Neuer Zugang zur Quantengravitation E10: Eine fundamentale ...

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D er Erfolg der modernen Physik spiegelt sich ein- drucksvoll in der Existenz von zwei Standardmodellen wider, die jeweils die Vorgänge bei den kleinsten und bei den größten Längenskalen beschreiben. Damit deckt die physikalische Beschreibung der Natur einen Bereich von subatomaren Abständen bis zum Durchmesser des sichtba- ren Universums ab. In ihren jeweiligen Gültigkeitsberei- chen liefern diese Standardmodelle eine genaue Beschrei- bung der Messdaten, sind weitreichend anwendbar und kön- nen oft Vorhersagen für neue Experimente liefern. Im Bereich des Mikrokosmos ist es das seit Mitte der 1960er Jahre entwickelte Standardmodell der Teilchen- physik, das seither in beeindruckenden Experimenten an Teilchenbeschleunigern auf der ganzen Welt immer weiter verfeinert und bestätigt wurde. Ein neueres Beispiel für sei- nen Erfolg war die Vorhersage des Topquarks im Jahr 1973 durch Makoto Kobayashi und Toshihide Maskawa (Nobel- preis für Physik 2008); die Existenz dieses schweren Quarks wurde 1995 am Fermilab (Chicago, USA) experimentell nachgewiesen. Am anderen Ende der Größenskala steht das Standard- modell der Kosmologie, das die Entwicklung unseres Uni- versums mithilfe der Einsteinschen Allgemeinen Relati- vitätstheorie (ART) über einen Zeitraum von circa 13,7 Mil- liarden Jahren ebenso erfolgreich beschreibt. Trotz unzähliger Experimente konnten bisher keine Abweichun- gen von diesen grundlegenden Theorien gefunden werden. Selbstverständlich wäre es verfrüht, in Anbetracht die- ser beachtlichen Fortschritte nun das Ende der physikali- schen Forschung einzuläuten. Beide Standardmodelle lassen wesentliche Fragen offen, deren Beantwortung nach allge- meiner Auffassung eine grundlegende Revision der beste- henden physikalischen Konzepte erfordern wird. In der Kosmologie hängen diese Fragen vor allem mit dem Urknall und der Frage nach dem Ursprung von Raum, Zeit und Ma- terie zusammen. Weitere offene Fragen betreffen das Rätsel der dunklen Materie und der dunklen Energie, die Ent- wicklung und das Endstadium Schwarzer Löcher sowie die Neuer Zugang zur Quantengravitation E10: Eine fundamentale Symmetrie der Physik? HERMANN NICOLAI | A XEL K LEINSCHMIDT Gibt es ein Symmetrieprinzip, das das Zusammenführen aller vier Fundamentalkräfte bewirken und erklären kann? Wie würde ein derartiges Prinzip unser Verständnis von Raum, Zeit und Quantenphysik verändern? Auf diese alten Fragen gibt es bis heute keine umfassende Antwort. In den letzten Jahren wurde ein neuer Zugang entwickelt, der auf einer ein- zigartigen mathematischen Struktur mit dem Namen E10 basiert. Er könnte einen Rahmen zur Präzisierung dieser Fragen bieten. DOI: 10.1002/piuz.201001228 134 | Phys. Unserer Zeit | 3/2010 (41) www.phiuz.de © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ein Ausschnitt der unendlichdimensionalen E10-Struktur, dargestellt in einer zweidimensionalen Projektion (Grafik: T. Nutma).

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Der Erfolg der modernen Physik spiegelt sich ein-drucksvoll in der Existenz von zwei Standardmodellen

wider, die jeweils die Vorgänge bei den kleinsten und beiden größten Längenskalen beschreiben. Damit deckt diephysikalische Beschreibung der Natur einen Bereich vonsubatomaren Abständen bis zum Durchmesser des sichtba-ren Universums ab. In ihren jeweiligen Gültigkeitsberei-chen liefern diese Standardmodelle eine genaue Beschrei-bung der Messdaten,sind weitreichend anwendbar und kön-nen oft Vorhersagen für neue Experimente liefern.

Im Bereich des Mikrokosmos ist es das seit Mitte der1960er Jahre entwickelte Standardmodell der Teilchen-physik, das seither in beeindruckenden Experimenten anTeilchenbeschleunigern auf der ganzen Welt immer weiterverfeinert und bestätigt wurde. Ein neueres Beispiel für sei-nen Erfolg war die Vorhersage des Topquarks im Jahr 1973durch Makoto Kobayashi und Toshihide Maskawa (Nobel-preis für Physik 2008); die Existenz dieses schweren Quarkswurde 1995 am Fermilab (Chicago, USA) experimentellnachgewiesen.

Am anderen Ende der Größenskala steht das Standard-modell der Kosmologie, das die Entwicklung unseres Uni-versums mithilfe der Einsteinschen Allgemeinen Relati-vitätstheorie (ART) über einen Zeitraum von circa 13,7 Mil-liarden Jahren ebenso erfolgreich beschreibt. Trotzunzähliger Experimente konnten bisher keine Abweichun-gen von diesen grundlegenden Theorien gefunden werden.

