Netzkultur. Freunde des Internets eReader · 2015. 11. 17. · die stumme Masse, um Kollaboration,...

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Berliner Festspiele Bundeszentrale für politische Bildung Netzkultur Freunde des Internets 2013/14 eReader www.berlinerfestspiele.de

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  • Berliner Festspiele Bundeszentrale für politische Bildung

    NetzkulturFreunde des Internets

    2013/14

    eReader

    www.berlinerfestspiele.de

  • Netzkultur Freunde des Internets Eine Kooperation der Berliner Festspiele mit der Bundeszentrale für politische Bildung

    — Konferenzwebseite: netzkultur.berlinerfestspiele.de Twitter: @_Netzkultur Hashtag: #nk1314

    http://www.netzkultur.berlinerfestspiele.dehttp://www.twitter.com/_Netzkulturhttps://twitter.com/search?q=%23nk1314&src=typd&f=realtime

  • InhaltNetzkultur. Freunde des Internets 5Grußwort Thomas Oberender 7Grußwort Thomas Krüger 10Vorwort Nikola Richter 13

    I Technologie Evolution 18

    Juli Zeh Offener Brief an Angela Merkel 19Geert Lovink spricht mit Petra Löffler über Zerstreuung (in English) 22Stephan Thiel/Studio NAND Spekulative Apparaturen 40Stephan Porombka Die nächste Literatur 52Ranga Yogeshwar Warum Bibliotheken im digitalen Zeitalter immer wichtiger werden 62Helena Hauff spricht mit Kristoffer Cornils über Monopole 83Sascha Kösch Wer regiert das Internet? 86Mercedes Bunz Wissensgesellschaft & Kolonialismus 92Daniela La Luz Wir brauchen einen Plan B 98

  • II Die Stumme Masse 101Rachel Coldicutt On Going To Conferences 102Ward Al-Assi A Sign from Deir El-Zor 106Volker Oppmann Jenseits von Amazon: Das digitalisierte Buch und der Literaturbetrieb 111Geert Lovink & Ned Rossiter Organized Networks: Weak Ties to Strong Links 113Axel Kistner LiquidFeedback – mehr als Liquid Democracy 121Martin Geisler Medial sozial?! 128

    III Identity sucks … 137

    Granaton Rettet das Pseudonym 138Christiane Frohmann I, Selfiebot 144Tao Lin Iäm in Germanz 146Anne Roth Die Gedanken sind frei 162Tristan Marquardt Dichten mit Netzservices 171

    Berliner Festspiele 177 Bundeszentrale für politische Bildung 179Impressum 181

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    Netzkultur. Freunde des Internets

    „Netzkultur. Freunde des Internets“ ist ein neues diskursives Veranstaltungsformat der Berliner Festspiele in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Es trägt den Untertitel „Freunde des Internets“, um den Blick der Kon-ferenz auf positive Auswirkungen des Netzes auf die Kultur zu verdeutlichen und um dem Pessimismus, der den Weben-twicklungen aus dem Netz häufig entgegenschlägt, etwas entgegenzusetzen. Jede der drei Ausgaben der Netzkultur widmete sich einem spezifischen Thema: „Technologie-Evo-lution“am 30. November 2013, „Die stumme Masse“ am 18. Januar 2014 und „Identity sucks …“ am 22. Februar 2014. Alle Veranstaltungen wurden live gestreamt, auf Twitter wurde unter dem Hashtag #nk1314 diskutiert.

    Der erste Teil der Netzkultur widmete sich der Frage, inwie-weit digitale Technologien Teil unseres kulturellen Selbst-verständnisses geworden sind, wie sich Kulturschaffende und Künstler zu ihnen stellen, wo sie sich abgrenzen, wo sie ihr schöpferisches Potenzial nutzen. Im zweiten Teil ging es um die stumme Masse, um Kollaboration, Partizipation und die Rolle von Gruppen. Der dritte stellte digitale Identitäten in den Mittelpunkt, die Selbstinszenierung des Ichs, künstliche Intelligenz, digitales Performen. Die Netzkultur schaute auf die Produktions- und Nutzungsbedingungen von Kultur im Netz und beleuchtete die dezidiert kulturellen Entwicklungen der Netzevolution.

    Die politische Dimension des Themas mit Fragen wie Daten-sicherheit, Überwachung, Anonymität, Schutz der Privat-sphäre, aber auch neuen Formen der schnellen Information, der journalistischen Recherche oder der Verabredung von

    https://twitter.com/hashtag/nk1314

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    politischen Aktionen, haben die Ereignisse um die Demons-trationen des Arabischen Frühlings und die Unruhen in der Türkei, aber auch Figuren wie Julian Assange und Edward Snowden bewiesen.

    Die Bundeszentrale für politische Bildung setzt schon seit vielen Jahren auf die digitale Vernetzung von Information und Bürgern und verwendet das Netz als einen wichtigen Schnittpunkt zur Kommunikation eigener Inhalte. Ebenso klärt sie über netzpolitische Themen und Fragestellungen auf und arbeitet mit innovativen Konferenzveranstaltern zusam-men. Die bewusste Nutzung digitaler Werkzeuge muss daher heute Teil von politischer Bildung sein, politische Mündigkeit geht mit Internet-Mündigkeit einher. In der Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen soll nun der kulturelle Aspekt der digitalen politischen Welten herausgearbeitet werden, Fragestellungen, mit denen jeder Bürger, jede Bürgerin im Alltag in Berührung kommt.

    Begleitend zu den Veranstaltungen der Netzkultur erschie-nen drei eReader mit Artikeln, Interviews und Statements von Konferenzteilnehmerinnen und –teilnehmern, die Sie in dieser digitalen Publikation versammelt vorfinden.

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    Grußwort Thomas Oberender

    Das Internet verändert alles!

    Ich kann noch immer staunen übers Internet. Über diesen parallelen Kontinent, den wir inzwischen so selbstverständ-lich bereisen und bewohnen wie die fünf anderen. Eine ge-schlossene Festlandmasse ist das Netz natürlich nicht, son-dern eher ein immaterielles und dynamisches Gefüge aus Energie, eigentlich etwas, in das die Menschheit von Urge-denken an umziehen wollte, dematerialisiert, vermittels von Meditationen oder Drogen oder Bestattungsriten. Übers Netz kann man nur in Metaphern sprechen, die schon veraltet sind. Zumindest geht es mir so, Veteran der Walkmanzeit, einer der ersten Geldkartenbesitzer damals in Ostberlin. Und weil inzwischen das Internet scheinbar selbst bedroht ist, wollen wir uns als Freunde des Internets verhalten. Lasst es uns retten vor der dunklen Seite der Macht.

    Die drei sehr komplexen, happeningartigen Veranstaltungen, deren Entstehen auf eine Initiative der Bundeszentrale für politische Bildung zurück geht, sollen am Haus der Berliner Festspiele nach folgendem Muster ablaufen: Zunächst soll zu Wort kommen, wer auf qualifizierte Weise sagen kann, wa-rum das Internet nicht mehr zu retten ist. Das ist der Ein-spruch, mit dem der Tag beginnt. Und dann folgt ein öffent-liches Nachdenken, Experimentieren und Feiern von Ideen, politischen und künstlerischen Praktiken, die das Internet als Medium, als einen Kontinent mit liberaler Zukunft erschei-nen lassen.

    Wie viele Szenen, Sekten, Geheimwissenschaftler es in die-

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    sem Zwischennetz gibt. Aber wir möchten doch mitverste-hen, mitdenken, mitreden können. Wir, die wir Experten brauchen und sehr klare, schöne Benutzeroberflächen. Wir brauchen in technischen Dingen Vermittlung. Wir brauchen Kultur. „Netzkultur. Freunde des Internets“ will verschiede-ne Milieus von Netzaktivisten und Theoretikern zusammen-bringen, mit einer freundlichen Einladung auch an die, die keine Experten sind.

    Netzkultur – das ist im Grunde der vage Titel für unsere zentrale Frage: Wie verändert sich die Kultur durch das Netz? Explizit nicht geht es um eine Form kultureller Netzbotanik – um das Studium der kulturellen Artenvielfalt im Netz. Son-dern uns interessiert die Frage, ob es einen Konflikt zwischen Kultur und Technologie gibt? Ob disruptive Innovationen auf Seiten der Technologie auf unsere Kultur nur zerstöre-risch einwirken? Oder ob es eine Chance gibt, wie etwa Frank Schirrmacher meint, alte europäische Visionen und Werte mit der neuen Technologie zu verbinden?

    Wir sprechen vom kommenden „Netz der Dinge“, „per-forierter Aufmerksamkeit“, dem „On-Off-Verhältnis“ des neuen Alltags, aus Worten wie diesen kristallisieren sich neue Grundfragen an die Gesellschaft: Was bedeutet die Entschei-dungshilfe von Algorithmen für den Einzelnen? Entscheiden diese nicht längst autonom, unter Umgehung des Menschen und jenseits demokratischer Kontrolle? Welche Konsequen-zen hat das menschliche Tun noch im Netz? „Wir bezahlen mit unserem Verhalten!“, dieser Satz, von einem hochver-antwortlichen Facebook-Mitarbeiter hat mir unlängst einen

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    Spalt im Vorhang vor der Bühne dieser neuen Kultur geöffnet. Es gibt viele solcher Sätze und sie haben alle eines gemein-sam:

    Das Internet bewirkt die größte soziale und politische Um-wälzung in meiner Lebenszeit. Das Netz verändert alles. Wie einst die Erfindung des Automobils alles verändert hat: die Infrastruktur, die Siedlungsformen, Lebensweisen, das Welt-bild, Landschaften, usw. Diese Erfindung hat die Welt ver-ändert wie keine Idee oder Bewegung zuvor. Und so ist es mit dem Internet.

    Deshalb soll die Netzkultur, kuratiert von Nikola Richter, für ein paar Tage in unserem Haus eine Zwischenposition zwi-schen Kultur und

    Technologie etablieren und das Gespräch zwischen den Ex-trempositionen und Lagern fördern.

    Wir sind Freunde des Internets.

    Thomas Oberender— Intendant der Berliner Festspiele

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    Grußwort Thomas Krüger

    Internetopia ist zerplatzt – Es lebe das Internet!

    Was ist nur mit dem Internet los? Diesem gegenwärtig größ-ten aller amerikanischen Träume, der gerade dabei ist, sich – golemgleich – durch seine eigenen Erschaffer in einen Klum-pen Lehm aufzulösen.

    Der Hoffnung auf den herrschaftsfreien Diskurs, den ge-schützten unzensierten Raum, in dem alle alles sagen kön-nen und allen alle Türen offen stehen. Dem Versprechen von wahrer Freundschaft und erfüllter Liebe, der Begegnung über Grenzen und Klassen hinweg. Dem Ort des Austauschs – geistiger, aber auch materieller Güter – jenseits der kapita-listischen Verwertungslogik. Der neuen grenzenlosen Ago-ra, in der nunmehr echte Partizipation aller möglich ist. Ein Ort, den sich Ernest Callenbach nicht bunter hätte ausmalen können.

