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Vandenhoeck & Ruprecht Eduard Schweizer Kleine Vandenhoeck Reihe Band 1572 Jesus, das Gleichnis Gottes Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu? zur Vollversion

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Vandenhoeck & Ruprecht

Eduard Schweizer

Kleine Vandenhoeck Reihe Band 1572

Jesus, das Gleichnis GottesWas wissen wir wirklich vom Leben Jesu?

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EDUARD SCHWEIZER

Jesus, das Gleichnis Gottes

Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu?

V&R

VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN

ISBN Print: 9783525335963 — ISBN E-Book: 9783647335964© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

EDUARD SCHWEIZER, Jesus, das Gleichnis Gottes

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Eduard Schweizer

Geb. 1913 in Basel. 1941 Univ.-Dozcnt in Zürich, 1946 o. Prof. für Neues Testament. seit 1949 in Zürich, 1979 emeritiert.

Buchveröffentlichungen: Gemeinde und Gemeindeordnung im NT (1959, 21962; auch engl., ital., Japan.) Das Evangelium nach Markus (1967, 71989); Matthaus (1973, 3198 l)undLukas( 1982, 31993; auch engl., ital., Japan.,finn.); Der Brief an die Kolos­ser (1976, 21981; auch engl., japan., span.); Heiliger Geist (1978 ; auch engl., ungar.,

span., ital., portug.); Theolog. Einleitung in das NT (1989, auch engl., ital.) u. a.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Schweizer, Eduard: Jesus, das Gleichnis Gottes: was wissen wir wirklich

vom Leben Jesu?/Eduard Schweizer. -Göttingen: Vandcnhoeck und Ruprecht, 1995

(Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1572) ISBN 3-525-33596-2

NE: GT

Titel der Originalausgabe: Jesus the Parable of God - What do we really know about Jesus? (Princeton Theologicial Monograph Scries 37 Allison Park, PA: Pickwick

Publications, 1994)

Kleine Vandenhoeck-Reihe 1572

© 1995 Vandcnhoeck & Ruprecht in Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in

elektronischen Systemen. Umschlag: Hans-Dictcr Ullrich

Satz: KCS, GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

ISBN Print: 9783525335963 — ISBN E-Book: 9783647335964© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Inhalt

Vorwort 6

I Was wissen wir heute über das Leben Jesu? 9 1. Der lebendige Christus ohne ein Leben Jesu? 11 2. Die Unentbehrlichkeit der Geschichte 13 3. Der besondere Ort Jesu innerhalb seines jüdischen

Umfelds 17 4. Kritische Anfragen 18 5. Müssen wir resignieren? 22

II Jesus der Gleichniserzähler 26 1. Noch einmal die Kriterien 26 2. Das Kriterium der »Unähnlichkeit«: die Gleichnisse 28 3. Das Ein-Satz-Gleichnis von Lukas 13,21 30 4. Metaphern, nicht Vergleiche 35 5. Jesus das Gleichnis Gottes 39

IN Jesus, Prediger und Heiler, Freund von Zöllnern und Sündern — der Messias? 41

1. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf: Lk 15,3-7 41 2. Das Gleichnis vom Säemann: Mk 4,3-9 43 3. Die Bergpredigt 46 4. Jesus der Heiler 49 5. Jesus Freund der Zöllner und Sünder 52 6. Jesu Worte und Taten als »Statussymbole« 53

IV Jesus der Gekreuzigte 58 1. Die Kreuzigung Jesu: die Tatsachen 58 2. Hat Jesus von seinem künftigen Sterben gesprochen? . . . . 59 3. Die Kreuzigung Jesu: Heilsereignis? 62 4. Das Gleichnis vom mit-leidenden Vater (Lk 15,11 -32) . . 66 5. Die explizite Christologie der frühen Kirche 70

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V Jesus der Auferstandene 75 1. Die Notwendigkeit mythologischer Sprache 75 2. Die Auferstehung Jesu: die Tatsachen 77 3. Wie sahen Jesu Jünger ihren auferstandenen Herrn?

Die Geschichten der Evangelien 81 4. Was geschah in Galiläa, Jerusalem und vor Damaskus

± 30 n. Chr.? 83 5. Zurück zum irdischen Jesus 87 6. Die explizite Soteriologie der johanneischen Kirche:

Joh 11,17-29 91

VI Schlußfolgerungen 95 1. Karl Barth gegen Rudolf Bultmann? 95 2. Das Problem der Religionen und der Allversöhnung . . . . 96

Anmerkungen 99

Zitierte Autoren 116

Ausgewählte Bibelstellen 118

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Rudolf Schnackenburg dem »treuen Jochgenossen« auf dem Weg des

Evangelisch-Katholischen Kommentars zum Neuen Testament 1967-1995

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Vorwort

Dieses Buch war nicht geplant. Als D. Hadidian von Pickwick Publica­tions mich 1993 fragte, ob ich eine knappe Monographie zur Frage des historischen Jesus schreiben könnte, schrieb ich ihm, daß ich wahr­scheinlich weder die Kraft noch die Zeit dazu fände (schon weil ich kei­nerlei Hilfe für die Reinschrift oder für das Nachprüfen der Stellen mehr habe) und daß der Ausstoß theologischer Bücher heute derart angeschwollen sei, daß es geradezu ein Gnadenakt geworden ist, keines mehr zu schreiben. Und doch liegt es jetzt vor. Es verdankt sein Werden einer ganzen Reihe von glücklichen Ereignissen (glücklich für mich, wohlverstanden; ob für die Leser, ist eine ganz andere Frage!).

Alles begann mit der freundlichen Einladung durch Dr. Allen Chur­chill, für drei Tage im September 1992 nach Kanada hinüberzukommen und in Ottawa/Ontario die Dominion-Chambers Lectures über die Leben-Jesu-Forschung zu halten. Das Thema war mir also schon 1992 gegeben. Im Jahr darauf folgte die Einladung, zum gleichen Thema in den ersten Tagen von 1994 die James D. Belote-Memorial Lectures an der Baptistischen Theologischen Hochschule in Hongkong zu überneh­men. An beiden Orten bin ich angeregt, belehrt und inspiriert worden durch ausgedehnte Diskussionen in einer warmen und offenen Atmo­sphäre. Zwischen beiden Veranstaltungen habe ich diese Frage eine Woche lang in der Nassau Presbyterian Church auf dem Campus der Universität Princeton/New Jersey behandelt und wiederum aus dem Gespräch Neues gelernt. Ein Glied dieser Gemeinde schenkte mir völ­lig spontan den Band von J . D. Crossan, eine Gabe, die mich (glück­licherweise) nötigte, das Buch gründlich zu lesen und mich damit aus­einanderzusetzen, bevor ich meine Hongkonger Vorlesungen nieder­schrieb. Ich schickte eine Kopie Herrn D. Hadidian mit der Bemerkung, daß ich nicht an eine Veröffentlichung dächte (außer in einer von vornherein gewünschten chinesischen Übersetzung). Nach meiner Rückkehr von Hongkong bat mich Dr. Amberg, in der Theolo­gischen Literaturzeitung vom September 1994 G. Lüdemanns sehr kri­tische und heiß diskutierte Monographie zur Auferstehung Jesu zu rezensieren. Das bedingte, die Hypothese der Auferstehungserschei-

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nungen als intrapsychischer Halluzinationen der Jünger(innen) gründ­lich zu überlegen. So zwangen mich drei Einladungen zu Vorlesungen und zwei Gaben von herausfordernden Büchern, die Frage mehr und mehr zu bedenken, wer Jesus war (und ist !) .