Selbstverständlich wäre es verfrüht, in Anbetracht die-ser beachtlichen Fortschritte nun das Ende der physikali-schen Forschung einzuläuten. Beide Standardmodelle lassenwesentliche Fragen offen, deren Beantwortung nach allge-meiner Auffassung eine grundlegende Revision der beste-henden physikalischen Konzepte erfordern wird. In derKosmologie hängen diese Fragen vor allem mit dem Urknallund der Frage nach dem Ursprung von Raum, Zeit und Ma-terie zusammen. Weitere offene Fragen betreffen das Rätselder dunklen Materie und der dunklen Energie, die Ent-wicklung und das Endstadium Schwarzer Löcher sowie die

Neuer Zugang zur Quantengravitation

E10: Eine fundamentaleSymmetrie der Physik?HERMANN NICOLAI | AXEL KLEINSCHMIDT

Gibt es ein Symmetrieprinzip, das das Zusammenführen allervier Fundamentalkräfte bewirken und erklären kann? Wiewürde ein derartiges Prinzip unser Verständnis von Raum,Zeit und Quantenphysik verändern? Auf diese alten Fragengibt es bis heute keine umfassende Antwort. In den letztenJahren wurde ein neuer Zugang entwickelt, der auf einer ein-zigartigen mathematischen Struktur mit dem Namen E10basiert. Er könnte einen Rahmen zur Präzisierung dieserFragen bieten.

DOI: 10.1002/piuz.201001228

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Ein Ausschnitt der unendlichdimensionalen E10-Struktur,dargestellt in einer zweidimensionalen Projektion (Grafik: T. Nutma).

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beobachtete Asymmetrie zwischen Materie und Antimate-rie im Weltall [1, 2]. Ähnlich verhält es sich mit dem Stan-dardmodell der Teilchenphysik. Es konnte bisher keineschlüssige Erklärung für das beobachtete Spektrum von Ele-mentarteilchen, ihre Massen und die zwischen ihnen wir-kenden Fundamentalkräfte liefern.

Bei allen solchen Fragen versagen die Standardmodelle.Zu diesen Problemen gesellt sich noch die wichtige theo-retische Forderung nach der wechselseitigen Konsistenzund Kohärenz der Modelle und Theorien. Im Zentrum stehthier die Frage nach einer Theorie der Quantengravitation,die Einsteins ART und Quantenmechanik zu einer konsis-tenten Theorie zusammenfassen und deren innere Wider-sprüche überwinden soll. Dieses Thema stellt wohl diegrößte Herausforderung der modernen Physik dar und hatsich bisher trotz einer enormen kollektiven Anstrengungeiner zufriedenstellenden Lösung entzogen. Einen Über-blick der verschiedenen Zugänge gibt [3].

Um sich solchen Fragestellungen zu nähern, bietet diePhysik mehrere „Werkzeuge“ an. Der wichtigste Hinweis-geber ist das Experiment, das die Grenzen gegenwärtigerModelle aufzeigen und die physikalische Weltsicht radikalverändern kann. Hierbei mag man an das Atomspektrumund die Stabilität des Wasserstoffatoms denken. Die Ent-schlüsselung des Wasserstoffatoms hat – zusammen mit derSchwarzkörperstrahlung – zur Entwicklung der modernenQuantenmechanik geführt. Wichtig ist hierbei, dass es sichum ein möglichst „reines“ Experiment handelt, so dass diephysikalischen Prinzipien unverfälscht und direkt zutagetreten. Neben diesen echten Experimenten bieten Gedan-kenexperimente sowie Symmetrie- und Einfachheitsforde-rungen zusätzliche Einsichten und Einschränkungen bei derKonstruktion einer neuen Theorie.

Symmetrien als LeitprinzipDie zentrale Bedeutung von Symmetrien für den Fortschrittder Physik lässt sich durch das eingangs erwähnte Topquarkverdeutlichen. Die Existenz dieses schwersten Quarks wur-de einzig aufgrund der Eichsymmetrie des Standardmodellsvorhergesagt (siehe „Raumzeitsymmetrien und innere Sym-metrien“ auf S. 136), mit der alle bis 1973 bekannten Mess-daten verträglich waren. Darüber hinaus hätte die Nicht-existenz des Topquarks unweigerlich die Inkonsistenz desModells in Form einer „Anomalie“ zur Folge gehabt.

Ähnliche Aussagen gelten für die Spezielle und Allge-meine Relativitätstheorie. Dort lassen sich aufgrund vonSymmetrien ebenfalls Vorhersagen machen, mit denen dieTheorie steht oder fällt. Die Äquivalenz sämtlicher Inertial-systeme und die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit führenzu Gleichungen, die symmetrisch bezüglich Lorentz-Trans-formationen sind, und zum Begriff des Minkowski-Raums.Das Postulat der Kovarianz der Gleichungen der Allgemei-nen Relativitätstheorie unter allgemeinen Koordinaten-transformationen (die Gleichungen behalten beim Wechseldes Koordinatensystems ihre Form bei) erzwingt die Erset-zung der flachen Raumzeit durch eine gekrümmte Man-

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Urknall

Planck-Skala

GroßeVereinigung?

