit ein Beispiel seiner Bekehrung gab. Nur wenige Juden ließen sich dazu bestimmen; die meisten weigerten sich, und da man dies für ein Zeichen ihrer Verschwö-rung hielt, wurden sie ums Leben gebracht. Wer diesen Zuständen entronnen war, wurde gezwungen, am Sabbath nicht zu feiern, sondern zu arbeiten. Das Schlimmste aber war, daß der römische Statthalter von Syrien dem Antiochos Truppen zur Verfügung stellte, mit de-nen er den Zwangsmaßnahmen Nachdruck verlieh. Die Gründe dafür bleiben im Dunkeln. Jedenfalls machte diese Unterdrückungsbewegung in Antiochia derart starken Eindruck, daß auch anderwärts in Syrien die Sabbathfeiern eine Zeitlang unterblieben.126

327. Die Ernennung Vespasians zum Statthalter von Syrien und Oberbefehlshaber für den Krieg in Iudaea – Cestius Gallus‘ Ende

Während sich Nero noch am Beginn seiner Griechenlandreise befand und vielleicht in Korinth weilte, erhielt er etwa im November 66 die Nachricht von der Niederlage der rö-mischen Truppen unter Cestius Gallus. Die seit Mai 66 sich verstärkende Erhebung der aufständischen Juden war dem Hof bekannt, hatte aber keine Beunruhigung zur Folge. Die Verhältnisse in Iudaea wurden notorisch unterschätzt; die dortigen Statthalter waren in claudischer wie neronischer Zeit bestenfalls durchschnittlich begabte Männer und die Lage hielt man im schlimmsten Fall durch die syrischen Legionen für beherrschbar. Schlagar-tig war eine besorgniserregende Lage entstanden – die römische Waffenehre gedemütigt, der syrische Statthalter bettlägerig und dem Tode nahe, Iudaea in vollem Aufruhr. Die im Zorn geäußerte Bewertung Neros war der Sache nach im Wesentlichen richtig, auch wenn Iosephus sie in ein schlechtes Licht rückt: Die Niederlage, so der Kaiser, sei mehr durch die Nachlässigkeit der römischen Führer, als durch die Tapferkeit der Juden verschuldet worden.127 Es zeigte sich wiederholt die schlechte Disziplin der syrischen Legionen. Nie-

126 Ios.bell.Iud.7.46–53127 Ebd. 3.2

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 21: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

414 | Die späten Jahre (65–68)

mand vermochte im Augenblick vorauszusagen, ob nicht der gesamte Osten einschließlich der Parther in die Auseinandersetzung hineingerissen oder sie nutzen würde und die römi-sche Herrschaft an der Ostgrenze in große Gefahr geraten könnte. Unbestimmt heißt es, der Orient sei von der Erhebung angesteckt worden,128 doch läßt sich der Wahrheitsgehalt nicht ermitteln. Viele Juden der Diaspora waren ihren Glaubens- und Volksgenossen in ihrem nationalen Kampf bereits zugezogen. Die Befürchtungen am Kaiserhof waren groß, und es mußte rasch gehandelt werden.

Die Umstände, die dazu führten, daß nun Titus Flavius Vespasianus zum Oberbefehls-haber im Jüdischen Krieg ernannt wurde, sowie die sich anschließenden Vorbereitungen sind nur dürftig überliefert. Ob Corbulo bereits im Oktober 66 zum Selbstmord gezwungen wurde, und somit für Vespasian die Stellung eines Oberbefehlshabers mit übergeordnetem Kommando frei war, ist nicht zu ermitteln. Vespasian war Ende 66 bei Nero in Ungnade gefallen, weil er den künstlerischen Auftritten des Kaisers zu wenig Aufmerksamkeit ge-schenkt hatte und deswegen aus seiner Umgebung verbannt worden war. Jetzt entsann sich der kaiserliche Rat des fähigen Truppenführers, der unter anderem schon unter Claudius erfolgreich in Britannien befehligt hatte (43),129 und ließ Vespasian vielleicht um den Jah-reswechsel 66/67130 aus der griechischen Kleinstadt, in die er sich zurückgezogen hatte, her-bei holen.131 Für ihn sprach die Tatsache, daß er von niedriger und unauffälliger Herkunft war und zwei Söhne hatte, die Nero ergeben waren und den 58jährigen Vater unterstüt-zen konnten. Daß Nero Vespasian freundlich behandelt und ihm geschmeichelt hat, um ihn geneigt zu machen, ist wohl übertrieben. Aus der Ungnade in eine derartige Stellung gehoben zu sein, ließ Vespasian zuversichtlich an die Aufgabe gehen, und zudem hätte er die Ernennung wohl auch nicht ablehnen können. In welcher militärischen Stellung er die Kriegführung übernahm ist nicht ganz klar. Er war wahrscheinlich propraetorischer Legat (legatus Augusti pro praetore) mit Sonderbefugnis, alle zum Kampf notwendigen Truppen des Ostens heranzuziehen (s.u.).132 Neben seinem Kommando wurde bald darauf ein ge-sonderter Statthalter für Syrien (Gaius Licinius Mucianus) ernannt. Dieser verfügte allein über vier Legionen (III Gallica, IV Scythica, VI Ferrata, XII Fulminata) zur Sicherung der Ostgrenze und gegen mögliche Gefahren durch die Parther.133 Nach Corbulos Tod sind diese Verbände rasch aus Kappadokien nach Syrien verlegt worden.134 Wahrscheinlich hat Vespasian seinen Kriegsrat in eigener Verantwortung zusammenstellen dürfen.135 Seinen

128 Ios.bell.Iud.3.3129 Ebd. 3.4; Aur.Vict.Caes.8.4130 CAH 1st Ed., S. 858 (Stevenson/Momigliano) und CAH 2nd Ed., S. 755 (Goodman): Februar 67131 Ios.bell.Iud.3.4; Suet.Vesp.4.4. Die Umstände sind von den flavischen Historikern nicht nur hier

dramatisiert worden, um die niedrige Stellung Vespasians und der Flavier gegen ihre unentbehr-lichen Fähigkeiten und spätere Bedeutung als Herrscher des Reiches um so krasser erscheinen zu lassen ( Jones, Suetonius, Vespasian, London 2000, S. 35).

132 Bei Iosephus heißt es nur, Vespasian habe die Führung der syrischen Heere übernommen (bell.Iud.3.7); Sueton (Vesp.4.4) spricht von Übertragung einer Provinz mit militärischem Kommando.

133 Tac.hist.1.10.1; 2.4.4134 Heil, Orientpolitik, S. 192135 Er nahm zum Beispiel Sextus Vettulenus Cerealis aus seinem Heimatort Reate mit sich (CIL IX

4742).

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 22: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 415

28jährigen Sohn Titus entsandte er sogleich nach Alexandria, um die Führung der XV. Le-gion zu übernehmen und diese von dort nach Iudaea zu bringen, wo er sich mit dem Vater in Ptolemais treffen sollte.136 Er selbst brach mitten im Winter sogleich mit seiner Begleitung auf,137 überschritt den Hellespont und gelangte auf dem Landweg durch Kleinasien nach Syrien in die Provinzhauptstadt Antiochia. Dort begann Vespasian, die römischen Truppen zu ordnen und zu disziplinieren und zog noch weitere Kampfverbände befreundeter Kö-nige heran (s.u.). Vielleicht nimmt auf diese Ereignisse die Nachricht Suetons Bezug, Ves-pasian habe das Vertrauen der benachbarten Provinzen auf sich gezogen.138 Möglicherweise trat man in Antiochia dem neuen Befehlshaber anfangs reserviert gegenüber, weil man die gutartige Amtsführung des Cestius Gallus geschätzt hatte und Vespasian als ein Mann Ne-ros galt. Des Kaisers Allüren und Gebaren duldete man, solange man unbehelligt blieb.

Nach den erhaltenen Nachrichten steht fest, daß Cestius Gallus noch einige Zeit als Statthalter in Syrien amtiert hat, und zwar im Winter 66/67. Noch während der Schwie-rigkeiten, die Iosephus bei der Durchsetzung seiner Befehlsgewalt in Galilaea hatte, setzte er ihm durch Reitertruppen im Gebiet von Ptolemais und Chabulon (Kabul) zu.139 Bald darauf aber ist er gestorben, und es ist ungewiß, ob aus Altersschwäche oder durch Selbst-mord.140 Ihm folgte recht schnell der Statthalter Mucianus nach. Die zeitliche Abfolge der Ereignisse ist hier unsicher.141 Wahrscheinlich war Mucianus bereits in Syrien als Vespasian nach Antiochia kam und den Oberbefehl über die zwei dort stationierten Legionen über-nahm.

328. Anklagen der Tyrener gegen Agrippa II. und Philippos vor Vespasian

Als Vespasian mit dem Heer im Frühjahr 67 nach Tyros kam, trugen die Oberen der Stadt ihm Beschuldigungen zunächst gegen König Agrippa II., sodann auch gegen dessen Feld-herrn Philippos vor, des Inhalts, Agrippa sei ein Feind der Tyrener und der Römer, denn sein Feldherr, Philippos, habe anläßlich der Belagerung der römischen Truppen durch die Rebellen Jerusalems nicht geholfen, sondern sei aus der Stadt entflohen und habe die römi-sche Cohorte untergehen lassen. Vielleicht gehörten der Cohorte von syrischen Hilfstrup-pen zahlreiche Tyrener an. Für dieses Versagen habe Agrippa seinen Befehlshaber nicht zur Rechenschaft gezogen. Den Anklagen schenkte Vespasian jedoch keinen Glauben. Agrippa aber forderte er dennoch auf, Philippos zu Nero zu schicken, um über die Vorfälle zu be-richten. Die Nachricht selbst ist jedoch unklar und unterschiedlich bei Iosephus verarbei-tet. Nach dem Bellum kam Philippos noch zu Lebzeiten des Cestus Gallus nach Antio-chia. Ob er von dort im Gefolge von Saulus und Kostobar zu Nero nach Griechenland

136 Schürer, Gesch.d.Jüd.Volkes, Bd. 1, S. 610, Anm. 31; Suet.Tit.4137 Sollte der Feldzug im Frühjahr 67 beginnen, war Eile geboten, um wegen der nötigen Vorbereitun-

gen nach Syrien zu kommen.138 Suet.Vesp.4.6; eine verallgemeinernde und unbestimmte Äußerung.139 Ios.vita 115–17, 120f. 213–15, 269, 347, 373f., 394–97140 Tac.hist.5.10.1141 Über ihn auch PIR2 L 216

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 23: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

416 | Die späten Jahre (65–68)

entsandt worden ist, um dem Kaiser zu berichten, bleibt unklar.142 In der vita dagegen heißt es, Philippos habe Nero zur Berichterstattung in Rom aufsuchen sollen, jedoch infolge an-derweitiger Beanspruchung des Kaisers keine Audienz erhalten.143 Hier muß ein Irrtum in der zeitlichen Abfolge vorliegen, denn Vespasian befand sich im Frühjahr 67 in Tyros, als Nero in Griechenland weilte. Der Kaiser kehrte höchstwahrscheinlich im Dezember 67 nach Rom zurück. Die Schilderung des zeitlichen Ablaufs der Ereignisse im Bellum ist vorzuziehen und darüber hinaus gibt es zu keiner Zeit Hinweise darauf, daß es zu einer Entfremdung zwischen Agrippa und seinem Feldherrn Philippos gekommen ist. Agrippa hielt sich zur fraglichen Zeit in der Provinz Syrien auf (in Berytos oder Antiochia). Nach der vita ist Philippos (wie oben geschildert) fünf Tage nach dem Massaker an der römi-schen Cohorte (September 66) aus Jerusalem entflohen, hat sich dann einige Zeit (ca. 8 Wochen?) bis zur Niederlage des Cestius Gallus (Ende Oktober 66) im Umkreis seiner Be-sitzungen aufgehalten und ist sodann zu König Agrippa gelangt.144 An der Untersuchung der Beschuldigungen vor Vespasian und an einer Berichterstattung an Nero muß man nicht zweifeln, doch sind die Einzelheiten unklar. Fest steht aber, daß es zu einer Bestrafung des Philippos durch Vespasian oder Nero nicht gekommen ist.