Das entscheidende Ereignis stellte sich an meinem 8 1 . Geburtstag ein. In der Post lagen Druckbogen meiner Hongkonger Vorlesungen, die D. Hadidian mir schickte. Einerseits war das ein willkommenes Geburtstagsgeschenk, andererseits war ich dadurch gezwungen, genau das zu tun, was ich nicht tun wollte — nämlich ungefähr alles neu zu schreiben und vor allem auch (besonders angesichts der seither erfolg­ten Publikation des Buchs von Lüdemann) zu erweitern. Dabei war mir völlig unklar, wie und wann ich dazu Kraft und Zeit finden könne, alles nochmals in die Maschine zu schreiben. Als ich in der Baptistischen Theologischen Hochschule in Rüschlikon/Zürich bei der Abschluß­feier die Predigt halten durfte, traf ich meinen neutestamentlichen Kol­legen Keith Dyer, der freilich schon Ende Juni nach Australien zurück­kehren mußte. Erbot mir an, vor diesem Termin noch mein Manuskript durchzusehen und mein Englisch zu glätten. Mit der Hilfe von Clare Hutt, einer Austauschstudentin von Aberdeen, verwandelten sich die verschiedenen Schichten der ursprünglichen Vorlesungsmanuskripte, der vorläufigen Druckbogen und vor allem meiner Korrekturen, Verar­beitungen und Zusätze in ein lesbares und druckbares Compu­ter-Script. Das war eine sehr große Hilfe und die endgültige Befreiung von meinen Sorgen.

Ich bin daher Gott für all das dankbar, was mir an Herausforderung und an Gelegenheit zum Durchdenken und zum Lernen noch geschenkt worden ist. Von hier aus möchte ich denen danken, die mir dabei gehol­fen haben: Zuerst denen, die mich eingeladen haben, Dr. Churchill in Ottawa, unseren langjährigen guten Freunden Herrn und Frau Dr. W. Aiston und Pfr. Cindy Jarvis in Princeton (nicht zu vergessen das Ehe­paar Walker, das uns zum Dinner eingeladen und mit dem Buch von Crossan beschenkte), schließlich der Fakultät in Hongkong (mit mei­nem Freund, Prof. Dr. John Chow dort). Dann gilt mein Dank all den akademischen und nichtakademischen Teilnehmern, die freundlich und offen zuhörten und ins Gespräch mit mir kamen, und Dr. Dyer mit Clare Hutt für ihre hochgeschätzte Hilfe. Schließlich, last but not least, möchte ich meinen tiefen Dank auch D. Hadidian ausdrücken, der mich fast mit Gewalt dazu drängte, hart zu arbeiten, und der das Risiko über­nommen hat, das Ergebnis zu veröffentlichen.

Etwas von der Wirklichkeit der christlichen Kirche erweist sich in

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sehr einfachen Erfahrungen der Zusammengehörigkeit und Gemein­schaft. Das geschieht zu allererst im Zusammensein mit Elisabeth in allen Höhen und Tiefen einer schon fast 55jährigen Ehe und mit unse­ren Kindern, Groß- und Urgroßkindern, aber dann doch auch mit den Freunden, von denen einige oben erwähnt sind. Je älter ich werde, desto wichtiger wird das für mich.

Zur deutschen Ausgabe Als Herr Dr. A. Ruprecht mir schrieb, er möchte meinen anspruchslo­sen Versuch auch auf deutsch herausbringen, weil er meine, daß diese Stimme im Chor (oder Chaos?) der vielen Stimmen heute notwendig sei, habe ich die englische Fassung einigermaßen frei ins Deutsche übersetzt, ohne sie zu verändern, abgesehen von einigen Präzisierungen und (zum Teil zufälligen und keineswegs erschöpfenden) Hinweisen auf im deutschen Sprachgebiet wichtig gewordene Beiträge, vor allem in den Anmerkungen (deren Zählung aber mit der englischen Originalaus­gabe identisch bleibt). Frau Hannelore Würgler danke ich herzlich für ihre Mithilfe beim Schreiben und beim Nachprüfen der Bibelstellen und der Indices.

Wenn ich dieses Buch Rudolf Schnackenburg mit der schönen Wendung von Phil 4,3 widmen darf, dann denke ich an die 28 Jahre, in denen wir zusammen gewiß nicht wie Wundertiere, doch wie zwei ins Joch gespannte, zuverlässige Ochsen den Karren des EKK über alle Konfes­sionsgrenzen hinweg ökumenisch zu ziehen, ängstliche Kollegen zu ermutigen und andere dringend zu mahnen versuchten. Es war eine gute Zeit, für die wir dankbar sind, weil wir in intensiven Arbeits­tagungen viel voneinander gelernt haben, und wir sind dankbar, daß sich jetzt Jüngere vor den Wagen spannen lassen.

Zürich, im Advent 1994 Eduard Schweizer

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I Was wissen wir heute über das Leben Jesu?

0. 1 Seit der Aufklärung stellt die historisch-kritische Forschung diese Frage. Ist es für diejenigen, die an den auferstandenen Jesus glauben, überhaupt eine sinnvolle Frage? Ich versuche als einer zu leben, der an ihn glaubt. Darum meine ich, daß was der Auferstandene nach Ostern zu seinen Jüngern gesprochen hat, keineswegs mit weniger Vollmacht gesagt ist als das, was der irdische Jesus verkündet hat. Ich bin über­zeugt davon, daß Jesus in seiner vorösterlichen Wirksamkeit nicht in der nachösterlichen Sprache redete, wie wir sie im Johannesevangelium lesen, weil diese Sprache, z. B. in den langen Bildreden, die nicht um das Gottesreich, sondern um das »Ich bin. . .« Jesu kreisen, so völlig anders tönt als die Gleichnisse in den ersten drei Evangelien. Dennoch bin ich ebenso überzeugt davon, daß manchmal das vierte Evangelium das, was Jesus wirklich meinte, klarer und besser formuliert als die andern.1 Doch gilt Ähnliches schon von den Synoptikern (Markus, Matthäus und Lukas). Auch sie schreiben j a keine rein historischen Berichte, sondern bezeugen ihren Glauben an diesen Jesus. Auch bei ihnen finden wir das Echo von Menschen, die Jesus als seine Zeugen für sich gewonnen hat. Schon die Auswahl der Worte und Geschichten, die in ein Evangelium aufgenommen werden, ist Ausdruck einer per­sönlichen Entscheidung und damit Ausprägung des Glaubens des Ver­fassers. So mischt sich auch bei ihnen das, was sie nach Ostern erkannt haben und als wesentlich für ihr Leben und Sterben und Auferstehen ansehen, mit dem, was sie aus der Zeit vor Ostern berichten.

Dennoch ist es wichtig, zwischen den Worten des irdischen Jesus (oder den Geschichten von ihm) und denen, die in der Zeit nach Ostern entstanden sind, zu unterscheiden, so weit uns das noch möglich ist. Diese Unterscheidung ist nicht eine Unterscheidung von größerer oder geringerer Autorität, als wären die wörtlich vom Irdischen gesproche­nen Worte oder das von ihm Berichtete an und für sich für unseren Glauben wesentlicher als die nach Ostern formulierten Worte oder das dann über ihn und seine Bedeutung Gesagte. Die Unterscheidung bei­der Schichten hilft uns aber, die Texte der Synoptiker wie des vierten Evangeliums oder der Briefe des Neuen Testaments wirklich zu verste-

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hen. Wir verstehen ja ein Jesuswort und eine Jesusgeschichte erst dann vollständig, wenn wir wissen, in welcher Situation sie für uns aufge­zeichnet wurden. Was bestimmte den Verfasser, gerade dieses Wort oder diese Geschichte in sein Buch aufzunehmen, und was wollte er seinen Lesern damit sagen, wozu sie bewegen? Warum stellte er oder sie dieses Wort oder diese Geschichte gerade in diesen Zusammenhang, formulierte er oder sie sie in dieser Weise oder schuf sie im Hören auf den auferstandenen Herrn neu? Diese »analytische« Forschung an den neutestamentlichen Texten versucht, etwas von der Entwicklung der biblischen Botschaft zu erkennen: was für Probleme wurden angespro­chen, was für Fragen beantwortet, in welche neue Situationen hinein und welchen neuen Erkenntnissen gegenüber wurde die Botschaft von Jesus Christus so formuliert, wie wir sie jetzt vorfinden? Dies zu sehen ist ein wichtiger Teilaspekt des Erklärens und Verstehens dieser Bot­schaft.