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A B B . 1 | V E R E I N I G U N G D E R V I E R K R Ä F T E

Das Diagramm zeigt die aus theoretischen Überlegungenfolgende Vereinigung der vier verschiedenen Energieskalen,zusätzlich projiziert auf die Geschichte des Universums. DieGrößenordnung der elektroschwachen Vereinigung ist anheutigen Teilchenbeschleunigern erreicht. Die hypothetischeVereinigung mit der starken Kraft liegt weit jenseits gegen-wärtiger Technologie. Auf der Planck-Skala sollte sich dieGravitationskraft mit den anderen Kräften in einer Theoriebeschreiben lassen (Grafik: R. Wengenmayr).

nigfaltigkeit. Mit dieser erlaubt die Theorie eine rein geo-metrische Erklärung der Schwerkraft als Effekt der Krüm-mung von Raum und Zeit (siehe „Raumzeitsymmetrien undinnere Symmetrien“).

Es ist also eine überaus bemerkenswerte Tatsache, dassdie beiden fundamentalen und erfolgreichsten Theorien dermodernen Physik wesentlich durch ihre Symmetrien cha-rakterisiert und festgelegt sind. Dem Symmetrieprinzip ord-nen sich damit sämtliche beobachteten Phänomene unter.

Auch bei der Suche nach einer Theorie der Quanten-gravitation kommt dem Begriff der Symmetrie eine beson-dere Bedeutung zu: Da es momentan keine direkten Datenzu quantenmechanischen Effekten in der Gravitation gibt,fehlt das Experiment als entscheidende Richtschnur. Dierelevante Längen- und Energieskala der Quantengravitationentspricht der aus heutiger Sicht wahrscheinlich funda-mentalen Planck-Skala (10–35 m oder 1019 GeV). Sie liegt so-mit etwa 15 Größenordnungen jenseits der derzeit auf derErde im Labor zugänglichen Energien [4]. So erscheint esunwahrscheinlich,dass ein Experimentum crucis existiert,mit dessen Hilfe sich die „richtige“ Theorie eindeutig iden-tifizieren ließe – etwa in Analogie zur gewöhnlichen Quan-tenmechanik. Dort bestätigte erst der Vergleich der Mess-daten mit den mit der Schrödinger-Gleichung berechneten

Spektrallinien des Wasserstoffatoms die Theorie eindeutig.Allerdings könnten indirekte Nachweise aus der Astrophy-sik in der Zukunft experimentelle Einschränkungen liefern,doch auch hier ist bis dato kein geeignetes Modellsystemidentifiziert worden.

Anstelle eines echten Experiments kann man sich abereines Gedankenexperiments zur Untersuchung der Strukturder Quantengravitation bedienen. Als geeignetes „Labora-torium“ erweisen sich hierbei klassische Singularitäten derRaumzeit, wie sie zum Beispiel beim Urknall oder im Inne-ren Schwarzer Löcher auftreten. Es ist zu erwarten, dass insolchen Situationen zusätzliche Symmetrien der Gleichun-gen zutage treten. Dass bestimmte Grenzfälle einer physi-kalischen Theorie Hinweise auf Symmetrievergrößerungenliefern können, ist aus der Teilchenphysik wohlbekannt (sie-he „Symmetrievergrößerung in Teilchenphysik und Kos-mologie“, S. 137; Abbildung 1). Die Bedeutung von Sym-metrien für die bekannten Theorien der Physik legt des-halb nahe,die Suche nach Vereinheitlichung auf das Prinzipder „Symmetrievergrößerung“ zu gründen.

Im Folgenden werden wir ausführen, wie diese Heran-gehensweise bei klassischen Raumzeitsingularitäten eineneuartige Symmetriestruktur impliziert. Diese Symmetrieist unter dem Namen E10 schon seit vierzig Jahren in derMathematik bekannt. Dort nimmt sie eine besondere Rollein der Theorie der sogenannten hyperbolischen Kac-Moo-dy-Algebren ein; dabei handelt es sich um eine spezielleKlasse unendlichdimensionaler Lie-Algebren. Der Begriff

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R AU M Z E I T S Y M M E T R I E N U N D I N N E R E S Y M M E T R I E N |Die Physik unterscheidet grundsätzlichzwischen zwei Typen von Symmetrien.Raumzeitsymmetrien operieren in deruns umgebenden Raumzeit, zumBeispiel durch Translationen oderRotationen im dreidimensionalenRaum. Häufig überführen solcheSymmetrietransformationen Lösun-gen der Bewegungsgleichungen einesSystems in physikalisch andereLösungen. Beispielsweise erzeugt einLorentz-Boost (Lorentz-Transformationvon einem Bezugssystem in ein relativdazu gleichförmig bewegtes ohneRotation) eines ruhenden Teilchens einTeilchen, das sich mit konstanterGeschwindigkeit bewegt.

Unter inneren Symmetrien verstehtman dagegen Transformationen, diein einem abstrakten Hilfsraum statt-finden. Ein erstes Beispiel hierfürwaren Heisenbergs Isospin-Transfor-mationen, die Proton und Neutronineinander „rotieren“: Wegen mNeutron

= 1,00135 mProton gilt die Isospin-Symmetrie in sehr guter Näherung.Ein weiteres Beispiel bilden die Eich-symmetrien, die physikalisch äquiva-lente Lösungen der Bewegungsglei-chungen miteinander verbinden.

Für das Standardmodell der Teil-chenphysik benötigt man eine Verall-gemeinerung des Eichprinzips derElektrodynamik auf sogenannte Yang-Mills-Theorien. Letztere bilden einenwesentlichen Bestandteil des gängigenStandardmodells. Mit dieser mathe-matischen Begriffsbildung lassen sichdrei der vier bekannten fundamentalenKräfte der Natur, nämlich die starken,schwachen und elektromagnetischenKräfte, allesamt in der Form vonEichtheorien korrekt beschreiben.