329. Das weitere Schicksal des Iustos von Tiberias

Irgendwann am Beginn des Jahres 67 war auch Iustos von Tiberias aus seiner Heimatstadt entflohen und kam zu König Agrippa II., der sich wohl gerade in Berytos145 aufhielt. Die Gestalt des Königs blieb fortan für ihn eine Konstante in seinem Leben. Iustos‘ früherer Einsatz für die jüdische Aufstandsbewegung, bei der ihn am Beginn auch Übereifer leitete, war besonnener Überlegung gewichen und in den zermürbenden innerstädtischen Strei-tigkeiten in Tiberias wurde seine Begeisterung sehr gedämpft. Er gehörte der gemäßigten Richtung an und erst recht war er kein Zelot und Aufrührer, den Iosephus in der vita aus ihm machen möchte.146 Wie dieser so suchte auch er die pragmatische Haltung Agrippas zur Richtschnur zu nehmen und ging schließlich zu ihm über. Einer Anklage vor Vespasian wegen seines Plünderungs-Feldzugs gegen Hippos und Gadara (in der syrischen Dekapo-lis) folgte nach Iosephus seine Verurteilung. Vespasian aber übergab ihn Agrippa, auf daß er nach eigenem Ermessen mit ihm verfahre. Der Fürsprache der Königin Berenike soll er seine Errettung vor der Todesstrafe verdanken. Da Iustos bald darauf Privatsekretär des Königs wurde, scheint er sich überzeugend verteidigt und rehabilitiert zu haben. Jedenfalls wirkt die in polemischem Ton gehaltene Stelle147 in der vita so wie sie vorliegt wenig glaub-würdig, wenn Iustos in eine Vertrauensstellung am Hof Agrippas getreten ist. Iustos soll später Fälschungen in seiner Eigenschaft als Privatsekretär begangen und ein zweites Mal

142 Ios.bell.Iud.2.558143 Ios.vita 408f.144 Dazu auch Josephus, Aus meinem Leben, S. 186145 Ios.vita 357146 Ebd. 344f.; 349–353147 Ebd. 341–343; 356

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 24: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 417

durch die Einrede der Königin von Bestrafung verschont geblieben sein.148 Aber auch dies klingt – so verkürzt – wenig glaubhaft und vereinfacht wohl einen komplizierteren Sach-verhalt. Wahrscheinlich ist Iustos nach dem Krieg weiterhin in Tiberias verblieben und hat gewiß noch den Regierungsantritt Kaiser Traians im Jahre 98 erlebt.

330. Vespasians Anmarsch – Sepphoris – Jüdische Niederlagen unter Iosephus und die Folgen

Inzwischen hatte sich das römische Heer in Antiochia unter Vespasians Führung gesammelt und zusätzlich noch König Agrippa II. mit seinen Truppen an sich gezogen. Mit diesen Kampfverbänden ließ er in Richtung auf Ptolemais vorrücken. Dorthin kamen Gesandte der größten Stadt Galilaeas namens Sepphoris zu ihm, um ihm ihre Unterstützung anzubie-ten. Zuvor schon hatte die Stadt mit Caesennius Gallus ein Abkommen geschlossen, weil sie Frieden und Schutz durch Roms Herrschaft wünschte.149 Vespasian ließ in Sepphoris eine hinreichende Anzahl von 1000 Reitern und 6000 Fußsoldaten unter dem Tribunen Placidus zurück.150 Von dort aus richteten sie bei umfangreichen Streifzügen durch Nord-galilaea viel Schaden an, weil Iosephus mit seinen Truppen zunächst noch nicht anwesend war. Als er nun heranrückte in der Hoffnung, die Stadt wieder einnehmen zu können, ver-hinderten dies die Schwäche seiner Verbände und die starken Mauern von Sepphoris und zwar auf folgende Weise: Iosephus versuchte von der Siedlung Garis aus mit einer Schar einen nächtlichen Angriff auf Sepphoris. Die Mauern der Stadt wurden mit Leitern über-stiegen und einige Römer und Sepphoriten fanden den Tod, während Iosephus angeblich nur einen Mann verlor. Weil die Angreifer sich in der Stadt nicht auskannten, zogen sie sich zurück. Draußen erlitt die Truppe von Iosephus bald darauf eine Niederlage in einem Reitergefecht, die er in der vita beschönigt hat.151

Danach trat auch der Befehlshaber des Königs Agrippa namens Sulla in den Kampf ein. Das war nicht lange vor der Belagerung von Jotapata. Sullas Lager befand sich etwa 5 Stadien von Iulias entfernt. Dieser hatte ferner die Versorgungswege aus Galilaea nach Kana und Gamala abschneiden lassen. Am Jordanfluß kam es zu einem Gefecht, bei dem Iosephus‘ Truppen allenfalls unentschieden kämpften. Iosephus berichtet nur, daß er durch eine List die Gegner in Unordnung gebracht habe. Er selbst erlitt im Kampf einen Kno-chenbruch an der Hand, ließ sich in Kapernaum ärztlich behandeln und sodann nach Tari-chaea, (in sein Hauptquartier?) verbringen.152 In einem weiteren Gefecht erlitten Iosephus’ Truppen wiederum eine Niederlage und wichen auf Tarichaea zurück.153

Durch die fehlgeschlagenen Unternehmen der Juden wurde der Krieg erst recht ange-facht und die Landbevölkerung hatte dabei am meisten zu leiden. Die Feinde streiften jetzt

148 Dies meint wohl Ios.vita 355149 Schürer, Gesch.d.Jüd.Volkes, Bd. 1, S. 610, Anm. 32150 Ios.vita 411151 Ebd. 394ff. Zu einer Schlacht mit den Truppen Vespasians ist es entgegen der Behauptung Ios.vita

412 nicht gekommen (Ios.bell.Iud.3.128–131).152 Ios.vita 399ff.153 Ebd. 405f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 25: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

418 | Die späten Jahre (65–68)

Tag und Nacht durch Galilaea, plünderten, mordeten und vernichteten die Pflanzungen. Jeder, der kampfbereit erschien, wurde umgebracht, andere, die gefangengenommen wor-den waren, verkaufte man in die Sklaverei. Unter diesen Umständen floh ein Großteil der Bevölkerung – besonders der kampffähige Teil – in die Städte und Iudaea bekam erstmals seit langer Zeit die Folgen eines erbarmungslosen Vernichtungskrieges zu spüren.154 Der rö-mische Feldzug hatte zwar die Wiedergewinnung der Provinz zum Ziel, wurde aber darüber hinaus von Anfang an als ein Rachekrieg geführt.155

331. Vereinigung mit Titus in Ptolemais und das römische Heer

Titus war der winterlichen Jahreszeit zum Trotz zu Schiff von Griechenland erstaunlich rasch nach Alexandria gelangt und hatte dort den Befehl über die römischen Kampfver-bände der XV. Legion übernommen. In Eilmärschen ging es nach Ptolemais, wo sich die Truppen etwa im April mit den zwei vespasianischen Legionen, der V. Macedonica unter Vettulenus Cerealis und der X. Fretensis unter dem Vater des späteren Kaisers Traian ver-einigten. Das gesamte Heer hatte nun folgende Abteilungen: Neben den drei Legionen waren dort 18 Cohorten und 5 Cohorten aus Kaisareia nebst weiteren berittenen Leuten. Dazu kamen 5 Cohorten aus Syrien. 10 der Cohorten bestanden aus je 1000 Fußsoldaten, die restlichen 13 aus 600 Fußsoldaten und 120 Reitern. Die Clientelkönige hatten Truppen gesandt, so Agrippa und Sohaimos von Emesa jeweils 2000 Bogenschützen; der Araber-fürst Malchos 1000 Reiter und 5000 Fußsoldaten. Das gesamte Heer umfaßte einschließ-lich einer ungewissen Anzahl von Leuten im großen Troß etwa 50–60.000 Kämpfer.156 So standen im syrisch-phoenicisch-iudaeischen Raum alleine sieben Legionen und eine sehr große Anzahl weiterer Verbände.

332. Placidus in Galilaea (Niederlage vor Jotapata)

Währenddessen streifte Placidus mit seinen Leuten zerstörend und mordend weiter durch Galilaea und verfiel schließlich auf den Gedanken, die am stärksten befestigte der Städte namens Jotapata anzugreifen. Er glaubte, sie im Handstreich nehmen zu können und sich durch diesen Erfolg bei seinen Vorgesetzten für Höheres zu empfehlen – war er doch auch der Meinung, der Fall dieser einen Stadt würde dazu führen, daß die übrigen den Nacken beugten. Doch die Jotapatenser hatten von seinem Anmarsch erfahren, stellten sich vor der Stadt auf und stürmten heran, bevor Placidus seine Truppen ordnen konnte. Im Be-wußtsein, für ihre Heimatstadt zu fechten, warfen die Juden in ihrem Ungestüm die Römer zurück, die jedoch durch einen geordneten Rückzug nur wenige Verluste hatten. Zudem

154 Ios.bell.Iud.3.29–34; 59–63155 So richtig Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 497, der dafür hätte auf Ios.bell.Iud.3.3 verweisen kön-

nen, wo von Bestrafung der Aufständischen die Rede ist.156 Ios.bell.Iud.3.64–69. Unzureichend recherchiert von Suet.Vesp.4.6, der nur von weiteren zwei Le-

gionen berichtet, die Titus zugeführt habe (er hatte nur eine, während Vespasian zwei Legionen hatte) nebst acht Reiterabteilungen und zehn Cohorten.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 26: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 419

konnten die Juden in dem Gelände wegen ihrer leichten Bewaffnung und, weil sie lediglich mit Geschossen aus der Ferne vorgingen, nur wenige ihrer Feinde töten.157