0.2 Freilich darf dabei die Begrenzung unserer Forschungsmöglich­keiten nie vergessen werden. Gewiß spricht der auferstandene Herr bis heute; aber was wir von ihm her hören, muß immer sehr genau gemessen werden an den ersten, von der Gemeinde Jesu anerkannten und weiterü­berlieferten Texten, also am Neuen Testament. Stimmen neue Erkennt­nisse, die uns heute geschenkt sind, wirklich zu der grundlegenden Bot­schaft, die den ersten Jüngern geschenkt wurde? Sind sie zwar nicht bloße Wiederholung, wohl aber echte Entfaltung dieser ursprünglichen Verkündigung? So wie das von Jesus Gesagte, Gewirkte und Erlebte (soweit das noch erkennbar ist) auch Maßstab für das Verständnis der neutestamentlichen Aussagen und Berichte ist, so sind diese Maßstab für alle spätere Entwicklung des Jesusglaubens. So sehr bei der Zusammen­stellung des Kanons da und dort auch andere Einflüsse mitgespielt haben, sind darin doch die Texte erhalten, die sich selbst kraft ihres Inhalts in der ersten Zeit der Kirche durchgesetzt haben, was natürlich nicht ausschließt, daß auch Traditionen außerhalb des Kanons Wesent­liches aufbewahrt haben, wenn auch nur in seltenen Fällen.

Wo solche Vorsicht fehlt, läßt sich schlechterdings nicht mehr unter­scheiden zwischen Jesu Worten und unseren eigenen. Historisch-kriti­sche Forschung wird also gewiß nicht von sich aus zum Glauben füh­ren, aber sie bewahrt ihn davor, zum Aberglauben zu werden, weil sie sehr viel eigenwillige Vorurteile und Vorverständnisse aufdeckt und zu unterscheiden hilft zwischen dem, was im Text steht, und dem, was wir selbst in ihn hineinlegen.

0.3 Es ist daher sinnvoll zu fragen, wo wir im Spektrum der modernen

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Leben-Jesu-Forschung heute stehen. Diese Formulierung ist weiter als diejenige von der Forschung über den historischen Jesus; denn dies bedeutet strenggenommen die Erforschung des »Jesus, den wir >ent­decken< und prüfen können durch die Benützung der wissenschaft­lichen Mittel moderner Geschichtswissenschaft«.2 Selbstverständlich war der »wirkliche Jesus« immer mehr als dies, genau so wie meine Mutter sehr viel mehr war, als was man noch mit solchen Mitteln des Historikers entdecken kann. Faktisch müssen alle modernen Ge­schichtswissenschaftler die Tatsachen, die sie für gesichert ansehen, unter Ausfüllung der Lücken zu einem überzeugenden Bild einer leben­den Person (oder einer in der sich stets verändernden Wirklichkeit abgelaufenen Geschichte) gestalten. So lange sie das in »ehrlicher Objektivität« tun, obwohl notwendigerweise persönlich beteiligt, und sich gegen alle Vorurteile von Sympathie oder Antipathie vorsehen, bil­det das einen unvermeidlichen und auch fruchtbaren Teil ihres Werkes. In diesem Sinn wollen wir darzustellen versuchen, was die neueste Ent­wicklung der Forschung zur Erkenntnis des Lebens Jesu beiträgt.

1. Der lebendige Chr is tus ohne ein Leben J e s u ?

1.1 Schon 1906 zeigte Albert Schweitzer, daß ein Leben Jesu (im übli­chen Sinn des Wortes) nicht mehr rekonstruierbar ist. Für eine Biogra­phie Jesu ist fast alles unbekannt: seine Familie (außer einigen Namen), seine innere und äußere Entwicklung, die Einflüsse von seiten der Eltern, Lehrer und Freunde, seine Schulbildung usf. Schweitzer erkannte klar, daß die Evangelisten nicht primär an einem historisch korrekten Bericht interessiert waren, sondern an der Verkündigung ihres Glaubens an Jesus.3 Rudolf Bultmann akzeptierte dieses Ergebnis ohne Wenn und Aber. Es ist der Glaube der frühen Kirche, der auch in den Evangelien dargestellt wird. Dann aber müssen wir vom Oster­ereignis ausgehen und dem darin gegründeten Glauben der Kirche. In diesem Sinn ist »Jesus ins Kerygma auferstanden«, in die Glaubensbot­schafi.4

Damit ist zunächst einfach gesagt, daß wir Jesus nach Ostern nur in der Verkündigung der Kirche finden und daß eben diese Verkündigung die Wirklichkeit Jesu richtig erkennt. Das ist sicher für alle auf Grund des Neuen Testamentes an Jesus Glaubenden so. Dabei anerkennt Bult­mann durchaus schon im Wirken des irdischen Jesus eine »implizite Christologie«, d. h. den Anspruch, daß seine Worte und sein Wirken

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endgültige Offenbarung Gottes sind. Ob dies indessen so war oder nicht und in welcher Weise er diesen Anspruch aussprach oder ausdrückte, ist für Bultmann theologisch unwesentlich; denn der Glaube hängt nicht von den sicheren Tatsachen des Lebens Jesu ab. Glauben kann ja nicht heißen, dies oder jenes als historisch richtig für wahr zu halten. Es heißt, in seinem Personsein (»existential«) berührt sein, so daß man sich selbst sieht, wie man ist, nämlich als das von Gott selbst angenommene Kind, gerechtfertigt durch Gottes Vergebung und begabt mit neuem Leben. Es heißt, daß wir unser Leben nicht mehr in unseren »Werken« finden, in dem, was wir leisten und erreichen, oder in unserer »Rechtgläubigkeit«, in dem, was wir als Dogma unserer Kirche anerkennen. Wir finden es in seinem Geschenktsein, in dem, was wir als Gabe Gottes erhalten und annehmen. Glaube ist nie »sacrificium intellectus«, Verzicht auf unseren Verstand; Glaube ist Neuwerden unseres Selbstverständnisses.

Bultmanns Lösung war faszinierend. Sie gab seinen Studenten unbe­grenzte Freiheit in der Anwendung historisch-kritischer Forschungs­methoden und doch zugleich die Freiheit zum kirchlichen Bekenntnis Jesu Christi als des Sohnes Gottes und Retters von aller Verlorenheit. Ob Jesus sich selbst für den Messias hielt, der als Sühneopfer für die Sünden der Welt starb, wurde unwichtig, weil wir wußten, daß er der Messias war und daß sein Sterben das Heil brachte. Denn er befreite tatsächlich die Welt vom Vertrauen auf ihre eigenen Werke und ihre eigenen religiösen Überzeugungen. Er ermöglichte so tatsächlich der Welt, Gottes Gnade anzunehmen. Mehr brauchten wir, historisch gesprochen, nicht als das »Daß« seiner Existenz: daß Jesus einmal gelebt hat und am Kreuz gestorben ist.