Die Eichinvarianz legt dabei eindeu-tig fest, wie die bekannten Elementar-teilchen miteinander wechselwirken.Gleichzeitig garantiert sie die innere(mathematische) Konsistenz („Renor-mierbarkeit“) des Modells und ermög-licht damit erst die präzisen quantita-tiven Vorhersagen, durch deren Ver-gleich mit den experimentellen Datendas Modell seine endgültige Bestä-tigung erfuhr. Ähnliches gilt für dieGravitation als vierte fundamentaleKraft: Auch hier ist es ein Symmetrie-prinzip, das Prinzip der allgemeinenKovarianz, das zum Beispiel eindeutigbestimmt, wie Licht (Photonen) mitder Schwerkraft wechselwirkt.

Zeit T

T = 0T = TP

T > TP

Singularität

Planck-Regime

A B B . 2 | K AU SA L E E N T KO PPLU N G

In der Nähe der Urknallsingularität zur Zeit T = 0 findet einekausale Entkopplung der Punkte des Raums statt (BKL-Limes). Dies ist hier durch die Rückwärtslichtkegel verschie-dener, beispielhaft herausgegriffener Punkte dargestellt(rote durchgezogene oder gestrichelte Linien). Ein solcherLichtkegel enthält sämtliche Punkte, die einen gegebenenRaumzeitpunkt innerhalb des Kegels kausal beeinflussthaben können. Je näher man sich an der Singularität befin-det, desto kleiner werden die kausalen Überlappungsbereiche(Übergang zu den „kleinen“ Kegeln mit durchgezogenenLinien). Dabei entkoppeln also sämtliche Raumpunkteasymptotisch. Für Zeiten unterhalb der Planck-Zeit (5 · 10–44 s) bricht die klassische Raumzeitbeschreibungzusammen (Grafikvorlage: H. Nicolai).

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der Lie-Algebra geht auf den norwegischen MathematikerSophus Lie zurück. Lie-Algebren werden hauptsächlich zumStudium der kontinuierlichen Transformationen geometri-scher Objekte wie zum Beispiel von differenzierbaren Man-nigfaltigkeiten eingesetzt, die in der Theoretischen Physikeine wichtige Rolle spielen.

Neben der Existenz von E10 und einigen sehr allge-meinen Aussagen ist allerdings wenig über ihre Eigen-schaften bekannt. Gleichzeitig hat sich jedoch herausge-stellt, dass diese Struktur vieles von dem zusammenfasst,was Physiker in mehr als dreißig Jahren Superstringtheorie(meist Stringtheorie abgekürzt) [5] als möglichem Weg zueiner Quantengravitation an Wissen zusammengetragen ha-ben. Eine E10-basierte Theorie eröffnet gleichzeitig einenneuartigen Zugang zur Quantengravitation, den wir in die-sem Beitrag vorstellen wollen.

Kosmologische BillardsStephen Hawking und Roger Penrose zeigten Anfang der1970er Jahre, dass Raumzeitsingularitäten „generisch“ inder ART auftreten. Das bedeutet, dass eine typische Lösungder Einsteinschen Feldgleichungen einer Raumzeit ent-spricht, die einen Bereich unendlicher Krümmung hat. Ei-ne besondere Klasse von Singularitäten sind sogenannte„raumartige“ Singularitäten, wie zum Beispiel der Urknall.Ein wichtiges Ergebnis bei der Untersuchung solcherraumartiger Raumzeitsingularitäten geht zurück auf grund-legende Arbeiten von Wladimir Belinski, Isaak MarkowitschChalatnikow und Jewgeni Michailowitsch Lifschitz aus denspäten 1960ern und frühen 1970ern. Diese zeigten, dasssich die partiellen Differentialgleichungen der ART beiAnnäherung an eine raumartige Singularität wesentlich ver-einfachen.

Je näher man an einer urknallartigen Singularität ist,um-so weniger haben verschiedene Punkte des Raums die Mög-lichkeit, miteinander kausal gekoppelt zu sein, also sich ge-genseitig zu beeinflussen. Dieser sogenannte „BKL-Limes“(nach Belinski,engl. Khalatnikov für Chalatnikow,Lifschitz)ist in Abbildung 2 anhand von Rückwärtslichtkegeln illus-triert. Die kausale Entkopplung entspricht der immer ge-ringeren Überlappung der Rückwärtslichtkegel benachbar-ter Punkte bei Annäherung an die Singularität. Ein ver-wandtes Phänomen der Kosmologie ist das sogenannteHorizontproblem, wonach naiv kausal unverbundene Be-reiche des Weltalls überraschenderweise vergleichbare Ei-genschaften aufweisen. Die Erklärung dieser Beobachtungim Rahmen der „inflationären“ Kosmologie ist ein Haupt-merkmal des Standardmodells der Kosmologie.

Im BKL-Limes werden auf der Ebene der Gleichungendie partiellen Differentialgleichungen der ART asymptotischin gewöhnliche Differentialgleichungen in der Zeit über-führt. Als weitere Vereinfachung verringert sich die Anzahlder dynamischen Freiheitsgrade, die in der Analyse zuberücksichtigen sind. Im Fall der standardmäßigen ART ineiner vierdimensionalen Raumzeit ist nur noch die Dynamikder drei Skalenfaktoren (räumliche Ausdehnungen) des drei-

dimensionalen Raums ohne Zeitrichtung zu berücksichti-gen.