333. Vespasian an den Grenzen Galilaeas – Auseinanderbrechen des jüdischen Heeres

Iosephus war inzwischen, nach dem Bericht in der vita zu urteilen, wieder in das jüdische Heerlager nach Garis zurück gekehrt.158 Kurz nach der Niederlage gegen die Jotapatenser erschien Vespasian mit dem Heer an den Grenzen Galilaeas,159 wo er ein Lager aufschla-gen ließ. Der Anblick dieser Truppenansammlung genügte, um die Juden in Angst und Schrecken zu versetzen. Der ehedem so große Kampfeseifer und Mut wich jetzt dem Ban-gen über den Ausgang des so kühnen Unternehmens. Ein großer Teil des jüdischen Heeres begann auseinander zu fallen; viele flohen wahrscheinlich zur Festung Jotapata. Ein nicht unwesentlicher Teil des Heeres oder der Bevölkerung (hier herrscht Unklarheit) war nach Iosephus‘ Angaben schon zum Frieden geneigt und dachte daran, die Aufstandsbewegung zu verlassen. Iosephus sah ein, daß er mit der geringen Schar von treu gebliebenen Leuten einen Kampf gegen die Römer nicht wagen konnte und zog sich mit ihnen nach Tibe-rias zurück.160 Damit waren zentral geleitete Abwehrmaßnahmen, von deren Vorbereitung Iosephus ehedem noch so vollmundig gesprochen hatte, binnen kürzester Zeit in sich zu-sammengebrochen. Der Geist der jüdischen Truppen war auf den Kampf nicht wirksam eingestellt und dies war vielleicht die Folge der unklaren Haltung des Iosephus, aus der manch eine unverständliche und umstrittene Maßnahme hervorgegangen war. Er besaß offensichtlich keine ausreichenden Fähigkeiten, auf die Gemüter seiner Streiter angesichts des Anblicks, der sich ihnen jetzt bot, einzuwirken und in ihnen einen starken Wehrwillen zu erzeugen. Statt dessen betont Iosephus an verschiedenen Stellen161 die Sinnlosigkeit des jüdischen Abwehrkrieges. Zu seiner Entlastung ließe sich anführen, daß sich ein breit ange-legter Widerstandswille in der galilaeischen Bevölkerung ebenfalls nicht erkennen läßt.162

334. Eroberung von Gabara – Hilfeanforderung des Iosephus in Jerusalem

Nachdem die römischen Truppen in Galilaea eingefallen waren, wurde zunächst die Stadt Gabara (heute: Arrabe) ohne Schwierigkeiten eingenommen, denn alle kampffähigen Be-wohner waren entflohen. Wer sich sonst sehen ließ, wurde ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht getötet, die umliegende Gegend geplündert, Gefangene in die Sklaverei ver-kauft.163

157 Ios.bell.Iud.3.110–114158 Meines Erachtens handelt es sich bei den Ios.vita 411 mitgeteilten Heeresbewegungen nicht um

eine Doublette zu 394ff. oder 405f.159 CAH 1st Ed., S. 859 (Stevenson/Momigliano): Juni 67160 Ios.bell.Iud.3.115; 127–131161 Zum Beispiel durch den Mund des Königs Agrippa (Ios.bell.Iud.2.345ff.), der Hochgestellten und

Priester (Ios.bell.Iud.2.411ff.) und anläßlich der Belagerung von Jotapata (Ios.bell.Iud.3.193).162 Josephus, Aus meinem Leben, S. 173163 Ios.bell.Iud.3.132–134

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 27: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

420 | Die späten Jahre (65–68)

Iosephus machte sich nun aus Tiberias in aller Eile auf und versetzte dadurch die Bewoh-ner in Furcht und Schrecken. Sie sahen darin ein Eingeständnis, daß er wenig Hoffnung auf Erfolg hegte, und dies entsprach den Tatsachen. Er faßte nun ein Schreiben ab, das er per Eilboten an die Führer nach Jerusalem abgehen ließ. Darin schilderte er im einzelnen die Lage und stellte das Synhedrion vor die Entscheidung, entweder jetzt, zum letzt möglichen Zeitpunkt, noch Frieden zu machen – was er angeblich schon immer befürwortete – oder ihm ein Heer zuzusenden, das in der Lage sei, den Kampf mit dem Feind aufzunehmen.164 Genau genommen bedeutet dieses Schreiben das Eingeständnis seines Scheiterns im Hin-blick auf seine monatelangen Vorbereitungsbemühungen als Befehlshaber.

Die Belagerung von Jotapata

335. Vorbereitungen der Belagerung

Die römische Kriegführung hielt es nun für notwendig, Jotapata ( Jodafat) einzunehmen, bevor die weitere Eroberung Iudaeas in Angriff genommen werden konnte. Die Stadt ragte nicht nur durch ihre Lage und die Befestigung heraus, sondern es war auch bekannt, daß sich in ihren Mauern eifrige und kampfstarke jüdische Verbände aufhielten. Jotapata lag auf einem von drei Seiten aus unzugänglichen Berg, dessen Abhänge in tiefe Schluchten führten. Nur auf der Nordseite befand sich ein Zugang, weil dort der noch höhere Haus-berg in einen sanfteren Abhang ausmündete. Doch auch diesen hatten die Jotapatenser mit einer Mauer umschlossen, damit er Feinden nicht zugänglich sei.165 Etwa im Mai 67166 ließ Vespasian zunächst eine breite Aufmarschstraße durch die Pioniere herrichten, um sodann fünf Tage später mit der Belagerung zu beginnen. Kurz zuvor aber war Iosephus mit seinen Leuten aus Tiberias nach Jotapata gekommen, um dort die Kräfte des Widerstands zu or-ganisieren, die durch seine Anwesenheit gestärkt wurden. Vespasian soll von dem Aufent-halt des Iosephus erfahren und deswegen sofort durch 1000 Reiter unter Placidus und dem Centurio Aebutius die Einschließung der Stadt eingeleitet haben.167

336. Die ersten Kampftage der Belagerung

Mit diesem Ereignis begann die ungewöhnlich aufwendige und langwierige Belagerung der Stadt.168 Wir haben hierzu nur den Bericht des Iosephus im Bellum.169 Er dürfte nicht frei vom Selbstruhm des Verfassers sein. Diesen Verdacht erregt Iosephus selbst, denn Iustos

164 Ebd. 3.135–140165 Ebd. 3.158–160166 Nach Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd., 1, S. 612167 S. besonders das Ios.bell.Iud.3.144 verdächtige Eigenlob des Iosephus.168 CAH 1st Ed., S. 859 (Stevenson/Momigliano) und Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 138: Juni/Juli 67.

Nach Art und Vielseitigkeit der Angriffs- und Abwehrmaßnahmen ist die Belagerung etwa mit der von Tyros durch das Heer Alexanders des Großen ( Januar bis August 332 v. Chr.) vergleichbar.

169 Zum folgenden Ios.bell.Iud.3.141ff.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 28: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 421

von Tiberias hat dieses Ereignis ebenfalls geschildert und Iosephus kritisiert mittelbar die-sen Bericht mit Bezug auf seine eigenen Leistungen als Befehlshaber.170

Im Juni begann Vespasian mit dem Hauptheer die eigentliche Belagerung aufzuneh-men. Dieses legte sich im Norden der Stadt auf eine Anhöhe im Angesicht der Verteidiger, denen man mit der ungeheuren Anzahl der Streiter Furcht einflößen wollte. Dies gelang auch.171 Am selben Tage kam es nicht mehr zum Angriff auf die Mauern. Man umschloß Jotapata mit einem zweifachen Belagerungsring; ein dritter wurde von der Reiterei gebildet und für die Bewohner gab es nun kein Entrinnen mehr. Hierdurch aber wurde der Mut, den Verzweiflung eingibt, in den Verteidigern geweckt und der römische Kriegsrat mußte bald erkennen, daß ein rascher Erfolg nicht möglich war.

Am folgenden Tag begann der Angriff. Eine jüdische Abteilung, welche vor der Mauer ein Lager aufgeschlagen hatte, hielt anfangs mit großer Tapferkeit stand. Dann aber begann Vespasian, die Bogenschützen, Schleuderer und anderen Abteilungen mit Fernwaffen ge-gen die Juden vorrücken zu lassen. Er selbst eilte mit den Fußtruppen den steilen Abhang auf der Nordseite hinan, von dessen Spitze aus die Stadtmauer dem Bericht zufolge leicht zu erstürmen war. In dieser Gefahr entschloß sich Iosephus mit der gesamten Besatzung von Jotapata einen Ausfall zu machen. In dichten Gruppen drangen sie auf die Römer ein; es entspann sich ein Kampf, der beiderseits mit großer Heftigkeit und Hartnäckigkeit un-ter nicht unbedeutenden Verlusten geführt wurde. Erst die Dunkelheit trennte die Kämp-fenden. Auf römischer Seite waren 13 Leute gefallen und etliche verwundet, auf jüdischer Seite 17 Tote und 600 Verwundete zu beklagen.

Dieser erste Erfolg des jüdischen Abwehrkampfes einerseits, diese mit Scham empfun-dene Dämpfung des Ungestüms der römischen Angriffskraft andererseits, die gewohnt war, zu raschen Erfolgen zu gelangen, trieb beiderseits den Kampfeseifer der Streiter an und steigerte auch den wechselseitigen Haß. An fünf aufeinanderfolgenden Tagen rollten die römischen Angriffswellen heran, doch wurden sie durch die Tapferkeit der jüdischen Ver-teidiger, die in Ausfällen vor der Mauer kämpften, gebrochen.

337. Beginn römischer Schanzarbeiten und geeigneter jüdischer Abwehrmaßnahmen

Infolge der Hartnäckigkeit der Verteidiger richteten sich Vespasian und die Heeresleitung auf eine längere Belagerung ein und berieten darüber, auf welche Weise der Kampf um Jotapata am wirkungsvollsten fortgesetzt werden könnte. Man entschloß sich, an der am leichtesten zugänglichen Stelle der Mauer eine Rampe oder einen Damm, beziehungsweise mehrere davon aufzuführen. Diese sollten dazu dienen, Brechgerät wie den „Widder“ ge-gen die Mauer in Stellung zu bringen.172 Sogleich wurden Bäume gefällt, Steine und Felsen herbeigeschleppt und Erdreich heran geschafft. Zum Schutz der Schanzarbeiten ließ man

170 Ios.vita.357171 Iosephus behauptet, daß keiner der Juden fürderhin die Stadt zu verlassen wagte. Die Angabe ist

unzutreffend, denn für den nächsten Tag wird von einem Lager oder Vorwerk der Juden außerhalb der Mauern berichtet.

172 Ios.bell.Iud.3.214

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 29: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

422 | Die späten Jahre (65–68)

geflochtene Dächer auf Stützpfeilern an die Mauer heranführen, auf daß die darunter Ar-beitenden vor Wurfgeschossen geschützt waren. Zwar durchschlugen die von oben gewor-fenen Steine die Dächer nicht, aber das Krachen und das Getöse behinderten die Schanz-arbeiter immer wieder.

Vespasian ließ sodann die 160 Wurfmaschinen, über die das Heer verfügte, in Stellung bringen, um die Verteidiger von der Stadtmauer zu verscheuchen. Vor dem Hagel der Lan-zenwürfe aus den Geschossen, den Felsbrocken aus den Steinschleudern, den Feuerbrän-den, den Pfeilen der arabischen Bogenschützen und den kleinen Steinkugeln der Schleu-derer flüchteten sich die Juden ins Innere der Stadt. Wer nicht beim Löschen gebraucht wurde, sammelte sich schon bald in kleinen Kampfeinheiten, die wiederholt Ausfälle auf die Schanzarbeiter vor der Mauer unternahmen. Soweit möglich brachte man die Schutz-dächer zum Einsturz, verwüstete das Schanzwerk und setzte Holz und Faschinen in Brand. Dies war nur möglich, weil die Schanzarbeiten und die Schutzdächer zu weit voneinander entfernt lagen. Vespasian ließ nun die Schutzdächer untereinander verbinden und unter ihnen auch Wachen aufstellen, so daß die feindlichen Ausfälle vorerst aufhörten.