1.2 Das wurde noch deutlicher in Bultmanns Programm der »Entmy­thologisierung«,5 d. h. der Bemühung, die mythische Sprache lang ver­gangener Zeiten in moderne, heute verständliche Sprache zu überset­zen. Für Bultmann bedeutete das eine sich auf unsere Existenz bezie­hende, »existentiale« Sprache. Was die Bibel als Kampf Gottes gegen Satan oder als Kampf des Geistes gegen das Fleisch beschreibt, beschreibt moderne Interpretation als Angriff des Glaubens auf die tief­verwurzelte Sucht des Menschen, sich »zu rühmen« (ein Wortstamm, der sich in allen unbestrittenen Paulusbriefen außer Phm findet!), sich physisch oder psychisch, im Gebiet des Besitzes, der Kunst oder auch der Religion mit andern zu messen und dabei, je nach Temperament, als überlegen oder minderwertig zu bewerten. Davon kann nur »die Gnade Gottes« befreien, die Einsicht, daß, was immer wir leisten, Geschenk ist. Es ist dieser Kampf in uns selbst, der wesentlich ist.

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1.3 Schon als Student in Marburg fragte ich Bultmann, weshalb wir in diesem Fall eigentlich Jesus noch brauchten? Gewiß, hatte er uns erklärt, der Theologe unterscheide sich vom Philosophen darin, daß er wisse, »quanti ponderis sit peccatum«, wie gewichtig Sünde ist, und daß er darum mehr nötig habe als nur eine Lehre. Aber, meinte ich dann, wäre dabei Jesus nur die Motivation, die uns bewegt, dieselbe Lebensanschauung zu übernehmen, die ihn bestimmte? Übernähmen wir diese dann eben doch von den Evangelisten, von Paulus oder von modernen Philosophen? Müßten wir dann wirklich mehr von Jesus wissen, als von Plato, dessen Philosophie wir übernehmen können, ohne das Geringste von seinem Leben zu wissen? Bliebe dann Jesus nicht im besten Fall ein gutes Vorbild, das doch auch durch uns näher­stehende Menschen ersetzt werden könnte?

Als Bultmann seine Entmythologisierung ins Gespräch warf, fragten ihn sehr bald schon viele, weshalb man dann bei der Entmythologisie­rung Jesu und der mit dem Bekenntnis zu ihm zusammenhängenden Vorstellungen aufhören müsse. Müßte man dann nicht auch die Rede von »Gott« in moderne Sprache übersetzen und etwa von unserem Selbst reden, das uns lehrt, Leben als Geschenk zu verstehen?6

2. Die Unentbehrl ichkeit der Geschichte

2.1 In seinem berühmten Vortrag bei den Bultmannschülern erhob 1953 Ernst Käsemann den Kriegsruf.7 Die verwundbare Achillesferse in Bultmanns Position war offenkundig seine Schwierigkeit zu formu­lieren, warum und in welcher Weise Jesus das war, was Bultmann selbst von ihm aussagte: nämlich mehr als ein Lehrer oder ein Vorbild, also nicht nur ein Modell für die Einsicht, daß Leben primär Geschenk ist, das nicht von unseren Leistungen abhängt. Wenn Heil nicht mehr ist als ein Wandel unseres Selbstverständnisses (in der Sprache Bultmanns) oder eine Bekehrung (in der Sprache der Kirche), dann glauben wir doch an unser eigenes Glauben, dann vertrauen wir auf unser eigenes Vertrauen, Dann aber ist »Heil« auf eine Idee reduziert. Eine Idee, die unser Leben prägt, aber damit auch an allem Auf und Ab unserer Hin­gabe an diese Idee teilhat. Die Schrift verkündet aber die großen und guten Taten Gottes, die nicht bedingt von unserem Verhalten und unse­rer inneren Haltung schon längst »vor« und »außerhalb von uns« erfolgt sind und bestehen bleiben. Die Evangelien sind Erzählungen, nicht abstrakte Philosophie, und das gilt weithin auch für das Alte Testament.

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Sie erzählen von Gottes Taten, die sein Volk begleiteten und führten auf seiner Wanderung, und von Jesus, in dem Gott zu uns kam und durch den wir versöhnt und zu seinen Kindern wurden. Das alles ist Ge­schichte geworden, längst bevor wir irgend etwas für Gott taten, und es war Gottesgnade, die keine Philosophie erwarten konnte. Gott ist immer »extra nos« (außerhalb von uns), sagten die Reformatoren.

2.2 Man konnte diese Feststellungen in verschiedener Weise umge­hen. 1959 sprach James Robinson von »A New Quest of the Historical Jesus«.8 Inwiefern ist dies neue Jesusforschung? Robinson betonte beide Seiten der Wahrheit: Die Evangelien sind zwar nicht Biogra­phien, sondern eher Predigtbücher, die Gottes Gnade verkünden; aber diese Gnade verwirklichte sich in einem irdischen Leben und Sterben, das innerhalb der Geschichte und der Geographie unserer Welt fixiert werden kann. Was wir also in allen vier Evangelien finden, ist in der Tat der Glaube ihrer Verfasser, aber ihr Glaube, der vom ganzen Wir­ken Jesu (sein Sterben inbegriffen) geprägt ist. Dieser Glaube setzt auch Jesu Auferstehung voraus, die für die Evangelisten wesentlich ist. Robinson versteht dabei Auferstehung vor allem als Gottes Ja (»vindica­tion«) zur irdischen Wirksamkeit Jesu. In dieser Weise vermitteln uns die Evangelien die Erzählung eines menschlichen Lebens und Sterbens, in dem wir die Offenbarung Gottes finden.

2.3 Heißt das, daß wir es auch ohne die Auferstehung Jesu machen können? Das scheint bei Herbert Braun so zu sein.9 Er nahm Bult­manns Sicht neu auf (und Bultmann stimmte dem weithin zu), aber so, daß er sie nicht auf den Glauben der nachösterlichen Kirche gründete, sondern auf das Wirken des irdischen Jesus, das uns freilich nur vermit­telt durch den nachösterlichen Glauben seiner Jünger zugänglich ist. Ostern bildet aber keinen wesentlichen Neuansatz. Es ist der irdische Jesus, der seine Hörer dazu befreit hat, sich als von Gott Geliebte und Angenommene anzusehen und so fähig zu werden, andere zu lieben. Zu diesem grundlegenden neuen Selbstverständnis hat Jesu Auferstehung nichts Entscheidendes zugefügt. Braun sieht darum die dem ganzen Neuen Testament zugrundeliegende Einheit in diesem neuen Selbstver­ständnis des Menschen, also in der Anthropologie, nicht darin, wie Jesus verstanden wurde (als Messias, als Gottessohn usw.), also nicht in der Christologie. Gott scheint zu verschwinden hinter der Bruderlie­be: »seinen Bruder sehen heißt Gott sehen«.10

2.4 1967 hat Dorothee Solle Gott durch Jesus ersetzt. Was Gott bisher für die Menschen war, ist jetzt Jesus; denn Gott ist tot. Auferstehung Christi wäre daher besser zu verstehen als neugewonnene Identität

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aller; in einer Gesellschaft ohne Klassenunterschiede könnte Gott wie­der lebendig werden. Gott ist endgültig »nicht mehr im Himmel«, aber Jesus hält ihm die Zukunft offen.11 Nun formuliert Solle so in Abwehr einer sehr konservativen theologischen Haltung, in der Gott reines Objekt wurde, dessen Existenz man nur für wahr halten mußte, ohne selbst existentiell wirklich engagiert zu werden. Ich kenne wenig Theo­logen, die versuchen, so ehrlich und so ernsthaft zu denken und zu schreiben wie Braun und Sölle. Für beide steht Jesus eindeutig im Zen­trum, freilich so, daß er lebte und lehrte, wie es grundsätzlich jeder Mensch tun könnte. Dennoch ist zu fragen, ob Jesus ohne Gott als sei­nen Vater und Herrn nicht einem Botschafter gleiche, der sein Amt noch immer ausübt, obwohl sein Land schon längst aufgehört hat zu existieren.