Sogar die Entwicklung dieser drei Skalenfaktoren kannman noch im letzten Schritt durch ein dreidimensionales so-genanntes kosmologisches Billard annähern. Die Positionder Billardkugel dieses Systems auf dem Billardtisch ent-spricht den räumlichen Ausdehnungen des tatsächlichenUniversums. Der Billardtisch wird durch Banden begrenzt,deren genaue Lage durch die zugrunde liegenden Einstein-Gleichungen mitsamt der durch sie beschriebenen Materiebestimmt ist. Für Gravitation im materiefreien Raum ist dieGeometrie der Banden sehr einfach und lässt sich gut in ei-ner zweidimensionalen Projektion auf einen hyperbolischenRaum darstellen (Abbildung 3). Die Billardkugel bewegtsich auf geraden Linien und wird von den Banden elastischreflektiert. Oft ist die Geometrie des Tisches derart,dass einklassisch chaotisches Verhalten resultiert (Abbildung 3).

Die Stringtheorie ist ein vielversprechender Zugang zurQuantengravitation (siehe „Stringtheorie und Supergravita-tion“ auf S. 138). Im Grenzfall niedriger Energien lässt siesich sehr gut durch Supergravitationstheorien beschreiben.Diese sind Verallgemeinerungen der Einsteinschen ART zuhöheren Dimensionen mit festgelegtem Materiegehalt. Fürdie Eindeutigkeit der Materie,die an die Gravitation zu kop-peln ist, sorgt die sogenannte Supersymmetrie zwischenBosonen und Fermionen. In supersymmetrischen Theorientreten bosonische und fermionische Teilchen immer in Paa-ren auf. Die supersymmetrischen Partner der bekanntenTeilchen sind jedoch bis dato nicht beobachtet worden –

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SYMMETRIEVERG RÖSSERUNG IN TEILCHENPHYSIK UND KOSMOLOG IE |Bei den gegenwärtig zugänglichenEnergien haben die drei Fundamental-kräfte der Teilchenphysik sehr unter-schiedliche relative Stärken. Die soge-nannten Kopplungskonstanten be-schreiben diese Stärken als dimen-sionslose Zahlen. Die Größe der Kopp-lungskonstanten variiert nun jedochmit der Energie. Mit der störungstheo-retischen Berechnung dieser Abhängig-keit von der Energieskala lässt sichvorhersagen, dass bei einer Energie vonetwa 1015 GeV alle drei Kräfte ver-gleichbar stark sein sollten. Hierbei istzu erwarten, dass die Eichsymmetriender drei Fundamentalkräfte vollkom-men verschmelzen: Je größer dieSymmetrie, desto mehr Teilchen desStandardmodells treten miteinander ineine „Symmetriebeziehung“.

Dieser Prozess der Symmetriever-größerung bei wachsender Energie(Temperatur) ist zum Beispiel die

Umkehrung des Prozesses der sponta-nen Magnetisierung im Ferromagneten,die sich nur bei relativ niedrigen Tempe-raturen ausbilden kann: Unterhalbdieser Phasenübergangstemperaturorientieren sich alle zur Magnetisierungbeitragenden Elektronenspins in einebestimmte Richtung. Folglich sind nichtmehr alle Richtungen gleichberechtigt– die Symmetrie zwischen den mögli-chen Spinorientierungen ist gebrochen.

Der im Standardmodell der Teilchen-physik ablaufende physikalische Prozesswird durch die Abkühlung des sichausdehnenden Universums realisiert.Die vollständige Symmetrie einervereinheitlichten Theorie existiert alsonur bei den extrem hohen Temperatu-ren kurz nach dem Urknall. Symmetrie-vergrößerung ist auch der Grundgedan-ke der sogenannten Großen Vereinheit-lichten Theorien (Grand UnifiedTheories).

Abb. 3 Kosmologisches Billard. Das dreidi-mensionale kosmologische Billardsystem

der gewöhnlichen Allgemeinen Relati-vitätstheorie lässt sich auf einen

hyperbolischen Raum projizieren,der unendlich viele äquivalente

Billardtische enthält (Flächen-stücke in der Grafik). Der grauschattierte Bereich stellt einendieser fundamentalen Billard-tische dar, auf dem die Be-wegung der Kugel angedeu-tet ist. Sämtliche Linien sindGeodäten im hyperbolischen

Raum. Das System ist chao-tisch (Grafik: A. Kleinschmidt).

eventuell bringt der Large Hadron Collideram CERN hier neue Erkenntnisse.

Wiederholt man nun die oben be-schriebene Analyse einer klassi-schen Raumzeitsingularität in derSupergravitation, so ergibt sichein sehr ähnliches Bild eineskosmologischen Billards. Diemaximale supersymmetri-sche Gravitationstheorie be-nötigt eine elfdimensionaleRaumzeit: Entsprechend istnun der Billardtisch nichtmehr dreidimensional, sondernzehndimensional. Wiederumlässt sich eine sehr einfache Be-schreibung der Geometrie des Bil-lardtischs finden. Er besteht aus genauzehn Banden, deren Winkel ganz bestimm-te und einfache Werte annehmen.