    All das soll nicht real sein, sondern nur eine Fassbinder‘sche „Welt am Draht“? Zuerst waren es noch kleine Störungen, die uns aufhorchen ließen. Im scheinbar kostenlosen Raum waren unsere Daten auf einmal die Währung, Diskurse in Chats und Foren manipuliert. Schließlich ist es jeder Kontakt, jede Bewegung, jeder noch so intime Austausch, der gesehen, überwacht und in riesigen Serverfarmen im ewigen Eis Or-wellscher Arsenale für die Ewigkeit gespeichert wird.

    Aber bei allem Wehklagen über den „Untergang des Netzes“, wie wir meinten, es gekannt zu haben: Sind wir nicht im Netz nunmehr dort angekommen, wo wir in der realen Welt schon

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    lange sind?

    Anders als Fred Stiller in Fassbinders Film fehlt uns die Mög-lichkeit, am Ende in die dann hoffentlich endgültige reale und perfekte Welt „aufzusteigen“. Im Offline- wie im On-line-Modus haben wir offenbar nur diese eine Welt. Und das, was wir beobachten, ist die – nunmehr auch mental nachvollzogene – Zusammenlegung zweier Welten: hier wie dort wird Geld verdient, ausgebeutet, betrogen, überwacht, ausgegrenzt, gemobbt, begrenzt. Und hier wie dort werden Menschen von der Teilhabe an politischen Prozessen ausge-schlossen. Aber hier wie dort gab und gibt es eben auch das Gegenteil: Gemeinschaft, Beteiligung, Wissensvermehrung, Kreativität und Ermöglichung, Privatheit und Öffentlichkeit, kurz Freiheit.

    Internetopia zerplatzt. Aber es ist nicht das Netz, das seit einigen Monaten nicht mehr das zu sein scheint, was es einmal zu sein schien. Es ist unsere Vorstellung vom Netz. Über Netzkultur zu sprechen heißt also, über unsere Welt zu sprechen, innerhalb und außerhalb des Netzes. Über unsere Gesellschaft, unsere Politik, die Möglichkeiten sich zu betei-ligen und die Möglichkeiten, als Privatperson vor dem Zugriff von wem auch immer – und wo auch immer – geschützt zu sein. Es geht um nicht weniger als um die Rückeroberung und Wiederbelebung grundlegender Rechte und die Selbst-bestimmung durch mündige Bürger: hier wie da! Mit diesem realistischen – sicher auch kritischen – Blick lassen sich die Chancen des Internets vielleicht entspannter neu austarie-ren. Und dass diese Chancen erheblich sind, das werden Sie

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    in den kommenden Wochen und in zahlreichen Diskussionen bei unserer Veranstaltungsreihe sehen: online wie offline! Oder mit Friedrich Hölderlin: „Komm! ins Offene, Freund!“

    Thomas Krüger— Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung

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    Vorwort Nikola Richter

    Die Seeräuberjenny in meiner Timeline

    „Und schon hängen alle an ihren Handys.“ „Man darf ja auch den Kontakt zur Realität nicht verlieren.“ Seeräuberjenny, @LaVieVagabonde, 25.11.2013

    Ich habe diesen Tweet in einer Nacht der ziellosen Recherche gefunden. Ich war lost in googelation, bin wirr zwischen geöff-neten Browserfenstern hin- und hergesprungen, habe hier eine Zeile gelesen, dann wieder da, und auf einmal ploppte die Seeräuberjenny in meiner Timeline auf. Ich hakte mich bei ihrem Tweet unter, den sie mitten in der Nacht versendet hatte, wahrscheinlich an einige Freundinnen gerichtet, mit denen sie gerade Wodka trank.

    Das ist das, was ich am Internet am meisten mag. Dass es überraschen kann, dass es mir erlaubt, anders und plötzlich wahrzunehmen, dass es Text, Bild und Ton ist, also die Sinne anspricht, dass es neue Perspektiven zeigt. Das Internet ist ein heterotoper Raum, in welchem Kreativität – trotz al-lem Mainstreamunsinn – möglich ist. Neue Literatur- und Sprachformen entstehen, Youtube- und Soundcloudstars werden geboren, die Verbreitung von digitalen Artefakten ist über die Grenzen hinweg möglich, Gleichgesinnte arbeiten zusammen, ohne dass sie an einem gemeinsamen Ort sind. Aktionen werden koordiniert und ausgeführt. Unliebsame Daten vielfach kopiert und damit nicht zensierbar. Aufklä-rung, Demokratie, Gemeinschaftlichkeit pur. Der chinesi-sche Künstler Ai Wei Wei hat auf seinem Blog, dessen Posts unter dem Titel „Macht euch keine Illusionen“ erschienen ist, geschrieben, dass er nie von Kreativität spreche, statt-

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    dessen von „Fantasie“, „Ahnung“, „Entdeckungsfreude“, „Subversion“ oder „Kritik“. Aber dann definiert er trotzdem „Kreativität“ und diese Definition passt exakt dazu, was das Netz möglich machen kann, wenn man ihm sein utopisches Potenzial lässt:

    „Kreativität ist die Kraft, die Vergangenheit abzulehnen, den gegenwärtigen Zustand zu verändern und nach neuen Mög-lichkeiten zu suchen. ... Nur durch unser Handeln können ersehnte Veränderungen Wirklichkeit werden.“

    Der graue Alltag: Heute verbringt jeder Deutsche durch-schnittlich 3,2 Stunden Zeit am Bildschirm, wie eine aktu-elle Studie der Techniker-Krankenkasse herausfand. Der Bildschirm ist Vermittler von Welterfahrung geworden. Er ist Gerät für Innovations- und Arbeitsprozesse, für Überwa-chung und Zerstreuung, auf ihm bewegen wir uns meist auf vorgegebenen Trampelpfaden. Das sieht alles gar nicht nach Handlung aus, was wir da machen, wir sitzen still, mehre-re Stunden, vielleicht tippen wir etwas. Der Bildschirm und damit auch der Rechner sind neutral. Die Hardware hat kei-ne Meinung und begehrt nicht auf. Aber das, was Handlung ermöglicht, die Software, steht zur Debatte. Und das Verhal-ten derjenigen, die die Software verwenden. Unser Verhalten. Die Veranstaltungsreihe „Netzkultur. Freunde des Internets“ will dazu anregen, alltägliche digitale Handlungen zu hinter-fragen, Neues zu lernen, sei es in praktischen Workshop oder in theoretischen Vorträgen. Gleichzeitig dient sie der Sicht-barmachung einer Debatte, die bisher in Deutschland weni-ger geführt wurde, nämlich der Frage, wie sich eigentlich die Kulturschaffenden zum digital turn stellen.

    Nun ist das Internet zwar noch nicht so alt, einige Dekaden. Wenn es ein Mensch wäre, wäre es in seinen besten Jahren,

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    aber eben auch nicht mehr so jung. Es hätte seine Unschuld verloren, seine Tiefschläge erlitten. Und derzeit wäre es in seiner Midlife-Crisis. Außerdem wäre es arg betrogen wor-den, und müsste jetzt erst wieder Vertrauen in sich aufbauen. Darüber hätte es vergessen, dass es etwas erreicht hat: 30 Millionen haben in Deutschland einen Netzanschluss, welt-weit sind mehr als 2 Milliarden Menschen online, davon etwa die Hälfte in Asien.

    Die junge Journalistin Wallis Azadian hat sich gerade für das Vice-Magazin für eine Woche in das Jahr 1996 zurückverset-zen wollen, in der es die ihr bekannten Geräte und die mit ihnen verknüpften technologischen Möglichkeiten nicht gab. Für sie ein Luxusspielchen (für viele auf der anderen Seite des digitalen Grabens, die, die einfach vom Netz abge-schnitten sind, eine bittere Realität). Sie stellte ihr Handy aus, sie stellte das Netz ab. Ihr Experiment endete in Hilflo-sigkeit und Langeweile. Sie wusste nicht mehr, wie sie sich ohne Mobiltelefon und Internet verabreden sollte, einfachste Informationen wie die Adresse des nächsten mexikanischen Restaurants waren ihr nicht zugänglich. Die Kommentare unter dem Artikel, die ihr Dummheit vorwarfen, taten ihr dennoch Unrecht. Natürlich hatte sie es verlernt, einfach bei jemandem zu klingeln. Ebenso hatte sie noch nie die telefo-nische Auskunft angerufen. Ihre Realität war eine andere, die neue Kompetenzen erlernen und alte in Vergessenheit gera-ten lässt. Das selbstauferlegte „Technologievakuum“ hatte ihr nichts offenbart, sie wollte zurück in die „Modernität“.

    Darüber könnte man traurig sein. Was kann diese junge Frau alles nicht mehr! Unsere Zivilisation, am Abgrund! Das Jammern darüber, dass Geräte und ihre Verwendungsmög-lichkeiten uns zum Schlechteren verändern, dass sie kul-turelle Werte und Traditionen zerstören, sind Zwillinge des

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    technologischen Fortschritts – aber auch des menschlichen Wesen. Der Mensch weiß, dass früher eben alles besser war. Dabei sollten wir einfach akzeptieren, dass wir fehlerhaft sind. Schon Sigmund Freud schrieb in seiner kulturtheoreti-schen Studie „Das Unbehagen in der Kultur“ davon, dass der Mensch von sich aus eigentlich gar nichts könne. Um aber aber seine Schwächen zu überwinden und das Ideal, das er von sich habe, zu erreichen, entwickele er Werkzeuge: „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott.“ Das war 1930 genauso wahr wie 2013.

    Und so sitzen wir vor den hell erleuchteten Fenstern, hören das Summen der Lüftung, sehen die Anzeige der Batteriefül-le und den Ausschlag des Netzempfangs wie Lebenszeichen eines guten Bekannten. Die neuen Technologien sind bei uns, sie prägen uns.

    Wir sollten sie genauso prägen. Damit sie auch unsere Werte kennenlernen. Gerade legte die Unesco erste digitale „Uni-versal-Regeln“ vor. Sie fordern, dass die Menschenrechte die Basis aller Netzregeln, jeder Anwendung und jedes Dienstes bilden.

    Nikola Richter— Kuratorin Netzkultur

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    Nikola Richter entwickelt als freie Redakteurin Webkon-zepte, außerdem unterrichtet sie an der FU Berlin im Stu-diengang „Angewandte Literaturwissenschaft“ im Bereich Literatur und Medien. Von 2009 bis 2013 leitete sie das The-atertreffen-Blog (Berliner Festspiele). 2013 gründete sie den Digitalverlag mikrotext. Sie lebt in Berlin.