2.5 Eine entscheidende Wende brachte der seit den Siebzigerjahren feststellbare Trend, Jesus und zum Teil auch die frühe Kirche in den Kontext des Judentums zurückzuholen. Neben vielen anderen wären auf jüdischer Seite früh schon D. Flusser, Schalom Ben-Chorin oder Pinchas Lapide und vor allem viele wichtige Beiträge J . Neusners zu Geschichte und Religion des damaligen Judentums zu nennen, auf christlicher E. R Sanders und später J. H. Charles worth.n Wie Braun und Sölle konzentrieren sich diese Autoren natürlich auf das irdische Wirken Jesu, während die Osterereignisse und ihre Nachwirkung in der frühen Kirche ebenso natürlich weggelassen oder in ihrer Bedeutung eingeschränkt werden. Außerdem ist die Einzigartigkeit Jesu zwar nicht übersehen, manchmal durchaus anerkannt, aber im Sinne einer Steigerung innerhalb der Grenzen des Judentums. Jesus soll für das Judentum reklamiert und nach Israel heimgeholt werden.

Diese Entwicklung der Leben-Jesu-Forschung ist außerordentlich wichtig. Jesus war Jude, und dasselbe gilt für fast alle Autoren des Neuen Testaments. Nun besteht im Gespräch zwischen Juden und Chri­sten eine grundlegende Schwierigkeit darin, daß die Kirche durch Jahr­hunderte in den Begriffen von »Substanz« gedacht hat und daß das noch heute stark nachwirkt, wenn auch oft unterschwellig. Darin zeigt sich das Erbe der Griechen, besonders des Aristoteles. Dieses Denken ist heute wenn nicht falsch, so doch mindestens fragwürdig geworden. Moderne Naturwissenschaft erfaßt die Welt in Begriffen von Bewegung und Energie, und der Ausdruck »Materie« ist nicht mehr ohne nähere Qualifikation verwendbar. Nun bestimmten auch im Jerusalem der Zeit Jesu schon seit über drei Jahrhunderten hellenistische Sprache und Weltanschauung das Denken vor allem der gebildeten Schichten, und

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Griechisch wurde von manchen Juden gesprochen, vielleicht sogar von Jesus, obgleich kaum eins seiner Worte in den Evangelien ursprünglich schon griechisch formuliert worden ist.13 Auf alle Fälle prägte die hebräische Bibel in all den Lebensbezirken, in denen sie höchste Auto­rität war — und das schließt den ganzen Umfang des religiösen und moralischen Lebens ein — das Verständnis in grundlegender Weise.

2 .6 Wenn ein Judenchrist Jesus als Gottessohn bekannte, tat er es so, wie seine Bibel ihn lehrte. Nach Psalm 2,7 wurde der König zum Got­tessohn, wenn er seinen Thron bestieg. Von da an handelte und sprach Gott durch ihn mit Israel. Der Titel »Gottessohn« beschrieb also Jesus in dynamischer, nicht statischer Weise, qualifizierte sein Leben als Ver­treter Gottes, nicht seine »Natur« als solche. Auch wenn am Rand da oder dort, insbesondere in den Spätschriften, griechisches Denken in das Neue Testament eingedrungen ist, haben wir es, insbesondere die Botschaft Jesu, als Bericht vom lebendigen Gott zu verstehen. An sich ist das fast selbstverständlich. So oft wir nämlich von einem Lebewesen sprechen, definieren wir es in der Regel nicht in »statischer« Weise, sondern berichten etwas von seinem Leben. Wenn mich jemand nach meiner Frau fragt, ist er oder sie schwerlich interessiert an Maßanga­ben über ihre Größe oder ihr Gewicht. Er oder sie erwartet, daß ich erzähle, z. B. wo sie geboren wurde, zur Schule ging, welchen Beruf sie hatte, wie wir uns begegneten oder dann, was sie jetzt gerade mache, ob sie gesund sei usw. Noch viel unmöglicher wäre eine »stati­sche«, zeitlos gültige Definition Gottes oder auch Jesu. Zeitlos gültig sind nur »Richtungsangaben« für sein immer wieder anders sich aus­prägendes Handeln und Leben, wie etwa »Treue«, »Gerechtigkeit«, »Gnade« usf.

Daß Jesus Gottessohn ist, heißt also sicher nicht, daß sein Leib sich in seiner physischen Substanz von anderen Menschen unterscheidet, z. B. daß seine Adern Wasser statt Blut enthielten, wie es von Alexander dem Großen erzählt wird. Es heißt, daß in seinem Leben, seinem Ster­ben und seinem Auferstehen Gott selbst gesprochen, gelebt und gehan­delt hat mit und an uns und daß genau dies sein Wesen ausmacht. Wenn wir unser Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu in diesem Sinn aus­sprechen, dann versteht unser jüdischer Gesprächspartner wenigstens, was wir damit sagen wollen. Ähnliches gilt von manchen Aussagen des Neuen Testaments, die nur im Zusammenhang mit ihren Wurzeln im Judentum, und das heißt vor allem im Alten Testament wirklich ver­standen werden könnten.

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3. Der besondere Ort Jesu innerhalb seines jüdischen Umfelds

3.7 Als Christ nähme ich meinen jüdischen Partner nicht ernst, wenn ich nicht zufügte, daß Jesus für mich der »eschatologische« Gottessohn ist, also die endgültige Erfüllung all dessen, was Könige und Gerechte oder auch ganz Israel waren, die in der hebräischen Bibel mit »Sohn Gottes« bezeichnet werden konnten.14 Ich müßte auch präzisieren, daß er das für mich in einer einzigartigen Weise ist, nicht einfach als eine Steigerung gegenüber David oder einem der so bezeichneten Gerech­ten. Einigen könnten sich der jüdische und der christliche Gesprächs­partner darin, daß Jesu Judesein zentral ist und daß »Gottessohn« auf alle Fälle so verstanden werden muß, wie es von der gemeinsamen Bibel des Alten Testaments her deutlich wird. Ob man ihn so nennen soll und vor allem in welchem genaueren Sinn, bliebe aber immer noch offen. Kann man weiterkommen als bis hierhin?

3.2 Nach Maurice Casey15 war Jesus ein jüdischer Prophet, der sich nie als Messias, Gottessohn oder Herr identifizierte. Er sprach demütig von sich selbst und brauchte dafür gelegentlich den Ausdruck »Men­schensohn«, aber in einem völlig allgemeinen Sinn, etwa so wie wir »man« verwenden. Er erwartete das unmittelbare Ende der Welt und das endgültige Kommen des Gottesreichs. Daher verschärfte er die Gebote des Gesetzes mit gleichzeitiger Betonung des Gebots der Nächsten­liebe. Für sich selbst erwartete er Tod und (sieghafte) Rechtfertigung (vindication) durch Gott selbst. Seine Jünger und alle, die ihre Erwar­tungen teilten, mußten nach Ostern ihre Identität gegenüber den Juden finden, die diese Erwartungen ablehnten. Sie hatten darum ein Wunder nötig, wie es Jesu Erhöhung zum Himmel darstellte (ähnlich derjeni­gen, die nach der Schrift Henoch und Elija zuteil wurde), und einen neuen Bezugspunkt ihres Glaubens: Jesus anstelle des Gesetzes. Den Schritt, den Paulus noch nicht wagte, tat Johannes. Bei ihm wird Jesus »Gott« genannt, und dies blieb die Stellung der Kirche seit dem Konzil von Chalkedon.