Diese Werte entsprechen nun exakt denen, die sich ausder mathematischen Struktur E10 ergeben! Das förderte dieeben skizzierte Untersuchung im Jahr 2000 als große Über-raschung zutage [6]. Zusammenfassend ergibt sich somitdas Bild, dass in der Nähe einer Singularität der geometri-sche Anschauungsraum nicht mehr die richtige Beschrei-bung der Entwicklung liefert. Wir müssen ihn durch einenBillardtisch als Hilfsraum ersetzen,dessen Form von E10 be-stimmt wird (siehe „Die E10-Struktur“ auf S. 139).

E10 als fundamentale SymmetrieDie bei dieser Analyse gefundene Symmetrie E10 kann manfolglich ernst nehmen und bei der Konstruktion einer neu-en Theorie als grundlegend beibehalten. Mit dieser Annah-me lässt sich ein neues Modell entwickeln,bei dem eine rein

algebraische Konstruktion an dieStelle des geometrischen Raums tritt.

Dieses neue E10-Modell ist eine wenigerkrude Beschreibung der Singularität als im

Anschauungsraum, da es mehr Freiheitsgrade als nur dieräumlichen Skalenfaktoren berücksichtigt, was eine treue-re Abbildung der gesamten Dynamik ermöglicht. Dies ge-schieht jedoch so, dass E10 in jedem Schritt als Symme-triestruktur erhalten bleibt.

In diesem Prozess wird der zehndimensionale Billard-tisch nun durch einen abstrakten unendlichdimensionalengekrümmten Raum ersetzt, auf dem sich die „Billardkugel“nunmehr auf Geodäten (Weltlinien in höheren Dimensi-onen) bewegen muss. Wiederum ist zu erwarten, dass diePosition der Kugel auf diesem Hilfsraum in Zusammenhangmit der Geometrie und Energiedichten der Materiebe-standteile steht. Jedoch ist dieser Zusammenhang nur inspeziellen Fällen exakt. Im Allgemeinen wird nämlich er-wartet, dass eine geometrische Beschreibung des Univer-sums in der Nähe einer Singularität unzulässig wird,da dortdie ART nicht mehr anwendbar ist [3]. Stattdessen ist hierdie algebraische E10-Sichtweise angemessen: Sie liefert ei-ne mögliche Beschreibung der Physik im Bereich derPlanck-Skala. Bevor wir uns den Konsequenzen dieser Sicht-weise für die Quantengravitation zuwenden,diskutieren wirnoch einige klassische Aspekte des E10-Modells [8].

Eines der wesentlichen Ergebnisse auf dem Gebiet derSuperstringtheorie in den vergangenen 15 Jahren war dieEntdeckung, dass die verschiedenen Stringtheorien wieüber ein Netz miteinander zusammenhängen. Zuvor exis-tierten nämlich fünf unterschiedliche Stringtheorien,und esgab keinen guten Grund,eine dieser Theorien den anderenvorzuziehen. Für die Herstellung einer einheitlichen String-theorie sorgte die Erkenntnis, dass es sehr indirekte Zu-sammenhänge zwischen den fünf Theorien gibt. Diese sindunter dem Namen Dualitätssymmetrien bekannt. Als Na-men für die tieferliegende Theorie hat sich der BegriffM-Theorie etabliert.

Die einfachste Manifestation einer Dualitätssymmetriefindet sich bereits in der Elektrodynamik: Obwohl bisher

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S T R I N G T H EO R I E U N D S U PE RG R AV I TAT I O N |Unter Stringtheorie versteht man imengeren Sinne Modelle, bei denennicht elementare Punktteilchen mit-einander wechselwirken, sondern ein-dimensionale ausgedehnte Objekte.Diese Strings kann man sich als offeneoder geschlossene elastische Gummi-bänder vorstellen. Ähnlich einem ge-spanntem Gummiband oder einer Saitekönnen Strings Schwingungen aus-führen. Mit steigender Frequenz derSchwingung steigt die Energie desStrings. Durch die Äquivalenz von Mas-se und Energie sind höherfrequenteSchwingungsanregungen massereicher.

Die unterschiedlichen Schwin-gungsmoden werden in der String-

theorie als unterschiedliche Elemen-tarteilchen interpretiert. Stellt mansich nun Experimente bei niedrigenEnergien vor, so tragen nur wenigeniederfrequente Anregungen zuStreuprozessen bei. Diese Anregungensollten demnach den beobachtetenElementarteilchen entsprechen.

In der Tat finden sich unter denniederfrequenten Schwingungengenau solche Teilchen, die den Träger-teilchen der vier Fundamentalkräfteentsprechen. Die Dynamik dieser„leichten Stringmoden“ lässt sich bei niedrigen Energien gut durchTheorien der Supergravitation be-schreiben.

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magnetische Monopole nicht nachgewiesen werden konn-ten, erlauben die Maxwellschen Gleichungen nach einerVermutung von Paul Dirac aus dem Jahre 1931 zumindestim Prinzip eine neue Symmetrie, die elektrische und ma-gnetische Ladungen untereinander vertauscht. Aus der An-nahme eines magnetischen Monopols leitete Dirac auch diebeobachtete Quantisierung der elektrischen Ladungen ab.