    — http://www.mikrotext.de — http://www.nikolarichter.de — http://twitter.com/nikonee — http://twitter.com/mkrtxt — http://www.theatertreffen-blog.de

    http://www.mikrotext.dehttp://www.nikolarichter.dehttp://twitter.com/nikoneehttp://twitter.com/mkrtxthttp://www.theatertreffen-blog.de

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    I Technologie-Evolution

    Ist das Internet kaputt? Brauchen wir eine neue Netz-Utopie? Und wer programmiert hier eigentlich wen? Eines steht fest: auch wenn die Entwicklungen überwältigend sein können, Technologie ist keine Naturgewalt. Vertreter aus Wissen-schaft, Kunst und Kultur treffen aufeinander und diskutieren die drängenden Fragen, vor denen die Gesellschaft angesichts technologischer Entwicklungen steht.

    Zum Programm

    http://netzkultur.berlinerfestspiele.de/technologie-evolution/

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    Petition von Juli Zeh

    Offener Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel: Angemessene Reaktion auf die NSA-Affäre

    Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

    seit Edward Snowden die Existenz des PRISM-Programms öffentlich gemacht hat, beschäftigen sich die Medien mit dem größten Abhörskandal in der Geschichte der Bundesre-publik. Wir Bürger erfahren aus der Berichterstattung, dass ausländische Nachrichtendienste ohne konkrete Verdachts-momente unsere Telefonate und elektronische Kommuni-kation abschöpfen. Über die Speicherung und Auswertung von Meta-Daten werden unsere Kontakte, Freundschaften und Beziehungen erfasst. Unsere politischen Einstellungen, unsere Bewegungsprofile, ja, selbst unsere alltäglichen Stim-mungslagen sind für die Sicherheitsbehörden transparent.

    Damit ist der „gläserne Mensch“ endgültig Wirklichkeit ge-worden.

    Wir können uns nicht wehren. Es gibt keine Klagemöglich-keiten, keine Akteneinsicht. Während unser Privatleben transparent gemacht wird, behaupten die Geheimdienste ein Recht auf maximale Intransparenz ihrer Methoden. Mit anderen Worten: Wir erleben einen historischen Angriff auf unseren demokratischen Rechtsstaat, nämlich die Umkeh-rung des Prinzips der Unschuldsvermutung hin zu einem millionenfachen Generalverdacht.

    Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Sommer-Pressekonferenz ha-ben Sie gesagt, Deutschland sei „kein Überwachungsstaat“. Seit den Enthüllungen von Snowden müssen wir sagen: Lei-

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    der doch. Im gleichen Zusammenhang fassten Sie Ihr Vor-gehen bei Aufklärung der PRISM-Affäre in einem treffenden Satz zusammen: „Ich warte da lieber.“

    Aber wir wollen nicht warten. Es wächst der Eindruck, dass das Vorgehen der amerikanischen und britischen Behörden von der deutschen Regierung billigend in Kauf genommen wird. Deshalb fragen wir Sie: Ist es politisch gewollt, dass die NSA deutsche Bundesbürger in einer Weise überwacht, die den deutschen Behörden durch Grundgesetz und Bundes-verfassungsgericht verboten sind? Profitieren die deutschen Dienste von den Informationen der US-Behörden, und liegt darin der Grund für Ihre zögerliche Reaktion? Wie kommt es, dass BND und Verfassungsschutz das NSA-Spähprogramm XKeyScore zur Überwachung von Suchmaschinen einsetzen, wofür es keine gesetzliche Grundlage gibt? Ist die Bundes-regierung dabei, den Rechtsstaat zu umgehen, statt ihn zu verteidigen?

    Wir fordern Sie auf, den Menschen im Land die volle Wahr-heit über die Spähangriffe zu sagen. Und wir wollen wissen, was die Bundesregierung dagegen zu unternehmen gedenkt. Das Grundgesetz verpflichtet Sie, Schaden von deutschen Bundesbürgern abzuwenden. Frau Bundeskanzlerin, wie sieht Ihre Strategie aus?

    —Petition unter www.change.org/nsa Veröffentlicht am 25.07.2013 auf faz.net

    Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, ist promovierte Juristin und vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie studierte Jura in Passau und Leipzig sowie Literatur am Deutschen Litera-turinstitut in Leipzig, an das sie später als Dozentin zurück-

    http://www.change.org/nsahttp://mspr0.de

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    gekehrt ist. Ihr Werk ist in 35 Sprachen übersetzt und wurde u. a. mit dem Deutschen Bücherpreis (2002), dem Solothur-ner Literaturpreis (2009)und dem Thomas Mann Preis (2013) ausgezeichnet. Juli Zeh äußert sich kontinuierlich in großen Zeitungen und Magazinen, ihre Essays zu Politik, Gesellschaft und Literatur sind u. a. in dem Band „Alles auf dem Rasen“ (2006) nachzulesen. Zuletzt erschienen 2013 „Good Morning, Boys and Girls“, eine Sammlung ihrer Theaterstücke, und die Poetikvorlesungen „Treideln“.

    — www.juli-zeh.de

    Zum Programmpunkt (Einspruch! Technologie ist keine Natur-gewalt)

    http://www.juli-zeh.dehttp://netzkultur.berlinerfestspiele.de/programm/einspruch/http://netzkultur.berlinerfestspiele.de/programm/einspruch/

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    Interview Geert Lovink/Petra Löffler

    The Aesthetics of Dispersed AttentionAn Interview with German Media Theorist Petra Löffler

    When I met Petra Löffler in the summer of 2012 in Weimar I was amazed to find out about her habilitation topic. She had just finished a study on the history of distraction from a Ger-man media theory perspective. After I read the manuscript (in German) we decided to do an email interview in English so that more people could find out about her research. The study will be published in late 2013 (in German) by Diaphanes Ver-lag with the title Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschich-te der Zerstreuung (Distributed Attention, a Media History of Distraction). In October 2011, Petra Löffler replaced Lorenz Engell as media philosophy professor at Bauhaus University in Weimar. Before this appointment she worked in Regens-burg, Vienna, and Siegen. Her main research areas are affect theory, media archaeology, early cinema, visual culture, and digital archives.

    With the rapid growth of the Internet, video, mobile phones, games, and text messaging, the new media debate gets nar-rowed down to this one question: what do you think of atten-tion? The supposed decline in concentration and inability to read longer texts is starting to affect the future of research as such. Social media only make things worse. Mankind is once again regressing, this time busy multitasking on their smart phones. Like any issue, this one must also have a genealogy – but if we look at the current literature, from Bernard Stiegler to Nicolas Carr and Frank Schirrmacher, from Sherry Turkle to Franco Berardi, and Andrew Keen to Jaron Lanier, including my own contribution, the long view is missing. Stiegler digs into Greek philosophy but also leaves out the historical media

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    theory angle. This also counts for those who stress solutions such as training and abstinence (a field ranging from Peter Sloterdijk to Howard Rheingold). Can a contemporary critique of attention really do without proper historical foundations?

    While the education sector and the IT industry promote the use of tablets in classrooms (with MOOCs as the most cur-rent craze), there are only a few experts that warn against the long-term consequences. The absence of a serious discussion and policy gives way to a range of popular myths. The deba-te quickly becomes polarised, and any unease is reduced to generational issues and technophobia. Millions of computer workers suffer from damaged eyesight, ADHD and related medication problems (Ritalin), Carpal Tunnel Syndrome, as well as RSI and bad postures due to badly-designed periphe-rals, leading to widespread spinal disk problems. There is talk of mutations in the brain (see for instance the work of the German psychiatrist Manfred Spitzer). Within this worrying spread of postmodern affliction, who would talk about the ‘healing effects of daydreaming’? Petra Löffler does, and she refers to Michel de Montaigne, who, already many centuries ago, recommended diversion as a comfort against the suffe-ring of souls. Why can we not acknowledge the distribution of attention as an art form, a gift, a high skill in fact?

    Lovink: How did you come up with the idea to write the history of distraction? When you told me about your work and I read your habilitation, it occurred to me how obvi-ous this intellectual undertaking was from a media theory perspective – and yet, I wondered why it was not done before. Would you call this history a classic black spot? You did not go along the institutional knowledge road à la Foucault, nor do you use the hermeneutical method, the Latourian history of science approach, or mentality histo-

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    ry for that matter. How did you come up with your angle?

    Löffler: That’s a long story. Around 2000, with my colleague Albert Kümmel, I was working on an anthology about ephe-meral discourses dealing with media dating back to the se-cond half of the 19th century. We found a lot of interesting stuff in scientific journals from very different disciplines. Out of this rich material we developed a classification sys-tem consisting of discourse-relevant terms we found in the articles, and we published a book representing our rese-arch results (Medientheorie 1888-1933, Texte und Kommentare [2002]). One of the topics was ‘Aufmerksamkeit’ (attenti-on). Later, I reviewed the material, much of it unpublished, and came across a collection of related texts which focused on ‘Zerstreuung’ (distraction). Like you just now, I was then wondering why a conceptualisation of distraction was mis-sing in media theory – although important early theoretici-ans in the 1920s and the 1930s such as Siegfried Kracauer and Walter Benjamin have formulated powerful concepts of mass entertainment, cinema, and the political role of distracti-on that were quoted regularly. That’s why I wanted to know more about the ‘roots’, the background of their thinking on distraction in other discourses.

    Another motivation was that in the tradition of the Frankf-urter Schule, which is very influential, distraction has a bad reputation. I wanted to analyse the schools of knowledge that support that bad reputation and through this reveal the ‘other’ side of distraction, its positive meaning, and its necessity. For this project I had to go back to the early re-flections on modernity in the 18th century and to cross very different discourses from philosophy and pedagogy, to psy-chiatry and physiology, to optics and aesthetics. There was not a single constant discourse but rather various disconti-

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    nuous propositions that could not easy be summarised into a respectable object of knowledge. I owe a lot to Foucault’s discourse analysis and archaeology of knowledge, but for my research object stable systems of propositions did not exist, and the gaps between discourses were evident. Maybe that’s why for a long time distraction seems to be only an ephe-meral side product of discourses on attention – or better, a bastard that has to be hidden.

    In my study Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung, I reconstruct the modern notion of a distributed attention, which appeared in medical articles around 1800. In these articles the distribution of attention was regarded as necessary due to the insight that, because of higher re-quests from a modern mediated environment, attention has to switch very fast between several sensual stimuli almost si-multaneously. As a consequence, attention could no longer be described as the opposite of distraction; a certain distribution of attention, that means distraction, seems to be the normal state of mind. In this regard, a distributed or distracted at-tention is not only able to react on multifarious stimuli in a very short period of time, but – and this is even more import-ant – it is also able to anticipate certain demands. This abi-lity of anticipation qualifies distraction as a useful technique of the body and as a common cultural practice necessary in modern mediated environments. Furthermore, according to the philosopher Immanuel Kant, distraction in the meaning of diversion has become a necessity and even an art of living regarding the body’s need for regeneration. Interestingly, at the same time, Kant abandons modes of deep attention attri-buted to absorption or absentmindedness as an unsocial hab-it. In this perspective distraction was assigned a social fun-ction as a leisure activity. So there is no wonder that, during

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    the 19th century, life sciences investigated with much effort into how a balance between work and leisure, between stress and relaxation, is to be reached. A lot of experiments were undertaken to analyse attention spans and dispersive effects. Whatever the goals of such experiments, the scientists had to accept that distraction cannot be excluded or erased.