3.3 Noch einflußreicher und noch radikaler ist John Dominic Cros­san.16 Die erste Hälfte seines Werks ist eine hochinteressante Schilde­rung der Welt, in der Jesus lebte. Der Verfasser zeigt eine erstaunlich weite Kenntnis der historischen und vor allem auch soziologischen Erforschung des gesamten Mittelmeerraums, von der viel zu lernen ist. In der zweiten Hälfte seines Buchs bespricht er das Problem des histori­schen Jesus, soweit die literarischen Quellen sein Bild überliefern. Nach Crossan standen Magie und Tischgemeinschaft (»magic and

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meals«) im Mittelpunkt des Wirkens Jesu. Grundlage der Bewegung, die er auslöste, waren die Heilungen Jesu und das gemeinsame Essen in einer egalitären Gemeinschaft, die keine Standesunterschiede kannte. Den Hintergrund bilden die armen Bauern und die Kleinhandwerker. Das Gottesreich ist gegenwärtige, nicht erst zukünftige Wirklichkeit. Viel­leicht hat Jesus zuerst noch einige apokalyptische Erwartungen mit Johannes dem Täufer geteilt, gab sie aber jedenfalls auf, als er sich von ihm trennte. Nach Crossan geht weder der Ruf von Jüngern in die Nach­folge17 auf Jesus zurück noch die auf Jesus selbst bezogene Rede vom »Menschensohn«18 noch das Unservater19 noch das Gleichnis vom verlo­renen Sohn.20 Die Gleichnisse Jesu erzählen von Entwicklungen oder Entscheidungen, die dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Natürlich wählt man den guten Fisch, nicht den faulen, und manchmal kann ein Schaf wichtiger werden als neunundneunzig andere.21

Jesus ist ein charismatischer Führer, der alle hierarchischen Struktu­ren in Frage stellt, an keiner Institutionalisierung seiner Gruppe inter­essiert, im Kampf gegen die Macht und den Reichtum des Tempels und seiner Vertreter, deswegen schließlich gekreuzigt ohne ein Gerichtsver­hör vorher und ohne eine geordnete Beerdigung nachher.22 Die Berichte von seinen Erscheinungen als der auferstandene Herr wie auch ihre Liste in 1 Kor 15 ,5-8 spiegeln Machtkämpfe unter den Leitern der frü­hen Kirche wider.23

Methodisch geht Crossan vom Kriterium der mehrfachen Bezeugung aus. Nur Worte oder Geschichten, die in mindestens zwei voneinander unabhängigen Quellen überliefert sind, bilden eine solide Grundlage für die Rekonstruktion eines Lebens Jesu. Dabei will Crossan keine »unerreichbare Objektivität, wohl aber eine erreichbare Ehrlichkeit« anstreben,24 ein Grundsatz, mit dem nur voll sympathisiert und welcher nicht angezweifelt werden kann.

4 . Krit ische Anfragen

4.1 Doch es erheben sich Schwierigkeiten. Die erste besteht in der Frage der Datierung der benutzten Quellen. Welche bezeugen eine frü­here, welche eine spätere Schicht der Tradition? Natürlich können frühe Traditionen in späteren Quellen auftauchen und umgekehrt; aber wie ist das zu beweisen? Und wo eine Entwicklung sichtbar wird von der einen Position zur andern, in welcher Richtung oder in welchem Sinn ist sie verlaufen? Die Zweiquellen-Theorie, daß Matthäus und

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Lukas sowohl Markus kannten als auch eine Sammlung von Worten und einigen Geschichten von Jesus (Q), ist zwar sehr wahrscheinlich rich­tig, obwohl Einzelheiten durchaus noch diskutabel sind. Aber wie steht es mit dem Tomasevangelium, das zweifellos seltsame gnostisch beein­flußte Aussagen enthält, die relativ spät entstanden zu sein scheinen? Gibt es darin überhaupt Texte, die vor unsere kanonischen Evangelien zurückreichen? Anders als in den Vereinigten Staaten nehmen viele Forscher in Europa Abhängigkeit von ihnen an. Wir besitzen es in einer koptischen Übersetzung, die in Naghammadi gefunden wurde und sehr schwierig zu datieren ist.25 Ähnliches gilt vom Petrusevangelium,26 das uns in einem in Ägypten gefundenen Manuskript des 8. oder 9. Jahr­hunderts überliefert ist. Erst recht zweifelhaft ist die Frage, ob man dar­aus noch so etwas wie ein von Crossan so betiteltes »Kreuzes-Evange­lium« als frühe Grundlage der Passionsgeschichte rekonstruieren kann.27 Noch fraglicher ist das »geheime Markusevangelium«, aus dem Clemens von Alexandria um 200 herum in einem Brief zitiert, der nur in einer um rund 1750 geschriebenen Kopie (genauer sogar nur in einer Fotokopie davon) vorliegt.28 Schließlich wird auch der zwischen 90 und 135 verfaßte Barnabasbrief,29 eine allegorisierende Auslegung alttesta­mentlicher Stellen, zitiert.

4.2 Zweitens arbeitet Crossan mit früheren und späteren Schichten innerhalb von Q. Objektive Kriterien für deren Unterscheidung, erst recht für deren chronologische Einordnung, sind bisher nicht nachge­wiesen, bleiben also noch rein hypothetisch, selbst wenn einiges wie die Weiterentwicklung der Christologie wenigstens wahrscheinlich zu machen ist. Wichtiger ist, ob Q jemals das einzige Evangelium einer Gemeinde war. Vielleicht war es eine Sammlung von Jesusworten in einer Gemeinde, die daneben Passion und Osterereignisse in ihrer Liturgie feierte und/oder in einem frühen (Kurz-)Evangelium davon las. Q könnte auch von allem Anfang an mit dem Markusevangelium zusammen verwendet worden sein, so wie wir Sammlungen von beson­deren Jesusworten, z. B. zum Thema des Lebens in der Ehe, oder von ethischen Mahnungen aus Thomas a Kempis neben der Bibel kennen. Ich bin keineswegs überzeugt von der Existenz mehrerer, sich vonein­ander wesentlich unterscheidender Gemeinden mit verschiedenen Evangelien in der Frühzeit. Natürlich gab es verschiedenartige Tradi­tionsstränge; doch kennt Paulus, dessen Berufung ein bis drei Jahre nach Jesu Tod stattgefunden haben muß und der gerade auch außerhalb von Jerusalem und Judäa wirkte, wo die sogenannten hellenistischen Juden wohnten, nur eine frühe Kirche, in der es freilich verschiedene

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Auffassungen ζ. Β. von der Heidenmission gab (Gal 1,17-24; 2, 1 - 2 ) . Wenn man die johanneische Literatur vergleicht, erkennt man, daß die Tatsache, daß in den Briefen Leben und Worte des irdischen Jesus nie erscheinen, keineswegs beweist, daß das Johannesevangelium (minde­stens in seinem Werden, falls es in der johanneischen Schule erst später entstanden wäre) unbekannt gewesen ist. Ich halte es daher für sehr fraglich, daß es je eine Gemeinde gegeben hat, für die Kreuz und Auf­erstehung unwesentlich waren.30