Wie sich in den letzten Jahren herausgestellt hat, kön-nen Dualitätssymmetrien darüber hinaus eine Erklärungdafür liefern,warum bei einigen Theorien das Verhalten beischwacher dem bei starker Kopplung sehr ähnlich ist. Dua-litäten machen damit Teile der Theorie der Berechnung zu-gänglich, bei denen die bekannten störungstheoretischenMethoden versagen – also das näherungsweise Lösen einesphysikalischen Systems durch kleine Abweichungen(Störungen) von analytisch lösbaren Gleichungen.

Das E10-Modell enthält die Dualitätssymmetrien derStringtheorien unmittelbar: Diese sind lediglich „Basis-wechsel“ in der Beschreibung der E10-Struktur. Somit er-laubt das E10-Modell eine direkte und systematische Reali-sierung dieser Idee, im Gegensatz zur konventionellen Be-handlung der Stringtheorie,wo diese Symmetrien jeweils adhoc realisiert sind. Ebenso scheint die Annahme einer E10-Symmetrie viele Eigenschaften der Theorien zu implizieren,die sonst der Supersymmetrie zugeschrieben werden.

E10 und QuantengravitationDas E10-Modell bietet einen völlig neuen Zugang zum Pro-blem der Quantengravitation: Es ersetzt die Entwicklungder Raumzeit durch die Bewegung eines Punktteilchens aufeinem unendlichdimensionalen Hilfsraum. Somit entfalleneinige der üblichen Schwierigkeiten, die mit der Quanti-sierung der Geometrie verbunden sind. Stattdessen wird ei-ne Quantisierung der Punktteilchendynamik angestrebt. We-gen der Komplexität der E10-Struktur wirft sie allerdings ei-gene, neue Fragestellungen auf.

In ersten, vereinfachten Studien untersuchte man dasProblem im reduzierten Fall des zehndimensionalen kos-mologischen Billards [9]. Man hoffte, dass es Hinweise aufdie Eigenschaften von Quantengravitation in der Nähe einerSingularität liefern könnte. Tatsächlich fand sich, dass dieWellenfunktion des Quantenbillardsystems immer zerläuft,wenn man sich der Singularität nähert. Dies kann als einmöglicher Mechanismus zur Auflösung der Singularität auf-gefasst werden.

In anderen Zugängen zur Quantengravitation, wie derStringtheorie und der sogenannten kanonischen Quanti-sierung, stellen Zwangsbedingungen an die Wellenfunktioneine wesentliche Schwierigkeit dar. Im E10-Bild kann mandiese Zwangsbedingungen dagegen als Einschränkung dererlaubten geodätischen Bewegungen der Billardkugel auf-fassen. Eine wichtige Frage ist in diesem Zusammenhang,ob die Zwangsbedingungen mit der E10-Struktur verträglichsind und eine natürliche Interpretation zulassen.

Ein wesentlich neuer Aspekt der E10-Struktur im Ver-gleich zu anderen Ansätzen zur Vereinheitlichung liegt mög-

licherweise darin, dass sie ein Element der Nichtberechen-barkeit (in einem mathematisch wohldefinierten Sinn) indie Quantengravitation einbringen könnte. Das wäre dannder Fall, wenn sich herausstellen sollte, dass ein vollständi-ges quantentheoretisches Verständnis der Urknallsingula-rität prinzipiell an der fehlenden vollständigen Darstellbar-keit der sie beschreibenden Gleichungen scheitern könnte.

Die E10-Struktur selbst ist durch einfache Bedingungen(Generatoren und Relationen) definiert,die jedoch im Keimein exponentielles Wachstum an Komplexität nach sich zie-hen. Auf dem Wege der Analogie mag man hierbei zum Bei-spiel an die berühmte Mandelbrot-Menge denken: Diese istzwar durch einfache Gleichungen gegeben, lässt sich aberimmer nur näherungsweise berechnen. Vielleicht entziehtsich der Prozess des „Verschwindens“ von Raum und Zeitbei der Annäherung an die Singularität ebenso einer voll-ständigen mathematischen Beschreibung.

AusblickGegenwärtige Untersuchungen befassen sich vorrangig mitFragestellungen, die unmittelbar an die bisher dargestelltenErgebnisse anknüpfen.

An erster Stelle steht die dringliche Frage, inwieweit dieE10-Symmetrie abseits des Urknalls erhalten bleibt,und wiesich aus der abstrakten algebraischen Beschreibung die ge-wohnte „klassische“ Raumzeit-Geometrie ergeben kann.Konkret sucht man nach einer Antwort, indem man einegrößere Zahl an Variablen in die Korrespondenz zwischenE10 und der Stringtheorie einbaut. Hierbei gibt es zwei un-terschiedliche Arten von Variablen. Zum einen sind diesweitere Veränderliche der Supergravitationstheorie, die imWesentlichen mit einer größeren Variabilität der Raumzeitzusammenhängen. Zum anderen sind es neue Variablen ausder Stringtheorie, die alleine nicht in der reinen Supergra-vitationstheorie auftauchen. Wegen der exponentiell wach-senden Komplexität der E10-Algebra wird der Einbau die-ser Variablen allerdings mit wachsender Anzahl immerschwieriger.

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D I E E 1 0 - S T R U K T U R |Die Mathematik behandelt E10 in derTheorie der hyperbolischen Kac-Moody-Algebren. Viktor Kac und Robert Moodydefinierten sie 1968 unabhängigvoneinander. Solche Algebren sindunendlichdimensionale Verallgemeine-rungen endlichdimensionaler Lie-Algebren. Letztere beschreiben dieSymmetrien bestimmter einfacherendlichdimensionaler Räume (Kugel-schalen). Eine ähnlich explizite Realisie-rung der Kac-Moody-Algebren ist nichtbekannt.