    With the rise of modern mass culture, the 19th century has also experienced the establishing of a leisure industry. That’s why I investigate the relations between discourses and practices, and respective sites of distraction such as the pa-norama, the kaleidoscope, or the cinema. In practicing these modes of distraction the senses of users were stimulated up to extreme physical effects such as dizziness. Tom Gunning has summarised such effects and the thrills of modern mass media in general under the term ‘aesthetic of astonishment’. That means distraction must be regarded as a concrete state of the human body being an integral part of an apparatus, an ensemble of human and non-human agents. This thinking of distraction aims to develop a concept of different historical cultures or regimes of distraction, which depend on specific mediated environments and also on cultural as well as social values and power relations. In my study I develop a genea-logy of distraction and a focus on its importance, especially for what Foucault has called taking care of oneself. By this, I show how distraction has become normalised now that net-work society has taken command.

    Lovink: You don’t seem to be bothered by distraction. Is that true?

    Löffler: It depends on my temper. I really hate to get up in the middle of the night because of a terrible noise. I guess nobody wants that. But I’ve been living in big cities for deca-

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    des and I accept a certain level of noise as normal – because I also estimate the various leisure time distractions every metropolis has to offer. Following philosophers like Kant or psychologists like Ribot, I believe that a certain level of dist-raction is necessary for life balance and also a common state of body and mind.

    Lovink: You have a fascinating chapter in your habilita-tion about early cinema and the scattering of attention it would be responsible for. The figure of the nosy parker that gawks interests you, and you contrast it to the roa-ming flaneur.

    Löffler: Yes, the gawker is a fascinating figure, because according to my research results it is the corporation of the modern spectator who is also a member of a mass audience – the flaneur never was part of it. The gawker or gazer, like the flaneur, appeared at first in the modern metropolis with its multi-sensorial attractions. According to Walter Benjamin, the flaneur disappeared at the moment when the famous passages were broken down. They had to make room for gre-ater boulevards that were able to steer the advanced traffic in the French metropolis. Always being part of the mass of passers-by, the gawker at the same time looks for diversions, for accidents and incidents in the streets. This is to say that his attention is always distracted between an awareness of what happens on the streets and navigating between people and vehicles. No wonder movie theatres were often opened at locations with a high level of traffic, inviting passers-by to go inside and, for a certain period of time, become part of an audience.

    Furthermore, many early films were actualities showing modern city life. In these films the camera was positioned at

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    busy streets or corners in order to record movements of hu-man and non-human agents. Gawkers often entered the view of the camera gesticulating or grimacing in front of it. That’s why the gawker has become a very popular figure, mirroring the modern mass audience on the screen.

    Today, to view one’s own face on a screen is an everyday ex-perience. CCTV-cameras in public spaces record passers-by, often without their noticing. Also, popular television shows that require real-life participation, such as casting shows, offer members of the audience the opportunity to see them-selves on a screen. At the same time, many people post their portraits on websites and social networks. They want to be seen by others because they want to be part of a greater audi-ence – the network community. This is what Jean Baudrillard has called connectivity. The alliance between the drive to see and being seen establishes a new order of seeing which dif-fers significantly from Foucault’s panoptical vision. Today, it is no more that the few see the many (panopticon) or the many see the few (popular stars) – today, because of the mul-tiplication and connectivity of screens in public and private spaces, the many see the many. One can conclude that the gawker or gazer is an overall phenomenon, a non-specific subjectivity of a distributed publicity.

    Lovink: In your study you show that, like in so many other instances, the ‘birth’ of attention as a modern problem arises during the late 18th century. I am joking, but Kant seems to be the first and the last philosopher who praises distraction. What is it with this period around 1800? You studied at least two centuries worth of material. Which period is the most interesting?

    Löffler: From the perspective of a media archaeologist, I

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    would say the period around 1800, just because things look different from a distance. I was really surprised by regimes of distraction arising around 1800 in psychiatry, where peo-ple suffering from mental breakdown were cured with the help of sensual shocks and spectacular performances. At the same time, the need to distribute one’s attention, to react on different stimuli almost simultaneously, was increasingly regarded as necessary. This formulation of a distributed or distracted attention can be considered as an effect of the dynamics of modernity, its drive to economise every part of living – even the human body. What we used to declare as the phenomena of our time, such as multi-tasking, can already be found in discussions about distraction 200 years ago. So it seems that changes in our mediated environments regularly provoke discussions about regimes of attention and questions the role of distraction.

    Today, with the ubiquitous use of information technologies, discussions about distraction or distributed attention, the ba-lance between stress and relaxation, arises again, and philo-sophers like Richard Shusterman consider the body’s role for that purpose. For me, Kant’s quest for distraction as an art of living resonates in such accounts.

    Lovink: I can imagine that debates during the rise of mass education and the invention of film are different from ours. But is that the case? It is all pedagogy, so it seems. We never leave the classroom.

    Löffler: The question is, leaving where? Entering the other side (likewise, amusement sites or absorbing fantasies)? Why not? Changing perspectives? Yes, that’s what we have to do. But for that purpose we don’t necessarily have to leave the classroom. Rather, we should rebuild it as a room of testing

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    modes of thinking in very concrete ways. I’m thinking of Jac-ques Rancière’s essay ‘Le partage du sensible’, and his sugge-stions about the power relations between teachers and pu-pils. Maybe today teachers can learn more (for instance, soft skills) from their pupils than the other way around. We need other regimes of distribution of power, also in the classroom; a differentiation of tasks, of velocities and singularities – in short, we need micro-politics.

    More seriously, your question indicates a strong relationship between pedagogy and media. There is a reason why media theorists like Friedrich Kittler pointed to media’s affinity to propaganda and institutions of power. I think of his import-ant book Discourse Networks, where he revealed the rele-vance of mediated writing techniques for the formation of educational institutions and for subjectivation. That’s why the question is, what are the tasks we have to learn in order to exist in the world of electronic mass media? What does ‘Bildung’ mean for us today?

    Lovink: There is an ‘attention war’ going on, with de-bates across traditional print and broadcast media about the rise in distraction, both in schools and at home. On the street we see people hooked on their smart phones, multi-tasking everywhere they go. What do you make of this? Is this just a heightened sensibility, a fashion, or is there really something at stake? Would you classify it as petit-bourgeois anxieties, or a loss of attention as a me-taphor for threatening poverty and a loss of status for the traditional middle class in the West? How do you read the use of brain research by Nicholas Carr, Frank Schirrma-cher, and more recently the German psychiatrist Manfred Spitzer, who came up with a few bold statements con-cerning the devastating consequences of computer use

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    for the (young) human brain? Having read your study one could say ‘don’t worry, nothing new under the sun’. But is this the right answer?

    Löffler: Your description addresses severe debates. Nothing less than the future of our Western culture seems to be at stake. Institutions like educational systems are under perma-nent critique concerning all levels, from primary schools to universities. That’s why the Pisa studies have revealed a lot of deficits and have provoked debates on what kind of education is necessary for our children. It is a debate on cultural valu-es, but also a struggle on power relations. We are living in a society of control, and how to become a subject and how this subject is related to other subjects in mediated environments are important questions.

    A great uncertainty has emerged. That’s why formulas that promise easy solutions are highly welcomed. Neurological concepts are often based on one-sided models concerning the relationship between body and mind, and they often leave out the role of social and environmental factors. From his-torians of science such as Canguilhem and Foucault, one can learn that psychiatrist models of brain defects and mental anomalies not only mirror social anxieties but also produce knowledge about what is defined as normal. It is up to us as observers of such discourses to name those anxieties today. Nonetheless, I would not signify distraction simply as a me-taphor or a topos occurring regularly in media discourses. Distraction is in fact a concrete phase of the body, a state of the mind. It is real. You cannot deal with it when you call it a disability or a disease and just pop pills or switch off your electronic devices.

    Lovink: Building on Simondon, Stiegler develops a theory

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    of attention that might be different from the American mainstream polarity between dotcom utopians and social media pessimists. His ‘pharmacological’ approach is less polemic, in search of new concepts in order to leave be-hind the known clichés and dichotomies. His book Taking Care of Youth and the Generations (2008) contains pretty strong warnings about our loss of concentration in rea-ding longer texts. What do you make of this?

    Löffler: Stiegler’s approach combines different arguments – the clash of generations, the rise of marketing and enter-tainment industries. According to Stiegler, attention has a social function in connecting people in a society creating a community. When this kind of social attention is lost due to the disconnecting psycho-power of mass media, he conclu-des, the social tie is in danger and repression, fascination, and anaesthesia are the outcome. I would question the excep-tional role attention is playing in Stiegler’s considerations on community, because there are other affective modes of buil-ding social associations or adherences, such as being part of a dispersed anonymous mass audience, being a fan or addicted to a hobby. That is to say, in my opinion, modes of distraction also have a social function. Sites and modes of distraction are a playground to mediate social relations and support indivi-dualisation.

    By the way, I’m always wondering how easy philosophers like Stiegler or Christoph Türcke jump from ancient cultures (the Greeks, the Romans, Stone Age populations) to modern cul-tures of the 21st century. I view this as suspicious. Of course, reading as well as writing were important cultural techniques over a long period of time, but both are techniques that have undergone several heavy changes in their history, long be-fore media such as cinema or television entered the scene.

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    Think only of the invention of mechanical printing in the 15th century, the development of the mass press in the 18th cen-tury, or the invention of the typewriter and rotary printing one century later. It is hard to imagine that these epochal events should not have had any influence on learning reading and writing. You read the columns of a newspaper or a pic-ture book in a different way than the pages of a printed book filled with characters only. This was common knowledge even then. Techniques such as a quick scan and scroll through a text (‘Querlesen’) had become widespread, and newspaper layouts support this kind of reading. The actual hype of a deep-attention reading is, seen from a media archaeological perspective, not simply nostalgic. It forgets its ‘dark side’, as it was seen in the civil cultures of the 18th and 19thcen-tury, when bored middle-class women were accused of being addicted to reading novels and were condemned for escaping into exciting dream worlds. Deep concentration was regarded as dangerous then, because it leads to absentmindedness and even mental confusion, making individuals unusable, parti-cularly for a capitalist economy. Civil cultures have an inte-rest in controlling their populations, their bodies and desires, for the sake of normalisation. In this perspective, ‘too much’ of whatever quality that can destabilise the public order has to be refused.