4.3 Drittens ist immer schwer zu entscheiden, welches die frühere, welches die spätere Stufe einer Entwicklung ist, selbst wenn man die beiden Stufen deutlich unterscheiden kann. Ist (wie meistens) die kom­plexere Form die Entfaltung einer einfacheren oder ist (wie es auch der Fall sein kann) die einfachere ein Auszug aus der komplexeren? Ein geradezu fantastisches Beispiel ist die Bewertung des geheimen Mar­kusevangeliums durch Crossan: Jesus befindet sich danach in Betanien. Eine Frau, von den Jüngern zurückgewiesen, bittet Jesus: »Sohn Davids, erbarme dich meiner« und geht darauf mit ihm in den Garten. Dort hört man aus einem Grab heraus einen lauten Schrei. Jesus rollt den Verschlußstein weg, erweckt einen reichen Jüngling und lehrt ihn das Geheimnis des Gottesreichs.31 Das sieht eindeutig nach einer sicher späten und fantasievollen Kombination aus, die die Frau in Betanien und die Auferweckung des Lazarus (Joh 11 ,38 -12 ,2 ; vgl. Mk 14,3), den Schrei des Blinden in Jericho (Mk 10,47) samt der Zurückweisung der Kinder durch die Jünger (10,13), das Wegrollen des Steins vom Grab Jesu durch den Engel (Mt 28,2), den reichen Jüngling (so nur Mt 19 ,20-22) und den Jüngling mit dem Leinen auf dem bloßen Leib in Getsemani (Mk 14 ,51 -52 ) , schließlich noch den Ausdruck »Ge­heimnis des Gottesreichs« (im Singular nur Mk 4,11) verbindet. Das sieht nun wirklich nicht wie eine vor-evangelische Geschichte aus, son­dern sehr viel eher wie die späte Kombination der verschiedenen Oster­geschichten im unechten Markusschluß (Mk 16 ,9 -20 ) .

Ähnliches, wenn auch nicht wirklich damit Vergleichbares, ist auch im Tomasevangelium zu finden. Jesusworte kombinieren dort verschie­dene Aussagen in den kanonischen Evangelien (ζ. Β. Spruch 2 1 , 47, 76). Andere enthalten m. E. eindeutig spätere Interpretationen: das ver­lorene Schaf ist wichtig, weil es das größte ist (107, vgl. den »großen, guten Fisch« in 8) . Auch auf 26, 61 , 69, 77, 79, 89, 101, 104, 109 ließe sich hinweisen. Natürlich beweist das nicht, daß nicht auch Frühfor­men zu finden wären; nur ist das schwer beweisbar. Andere Texte neh­men den von Paulus betonten Gegensatz von Fleisch und Geist auf (29)

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oder das von ihm zitierte (apokryphe) Wort in 1 Kor 2,9 (17). Vorstel­lungen wie die von der Welt als einer »Leiche« (56) oder vom mann-weiblichen Urmenschen (11 , 22, 106) oder gar das Wort Jesu, er werde eine Frau zum Mann machen, um sie zu retten (114), stammen sicher nicht von Jesus, ebenso wenig die Anweisung, sich ohne Scham auszuziehen, um den Sohn Gottes zu sehen (37), oder die Polemik gegen drei Götter statt nur einem oder zwei (30).

4 Α Viertens gilt eine grundsätzliche Überlegung, die gegen eine aus­schließliche Verwertung des Kriteriums der mehrfachen Bezeugung spricht. Daß Ausdrücke und Vorstellungen, die in der nachösterlichen Kirche keine Rolle mehr spielen, aus der Tradition verschwinden, ist selbstverständlich. Darum lassen sie sich oft nur noch in einer Quelle (oderüberhauptnichtmehr)belegen.Z. B.erscheintdieWeissagungvom »Zeichen des Menschensohns«, dem »Posaunenstoß« und der Vision des »auf den Wolken des Himmels kommenden Menschensohns« (Mt 24, 30 f.) in Didache 16,6-8 (und ähnlich in der Elija-Apokalypse 32,4, JSHRZ V/3, S. 251 mit Anm. d.) in ausgeführter und theologisch ent­wickelter Gestalt, aber ohne die zweimalige Nennung des »Menschen­sohns« (der in Didache auch sonst fehlt!). Gewiß könnte das auf eine prä­matthäische Version ohne diesen Titel zurückzuführen sein; aber weit wahrscheinlicher ist, daß der nach Ostern bald verschwundene Titel in Didache oder der dort zugr und eliegenden Fassung verschwundenist.Vgl. auch das Verschwinden der Taufe Jesu durch Johannes (Joh 1,33) usw.

Umgekehrt ist zu erwarten, daß Ausdrücke und Vorstellungen, die der Kirche wichtig wurden, auch wenn sie erst nachösterlich entstan­den, mehrmals belegbar sind in unseren Quellen. Z. B. ist die Mah­nung, zu wachen, bevor das letzte Gericht kommt (der »Dieb«, nicht der »Herr«, wie Mk 13,35 par. oder »Bräutigam« wie Mt 25,1), sicher wichtig in der frühen Kirche. Darum findet sich dieses Bild in Lk 12,39; 1 Thess 5,2; 2 Petr 3,10, als Wort des auferstandenen Chri­stus in Offt>3,3; 16,5 und im EvTom 21,3.32 Diese ausgezeichnete mehrfache Bezeugung beweist aber keineswegs die Herkunft vom irdi­schen Jesus. Natürlich sind mehrere sichere Zeugen immer wünschens­wert, auch etwa bei der Frage der Echtheit eines Gemäldes, sagen wir von Van Gogh; denn nachdem er seinen Stil geschaffen hatte, war es auch andern möglich, ihn nachzuahmen. Aber wahrscheinlich könnten nur sehr wenige davon uns täuschen, wenn wir seine Bilder wirklich lieben und sie immer und immer wieder gesehen haben. In vergleichba­rer Weise gibt es Worte Jesu, in denen sich der Geist selbst beweist, auch wenn nur eine Quelle sie überliefert.

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4.5 Fünftens ist noch ein entscheidender Einwand gegen Crossans Rekonstruktionen zu nennen. Wenn das Wirken des irdischen Jesus wirklich auf das zu reduzieren wäre, was Crossan gelten läßt, wer hätte dann unsere Evangelien schaffen können ? Dann müßten wir eine Schar von Menschen voraussetzen, die zum Teil Jesus noch übertroffen hät­ten. Wer hätte dann das Gleichnis vom verlorenen Sohn so ausgestaltet, wie es jetzt vorliegt? Wer hätte ein Bild wie das vom spät heimkommen­den Gutsherrn, der seinen Knechten das Abendessen serviert, neu geschaffen (Lk 12,37, vgl. 22,27; Joh 13,1 - 17)? Wer hätte Szenen wie die von Getsemani erfunden? Oder gar einen Kreuzigungsbericht, in dem Jesus mit dem Ruf »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« und lautem Schrei stirbt, mitsamt seinem dadurch hervor­gerufenen Bekenntnis des heidnischen Hauptmanns »Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn«? Und hätte man dann die mancherlei Hin­weise auf das kommende Gottesreich gestaltet, ohne apokalyptische Einzelheiten und vor allem Hinweise auf das Datum seines Kommens weit stärker eingefügt zu haben?

Man kann auch das Problem der historischen Wahrscheinlichkeit anfuhren. Es ist gewiß möglich, daß Jesus ausschließlich vom gegenwär­tigen Gottesreich redete oder mindestens seine noch ausstehende Vollen­dung nicht betonte, obwohl beim Täufer eine ausgesprochen apokalypti­sche Verkündigung vorlag und die frühe Kirche nach Ostern in der Naherwartung lebte, vielleicht sogar die Auferstehung Jesu als Ende der Welt und Beginn der Endereignisse verstand (s. Anm. 183). Aber ist es wahrscheinlich? Und ist es wirklich vorstellbar, daß das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern nichts war als ein alltägliches Mahl?33 Paulus jeden­falls führt seine Herrenmahltradition auf den Herrn selbst zurück (1 Kor 11,23), und er besuchte Petrus (und Jakobus) in Jerusalem für zwei Wochen innerhalb der ersten fünf Jahre nach Jesu Tod.34 Hätte er nie entdeckt, daß der Bericht vom letzten Mahl Jesu erst nach Ostern sich zu einer Liturgie entwickelt hätte, obwohl kein Ansatz dafür vorhanden war? Könnte er die Deuteworte als die Worte des Herrn selbst zitieren, wenn er das nicht für sicher angenommen hätte?