In der Stadt sah man nun den Damm von Tag zu Tag ansteigen und es bestand die Befürchtung, daß die Einnahme bald erfolgen könnte, wenn nicht schleunigst Gegenmaß-nahmen ergriffen würden. So kam man auf den Gedanken, die Stadtmauer zu erhöhen. Um dies ohne Beschuß durch die Fernwaffen aufführen zu können, verfiel Iosephus auf den Gedanken mächtige Holzbalken in die Erde zu rammen und an ihnen in der Höhe nasse Rinderhäute aufzuspannen. Den schweren Brocken würden sie nachgeben, die kleine-ren Geschosse abprallen und Brandfackeln würden durch die Nässe gelöscht. Durch diese Maßnahme gelang es, den Schutz der jüdischen Pioniere zu gewährleisten, die nun von der Stadtseite her die Mauer an ihrer gefährdeten Stelle bis auf 20 Ellen erhöhten, Türme und auch eine eindrucksvolle Palisade erbauten. Diese Entwicklung der Dinge machte die Rö-mer mutlos, weil ein Ende ihrer zermürbenden Bemühungen nicht abzusehen war.

An Lebensmitteln war in Jotapata mit Ausnahme des Salzes kein Mangel. Auch wurde die Stadt eine Zeitlang über einen geheimen Pfad im Westen des Tals von außen versorgt, bis die römischen Wachen auch diesen verborgenen Zugang entdeckten und versperrten. Demgegenüber gab es nur geringe Wasserversorgung, die rationiert werden mußte. Von den wenigen Stellen, von denen aus ein Einblick in die Stadt möglich war, erkannten die Römer die Ausgabestellen für das Wasser und beschossen sie, soweit es ging, mit ihren Fern-waffen, wobei etliche Leute getötet wurden. Um den Römern die Zuversicht zu nehmen, die Stadt rasch einnehmen zu können, ließ Iosephus die Leute Kleider ergreifen, sie in die Zisternen tauchen und damit die Mauer besprengen. Dadurch wollte er den Anschein er-wecken, man verfüge noch über unversiegbare Wasservorräte. Und auch Vespasian kamen Zweifel an, ob allein der Einschluß die Stadt aushungern und mürbe machen könnte und war schon bald geneigt, statt nur zu schanzen wieder zu den Waffen zu greifen.

338. Wiederaufnahme der Ausfälle gegen die Schanzarbeiten und Weitschußstellungen

Inwieweit Überlegungen des Iosephus eine Rolle spielten, Jotapata heimlich mit einigen Führern zu verlassen, muß offen bleiben. Angeblich hielt er die Stadt bereits für verloren

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 30: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 423

und wollte von außen Hilfe bringen. Das Ansinnen wurde jedoch bekannt und die Jota-patenser flehten ihn – wahrscheinlich auch unter Drohungen – an, zu bleiben. Es blieb ihm nichts anderes übrig.173 Dagegen feuerte er jetzt die Streiter an, mit ihm sofort einen Ausfall zu machen, und alle brachen im Nu durch die überraschten römischen Wachen hindurch und kamen bis zum Lager. Dort richteten die Juden viel Schaden an, zerstörten die Schutzvorrichtungen, hinter denen die Soldaten schanzten, setzten Belagerungswerk-zeuge in Brand und zogen sich wieder zurück. Ähnliches wiederholte sich in den folgenden Tagen. Diese Ausfälle richteten anfangs auf Seiten der Römer viel Zerstörung an, weil sie zumeist in schwerer Bewaffnung den leicht bewaffneten jüdischen Angreifern unterlegen waren, die, sobald sie ihr Werk vollbracht hatten, behende zurück in die Stadt entflohen. Dagegen ergriff Vespasian die Maßnahme, die arabischen Bogenschützen und syrischen Schleuderer in Stellung zu bringen und die Wurfgeschosse einzusetzen. Dies verursachte jetzt hohe Verluste unter den jüdischen Angreifern. Gelang es ihnen jedoch einmal bis zu den Weitschußstellungen vorzudringen, so richteten sie dort viele Zerstörungen an, gingen aber zumeist einem sicheren Tod entgegen, weil ihnen jetzt überwiegend der Rückzug nicht mehr gelingen konnte.

339. Der Einsatz des Mauerbrechers („Widder“)

In der Zwischenzeit waren trotz der störenden Angriffe die Rampen oder Dämme zum Heranführen schweren Brechgeräts und anderer Gerätschaften hoch genug aufgeführt wor-den. Jetzt kam es zum Einsatz des sogenannten „Widders“ (aries) – eines an einem starken Holzgerüste mit Tauen aufgehängten Rammastes von großer Länge. Seine der Stadtmauer zugewandte Spitze war mit Metall verstärkt. In Eigenschwingung versetzt, prallte er mit ungeheurer Wucht gegen das Gestein, und auf Dauer konnte kein von Menschenhand geschaffenes Abwehrbauwerk dem „Widder“ standhalten. Unterstützt wurde der Einsatz durch Wurf- und Schleudermaschinen, Bogenschützen und Schleuderer, die die Verteidi-ger von der Mauer vertreiben sollten, worauf der „Widder“ herangeführt wurde. Gegen das Abrutschen dienten Faschinen; zum Schutz des Geräts und der bedienenden Mannschaft war er von oben mit Fellen bedeckt. Sobald der erste Rammstoß gegen die Mauer prallte, erschraken alle, die ihn wahrnahmen.

Als Gegenmaßnahme diente kurzzeitig der Einsatz von mit Stroh und Spreu gefüllten Säcken, die in Höhe des Rammbocks an der Mauer heruntergelassen wurden. Hierdurch ward die Wucht des Stoßes so weit abgedämpft, daß das Zerstörungswerk für eine Weile unterbrochen war. Doch die Angreifer kamen auf die Idee, mit langen Sicheln, die sie am Schwingbaum befestigten, die Säcke aufzuschneiden, so daß bald schon das Brechen des Gesteins fortgesetzt werden konnte. Dagegen halfen sich die Juden, indem sie glühende Holzkohle bereiteten und in drei Abteilungen mit Ungestüm plötzlich einen Ausfall ver-suchten, zu den nächsten Belagerungsmaschinen eilten und sie in Brand setzten. Derart rasch und unvermutet wie dies vor sich ging, blieb den Römern zu Gegenmaßnahmen keine Zeit. Innerhalb einer Stunde waren Belagerungsmaschinen, Wurfgeschosse und Faschinen,

173 Die Schilderung Iosephus bell.Iud.3.193–204 mit starker selbstbelobigender Tendenz, erhält vor dem Hintergrund seines späteren Übergangs zu den Römern ihre besondere Färbung.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 31: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

424 | Die späten Jahre (65–68)

soweit die Juden sie erreichen konnten, ein Raub der Flammen. Einige Juden zeichneten sich durch verzweifelten Mut aus, so ein gewisser Eleazar, dem es gelang den Kopf des Widders durch die Wucht eines riesigen herunterfallenden Steins abzuschlagen. Bald dar-auf unternahm Iosephus mit den Juden einen weiteren Ausfall. Ihnen voran stürmten die Brüder Netrias und Philippos gegen die Legionäre der X. Legion und konnten sich lange Zeit gegen sie behaupten. Währenddessen zündeten die Juden Belagerungsmaschinen und Schutzdächer der V. und X. Legion an und zogen sich sodann zurück. Schon bald aber war wieder alles instand gesetzt; der Rammast trat in Tätigkeit und das Zerstörungswerk an der Stadtmauer nahm seinen Fortgang.

340. Vespasians Verwundung und die anschließenden Kämpfe

Bald darauf wurde Vespasian durch einen Pfeilschuß am Fuß verletzt.174 Dadurch war der Kampfeseifer der Soldaten erheblich angestachelt, die durch ihren Einsatz Rache für die Verletzung des Feldherrn nehmen wollten. Über dem sich anschließenden Kampf wurde es Nacht, doch ließ beiderseits der Eifer nicht nach. Eine Unmenge von Geschossen, vor allem Steine, hagelte auf die Verteidiger der Mauer und die Bewohner der Stadt nieder, die, weil sie die aus der Dunkelheit heran sausenden Objekte nicht sehen konnten, oft einen grau-envollen und plötzlichen Tod starben. Von Seiten der Verteidiger versuchte man dagegen zu halten, warf neben Steinen und Metallgegenständen auch Feuerbrände. Dies hatte den Vorteil, daß nunmehr das Geschehen vor der Mauer durch die Beleuchtung gesehen wer-den konnte. Dabei gerieten besonders diejenigen in Todesgefahr, die im Vertrauen auf ihre Verborgenheit den Widder bedienten und absicherten und viele Verluste zu beklagen hat-ten. So kämpfte man also die Nacht hindurch. Am Morgen war es den Römern schließlich gelungen, eine Bresche in die Mauer zu schlagen, doch bevor sie die Sturmbrücken anlegen konnten, trat ihnen noch einmal der Widerstand der belagerten Juden mit aller Wucht entgegen und schlug sie zurück.

341. Verfrühte Vorbereitung Vespasians für den Entscheidungskampf um Jotapata

Vespasian bereitete nun den Entscheidungskampf vor. Er ließ seine besten Reiter in gestaffel-ter Formation von drei Reihen vor der Bresche Aufstellung nehmen. Sie hielten Lanzen im Anschlag und waren durch ihre starke Rüstung gegen Fernwaffen geschützt. Dahinter stellte er die besten Fußsoldaten auf. Auf den Anhöhen waren die übrigen Reiter aufgestellt, die jegliche Flucht der Belagerten verhindern sollten. Hinter der Kampfaufstellung postierte er die Bogenschützen und Schleuderer, die die Verteidiger auf der Mauer verscheuchen sollten. Weiteren Abteilungen gab er Anweisung, während des Kampfes Sturmleitern an die Mauer zu legen, um diejenigen, welche dort verblieben, zu beschäftigen, damit sie nicht bei der Ab-wehr, der durch die Bresche eindringenden Kämpfer mitwirken konnten. Und alles sollte

174 Vielleicht meint Suet.Vesp.4.6 dasselbe, wo von Vespasians durchbohrtem Schild die Rede ist. Mög-licherweise ist die Begebenheit auch mit dem an gleicher Stelle erwähnten Steinwurf identisch, da Iosephus eine solche Verletzung Vespasians nirgends erwähnt.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 32: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 425

starken Rückhalt in dem Einsatz der großen Wurfmaschinen erhalten, indem unausgesetzt die Mauer und ihre Verteidiger unter Beschuß genommen werden mußten.