    My sneaking suspicion is that Stiegler and Türcke are focu-sing only on small sections of media history, because their interest is to construct almost apocalyptic scenarios of a great divide. Not surprisingly, Türcke, in his book on hyperactivity, criticises newspapers for having reduced the length of articles while at the same time having advanced numbers and sizes of pictures. Other changes are more important and unnoticed by these philosophers. With the rise of personal computers

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    and multi-media devices using touchscreens, tactility has again become a major human faculty. Media based on haptic operations change the interplay of the senses and create new habits – and therefore writing and reading have to amplify their dimensions.

    Lovink: There is (the New Age cult of) mindfulness. And there is Peter Sloterdijk. What do you make of such calls to exercise, to save attention through training? It all boils down to dosage. Do you believe there is a ‘will to entro-py’? Altered states that invite us to enter unknown spa-ces? Would it make sense to study another side of the so-called loss of attention in the drug experiences, as described from Baudelaire and Benjamin to Huxley and Jünger?

    Löffler: I guess the training of our senses and the experi-ments of losing self-control belong to the same regime of ta-king care of oneself. It occurs to me that one major difference between the self-experiments you name and what I have analysed is the isolation of the people experimenting with drugs to enter altered states of body and mind. One reason why I have studied not only discourses but also practices of distraction was the fact that most of the diversions of urban culture were built on (and for) a mass audience. To be with unfamiliar others at the same place and at the same time was an experience, a thrill people were addicted to. Today, other mass entertainment forms have emerged such as multiplex cinemas, public viewings, or big sports events – which are, of course, unthinkable without the rise of mass communication and mass media like television. That’s why I’m not sure if the description made by Nicholas Carr and Frank Schirrmacher that we are now living under a brutal regime of a cannibalistic monster-machine nourished by our attention – the personal

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    computer – is telling the whole story.

    Lovink: How would you situate your own work inside what is known as German media theory? History of ideas meets archaeology of knowledge? You have a strong in-terest in medical discourse, which is, again, very strong these days. Would you say that media steer our percepti-on?

    Löffler: Maybe I’m not the right person to answer that ques-tion. I would like to describe my work as a combination of archaeology of knowledge and media archaeology. In Ger-man media studies the epistemology and history of media has played a crucial role. In the 1980s, Kittler inaugurated a discourse analysis of media that highlights the importan-ce of the materiality of media, the a priori of technique, and the power of institutions. The main question is how media constitute what can be known and how media influence the ways we consider the world. Scholars like Siegfried Zielinski or Wolfgang Ernst have developed the field of media archa-eology further. Recently, interdependencies between me-dia techniques and infrastructures in addition to cultural or body techniques are an important topic of research, mostly by scholars such as Bernhard Siegert or Erhard Schüttpelz. At the same time, media philosophers everywhere rethink mediation in terms of triangular relations. In recent debates questions of media ecology and ontology, and mediated mo-des of existence, have gained much attention.

    My strong interest in medical discourse derives from the role it plays for formulations of normality. This is, of course, a Foucaultian perspective. The distinction between what is re-garded as normal or abnormal behaviour, or sane and insane, is always a result of cultural negotiations. I’m interested in

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    the role mass media play in these negotiations. In my point of view, perception is a relay, and media can intensify the per-meability of it. No more, no less.

    Lovink: Seen from other areas, Germany is still the coun-try of Schiller and Goethe, of high literature and philoso-phy. Students still read tons of thick and complex books, so it seems. You teach in Weimar, and that must certainly be a strange one-off museum experience. Is there so-mething we can learn from the German education system, or are you as pessimistic as everyone else when it comes to the lack of books that young people read these days, the decline of the shared canon, and the long-term im-plications this has for the intellectual life and the level of thinking and critical reflection? Do you see long-term impacts of the computer and the Internet on German the-ory production?

    Löffler: Weimar is not only the city of Goethe and Schiller. Nietzsche lived here, and the Bauhaus had its first residen-ce here. And there is also Buchenwald, a Nazi concentration camp. Before I came to Weimar, I was teaching in Vienna. From your point of view it seems I’m collecting strange one-off museum experiences, but one major difference between these university cities (and, by the way, between many other universities in Germany) is the fact that the Bauhaus-Uni-versity of Weimar is a very young university, founded shortly after Germany’s reunification. It is not a classical alma ma-ter; there is no faculty of humanities, but rather faculties of engineering, architecture, design, and media. The idea is that theoretical and practical education goes hand in hand. The curriculum offers students courses where they can train their skills in photography, film, design, or programming. The ability to develop independent solutions is regarded as very

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    important. At the same time, Weimar is a place where a lot of research is going on, where scientists meet and theoretical debates are initiated. That is the intellectual climate here.

    German theory production has an affinity to media archa-eology and the history and philosophy of cultural practices. Kittler was among the first media theorists who thought about the role of the computer as a super-medium which is able to incorporate all other media. Claus Pias and Mar-tin Warnke have just launched a research group in Lüneburg investigating the media cultures of computer simulations and their input for knowledge production. I think the faculties of reading and writing will be important skills in the future, but they have to be advanced by others such as working with huge amounts of data and their different representations as pictures, or circulating information of any format in order to manage the interplay of senses in computer-based environ-ments.

    Lovink: I want to come back to the Frankfurt School. Did you say that Adorno is moralistic in his rejection of the media as a light form of dispersed entertainment? If he were alive, do you think he would say the same about the Internet? I always wondered if there would be more sar-castic forms of critique, in the tradition of Adorno and others, that is less elitist, less traditional.

    Löffler: For Adorno’s thinking of negativity and the Frank-furt School, art is an autonomous and alternative sphere of society; it is art’s alterity and autonomy that is the condition for its power to undermine the capitalist order. That is why, for these thinkers, it is not a question of morality to reject the popular mass media of entertainment – it is, I would say, an ‘ontological’ question, because these media give no room for

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    reflecting the mode of existence in capitalist society. Ador-no’s position is not so definite as it first seems. I was sur-prised to read in Dialectics of Enlightment that, according to Adorno and Horkheimer, a total excess of distraction comes close to art in its extremity. This thought resonates with Kra-cauer’s utopia of distraction of the 1920s, dealing with mo-dern mass media and particularly cinema. In this passage of their book, Adorno and Horkheimer are saying – which is re-volutionary for me – that an accumulation and intensification of distraction is able to fulfill the task of negation that was originally dedicated to art, because it alters the state of the subject in the world completely. With this thought in mind it would be really funny and, at the end much less elitist, to speculate on what Adorno would say about the Internet

    —Zuerst erschienen am 21. September 2013 beim Institute for Net-work Cultures im Blog von Geert Lovink, in überarbeiteter und hier vorliegender Form bei Necsus. European Journal of Media Studies, #4Autumn 2013_‘Waste‘.

    Petra Löffler ist Film- und Medienwissenschaftlerin und hat an den Universitäten Köln, Regensburg, Wien und Siegen gelehrt. Ihre Veröffentlichungen umfassen Untersuchungen zur Archäologie der Medientheorie, zur Mediengeschichte der Mimik, zum Frühen Kino, zu Affekttheorie und visueller Kultur. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift für Medienwissen-schaft. Seit Oktober 2011 lehrt sie Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität in Weimar. Sie forscht zu den Themen Medienarchäologie, Bildtheorie, Early Cinema und Digita-le Archive. In ihren aktuellen Forschungsprojekten befasst sie sich mit der Mediengeschichte und Medienkulturen der Zerstreuung sowie mit kollektiven Bildersammlungen im

    http://www.necsus-ejms.org/the-aesthetics-of-dispersed-attention-an-interview-with-german-media-theorist-petra-loffler

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    Internet. Im Januar 2014 erscheint bei diaphanes ihre Stu-die „Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung“. Im Januar 2014 erscheint bei diaphanes ihre Studie „Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung“.

    — www.uni-weimar.de

    Zum Programmpunkt (Computer und Kunst: Wer program-miert wen?)

    http://www.uni-weimar.dehttp://netzkultur.berlinerfestspiele.de/programm/kunst-und-computer/http://netzkultur.berlinerfestspiele.de/programm/kunst-und-computer/http://netzkultur.berlinerfestspiele.de/programm/kunst-und-computer/

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    Stephan Thiel/Studio NAND

    The Known UnknownsThere are known knowns; there are things we know that we know. There are known unknowns; that is to say, there are things that we now know we don’t know. But there are also unknown unknowns – there are things we do not know we don’t know.

    US-Verteidigungsminister a. D. Donald Rumsfeldzur Lage im Irak am 12. Februar 2002

    VorwortIn dem folgenden Beitrag wird das im Jahr 2011 entstandene Projekt The Known Unknowns im erweiterten Kontext vorge-stellt. Mittels spekulativer Apparaturen wird unser Verhältnis zum Zufall und der Wahrscheinlichkeit diskutiert.

    EinleitungDer Zufall spielt eine entscheidende, oft unterschätzte Rolle in unserem Leben: In einem Zeitalter, in dem wir besessen davon sind, durch Tagesplaner, Projektmanagement-Soft-ware und To-do-Listen Ordnung in unser Leben zu brin-gen, verstehen wir Wahrscheinlichkeit als etwas, das es zu berechnen gilt. Um eben diese Wahrscheinlichkeit so weit wie möglich eingrenzen zu können, soll ein etwaiges Risiko weitestgehend minimiert werden. Dabei hilft die menschli-che Angewohnheit, Zusammenhänge und wiederkehrende Muster zu schaffen, auch dort, wo keine existieren mögen, indem wir z.B. Ereignisse im Nachhinein als absolut vorher-sehbar deklarieren. Zahlen und Daten bestimmen die Basis der meisten Entscheidungsprozesse.

    Betrachtet man die Disziplinen der Kryptografie, der Finanz-

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    welt, des Risikomanagements und der Forschung, spielen auch hier der Zufall und im Konkreten Zufallszahlen eine eklatante Rolle. Ihnen wird eine besondere Aufmerksamkeit zuteil, wenn es Wahrscheinlichkeiten zu kalkulieren gilt. Mittels Simulationen und Näherungsverfahren werden alter-native Realisierungspfade (sample paths) erzeugt, um mögli-che Ereignisse im Zeitverlauf zu untersuchen. In den Worten Nassim Talebs: „Wir wollen nicht einfach nur wissen, wo sich ein Vogel morgen Abend befinden könnte, sondern interes-sieren uns vielmehr für die verschiedenen Orte, die er bis zu diesem Zeitpunkt unter Umständen besuchen könnte.“(1)

    Abb. 1: Studio NAND: Verteilung von Pseudozufallszahlen, Ätzung in Aluminium, 60 x 40 cm

    Das Projekt The Known Unknowns thematisiert diesen Drang zur Kalkulation und zum Verifizieren („to quantify is to ve-rify“), indem es drei unterschiedliche Zufallszahlengenera-toren für den heimischen Gebrauch propagiert. Neben einer Sensibilisierung für das Thema geht es um die Fragestellung,

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    wie die Erzeugung von alternativen Realisierungspfaden im Alltäglichen unser Denken und Handeln beeinflussen würde.