Unter den hyperbolischen Kac-Moody-Algebren nimmt die E10-

Struktur eine herausgehobene Stellungein, da sie in gewissem Sinne die größteund symmetrischste ist. Auf die mögli-che Relevanz der E10 in der theoreti-schen Physik hat erstmals 1980 derfranzösische Theoretiker Bernard Juliahingewiesen. Der Name E10 stammtdaher, dass E10 als Unterstruktur diesogenannte endlichdimensionaleexzeptionelle Lie-Algebra E8 enthält,die eines der faszinierendsten Objekteder klassischen Lie-Theorie ist [7]. Die„10“ verweist auf das zehndimensionaleBillard, das man mit der E10-Strukturassoziieren kann.

Es gibt ermutigende Anzeichen dafür, dass es möglichsein könnte, sämtliche Variablen der Allgemeinen Relati-vitätstheorie in den E10-Rahmen einzubauen. Dies würdezu einer Wiedereinführung der gesamten Raumzeit überden unendlichdimensionalen E10-Raum führen. Damit bekä-me man erstmals ein konkretes Beispiel einer Theorie, indem die Raumzeit „emergent“ ist – also „von selbst“ aus ei-ner Grundstruktur auftaucht, in der sie zunächst nicht ma-nifest enthalten ist. Würde sich diese Hypothese bestätigen,dann würde dies eine radikal neue Sicht auf die Struktur derRaumzeit bei den kleinsten Abständen liefern [10].

In diesem Zusammenhang wird übrigens kontrovers dis-kutiert, ob die resultierende Theorie genau der Supergravi-tationstheorie entsprechen wird oder ob man etwa gering-fügige Korrekturen zulassen muss. Solche Korrekturen wer-den auch von der Stringtheorie vorhergesagt. ErsteUntersuchungen haben tatsächlich die Konsistenz dieserKorrekturen mit der E10-Struktur belegt. Ferner wird manauch mit wesentlichen Modifikationen der Quantentheorieselbst rechnen müssen, da quantenmechanische Phänome-ne wie Superposition und Verschränkung wesentlich aufeine umgebende Raumzeit Bezug nehmen.

ZusammenfassungSymmetrien spielen in den grundlegenden Theorien der Phy-sik eine zentrale Rolle. Sie könnten helfen, eine Quantengra-vitation zu entwickeln, die erfolgreich Allgemeine Relati-vitätstheorie und Quantentheorie zusammenbringt. Gibt esein Symmetrieprinzip, das diese Zusammenführung bewirkt?Die einzigartige mathematische E10-Struktur eröffnettatsächlich einen neuen Zugang zur Quantengravitation. Mitihr ließe sich eine neue Beschreibung von urknallartigen Sin-gularitäten und Schwarzen Löchern finden. Das vollständigeVerständnis des E10-Modells mit seinen Auswirkungen auf dieStruktur der Raumzeit könnte tiefe Einblicke in grundlegendeSymmetrien und Prinzipien der Welt eröffnen. Noch allerdingssteht die theoretische Physik hier am Anfang.

StichworteE10-Symmetrie, Quantengravitation, Symmetrien, Eichsym-metrien, Singularität, Schwarzes Loch, Urknall, Standardmo-dell, Stringtheorie, Supergravitation, Kosmologie.

Literatur[1] S. Weinberg, Die ersten drei Minuten, Piper, München 1997.[2] G. Hasinger, Das Schicksal des Universums: Eine Reise vom Anfang

zum Ende, C.H. Beck, München 2007.[3] Physik in unserer Zeit 2008, 39(3), 116.[4] C. Lämmerzahl, Physik in unserer Zeit 2008, 39(3), 125.[5] J. Louis, T. Mohaupt, S. Theisen, Springer Lecture Notes in Physics

2007, 721, 289.[6] T. Damour, M. Henneaux, Phys. Rev. Lett 2001, 86, 4749.[7] H. Nicolai, Nature 2007, 447, 41.[8] A. Kleinschmidt, H. Nicolai, Int. J. Mod. Phys. D 2006, 15, 1619.[9] A. Kleinschmidt, M. Koehn, H. Nicolai, Phys. Rev D 2009, 80,

061701.[10] T. Damour, H. Nicolai, Int. J. Mod. Phys. D 2008, 17, 525.

Die AutorenHermann Nicolai ist Direktor am Max-Planck-Institutfür Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) inGolm. Er forscht auf dem Gebiet der Quantengravi-tation und der Vereinigten Theorien. 2010 erhielt er die Einstein-Medaille der Berner Albert-Einstein-Gesellschaft.

Axel Kleinschmidt forscht mit Unterstützung desbelgischen Fonds de la Recherche Scientifique an der Université Libre de Bruxelles an Symmetrien inGravitationstheorien und Quanteneffekten in derStringtheorie.

AnschriftenProf. Dr. Hermann Nicolai, Max-Planck-Institut fürGravitationsphysik, Am Mühlenberg 1, 14476 Potsdam. [email protected]

Dr. Axel Kleinschmidt, Université Libre de Bruxelles,Service de Physique Théorique et MathématiqueCP231, Boulevard du Triomphe, 1050 Bruxelles,Belgien. [email protected]

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