5. Müssen w i r res ign ieren?

5. 1 Wie Crossan weiß auch ich, daß weder seine noch meine Rekon­struktion wirklich bewiesen werden kann. Hundertprozentige Sicher­heit ist nicht zu erreichen. Sind wir also in eine Sackgasse geraten? Ent-

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weder stimmen wir mit Bultmanns ursprünglicher Lösung überein und akzeptieren die Sicht der frühen Kirche als eine nicht mehr hinterfrag­bare Glaubensentscheidung, die weder als richtig noch als falsch bewiesen werden kann, dann erhebt sich das Problem der Bedeutung des irdischen Jesus, seines Todes und seiner Auferweckung. Dann droht das Heilsereignis in unserer Sinnesänderung oder (in kirch­lich-traditioneller Terminologie) in unserer Bekehrung aufzugehen, zu der uns Jesus als Lehrer oder als »Modell« verholfen haben mag. Ist das genügend, oder glauben wir dann nicht einfach an die Tatsache unserer Religiosität? Und müßte dann unser Glaube und unser Vertrauen nicht dauernd schwanken je nach unseren Gefühlen und Erlebnissen? Oder wir schließen uns Käsemann an und vielen andern nach ihm. Dann fal­len die Probleme des Historikers über uns her. Wenn die geschichtliche Grundlage von eminenter Wichtigkeit ist, wer sagt uns, ob Jesus ein Prediger des Existentialismus war, wie z. B. Braun ihn sieht, oder ein Politiker auf der linken Seite, wie Sölle oder Machoveĉ ihn verstehen, oder ein Psychotherapeut, wie es mindestens in der Linie von Nie­derwimmer35 oder Drewermann zu liegen scheint, oder ein jüdischer Prophet, wie Casey ihn darstellt oder ein charismatischer Bauernfüh­rer, wie Crossan ihn zeichnet oder noch etwas anderes?

Ich möchte versuchen, diese Fragen in den folgenden Kapiteln in drei Punkten zu besprechen, und hier nur einige Vorfragen abklären. Erstens schließe ich mich Käseman und, schon vor ihm, Karl Barth an: In Jesus hat Gott seine Geschichte mit Israel zu ihrer Erfüllung gebracht. Dies ist »außerhalb« unserer Zustimmung dazu und unserer Kenntnis davon geschehen. Gottes Tat ist unser Heil. Jesus ist sicher auch Lehrer und Vorbild (Joh 13,15), aber zugleich weit mehr als dies (13,8). Dieses »Mehr« wird im Neuen Testament in vielen Bildern umschrieben, die aber alle auszudrücken versuchen, daß Heil dann und dort geschehen ist, zu bestimmter Zeit und an bestimmtem Ort inner­halb der Zeit und des Raums irdischer Geschichte. Deshalb ist aufge­schlossene und selbstkritische Erforschung des Lebens und Sterbens Jesu von zentraler Bedeutung.

5.2Zweitens ist absolute Sicherheit in Einzelheiten unmöglich. Histo­riker der klassischen Altertumswissenschaft lächeln manchmal ein wenig über ihre ncutcstamentlichen Kollegen mit ihren Skrupeln. Wenn sie die Geschichte der griechisch-römischen Antike derart kritisch erforschten, wie wir es gewohnt sind, kämen sie kaum sehr weit; aber wir haben eben nur ein einziges kurzes Buch samt einiger ergänzenden Literatur zu erforschen und haben darum sehr viel Zeit für immer neue

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Ansätze. Nun gibt es selbst im Leben meiner Mutter wenig Einzelhei­ten, die absolut feststehen. Meine Schwester erzählt manchmal eine Geschichte anders als ich sie in Erinnerung habe. Dennoch existiert ein klares Bild dessen, was sie war und wie sie lebte. Vielleicht ist doch von da aus hinter das Projekt des Jesusseminars in den Vereinigten Staaten ein Fragezeichen zu setzen. Dort werden Einzelworte oder -geschienten Jesu gründlich diskutiert, worauf dann mit verschiedenfarbigen Kugel­chen über den Sicherheitsgrad abgestimmt wird, mit dem man sie für echt oder unecht halten muß.36 Manchmal kann man auch den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, wenn man sich auf einzelne Probleme kon­zentriert. Außerdem gibt es, wie im zweiten Kapitel besprochen werden soll, mehr Kriterien für Historizität als nur das der mehrfachen Bezeu­gung (s. hier I 4.4; II 1.1).

5.3 Drittens können wir Jesus überhaupt nicht beurteilen, ohne das, was er gewirkt hat. Wir kennen ihn nur durch Menschen, die er inner­lich bewegt hat, die er von leiblichen oder seelischen Nöten und Schmerzen geheilt hat, die in ihm ihren Lebenssinn und Frieden gefun­den haben, deren ganzes Wesen durch ihn und die Verkündigung seiner Jünger verwandelt worden ist. Darum ist es unmöglich, eine klare Grenze zu ziehen zwischen dem Wirken Jesu in Wort und Tat und dem­jenigen seiner Nachfolger. Das führt zur Frage nach dem Kanon. Äußerlich gesehen ist der Kanon durch manchmal geschichtlich sehr zufällige Entscheidungen der Kirche der ersten Jahrhunderte entstan­den. Aber deren Bedeutung war doch im großen und ganzen nebensäch­lich. Durchgesetzt haben sich die im Neuen Testament gesammelten Schriften im wesentlichen, weil sie sich in den ersten zwei Jahrhunder­ten durch ihre geistliche Kraft in allen möglichen Situationen bewährt haben. Sie sind aufbewahrt und weitergegeben worden, weil von ihnen Hilfe und Weisung, Trost und Forderung ausgingen. Es gibt mit ver­schwindend kleinen Ausnahmen keine Schriften, geschweige denn ein anderes Buch aus jener Zeit, bei dem wir ernstlich erwägen könnten, ob es nicht in den Kanon aufgenommen werden sollte, und kaum eins, das wir daraus ausschließen wollten.37

5.4 Die Alternative, vor die wir gestellt sind, ist also sehr einfach: Entweder meinen wir, daß die frühe Kirche nicht nur in Einzelheiten, sondern grundsätzlich im Irrtum war, oder wir denken, daß das Neue Testament, aufs Ganze gesehen, in die rechte Richtung weist und ein faires Bild des Lebens und Sterbens Jesu und der Osterereignisse gibt. Das schließt das am Anfang des ersten Kapitels genannte Problem ein, ob wir der Meinung sind, daß die Einwirkung Jesu auf seine Jünger

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ebenso oder vielleicht noch besser auch hinter dem Zeugnis derer zu entdecken ist, die wie der Verfasser des vierten Evangeliums in der Sprache der Zeit nach Ostern und in Auseinandersetzung mit der Situa­tion dieser Zeit formulieren. Wenn wir damit rechnen — und das ist natürlich eine Frage des Glaubens —, daß Gottes Geist in der nach­österlichen Kirche am Werk war, dann ist es nicht mehr notwendig, die Grenzlinie zwischen dem irdischen Jesus und der Wirkung, die er auf seine Jünger ausübte, scharf zu ziehen. Freilich kann das nur so ver­standen werden, daß wir dabei kritisch fragen, wo fremde Einflüsse diese Wirkung verschleiert oder sogar verfälscht haben. Doch werden wir grundsätzlich in positiver Voreingenommenheit lesen und hören in der Erwartung, etwas von den biblischen Autoren zu lernen, die zwar nicht mit absoluter Vollmacht, aber jedenfalls mit Vollmacht Gott und seine Taten bezeugen.

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