    Vom Zufall und der WahrscheinlichkeitIn einem kurzen Abriss sollen zwei unterschiedliche philoso-phische Betrachtungsweisen in Bezug auf den ,Zufall‘ ange-sprochen werden. Zum einen wird der kausale Ansatz und die damit verbundene Negation des Zufalls bei Hume themati-siert und zum anderen der radikale Ansatz Meillassoux’, in dem alles dem Zufall überlassen wird. David Hume bezieht den Begriff des Zufalls auf das mangelnde Wissen über die Hintergründe eines Ereignisses und damit auf das Fehlen einer Ursache in Bezug auf dieses Ereignis. Absolute Zufäl-le werden ausgeschlossen: „Obgleich es in der Welt nichts der Art wie Zufall gibt, so hat doch unsere Unkenntnis der wirklichen Ursache eines Ereignisses denselben Einfluss auf den Verstand und erzeugt eine gleiche Art von Glauben oder Meinung.“(2)

    Der Zufall im erweiterten Kontext bedeutet für Quentin Meil-lassoux als Vertreter des Spekulativen Realismus, dass alles, was ist, auch anders sein könnte, einschließlich der physika-lischen Naturgesetze: „Wir werden nach und nach entdecken, dass das nicht-kausale Universum genauso kohärent ist wie das kausale Univer- sum, genauso in der Lage wie letzteres, über unsere gegenwärtigen Erfahrungen Rechenschaft abzu-legen.“(3) Wenn sich die Menschen dieser Erkenntnis stellen und von einem kausalen zu einem nichtkausalen Universum übergehen, werden sie, Meillassoux’ Meinung nach, nichts verlieren – nichts außer Rätsel.

    Das Projekt The Known Unknowns bezieht sich weder auf Hume noch auf Meillassoux, sondern befindet sich im Span-nungsfeld zwischen selbigen. Um dies zu erläutern, soll zu-

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    nächst im Konkreten auf die Generierung von Zufallszahlen nach deterministischen und nichtdeterministischen Prinzi-pien eingegangen werden.

    A Million Random DigitsDie im Jahr 1946 gegründete amerikanische Forschungsein-heit RAND Corporation befasste sich im Rahmen von Zu-kunftsprognosen mit unterschiedlichsten experimentellen Wahrscheinlichkeitssimulationen. Um diese Simulationen durchführen zu können, bedurfte es einer großen Menge an hochqualitativen Zufallszahlen, die mittels einer Art elek-tronischen Roulettes generiert wurden. Das Buch A Million Random Digits With 100,000 Normal Deviates,(4) das im Jahr 1955 veröffent- licht wurde, stellte lange die Standardre-ferenz dar und enthielt auf über 500 Seiten nichts als Zu-fallszahlen, die für Simulationen in der Ökonomie und Wis-senschaft genutzt wurden. Die Publikation wurde als größte Ressource an veröffentlichten Zufallszahlen von Statistikern,

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    Physikern, Analysten und Lotterieadministratoren genutzt.

    Nach der Einführung des Computers wurden Algorithmen zur Generierung von Zufallszahlen verwendet. Bei diesen Zahlen handelte es sich allerdings um Pseudozufallszahlen (Abb. 1). Pseudozufallszahlen sind scheinbar zufällige Zahlen, die nach einem deterministischen reproduzierbaren Verfahren erzeugt werden und sich im Prinzip in der Welt der klassischen Phy-sik vorhersagen lassen. Sie gelten als minderqualitativ. Ech-te, hochqualitative Zufallszahlen hingegen werden mit Hilfe der Quantenphysik, d. h. nichtdeterministisch, generiert. Mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit hält sich ein Quan-tenteilchen mal an diesem, mal an jenem Ort auf und bewegt sich mit einer unvorhersehbaren Geschwindigkeit. Aufgrund mangelnden Wissens können die Möglichkeiten nicht be-rechnet werden und erscheinen wahrhaft zufällig für uns. Es bedarf also einer hohen Qualität von Chaos, um zu präzisen Simulationsergebnissen zu gelangen.

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    Monte Carlo und der VogelDie Monte-Carlo-Methode ist eine signifikante Methode zur Simulation möglicher Ereignisse, mittels welcher die ver-schiedenen Aufenthaltsorte des oben von Nassim Taleb an-gesprochenen Vogels bestimmt werden können: Algorithmen generieren eine Unzahl an unterschiedlichen Szenarien, die sowohl in der Zukunft als auch in der Vergangenheit liegen können. Dazu werden Zufallsexperimente, die auf Zufalls-zahlen basieren, in einer hohen Frequenz durchgeführt.

    In seinem Buch Narren des Zufalls. Die unterschätzte Rol-le des Zufalls in unserem Leben beschreibt Taleb die Mon-te-Carlo-Methode als ein für ihn essenzielles Werk- zeug, um nicht nur zukünftige Ereignisse, sondern auch soge-nannte alternative Historien (5) zu simulieren, d. h., ein bestimmter Sachverhalt wird nicht ausschließlich durch sein Eintreffen bestimmt, sondern durch das Einbeziehen mög-licher Alternativen: „Für die unsichtbaren Historien gibt es einen wissenschaftlichen Namen: Man spricht von alterna-tiven Realisierungspfaden (sample paths) – ein Begriff aus dem Bereich der Wahrscheinlichkeitstheorie, der gemeinhin unter der Bezeichnung ‚Stochastische Prozesse‘ bekannt ist. […] Monte-Carlo-Simulationen haben mehr Ähnlichkeit mit einem Spielzeug als alles andere, was mir in meinem Erwach-senenleben bisher untergekommen ist. Man kann Tausende, vielleicht sogar Millionen von Zufallspfaden generieren und besonders häufig auftretende Eigenschaften einiger ihrer Attribute unter die Lupe nehmen. […] Ohne mathematische Vorkenntnisse können wir eine Monte-Carlo-Simulation für einen 18-jährigen libanesischen Christen laufen lassen, der für einen bestimmten Geldbetrag immer wieder russisches Roulette spielt, und feststellen, wie viele dieser Versuche ihn zu einem reichen Mann machen […].“ (6)

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    The Known UnknownsDas Projekt The Known Unknowns verfolgt den Drang zur Si-mulation und zum Erstellen alternativer Realisierungspfade, indem Zufallszahlen und ihre Bedeutung für alltägliche und private Entscheidungsprozesse, Prognosen, Finanzsimulatio-nen und Risikoeindämmung inszeniert und propagiert wer-den. Die Serie besteht aus der Cosmic Ray Chamber (Abb. 2 und 3), dem Random Event Harvester (Abb. 4) und dem Ran-dom Anemometer (Abb. 5).

    Cosmic Ray Chamber: Für die Wissenschaftsgläubigen

    Abb. 2: Cosmic Ray Chamber, lackiertes Eisengestell, Nebelkammer, MDF, radioaktive Nadel-quelle, Elektronik, 110 x 55 x 55 cm

    Abb. 3: Cosmic Ray Chamber, Draufsicht

    Die Cosmic Ray Chamber (Abb. 2 und 3) generiert echte Zu-fallszahlen im Wohnzim- mer mittels kosmischer Strahlung, einer hochenergetischen Teilchenstrahlung aus dem Weltall, von der nur eine geringe Menge Teilchen die Erdoberfläche

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    erreicht.

    In einer Nebelkammer werden die Spuren (Wölkchen) ioni-sierter Partikelbewegungen aufgezeichnet. Die Zeitabstän-de zwischen den Messungen können infolge der geringen Teilchenmenge bis zu zehn Minuten betragen. Erfordert die Dringlichkeit einer bestimmten Situation eine schnellere Messung, kann die Strahlung durch eine radioaktive Nadel-quelle, die in der Mitte der Kammer platziert wird, verstärkt werden. So lässt sich eine mögliche wachsende Ungeduld vermeiden.

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    Random Event Harvester: Für die Jäger und SammlerAbb. 4: Random Event Harvester, im 3-D-Druckverfahren hergestellter Prototyp, Geigerzäh-ler, GPS-Modul, 55x15x15cm

    Im Unterschied zu der Cosmic Ray Chamber ist der Random Event Harvester (Abb. 4) transportabel. Ausgestattet mit ei-nem Geigerzähler und einem GPS-Modul sammelt das Gerät Zufallszahlen und deren Position in leicht strahlenden Um-gebungen, wie etwa in der Nähe der zwei Kernkraftwerke im Naturschutzgebiet Dungeness in England.

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    Random Anemometer: Für Pseudozufallszahlen

    Abb. 5: Random Anemometer, 3-D-Druck, gelasertes Aluminium, Elektronik (60 x 25 x 40 cm)

    Das tragbare Gerät (Abb. 5) richtet sich an Menschen, die den auf theoretischer Basis berechenbaren Pseudozufall vorzie-hen. In jedem der vier Kegel der analogen Apparatur befindet sich eine Windfahne. Trifft die Fahne die linke bzw. rechte Seite des Kegels, wird ein Wert zwischen 0 und 1 erzeugt und digital gespeichert.

    —Erschienen in: Rauchwolken und Luftschlösser. Temporäre Räume, Dennis Paul / Andrea Sick (Hg.), Textem Verlag, November 2013

    Credits und DanksagungFotos: Matthias SteffenSchauspieler: Daniel GodwardDanke an: Anthony Dunne, James Auger, Gunnar Green, Neil Usher, Tom Lynch, Stefan Schwabe

    http://www.textem.de/index.php?id=2510

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    Referenzen1. Nassim Nicholas Taleb: Narren des Zufalls. Die unterschätzte Rolle des Zufalls in unserem Leben, München (btb Verlag) 2013, 89.2. David Hume: Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstan-des. Abtheilung VI. Über die Wahrscheinlichkeit. Übersetzt, erläutert und mit einer Lebensbeschreibung versehen von Julius von Kirch-mann, Berlin (Heimann) 1869, 1.3. Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Not-wendigkeit der Kontingenz, Zürich (diaphanes) 2006, 126.4. RAND Corporation: A Million Random Digits and 100,000 Nor-mal Deviates, Glencoe, Illinois (The Free Press) 1955.5. Taleb, Narren des Zufalls, 63.6. Taleb, Narren des Zufalls, 89.

    Stephan Thiel ist seit 2011 einer von drei Mitbegründern und Geschäftsführern von Studio NAND, wo er an der Schnitt-stelle von Design, Wissenschaft und Technik zusammen mit Forschungsinstituten und Firmen weltweit an neuen An-wendungen digitaler Technologien arbeitet. Vor dem Design galt sein Interesse dem Theater, was sich auch heute noch in seinem Fokus auf Datenvisualisierung und Interfaces für den Umgang mit literarischen Werken, insbesondere denen von Shakespeare, widerspiegelt. So arbeitet er beispielswei-se seit seinem Abschluss als Interface Designer (BA) an der Fachhochschule Potsdam 2010 mit Wissenschaftlern in ganz Europa an der Analyse und Visualisierung von Übersetzun-gen von Othello. Parallel dazu unterrichtet Stephan Thiel seit 2008 an verschiedenen Hochschulen und setzt sich, ebenfalls mit Studio NAND, für die freie Verfügbarkeit von Wissen und einen kreativen und kritischen Umgang mit Software und Elektronik ein.