Iosephus dagegen ließ die älteren Kämpfer die übrigen Abschnitte der Mauer besetz-ten, während er die jüngeren zur Verteidigung des Mauerdurchbruchs gebrauchte. Durch Los wurde er neben anderen dazu bestimmt, die Verteidigung in vorderster Linie zu über-nehmen. Angeblich sah er ein, daß es nicht mehr um die Rettung der Stadt gehe, sondern nur noch darum, daß der Feind einen möglichst hohen Preis zahle, bevor er die Stadt ein-nehmen könne. Zur Steigerung ihrer Kampfkraft für das letzte Gefecht sollten die Juden ihre Ohren gegen das Kampfgeschrei der Römer verschließen und an das bevorstehende Schicksal ihrer Angehörigen denken. Gegen die Geschosse und den Pfeilhagel, der den Kampf aller Voraussicht nach eröffnen werde, sollten sie sich durch äußerste Vorsicht und mit ihren Schilden sichern. Sobald die Römer die Sturmbrücken angelegt hätten, sollten sie den Angreifern entgegen stürmen. Die Frauen ließ Iosephus in ihren Häusern einsperren, damit sie durch ihren angsterfüllten Anblick, ihr Heulen, Zetern und Greinen den Kampf nicht behinderten.

Als nun die Trompeten zum Angriff bliesen, sahen die Juden zu, dem ersten Geschoß- und Pfeilhagel zu entgehen. Sowie aber die Enterbrücken angelegt waren, bestiegen sie diese behende und stürmten den römischen Angreifern mutig entgegen. Es entspann sich ein erbitterter Kampf mit einer großen Anzahl Toter und Verwundeter. Dabei waren die Römer im Vorteil, weil sie in mehreren Wellen stets von frischen Kräften abgelöst wurden, während die Juden in der Stadt durch die bereits wochenlang andauernde Belagerung er-müdet und zermürbt, nicht lange anhaltenden Widerstand leisten konnten. Immer dichter schlossen die Römer ihre Reihen, schützten sich von oben mit den Schilden und drangen vor. Da wurden sie plötzlich von einem Schwall siedenden Öls übergossen, das eine grau-envolle Wirkung hatte. Wer noch in der Lage war zu entfliehen, wandte sich ab und kam dann gelegentlich durch jüdische Fernwaffen um. Die anderen wanden sich in Schmerzen und Qualen, weil das Öl, das einen viel höheren Siedepunkt hat als Wasser, zwischen ihre Rüstungen lief, von denen sich die Kämpfer, selbst wenn sie wollten, nicht so rasch befreien konnten. Doch konnte der Eifer der vordrängenden Römer durch diesen Schrecken kaum gedämpft werden. Bald darauf aber kam zusätzlich das sogenannte „griechische Heu“, eine durch Auskochen des Bockshornklees gewonnene Schmiere, zum Einsatz auf den Sturm-leitern und Sturmbrücken. In Menge glitten die Angreifer jetzt aus, fielen im Hinunter-rutschen übereinander, andere versuchten sich zu wenden. An manchen Stellen hörte der Nahkampf auf, so daß die Juden Gelegenheit hatten, mit den Schußwaffen auf die teils wehrlosen, teils fliehenden Angreifer zu zielen. Dadurch erst erlitten sie etliche Verluste. Aber auch auf Seiten der jüdischen Verteidiger gab es Tote und viele Verwundete. Dies waren die Kämpfe am 20. Daisios 67.

342. Weitere Erhöhung der Rampe und die Aufstellung von Kampftürmen

Vespasian sah ein, daß ohne weiteren Vorteil in der Organisation des Angriffs die Erobe-rung der Stadt wesentlich erschwert würde, weil das Emporstürmen auf den Brücken und Leitern zu wenig Durchschlagskraft besaß. So gab er Befehl, die Dämme noch höher auf-zuwerfen und drei mit Eisenbeschlägen bewehrte Türme von 50 Fuß Höhe zu errichten,

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 33: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

426 | Die späten Jahre (65–68)

die den umkämpften Teil der Mauer deutlich überragten. Die Eisenbewehrung hatte den Vorteil, daß die Türme stabiler, durch das Metallgewicht fest stehender und auch gegen Feuer gesichert waren. Sobald die Türme errichtet waren, ließ Vespasian sie mit Speerwer-fern, Bogenschützen und den besten Schleuderern besetzen und auch kleine Wurfmaschi-nen hinauf bringen. In dem nun folgenden Kampf waren die Belagerten im Nachteil, weil sie die oben auf den Türmen tätigen Kämpfer hinter ihrer Brustwehr nicht mehr sehen und keine gezielten Gegenmaßnahmen ergreifen konnten. Die Deckung war schwierig und ihre Handwurfgeschosse weitgehend wirkungslos. Die Soldaten Vespasians konnten dagegen die Verteidiger mit ihren Wurfgeschossen bestreichen und bald schon war der Aufenthalt auf den Wehrläufen der Mauer nicht mehr möglich. Der ungleiche Kampf konnte die Ein-nahme der Stadt nur noch verzögern, denn über gelegentliche Ausfälle, durch die sie bei geringem Erfolg hohe Verluste erlitten, kamen die Abwehrmaßnahmen der Juden nicht mehr nicht hinaus.

343. Die Einnahme von Jotapata175

Nun kam der 47. Tag der Belagerung heran.176 Inzwischen hatten die Dämme eine Höhe er-reicht, welche die der Mauerkrone überschritt. Während die Verteidiger den Mut nicht auf-gaben, wurde die endgültige Einnahme Jotapatas nur durch Verrat möglich. In der Nacht war ein Überläufer zu Vespasian gekommen und gab an, die Stadt sei infolge ihrer nunmehr wenigen und auch entkräfteten Verteidiger leicht zu nehmen. Der günstigste Zeitpunkt sei am frühen Morgen gegeben, weil dann viele der Wachen, durch den nächtlichen Dienst unwillkürlich vom Schlaf übermannt oder unaufmerksam seien. Trotz einiger Zweifel gab Vespasian den Befehl zum geordneten Aufmarsch für den entscheidenden Sturm auf Jo-tapata. Sein Sohn Titus177 und der Tribun Domitius Sabinus sollen mit einigen erlesenen Soldaten der V. und X. Legion die ersten gewesen sein, die im Schutz des Morgennebels, wahrscheinlich mit Brücken oder Leitern, die Mauer erstiegen, gefolgt von den Tribunen Sextus Calvarius und Placidus. Sie machten die Wachen nieder und zogen so weitere Kämp-fer nach, die schon bald die Burg der Stadt einnahmen, während nach dem vorliegenden Bericht viele noch im Schlafe lagen. Als das Entsetzen der Einwohner um sich griff, war es bereits zu spät; die Stadt war voll von Feinden, die bald wohl auch durch die geöffneten Tore Einlaß gefunden hatten und nun hob, durch den Zorn auf die Verteidiger, die den Römern so viele Strapazen aufgezwungen hatten, ein Morden ohne Halt an. Außer Frauen und Kleinkindern wurde niemand sonst geschont. Die Leute hetzte man vom Burgberg hinab und durch die Gassen, um sie dort, in Haufen gedrängt, zusammenzuhauen. Ledig-lich auf einem der Nordtürme nahmen einige Wachen, die rechtzeitig dorthin gelangen konnten, einen verzweifelten Verteidigungskampf auf. Auch viele von der Elite der Stadt, die um Iosephus waren, begingen Selbstmord. Während der Belagerung und bei der Ein-nahme Jotapatas waren, wie angegeben wird, 40.000 Menschen ums Leben gekommen und

175 Ios.bell.Iud.3.316–339176 Nach Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 498, Anm. 2 dauerte die Belagerung 44 Tage; ferner Schü-

rer, Gesch.d.jüd. Volkes, Bd. 1, S. 612, Anm. 38177 Fehlt in der Schilderung der Kriegstaten des Titus bei Suet.Tit.4

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 34: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 427

1200 gerieten in Gefangenschaft. Vespasian befahl die Stadt vollständig zu zerstören und sämtliche Befestigungsanlagen in Brand zu setzen. Die Einnahme von Jotapata erfolgte am Neumond des Monats Panemos (etwa Juli).178

344. Eroberung von Japha179

Unter dem Eindruck des beherzten und hartnäckigen Widerstands in Jotapata hatte sich das etwa 20 Kilometer entfernte Japha gegen Rom erhoben. Vespasian ließ noch während der Belagerung von Jotapata eine Abteilung von 1000 Reitern und 2000 Fußsoldaten unter dem Befehlshaber der X. Legion, Traianus, gegen die Stadt vorgehen. Dieser sah ein, daß Japha infolge der Lage und eines zweifachen Mauerrings nur schwer zu nehmen war. Auch stürmte auf das Herannahen der Römer eine nach Tausenden zählende Truppe aus der Stadt ihnen entgegen. Nach kurzem Kampf wandte sie sich zur Flucht. Durch den ersten Mauerring waren die Kämpfer noch mitsamt ihren Feinden hindurch gekommen. Aber als sie durch den zweiten Mauerring zu ihren Mitbürgern zurückkehren wollten, verschlossen diese ihnen den Zugang, aus Furcht, die Feinde würden zusammen mit ihnen eindringen. In dem nun einsetzenden Morden sollen 12.000 Menschen unter grausamen Szenen um-gekommen sein. Weil Traian meinte, es könnten sich nur noch wenige kampffähige Leute innerhalb der Stadt aufhalten, sandte er an Vespasian, er solle seinen Sohn Titus schicken, dem die Ehre der vollständigen Eroberung zuteil werden sollte. Der ließ Titus mit 500 Rei-tern und 1000 Fußsoldaten abgehen.180 Sowie er vor Japha angekommen war, stellte er die Truppen vor der Stadt auf, befehligte selbst den rechten Flügel und überließ Traian den linken. So stürmte man vor, legte die Sturmleitern an und drang in die eigentliche Stadt ein. Kurz war der Widerstand der Verteidiger. Bald schon stürmten die Römer durch die Straßen und Gassen und fanden nur noch im Stadtkern hartnäckige Verteidigung vor. Die Frauen halfen mit und warfen alles an Hausrat, was sie fassen konnten, von oben aus den Häusern auf die Angreifer. Nach sechs Stunden aber war der Widerstand gebrochen und bis auf Frauen und Kleinkinder wurden alle übrigen Bewohner ums Leben gebracht. An diesem 25. Daisios starben weitere 3000 Menschen. Die Gefangenen wurden in die Skla-verei verkauft.

345. Beendigung des Widerstands in Samaria auf dem Berg Garizim181

Auch bei den Samaritern kam es zu verdächtiger Bewegung. Im Umland der Stadt gab es einige römische Stützpunkte und als die Besatzungen bemerkten, daß die Menge des Volkes sich sammelte, den heiligen Berg Garizim besetzte und einen Schutzwall errichtete, mut-maßten sie nicht zu Unrecht die Vorbereitung von Widerstand und meldeten dies durch Boten dem Vespasian. Der sandte unter Cerealius 600 Reiter und 3000 Fußsoldaten ins Samaritanische, um zu erkunden, was vor sich ging und eventuell Gegenmaßnahmen zu er-

178 Nach Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 613179 Ios.bell.Iud.3.289–306180 Auch dies fehlt Suet.Tit.4181 Ios.bell.Iud.3.307–315

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 35: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

428 | Die späten Jahre (65–68)

greifen. Die Wasserlosigkeit dieses Sommers aber war der stärkste Feind der Widerständler, so daß etliche der Samariter sich den Römern ergaben, bevor der Kampf begann, andere durch Verdursten umkamen. Cerealius hielt es nicht für angeraten, gegen die auf dem Berg sogleich vorzugehen, sondern schloß sie ein, wartete ab und bot ihnen dann nach einiger Zeit Schonung an. Als sie dies aber ablehnten, obwohl sie erheblich geschwächt waren, ließ er am 27. Daisios sofort vorrücken. Alles was sich an Feinden auf dem Berg zeigte, wurde niedergemacht; insgesamt waren dies 11.600 Mann.

346. Gefangennahme des Iosephus – Prophezeiung von Vespasians Kaisertum

Nach der Einnahme Jotapatas wurde Iosephus unter abenteuerlichen Umständen, deren Einzelheiten nur bei ihm geschildert sind,182 gefangengenommen und vor Vespasian ge-führt. Angesichts seines früher gelegentlich geäußerten Selbstlobs ist Skepsis angebracht, ob sich die abenteuerlichen Vorgänge rund um seine Gefangennahme so ereignet haben, wie er sie in seiner selbstgefälligen und weitschweifigen Art beschrieben hat.183 Insbeson-dere der Zufall, daß er fast allein aus einer Schar von etwa 40 Leuten durch Losentscheid am Leben blieb, macht die Geschichte verdächtig, und sicher wird irgendeine Art von Be-trug zu seiner Rettung beigetragen haben.

Wichtiger noch als die geklitterte Geschichte seiner Rettung ist die Tatsache, daß Io-sephus vor Vespasian geführt wurde, der ihn zunächst in strenge Haft nehmen ließ, um ihn für Neros Triumph aufzusparen.184 Bald darauf aber ergab sich für Iosephus Gele-genheit, Vespasian in Anwesenheit einiger Zeugen und seines Sohnes Titus, den er stets in milden und rühmenden Worten schildert, zu sprechen. Aus Verwegenheit, oder was es auch sonst war, deutete er dabei auf irgendeine Art an, daß Vespasian zum Kaisertum berufen sei.185 In seinen Berichten hat Iosephus dies später weiter ausgeschmückt, um so die selbst geschaffene Legende von seinem Prophetentum zu untermauern und sich selbst zu erhöhen. Die Tatsache, daß er angeblich die 47tägige Belagerung Jotapatas und sein Überleben voraus gewußt haben will,186 wirft kein gutes Licht auf ihn und seine Bericht-erstattung insgesamt. Möglicherweise hat Iosephus Voraussagen, die damals des öfteren unter verschiedener Bezugnahme geäußert worden sind, aufgenommen und geheimnis-voll weitergegeben. Er hat wahrscheinlich einige allgemeine Äußerungen getan und dies später zu seiner Weissagung verdichtet. „Etwas Wahres wird an der Sache wohl sein.“187 Bemerkenswert ist immerhin, daß seine Weissagung neben der Unzahl weiterer Vorzei-chen für Vespasians Kaisertum bis in die Zeugnisse für die römische Reichsgeschichte

182 Ebd. 3.340–391; ferner contr.Ap.1.48f.183 Es könnte sein, daß Iustos von Tiberias auch hierzu andere Informationen besaß, denen Iosephus in

der vita entgegentritt.184 Ios.bell.Iud.3.398; vita 412; 414185 Ios.bell.Iud.3.399ff.186 Ebd. 3.405187 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 613, Anm. 41

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 36: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 429

gedrungen ist,188 und die Nachricht vom jüdischen Orakelspruch aus Appians verlorenen gegangenem 22. Buch seiner „Römischen Geschichte“ hat der Byzantiner Zonaras in sei-nen Annalen 11.16 aufbewahrt.189 Schon bald wurde Iosephus in milder Haft gehalten, sei es dieser Prophezeiung wegen, sei es auf Verwendung des Titus oder dessen Gespielin Berenike.190

347. Vespasian nach Ptolemais und Kaisareia – Die Seeräuber in Joppe

Am 4. Panemos zog Vespasian nach Ptolemais und von da nach Kaisareia. Das Heer wurde von der syrisch-hellenischen Bevölkerung mit Jubel empfangen. Die von dem Stadtvolk geforderte Hinrichtung des Iosephus lehnte Vespasian ab. Kaisareia sollte Winterquartier für zwei Legionen werden; die XV. Legion ließ er dagegen in Skythopolis in der Dekapolis überwintern.191

Während all dieser Ereignisse hatte sich zunächst im Verborgenen die Seestadt Joppe zu einem Piratenstützpunkt entwickelt, der innerhalb kurzer Zeit den zivilen Seeverkehr im östlichen Becken des Mittelmeeres erheblich behinderte. Nun sandte Vespasian eine Kampftruppe dorthin aus. Weil die Seeräuber rechtzeitig davon erfuhren, bestiegen sie ihre Schiffe und gaben die leere Stadt den Römern preis. Als sich jedoch bald darauf ein Sturm erhob, den die Einheimischen den „schwarzen Nordwind“ (μελαμβόριον) nennen, drückte er die Schiffe gegen die Steilküste und in die Klippen der dortigen Gegend, wo sie mit Kra-chen zerbarsten. Durch dieses Ereignis wurde die Seeräuberplage fast ohne Waffeneinsatz beendet. Das Meer spülte angeblich noch 4200 Leichen an Land. Oberhalb der Stadt ließ Vespasian eine Festung errichten, von der aus die Besatzung das umliegende Land über-wachte und durchstreifte, so daß es, wie es heißt, zur Wüste wurde.192

348. Reaktionen in Jerusalem auf den Untergang Jotapatas

Die Nachricht vom Untergang Jotapatas war inzwischen nach Jerusalem gelangt, wo man dies zuerst nicht glauben konnte. Doch das Angegebene bewahrheitete sich, und in die beherzten Klagen über den Verlust von Angehörigen in Jotapata mischte sich der Zorn über Iosephus, den Überläufer und Verräter, für den man ihn jetzt hielt. Man erfuhr näm-lich, daß er bei Vespasian in privilegierter und behaglicher Gefangenschaft gehalten werde. Dies alles stachelte den Widerstandswillen der Jerusalemer mächtig an, und hinter ihnen standen die Vielzahl der durch den Krieg entwurzelten Menschen, die jetzt in ansteigender Zahl nach Jerusalem flohen.193

188 Suet.Vesp.5.6; Cass.Dio 65.1.4189 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 613, Anm. 41; weiteres auch bei Tac.hist.2.78190 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 499191 Ios.bell.Iud.3.409–413192 Ebd. 3.414–431193 Ebd. 3.432–442

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 37: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

430 | Die späten Jahre (65–68)

349. Vespasian zu Agrippa nach Kaisareia Philippi – Angiff auf Tiberias

Inzwischen hatte König Agrippa Vespasian nach Kaisareia Philippi eingeladen. Er wollte ihn durch üppige Gastfreundschaft mit seinem Wohlstand umschmeicheln und sich ge-neigt zu machen. Dabei verfolgte er vor allem die Absicht, seine Hilfe gegen die entweder schon ausgebrochenen oder sich ankündigenden Unruhen in seinem Herrschaftsgebiet zu erhalten. Vespasian erschien mit dem Heer in Kaisareia Philippi, das er dort 20 Tage aus-ruhen ließ.

Sodann befaßte man sich mit der Lage der Städte am Genezarethsee, die zum Herr-schaftsgebiet Agrippas gehörten, aber, wie berichtet, vom König zu den aufständischen Ju-den übergegangen waren. Die jüdische Rebellion bestand zunächst in Tarichaea. Tiberias dagegen war zerstritten, weil es, wie beschrieben, dort mehrere Parteien gab. Also befahl Vespasian, eingedenk der Gastfreundschaft mit Agrippa, seinem Sohn Titus die Truppen aus Kaisareia nach Skythopolis zu führen. Er selbst traf bald darauf dort mit ihm zusam-men. Gemeinsam wurden jetzt die drei Legionen in die etwa 6 Kilometer von Tiberias entfernte Stadt Sennabris geführt, um von dort die weitere Entwicklung zu beobachten. Vespasian sandte zunächst den Decurio Valerianus mit 50 Reitern vor die Stadt mit dem Angebot, über Frieden zu verhandeln. Die Reiter stiegen von den Pferden ab, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie wollten mit einem Angriff beginnen. Doch der Rebellenführer namens Jesus, Sohn des Tupha, machte mit einer großen Anzahl seiner Kämpfer einen Aus-fall und schlug die römischen Reiter, die Vorsicht walten ließen, in die Flucht, wobei er fünf Pferde erbeutete und in die Stadt führte.194

350. Kampflose Einnahme von Tiberias – Schonung der Stadt

Da kamen nun die älteren und vornehmen Bewohner von Tiberias als Abordnung in das Lager Vespasians nach Sennabris und baten für ihre Stadt um Schonung. Zuvor hatten sie den König Agrippa, der bei Vespasian viel galt, auf ihre Seite gebracht, und dieser legte nun für sie Fürsprache ein. Man solle doch, weil die große Mehrheit der Bewohner, wie er behauptete, Frieden und Freundschaft wolle, nicht der Verwegenheit der Rebellen wegen die gesamte Stadt büßen lassen. Vespasian ließ sich von ihm umstimmen und als das Zuge-ständnis in Tiberias bekannt wurde, ergriffen Jesus und seine Leute die Flucht und kamen zur die Nachbarstadt Tarichaea. Vespasian schickte kurz darauf den Reiterführer Traian mit einer Abteilung auf die Anhöhen bei Tiberias, um zu erkunden, ob die Gesinnung der dortigen Bewohner den Angaben der Gesandtschaft entsprach. Da öffneten sie schon den Römern die Tore und hießen sie mit Jubel willkommen. Vespasian ließ sogar die Stadt-mauer niederreißen, um das Tor für den Einzug zu erweitern. Zuvor hatte er mit Rücksicht auf Agrippa, der für das Wohlverhalten der Bewohner bürgte, den Soldaten strengstens das Plündern und Randalieren untersagt. Damit hatte er eine Stadt, die unter ihren wechseln-

194 Ebd. 3.443–452

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 38: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 431

den Obrigkeiten und dem inneren Hader stark in Mitleidenschaft gezogen worden war, kampflos für sich gewonnen.195

351. Eroberung von Tarichaea und das blutige römische Strafgericht

Sodann ließ Vespasian in der Ebene zwischen Tiberias und Tarichaea, das stets antirömisch geblieben war, und wo sich viele jüdische Aufständische gesammelt hatten, ein starkes La-ger errichten.196 In Tarichaea hatte jetzt Jesus die Ordnung der Abwehrmaßnahmen über-nommen. Er führte eine bewegliche Kampftruppe aus der Stadt hinaus, die unvermutet einen wirkungsvollen Ausfall gegen die gerade beim Lagerbau eingesetzten, schanzenden römischen Soldaten unternahm und sie dabei empfindlich traf. Als die Juden aber bemerk-ten, daß sich die Legionäre zur Kampfformation ordneten, wichen sie zurück, bestiegen Kähne und fuhren auf den See Genezareth hinaus. Sie blieben jedoch in einer Entfernung, die es ihnen gestattete, den Römern am Ufer in dichter Formation mit ihren Fernwaffen zuzusetzen. Währenddessen hatte sich unmittelbar vor der Stadtmauer in der Ebene eine große Anzahl jüdischer Kämpfer gelagert. Da Vespasian deren Menge für eine große Gefahr hielt, schickte er Titus dorthin, um mit 600 Reitern gegen sie vorzugehen.