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    — @studioNAND

    Zum Programmpunkt (Computer und Kunst: Wer program-miert wen?)

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    Stephan Porombka

    Die nächste Literatur Anmerkungen zum Twittern

    Wer verstehen will, was nächste Literatur ist, kann bei Twit-ter nachschauen. Noch besser: der kann bei Twitter mitma-chen.

    Aber Achtung. Man erkennt die Literatur nicht sofort. Alles funktioniert hier anders, als es die Freunde des guten Buches gewohnt sind.

    Buchfreunde suchen auf der Timeline vielleicht nach Apho-rismen, nach Lyrik, nach Kurzgeschichten, vielleicht nach einem Roman. Sie fahnden nach Autoren, die sie aus den Ver-lagskatalogen kennen. Und sie suchen Texte, die im Verlags-katalog annonciert werden können. Wer das tut, wird natür-lich enttäuscht. Überhaupt wird jeder enttäuscht, der von den alten Medien kommt und irgendwie erwartet, irgendetwas von den alten Medien zu finden. Aus dieser Perspektive er-scheint, was auf Twitter läuft, einfach nur flach.

    Nächste Literatur findet man bei Twitter erst dann, wenn man den eigenen Kriterienkatalog überprüft. Denn Twitter ist ein Medium, mit dem man den Wechsel von Kriterien auspro-bieren kann. Und das ist bekanntlich nicht das Schlechteste, was man über Literatur sagen kann.

    Was getwittert wird, ist nächste Literatur, weil hier lesend und schreibend mit Geräten experimentiert wird, die zu den Leitmedien der Gegenwart geworden sind. Die sind auf ei-genartige Weise auf das „Nächste“ verpflichtet. Sie sind die Treibsätze einer Kultur, die sich immer mehr für das nächste große Ding interessiert, die Vergangenheit entwertet und

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    dabei vor der Gegenwart nicht Halt macht.

    Das kann man gut finden. Oder auch nicht. Doch was auch immer man für Strategien entwickelt, mit dieser Gegenwart umzugehen, es gilt: Man sollte wissen, wie das Prinzip funk-tioniert, mit dem sie in Bewegung gehalten wird. Einfach nur „Nein“ sagen, reicht nicht. Wer aber sagt, dass alles anders werden soll und sich dafür einsetzen will, der spielt das Spiel des Nächsten schon mit. Der sollte deshalb erst recht wissen, wie es gespielt wird.

    Wer Laptops, Smartphones und Tablets besitzt, wartet mit Lust und Angst darauf, dass bald die nächste Generation an-nonciert wird. Die draufgespielte oder über die Cloud verlink-te Software wird fast täglich durch Updates mit Funktions-erweiterungen und –verbesserungen ersetzt. Man weiß nicht mal, ob die Plattform, mit der man gerade arbeitet, nicht ganz verschwindet oder vom Markt gekauft und aufgefressen wird.

    Unruhig sind aber auch die Geräte selbst. Sie sind darauf an-gelegt, geortet und an nächste Netzwerke angeschlossen zu werden und mit ihnen Daten auszutauschen. Dabei interes-siert der aktuelle Zustand nur begrenzt. Wichtiger ist, nächs-te Zustände zu antizipieren und zu evozieren. Deshalb ver-sorgen sie ihre User dauernd mit nächsten Angeboten, etwas Nächstes zu tun.

    Wer immer auch für Netzwerke dieser Art publiziert, lernt eine Unruhe kennen, die der alten Literatur und ihren Be-trieben nicht bekannt war. Nicht nur wird klar, dass man sich auf fortlaufend auf den Einsatz neuer Hardware und Software einstellen und die Textversionen den neuen Gegebenhei-ten anpassen muss. Auch müssen alle Dokumente immer so arrangiert sein, dass sie einfach zu versenden und auf allen

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    Geräten lesbar sind. Einfach nur zur Verfügung stellen, ist zu wenig. Wichtig ist, dass man die Dokumente weiterbearbei-ten und teilen kann. Die wichtigste Frage der User lautet: Was kann ich als nächstes damit tun? Wenn ich nichts damit tun kann, will ich’s nicht haben.

    Twitter folgt dieser Verpflichtung aufs Nächste auf exem-plarische Weise. Auf der Timeline interessiert weniger das, was bereits getwittert worden ist. Interessant ist, was als nächstes getwittert wird. Twitterer erkennt man daran, dass sie ihre Timeline dauernd mit eigenen Tweets, vor allem aber mit den aktualisierten Tweets der anderen nachladen. Es ist ein Spiel, das wie alle Spiele davon lebt, dass es in Bewegung bleibt. Wenn es zum Stillstand kommt, ist es vorbei. Und das wünscht sich bei Twitter keiner.

    Deshalb wird bei Twitter schnell vergessen, wer nicht da-bei bleibt. Es ist falsch, wenn man meint, dass man sich mit Tweets in Erinnerung ruft. Das Twittern selbst ist die Erin-nerung. Der Tweet ist das Kurzzeitgedächtnis. Er ist zugleich das Versprechen, dass das jetzt nicht die letzte Nachricht war. Der Tweet sagt nicht, dass da was war. Der Tweet sagt: Da kommt noch was.

    Rund um Twitter evolvieren eine Menge Analyseprogramme. Die User nutzen sie, um genau im Blick zu haben, wann die optimalen Zeiten für das Senden des nächsten Tweets ist, wer ihn dann liest, retweetet und mit Sternen versieht und wann man womit neue Follower bekommen kann. Überhaupt: die Follower! Davon wollen alle immer mehr. Jeder Abgang wird beklagt. Jeder Sprung über Hunderter- und Tausendergren-zen gefeiert.

    Den Texten ist diese Bewegung auf das Nächste eingeschrie-

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    ben. Die Beschränkung auf hundertvierzig Zeichen macht klar: Niemand will hier bei irgendetwas lange verweilen. Kann man auch gar nicht. Die nächsten Tweets werden in der Timeline längst weiter draufgestapelt.

    Die sind dann oft mit Hashtags versehen. Mit ihnen werden Schlagwortlisten gebaut, auf die man sich per Link hinüber-klicken kann, auf denen sich ebenfalls die neuen Beiträge stapeln. Stapelt sich dort nichts, klickt man sie nicht mehr an.

    Noch häufiger enthalten die Tweets Links auf Beiträge im Netz. Weil nicht viel in 140 Zeichen passt, wird man zum Weiterlesen nach draußen geschickt. Damit verbrennen die Tweets. Sie geben ihre Energie ab. Sie sind nur dazu da, um auf etwas anderes zu verweisen. Die blau gefärbte Verknüp-fung weist darauf hin: Sie bleiben nicht. Sie wollen mit etwas Nächstem verknüpfen. Klick. Und weg.

    Weil das so ist, hat sich Twitter als weltweit einzigartige Kulturumlüftungsmaschine entwickelt. Was immer auch im Netz passiert, es wird per Tweet auf kleinsten Raum zusam-mengepresst, in die eigene Timeline gedrückt und dann mit großem Druck rausgeschossen. Mal an hundert, an tausend, an zehntausend und mehr Follower. Das sind Lesermassen, die zusammen kleine und große miteinander verknüpfte und ineinander verschachtelte Öffentlichkeiten ergeben, in denen die Beiträge für kurze Zeit in Bewegung gehalten werden.

    Die Aufmerksamkeitsgesetze dieser Netzwerke haben jene der massenmedialen Zentralöffentlichkeiten längst über-trumpft. Für die zeitungsbasierte literarische Öffentlichkeit gilt: Die alte Auseinandersetzung mit Büchern ist tot. Wer Rezensionen druckt, bespaßt nur noch ein paar Leser, die es

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    morgens mental zum Briefkasten und zurück schaffen. Wer gelesen und diskutiert werden will, stellt die Sachen ins Netz und sieht zu, dass sie bei Twitter rotieren.

    Mit Erfahrung, mit der richtigen Strategie und ein bisschen Glück erreicht man dann bei Twitter die Leser, die online sind und sich gerade zum nächsten Tweet scrollen. Den sehen sie, vielleicht lesen sie ihn, vielleicht folgen sie dem Link, viel-leicht machen sie eigene Tweets aus ihm, vielleicht retweeten sie einfach nur die Vorlage, vielleicht hängen sie einen Stern dran, der sagt: Das ist gut. Das gefällt mir. Das könnte auch den anderen gefallen.

    Lady Gaga hat dreißig Millionen Follower. Wenn sie hustet, dann regnet es in den nächsten Sekunden weltweit Sterne. Aber dann ist es schon wieder vorbei. Jeder Tweet hat seine Zeit. Und wenn er nicht retweetet wird – und das heißt: von anderen Usern wieder und wieder in die Umlaufbahn ge-schossen wird – verglüht er schneller, als man gucken kann. Auf Twitter etwas zu verpassen, ist normal. Man sollte das unbedingt entspannt sehen.

    Twitter läuft auf diese Weise immer. Wer wirklich twittert, lebt mit dem Programm. Twitter bietet keine Geschichte mit Anfang und Ende. Es ist eine Erzählmatrix, in der man drin ist und die man fortschreibt. Immersive Storytelling und Li-quid Storytelling haben die alten Erzählmuster abgelöst. Die Timeline markiert die Lebenszeit. Die Leute, denen man folgt und die einem folgen, bilden einen Kreis, der anders struk-turiert ist als der im Real Life, aber oft auf intensivere Weise funktioniert.

    Auch wenn das Schreiben und Lesen hier mit großer Ge-schwindigkeit absolviert wird: Dieser Kreis stellt seinen

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    dynamischen Zusammenhang dadurch her, dass man das füreinander tut. Nur von Ich-Sendern zu sprechen ist des-halb im Fall von Twitter falsch. Es sind vor allem Wir- und Für-uns-Sender, die das Nächste herstellen, um den Kontakt untereinander halten. Und zwar online und offline. Auch hier sind die Verschachtelungen und Verknüpfungen so hyper-komplex, dass jede lineare Diagnose über die Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch Online-Kom-munikationen dieser Art ignoriert werden sollten. Selber ausprobieren hilft.

    Selber ausprobieren macht auch schlauer. Hört man hin und wieder, bei Twitter gibt es nur das große Rauschen, jeder darf, jeder schreibt, jeder quatscht, dann lautet die Antwort darauf: Ja, das stimmt, das macht das Medium aus. Aber der zweite Teil der Antwort lautet: Vielleicht sollte man selbst nicht so viel Quatsch reden, sondern sich Twitter mal genauer anschauen und sehen, dass man sich die Timeline mit guten Leuten und guten Sendern bestücken und alles andere un-terdrücken kann. Wer ist denn so dumm und folgt tausend Usern, die alle nur dummes Zeug schreiben? Niemand. Das passiert nur in der beschränkten Phantasie von Leuten, die gar keine Ahnung von Twitter haben und selber nur dummes Zeug quatschen, das weder bei Twitter noch sonst wo jemand hören will.