Weil Titus angesichts der großen Anzahl der Feinde, denen er sich gegenüber sah, seine eigenen Truppen für zu gering hielt und ihre bange Gemütslage zusätzlich Unsicherheit schuf, forderte er Verstärkung von seinem Vater an und erhielt bald darauf 400 weitere Rei-ter unter Traian. Dazu kamen 2000 Bogenschützen unter Antonius Silo, welche von der Anhöhe die Mauer der Stadt mit ihrem Pfeilhagel bestreichen und hierdurch die Verteidiger verscheuchen sollten. In Kampfaufstellung stürmten die Reiter vor. Anfangs hielten die Re-bellen, die sich vor der Stadt gelagert hatten, noch stand, um bald schon von ihren Gegnern zurückgeworfen und in großer Zahl getötet zu werden. Wer entfliehen konnte, nahm irgen-deine Richtung. Die meisten der Fliehenden versuchten mit Erfolg, in die Stadt zurück zu dringen. Die Römer sammelten sich unter Titus, während innerhalb der Stadt großer Streit über das weitere Vorgehen ausbrach. Inzwischen war Jesus mit seinen Kämpfern vom See in die Stadt zurückgekehrt. Die Einheimischen, die jetzt um Gut und Leben fürchteten, sprachen sich unter dem gegenwärtigen Druck für den Frieden mit den Gegnern aus, wäh-rend die Fremden, die überwiegend rebellierten, den Kampf fortsetzen wollten. Sowie man draußen des Haders gewahr wurde, sprengte plötzlich und unerwartet eine Abteilung auf der Seite, an der die Mauer an den Genezarethsee stieß, durchs Wasser in die Stadt hinein.197 Es folgte ein heilloses Durcheinander, denn die Rebellen unter Jesus versuchten teils durch die Stadtmauer nach draußen zu gelangen, teils die Kähne und Boote erneut zu besteigen, um, wenn möglich, auf den See hinaus zu rudern und den Kampfhandlungen zu entgehen. Währenddessen hob ein Gemetzel der Römer an, weil viele Verteidiger durch das plötzliche

195 Ebd. 3.453–461. In der vita 350–352 erweckt Iosephus den Eindruck, damals habe Iustos zu den Aufrührern gehört. Iustos war zur Zeit von Vespasians Feldzug gegen Galilaea nicht mehr in Tiberias.

196 Zur Lage Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 461, Anm. 111197 Nach Iosephus wurde sie geführt von Titus. Auch Suet.Tit.4 erwähnt die Eroberung von Tarichaea

durch ihn; vielleicht wurde anläßlich dieses Kampfes dem Titus das Pferd unter dem Leib getötet.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 39: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

432 | Die späten Jahre (65–68)

Unternehmen wie gelähmt waren und in der Panik nicht zu kämpfen vermochten. Dabei traf besonders die Stadtbewohner der Tod. Sie gaben sich der vergeblichen Hoffnung hin, daß ihre Kampflosigkeit zu ihrer Rettung führe. Erst als die Rädelsführer gefallen waren, gebot Titus dem weiteren Morden Einhalt und ließ die überlebenden Bürger verschonen.

Die Nachricht vom Sieg erfüllte Vespasian mit großer Freude, war er sich doch auch bewußt, daß damit ein großer Abschnitt des Krieges erfolgreich beendet worden war. Er ließ die Stadt umstellen mit dem Befehl, jeden, der daraus entfliehen wolle, sofort zu töten. Dann ließ er Flöße bauen, um die auf dem See und in noch weiterer Entfernung flüchtigen Feinde einzufangen. Weil auch das umgebende Land von römischen Truppen besetzt war, war ein Entkommen der Bootsbesatzungen unmöglich. In kürzester Zeit waren die Flöße hergestellt. Die Juden wurden eingekreist und kamen auf die unterschiedlichste Art zu Tode. Sie waren durch die kleinen Boote und die mangelhafte Bewaffnung den Römern, die in großer Anzahl und mit ausgezeichneten Waffen auf ihren Flößen herannahten, deutlich im Nachteil. Viele Boote wurden zwischen den Flößen eingekeilt und zerbrochen nach-dem die Besatzung ins Wasser gesprungen war. Die auftauchenden oder Rettung suchenden Feinde fanden fast ausnahmslos den Tod. Diejenigen, die trotz Aussichtslosigkeit in ihrer Panik versuchten, an den Strand zu kommen, starben durch die Speere der Gegner oder ka-men weiter im Hinterland ums Leben. Die Wellen spülten die Trümmer der zerborstenen Boote an den Strand mitsamt der Vielzahl von Leichen, deren Verwesungsgeruch schon bald die Luft erfüllte. Einschließlich der in Tarichaea Getöteten waren 6500 Menschen umgekommen.

Darauf ließ Vespasian die Einwohner von Tarichaea von den fremden Gefangenen und Flüchtlingen, die sich in der Stadt aufhielten trennen, und überlegte eine Weile, ob auch diese verschont werden sollten. Seine Berater und Freunde indes waren der Meinung, an einer Beseitigung der fremden Gefangenen führe kein Weg vorbei. Begnadigung würden sie nicht dankbar annehmen, sondern sei für sie nur die Aufforderung zu neuem Aufruhr. Indes sei es gefährlich, sie in der Stadt zu töten, weil dies die Einwohner, besonders was die Flüchtlinge anbetreffe, als Bruch des Gastrechts ansehen würden und neuer Aufruhr zu befürchten sei. Also verkündete Vespasian ganz unklar, er gebe sie frei, doch dürften sie zum Abzug nur die nach Tiberias führende Straße nutzen. Am 8. Gorpiaios 67 (September)198 schnürte ein jeder, der etwas besaß, seine Habe zusammen und verließ Tarichaea. Zuvor hatte Vespasian in aller Heimlichkeit an der Straße seine Soldaten verborgen und ließ sie streng bewachen, auf daß keiner entkomme. Sowie die Fremden Tarichaea vollständig ver-lassen hatten, wurden sie rasch eingekreist und ins Stadion außerhalb der Stadt geführt. Die Greise und Gebrechlichen, etwa 1200 Menschen, brachte man sogleich um; die jungen und kräftigsten Männer (angeblich 6000) sandte Vespasian Nero für den Kanalbau von Korinth nach Griechenland zu. Die restlichen angeblich 30.400 Menschen wurden in die Sklaverei verkauft. Wer aus dem Königreich Agrippas stammte, den überließ Vespasian dem König, um mit den Leuten nach eigenem Ermessen zu verfahren; aber auch der ließ alle als Sklaven verkaufen und handelte so als ein römischer Vasall.199 Unter den Gefangenen waren auch viele aus der Gaulanitis, Trachonitis und den Gebieten von Hippos und Gadara in der

198 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 615199 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 501

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 40: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 433

Dekapolis. Von ihnen heißt es, sie seien ohnehin mehr Räuber gewesen, denen der Friede weniger einbrächte, als ihre Beteiligung an Aufruhr und Krieg – wohl eine allzu allgemeine Verleumdung des Iosephus, der überhaupt von der Entwurzelung des landflüchtigen Juden-tums in dem Krieg eine nicht zutreffende Vorstellung vermittelt.200

352. Belagerung und Einnahme von Gamala

Durch die Einnahme von Jotapata, Tiberias und Tarichaea war die jüdische Widerstands-bewegung in Galilaea weitgehend zerschlagen. Die meisten noch zögernden Gemeinden gaben sich jetzt in die Hand der Römer mit Ausnahme von Gischala und der Besatzung auf dem Berge Itabyrion. Aber auch im Herrschaftsgebiet des Agrippa verblieben drei Städte im antirömischen Widerstand, Sogane, Seleukeia und das durch die natürliche Lage stark gesicherte Gamala.201

Die Stadt Gamala lag auf einem nach allen Seiten hin steil abfallenden Berg. Nur auf der einen Seite war sein Abfall sachter. Am Südhang waren die Häuser dicht übereinan-der gebaut. Noch vor dem Krieg hatte Iosephus Gamala durch verstärkte Mauern und ein Grabensystem sichern lassen.202 Die Stadt war überfüllt mit Flüchtlingen. Die Bewohner und die Verteidiger vertrauten auf die nahezu uneinnehmbare Lage, doch waren zu wenige kampferprobte und fähige Leute in Gamala, obwohl sie bereits sieben Monate lang der Belagerung durch die Truppen Agrippas standgehalten hatten.

Vespasian kam mit den drei Legionen von Ammathus bei Tiberias203 aus nach Gamala, ließ überall Wachposten aufziehen und schlug auf dem die Stadt überragenden Berg ein La-ger auf. Die XV. Legion war auf einen großen Befestigungsturm in der Oberstadt angesetzt, die V. sollte sich die Mitte der Stadt vornehmen und die X. hob Gräben aus und schüttete Erde auf. Bald darauf trat Agrippa an die Stadtmauer heran, um mit den Belagerten zu ver-handeln. Doch er wurde von einem Stein in der Armbeuge getroffen. Dieses Ereignis trieb den Eifer der Belagerer mächtig an. Zunächst wurden in kurzer Zeit die Belagerungsram-pen errichtet oder bestehende weiter erhöht und die Belagerungsmaschinen herangeführt. Dagegen organisierten die beiden(?) Führer in der Stadt, Chares204 und Josephus, den Wi-derstand, indem sie die Schwerbewaffneten auf der Mauer Posten nehmen ließen. In der Tat gelang es diesen, die Aufstellung des Belagerungsgeräts stark zu behindern. Erst der Einsatz der großen Fernwaffen und Schleuderer vertrieb sie ins Innere der Stadt. Bald traten die Rammböcke in Tätigkeit und an drei Stellen wurde schließlich die Mauer durchbrochen und der Feind drang unter Trompetenschall und Schlachtgeschrei in die Stadt ein. Doch war ein Sieg nicht leicht zu erringen. Die eine römische Abteilung wurde von den jüdischen Kämpfern in die Oberstadt gedrängt; mit einem Mal aber wandte sie sich um, nutzte das

200 Ios.bell.Iud.3.462–471; 485–505; 522–542. 201 Zur Lage und Identifikation mit dem heutigen Dschamle Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 615,

Anm. 46; dagegen Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 2, S. 207, Anm. 2202 Ios.vita 186203 Zwischen Tiberias und Tarichaea gelegen (Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 614, Anm. 44)204 Ios.vita 177 und 186 wird Chares sogleich als ein Gegner der Aufstandsbewegung umgebracht,

wenn es denn derselbe und nicht ein anderer Mann gleichen Namens ist.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 41: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

434 | Die späten Jahre (65–68)

abfallende Gelände und warf mit einem Schwung die Juden hinunter, wo sie im Gedränge geschlagen wurden. Eine andere römische Abteilung wurde von den Juden, die von oben heran drängten, in den unteren Teil der Stadt hinab geworfen, wo sie auf eine gerade nach-drängende Schar von Kameraden trafen. Da der Ausweg versperrt war, erklommen sie auf irgendeine Weise die Dächer der leicht gebauten Häuser, die nun unter der Last der Viel-zahl von Kämpfern einstürzten und hierdurch viele tiefer am Hang liegende Nachbarhäu-ser in Schutt legten. Dabei kamen eine große Zahl römischer Kämpfer ums Leben oder wurden durch Verwundungen und Knochenbrüche kampfunfähig; zusätzlich behinderten Staubwolken die Sicht, und die fliehenden römischen Soldaten, die in der Enge und dem Durcheinander mögliche Fluchtwege nicht kannten, wurden Opfer der Juden. Da faßten die Bewohner wieder Mut. Die einen ergriffen die Waffen der gefallenen Römer, während die anderen mit Steinen und Gerät, wie es die Gelegenheit bot, die Feinde von oben bewar-fen und sie alle miteinander, jetzt ihre Masse nutzend, zur Stadt hinaus jagten. Während Titus zu dieser Zeit bei Mucianus in Syrien war, drang auch Vespasian mit einer Leibwache in die Stadt ein, mußte sie aber wie alle anderen schließlich durch Flucht verlassen. Der Tag war außerordentlich verlustreich für die Römer. Im Lager war man niedergeschlagen und angeblich erst eine Rede Vespasians richtete die Gemüter wieder auf.

Der unerwartete Sieg erfüllte die Verteidiger von Gamala zunächst mit Zuversicht. Die Wachen an den Einbruchsstellen wurden verstärkt und die Mauern mit den besten Kämpfern besetzt. Bald darauf aber begannen sie zu zagen und zu bangen, weil ihnen be-wußt wurde, daß sie durch ihren erfolgreichen Widerstand die Erbitterung der Gegner erst recht wach gerufen hatten, die keinen Verhandlungen mehr zugänglich sein würden. Hinzu trat jetzt eine Knappheit an Lebensmitteln. Währenddessen legten die Römer von neuem Hand an die Verstärkung der Dämme, und als sie mit einem erneuten Angriff begannen, verließen etliche der Verteidiger aus Furcht fluchtartig die Stadt – teilweise auf verborge-nen Wegen. Andere versteckten sich in den unterirdischen Gängen und starben bald einen elenden Hungertod. Doch die endgültige Einnahme der Stadt erfolgte erst kurz darauf. Auf dem Hauptturm und in dessen Umgebung hielten noch einige Kämpfer beharrlich aus. Eines morgens, in der Dämmerung, kamen in aller Stille einige Soldaten der XV. Legion und unterminierten im Verborgenen die Grundmauern des Turmes, ohne daß die Besat-zungen irgend etwas bemerkten. Nachdem sie einige große Quadersteine herausgebracht hatten gelang es ihnen, sich noch rechtzeitig zu entfernen, bevor der Turm mit großem Getöse zusammenstürzte und die Wachen in die Tiefe riß. Entfernter stehende Wachpo-sten versuchten in ihrem Schrecken aus der Stadt auszubrechen, wurden aber durch die feindlichen Geschosse getötet. Auch Josephus starb dabei. In der Stadt herrschte wieder ein Durcheinander, weil alle der Meinung waren, die Römer seien schon überall eingebrochen, doch warteten diese noch mit dem Endkampf ab.205

Mittlerweile war Titus eingetroffen und zeigte sich über das erste so unvorsichtige und verlustreiche Gefecht erbost. Als der Sturm auf Gamala begann, ritt er mit 200 Reitern und einigen Abteilungen durch eine der Breschen in die Stadt hinein. Es entspann sich ein hart-näckiger Kampf mit den verbliebenen Verteidigern, die nicht kampflos untergehen wollten.

205 Der andere Führer Chares lag krank danieder und starb bald darauf; nach Ios.vita 177 und 186 wurde er getötet.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 42: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

67 nach Christus | 435

Andere erklommen mitsamt den Bewohnern, die ihre Frauen und Kinder mit sich zogen, die jähen Felshöhen des Hausbergs und setzten den hinan stürmenden Römern mit ihren Ge-schossen und Felsbrocken hart zu. Durch unerklärliche Machtlosigkeit aber waren die Juden bald schon nicht mehr in der Lage ihre Gegner tödlich zu treffen. So wurden sie bald einge-kreist und wer sich nicht rechtzeitig durch Selbstmord entzog, verlor das Leben. 4000 Men-schen wurden dabei getötet. An zu Tode Gestürzten fanden sich am Grunde der Schluchten weitere 5000 Menschen. Erbittert durch den hartnäckigen Widerstand kannten die Römer keine Gnade mit Alter oder Geschlecht und warfen auch Säuglinge in die Tiefe. Das war das Ende des jüdischen Widerstands in Gamala war am 23. Hyperberetaios 67.206

353. Eroberung des Berges Itabyrion

Während dieser Ereignisse um Gamala hatte Vespasian den Placidus mit 600 Reitern zum Berg Itabyrion (= Berg Tabor) gesandt. Der Berg ist 588 Meter hoch und besitzt oben ein Plateau von bis zu 1200 m Länge und 400 Metern Breite, das Iosephus hatte mit einer Mauer versehen lassen. Hinter ihr hatte sich eine große Anzahl Juden verschanzt. Placidus versuchte, sie mit einem Übergabeangebot herunter zu locken. Sie erschienen auch nach einiger Zeit, hatten aber die Absicht, Placidus durch Hinterlist zu töten. Der gab nun vor zu fliehen, und die jüdischen Reiter verfolgten ihn. Doch machte er plötzlich kehrt und es er-schienen am Straßenrand weitere Reiter des Placidus. In ihrer Furcht versuchten die Juden nun zum schützenden Berg zurück zu gelangen, wurden aber eingekreist und die meisten getötet. Diejenigen, die zu Hilfe zu kommen suchten, wurden von den römischen Reitern gehindert. Einige flohen nach Jerusalem. Der Rest der Juden, die auf dem Berg ausgehalten hatten, ergab sich vor allem wegen Wassermangels.207

354. Gischala

Nach dem Untergang so vieler Gemeinden Galilaeas blieb noch die von Rebellen be-völkerte Landstadt Gischala unter ihrem Führer Johannes übrig.208 Gegen diese sandte Vespasian Titus mit 1000 Reitern aus. Die X. Legion ließ er nach Skythopolis abziehen, während er selbst mit den übrigen zwei Legionen nach Kaisareia ging. Dort sollte sich das Heer ausruhen, weil die größten Strapazen mit dem Feldzug gegen Jerusalem noch bevor standen.

Die Reiter des Titus nun sprengten rasch nach Gischala vor und trafen an der Mauer die Verteidiger an. Titus hatte die Absicht, die Stadt durch Verhandlungen auf seine Seite zu ziehen. Deshalb trat er an die Mauer heran und sprach, in der Hoffnung auf die Emp-

206 Ios.bell.Iud.4.1–52; 62–83; Etwa Oktober 67 nach Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 616; Jose-phus, Aus meinem Leben, S. 63, Anm. 132 Anf. Oktober). Die Eroberung von Gamala durch Titus ist auch Suet.Tit.4 erwähnt.

207 Ios.bell.Iud.4.54–61. Zum Berg Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 2, S. 208, Anm. 13208 Iosephus erweckt den falschen Eindruck, als habe es in Gischala unterschiedliche Parteien gegeben.

Johannes mit seinen Mitstreitern bezeichnet er als Räuber – ein Beispiel dafür, wie er politische Gegner diffamiert.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM

Page 43: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 67 nach Christus

436 | Die späten Jahre (65–68)

fänglichkeit der Zuhörer, die Verteidiger an mit einer Mischung aus Friedensangebot und Drohung. Darauf erschien Johannes und sprach Titus an, dankte ihm für sein Angebot, wies jedoch auf den Sabbath hin, an dem nach alter Herkunft weder Krieg noch Unter-handlungen geführt werden dürften. Die eigentliche Absicht des Johannes aber ging dahin, Zeit zu gewinnen und sich durch Flucht der Gefangennahme zu entziehen. Titus gewährte die Bitte und zog sich zum Nachtlager in eine stark befestigte Siedlung namens Kadasa (Kydyssa)209 zurück, ohne Wachen oder Beobachter bei Gischala aufzustellen. In der Nacht brach Johannes, begleitet von Schwerbewaffneten, zu seiner Flucht nach Jerusalem auf. Den fliehenden Kämpfern sollen sich zahlreiche Zivilisten mit Frauen und Kindern ange-schlossen haben – insgesamt angeblich etwa 10.000 Menschen, die die Furcht vor den Rö-mern aus der Stadt trieb. Doch konnten diese bald schon der Geschwindigkeit der Truppen nicht mehr folgen und verirrten sich hilflos, wie sie waren, im Nirgendwo. Johannes eilte mit seinen Leuten unterdessen weiter nach Jerusalem.210

Am darauffolgenden Tag erschien Titus mit der Reiterei vor Gischala, und die zurück gebliebenen Bewohner öffneten ihm angeblich unter Jubelrufen die Tore. Er erfuhr, daß Johannes und seine bewaffneten Scharen geflohen seien und man bat ihn, die Stadt zu schonen. Sogleich aber sandte Titus eine Abteilung Reiter aus, um die Verfolgung aufzu-nehmen. Johannes aber entkam infolge seines allzu weiten Vorsprungs mit seinen Leuten. Tausende von Verirrten mußten indes die Flucht und ihr eigenes Verhalten, die Begleitung des Rebellen gebildet zu haben, mit einem gnadenlosen Tode büßen. 6000 sollen getötet worden sein; 3000 Frauen und Kinder wurden aufgegriffen und nach Gischala zurück ge-trieben. In der Stadt verzichtete Titus auf ein weiteres Strafgericht gegen etwa noch dort verbliebene Rebellen. Er ließ eine Wachmannschaft zurück und zog ab. Mit der Einnahme von Gischala war ganz Galilaea unterworfen, großenteils entvölkert und verwüstet.211

209 Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 2, S. 209, Anm. 23210 CAH 2nd Ed., S. 756: Spätsommer211 Ios.bell.Iud.4.84–120. Mit der Erzählung der Ereignisse in Gischala verfolgt Iosephus auch den

Zweck, seinen Feind Johannes zu diskreditieren. Der Bericht selbst erscheint als eine Mischung aus wirklichen Geschehnissen und romanhaft aufgeschmückten Szenen, die einen zwiespältigen Ein-druck hinterlassen. Einige Hinweise mögen genügen: Johannes‘ List und Tücke werden zunächst gegen die redliche Vertrauensseligkeit des Titus gestellt. Es wird der Eindruck erweckt, als habe es in Gischala eine starke Friedenspartei gegeben, was unwahrscheinlich ist. Johannes ist nach Iose-phus’ eigener Aussage (vita 43–45) dort der unumstrittene Führer des antirömischen Widerstands geblieben. Die Leiden der Flüchtlinge, unter denen zahlreiche Frauen und Kinder gewesen sein sollen, kontrastieren mit der Hartherzigkeit des Johannes, denn er soll sie zurückgelassen haben mit dem Bemerken, sie sollten sich selbst helfen. Auch Titus wird jetzt als grausam geschildert, wenn er Tausende der Flüchtlinge erstechen und erschlagen läßt, aber hier wird sein Zorn damit erklärt und gerechtfertigt, daß ihm die Aufständischen entkommen waren. Zurückgekehrt in Gischala wird seine Besonnenheit hervorgehoben, da er weitere Untersuchungen nach dort verborgenen Rebellen ablehnt, angeblich mit der Begründung, diese könnten durch Denunziation auch Unschuldige tref-fen. Dazu auch Krieger, Josephus, S. 286f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:01 PM