    Wer von außen so ein dummes Zeug erzählt, der hat vor etwas ganz Anderem Angst. Verstörend wirkt die Art und Weise, wie man mit Kultur umgeht. Bei Twitter wird nämlich gegeben, geteilt und geschenkt. Vor allem wird es mit dem Hinweis getan, dass man das Gegebene, Geteilte und Geschenkte wei-tergeben, weiter teilen und weiterschenken kann. Hier sagt man nie: Bewahre es auf. Alles fordert auf: Mach etwas damit, wenn Du willst.

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    Bei Twitter haben deshalb die Geizigen keine Chance. Wer alles nur für sich behalten und alles Licht nur auf sich len-ken will, hat verloren. Nichts spüren Follower schneller und feiner als eine Form der ängstlichen Arroganz, die nicht zum Tausch bereit ist. Wer den Flow aufs Nächste unterbricht, um nur sich selbst zu bereichern, wird entfolgt oder gar nicht erst wahrgenommen.

    Mit all dem verhält sich Twitter zum Buch wie die Perfor-mance zum Ölbild. Während die gedruckte Literatur und all ihre Institutionen darauf aus sind, Bleibendes zu schaffen, gibt sich das geschriebene Wort bei Twitter der fortlaufenden Bewegung hin. Hier gilt nicht: Wer schreibt, der bleibt. Bei Twitter gilt: Wer schreibt, der verschwindet, um das Nächste vorzubereiten. Schreibend schafft man Treibstoff, der ver-braucht wird. Niemand twittert mit Substanz. Aber alle twit-tern stimulierende Substanzen.

    Wer sich für klassische Literatur interessiert, mag denken, dass mit den 140 Twitter-Zeichen die Tradition des Apho-rismus weitergeführt wird. Tatsächlich sieht es auf den ers-ten Blick so aus. Doch machen die Tweets den Unterschied ums Ganze. Denn sie lösen etwas ein, das im Aphorismus als Gedankenblitz nur angelegt war, als er noch handschriftlich notiert und dann in Bücher gedruckt worden ist.

    Ein Tweet verbindet wirklich, was bis dahin noch nicht zu-sammenzugehören schien. Er blitzt wirklich. Er schlägt ein. Er provoziert den Unterschied im Denken, indem er sichtbar neue Gedanken in Gang setzt. Er markiert nicht das Ende. Er ist das Material für die nächsten Ideen. Und während der Aphorismus der Buchkultur dann doch als zeitlos geflügeltes Wort der Nachwelt übergeben werden sollte, verflüchtigt sich der Tweet, bevor man ihn kanonisieren kann.

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    Und während der Aphorismus der Buchkultur den großen Geist des großen Autors in Szene setzen sollte, ist der Tweet auf etwas anderes angelegt: Er verknüpft Leute, die sich ge-genseitig lesen. Das tut er nicht erst, wenn das Buch irgend-wann mal gedruckt ist und den weiten Weg über die Läden, Bibliotheken und Privatregale zu den Lesern findet. Er tut es immer jetzt und sofort und immer als Treibsatz für das Nächste.

    Das klingt nach Stress. Ist es natürlich auch. Vor allem dann, wenn man diese Bewegungen aufs Nächste hin mit den Stra-tegien jener Medien bewältigen, mit der sich die Kultur an der Vergangenheit orientiert und auf die Gegenwart verpflichtet hat. Wer Twitter wie ein Buch liest, verzweifelt. Wer Twitter als Zeitung versteht, verzweifelt nicht sofort, verpasst aber das Beste. Wer Twitter als Medium des Nächsten ausprobiert, kommt schon weiter. In den Zeitungsredaktionen und den Buchverlagen lernen sie das gerade. Und sie wissen, dass die nächsten Bücher und die nächsten Zeitungen deshalb nicht mehr so aussehen können wie heute.

    Allerdings hört man hier dann auch immer wieder die Frage: Muss man eigentlich jeden Quatsch mitmachen? Muss man von Twitter Ahnung haben oder gar mitmachen, nur weil hundert Millionen User das tun?

    Nein. Natürlich nicht. Man kann immer auch irgendwas anderes tun. Oder auch gar nichts. Man muss sich nicht mit der Gegenwart beschäftigen. Man sollte dann aber auch nicht über die Gegenwart reden, als hätte man Ahnung davon.

    Man soll dann übrigens erst recht nicht die Künstler und die Künste feiern, die sich im 18. Jahrhundert produktiv mit dem Buch auseinandergesetzt haben, obwohl es Angst gemacht

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    hat und gedroht hat, die alten Regeln der alten Gesellschafts-form sukzessive auszuhöhlen und zu erledigen. Man sollte dann auch nicht die Künstler und die Künste feiern, die sich mit Faszination auf die Fotografie, den Journalismus, den Film, das Radio und das Fernsehen eingelassen haben.

    Das ist klar: Wer heute Twitter nur flach findet, es nicht be-rühren und nicht davon berührt sein will, der benimmt sich ja nicht anders als ein armer preußischer Landgeistlicher im Jahr 1780, der immer noch darauf schwört, dass nur die Bibel das richtige Buch ist.

    Wer heute Twitter nur flach findet, es nicht berühren will und nicht davon berührt sein will, schmeißt überdies die kulturel-len Errungenschaft über Bord, die dieser arme Landgeistliche nicht hatte: die Errungenschaft nämlich, auf die Massenkul-tur, auf das „man“, auf die Medienkultur, auf die Popkultur, auf das wilde, überfordernde, rauschende Durcheinander der Vielen nicht mit schnöder Arroganz herabschauen zu müs-sen, sondern sich selbst als ein Teil davon sehen zu können, von allem fasziniert zu sein und doch sich nicht auflösen zu müssen, sondern mittendrin mit sich selbst und der Gegen-wart auf ebenso lustvolle wie kritische Weise experimentie-ren zu können, um durch sich hindurch nächste Zustände herstellen zu können.

    Und für all das soll Twitter stehen? Twitter als d a s Medium, mit dem wir das alles endlich einlösen können?

    Ach, Twitter. Wir leben in einer Kultur, die auf das Nächste fixiert ist. Das gilt auch in diesem Fall. Deshalb muss man ja auch nicht twittern. Man darf auch eine Runde aussetzen und dann in der nächsten wieder einsteigen. Vielleicht wird es gar nicht lange dauern. Hundertvierzig Zeichen sind ja schnell

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    überflogen. Und dann geht’s schon wieder weiter.

    Stephan Porombka, geboren 1967 in Salzgitter, war zuerst Germanist, dann Literaturwissenschaftler mit dem Schwer-punkt Neue Medien und Literaturbetrieb, Hypertext-Experte, Slammer, Kulturjournalist und Projektmacher. Heute ist er experimenteller Kulturwissenschaftler und produktiver Ge-genwartsbeobachter, der sich ganz besonders für die Formen und Formate des „Nächsten“ interessiert. Seit 2013 forscht und lehrt er an der Universität der Künste Berlin Texttheorie und Gestaltung. Zuvor lehrte er an der Universität Hildes-heim. Dort baute er das universitätsweite Qualitätsmanage-ment auf und entwickelte und leitete die Studiengänge Kre-atives Schreiben und Kulturjournalismus und Literarisches Schreiben. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht seither die Aufgabe, die alten, immer noch buchbasierten Konzepte li-terarischer, essayistischer und journalistischer Produktivität und Kreativität zu transformieren und den Bedingungen der neuen – vor allem: der nächsten! – Schrift- und Schreibkul-turen anzupassen. Seine letzten twitternahen Veröffentli-chungen sind die gesammelten Tweets „Der letzte macht das Buch aus“ (Frohmann, 2013) und „Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co“ (Duden-verlag, Mannheim 2012).

    — http://twitter.com/stporombka— www.stephanporombka.de

    Zum Programmpunkt (Twitter-Sprechstunde)

    http://twitter.com/stporombkahttp://www.stephanporombka.de

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    Ranga Yogeshwar

    Bücher sind keine Schuhcreme!Warum Bibliotheken im digitalen Zeitalter immer wichti-ger werden

    Meine erste bewusste Erinnerung an Bibliotheken ist eng verbunden mit dem kratzigen Kitzeln von Bartstoppeln. Dann nämlich, wenn ich meinen indischen Großvater umarmte, der im Gegensatz zu meinem Vater keinen Vollbart trug und zu Hause manchmal unrasiert war. „Tataa“, wie wir unse-ren Großvater nannten, lebte in einem einfachen Haus im Stadtteil Malleswaran mitten in Bangalore. Die südindische Kleinstadt meiner Kindheit war noch beschaulich. Bangalore, die „Stadt der Blumen“, lag kühl auf dem Dekan-Hochpla-teau, eine Stadt im Aufbruch mit einer keimenden Industrie und doch noch überschaubar, eingebettet in das Grün um-liegender Reisfelder und langer Baumalleen, die von neugie-rigen Rhesusaffen bewohnt wurden. Schon damals träumte die Stadt von Veränderung und Fortschritt, doch dieser war noch nicht in Indien angekommen. Bangalore war noch nicht zur heutigen Megastadt angewachsen und der Boom von IT, Outsourcing und Geld sollte noch drei Jahrzehnte auf sich warten lassen.

    Mein Großvater S. R. Ranganathan war Mathematiker und ein anerkannter Bibliothekswissenschaftler, der das Biblio-thekswesen Indiens nachhaltig prägte. Ein Intellektueller, der in Indien hohes Ansehen genoss und dennoch ganz im Geiste des großen Mahatma Gandhi in materieller Beschei-denheit lebte. Bildung und Reichtum waren nicht zwingend miteinander verbunden. In seiner festen Überzeugung war die Bibliothek weit mehr als ein Haus mit vielen Buchregalen, die möglichst gut gefüllt sein sollten. In den Bibliotheken

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    fand sich das organisierte Wissen der Welt, und dieses Wis-sen gehörte allen und sollte jedem, unabhängig von seiner Herkunft, seiner Kaste oder seinem Einkommen, zugänglich sein.

    Das Indien meiner Kindheit hatte sich gerade aus den Fängen kolonialer Unterdrückung befreit und ich erlebte einen Kon-tinent auf der Suche nach seiner neuen Rolle. Überall ent-standen neue Fabriken, neue Maschinen und neue Stadtteile. Das arme Indien – so der Traum – sollte durch den Genuss von Bildung zu einer starken Nation aufblühen. Bildung war der Schlüssel, mit dem die Tür in eine blühende Zukunft aufgeschlossen werden sollte. Für meinen Großvater war die Bibliothek heilig und wie ein Tempel war sie offen für alle, ein lebendiger Ort, der die Menschen, die ihn nutzten zu mündi-gen und unabh