Neurologische Differenzialdiagnostik - ReadingSample immer normal. Schwere Blepharospasmen können...

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Neurologische Differenzialdiagnostik Neurologische Symptome richtig bewerten, systematisch abklären und differenzialdiagnostisch einordnen von Marco Mumenthaler, Claudio Bassetti, Christof Daetwyler erweitert, überarbeitet Thieme 2005 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 13 592405 2 Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Transcript of Neurologische Differenzialdiagnostik - ReadingSample immer normal. Schwere Blepharospasmen können...

Neurologische Differenzialdiagnostik

Neurologische Symptome richtig bewerten, systematisch abklären und differenzialdiagnostisch einordnen

vonMarco Mumenthaler, Claudio Bassetti, Christof Daetwyler

erweitert, überarbeitet

Thieme 2005

Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

ISBN 978 3 13 592405 2

Zu Inhaltsverzeichnis

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

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Die ätiologische Beurteilung einer anfallsartigen Störungoder unwillkürlicher Bewegungen ist nur dann möglich,wenn● der Arzt dieselbe entweder selber beobachten konnte● oder/und den Patienten unmittelbar im Anschluss da-

ran gesehen hat● oder/und eine genaue Schilderung der Störung durch

den Patienten● bzw. einen Zeugen vorliegt.

Faktoren wie Natur der Störung, Dauer/Häufigkeit, Auslö-sung und eventuelle Familiarität sind für die Deutung eineranfallsartigen Störung entscheidend.

Man wird deswegen erfragen müssen:● Welcher Natur die Störung selber ist, und zwar● in Bezug auf das Bewusstsein

–– ob der Betroffene die Störung bei klarem Bewusst-sein erlebt hat oder gestört im Bewusstsein bzw. be-wusstlos war

–– ob er für dieselbe eine Amnesie hat (was für eineStörung des Bewusstseins spricht)

–– oder/und von Zeugen ein abnormes Verhalten beob-achtet wurde

● in Bezug auf die Motorik–– ob Besonderheiten der motorischen Abläufe bzw. ei-

ne Störung der Koordination (Ataxie) vorlagen–– ob diese konstant lokalisiert waren oder unter-

schiedliche Körperregionen betroffen haben–– und wie dieses Erscheinungsbild („pattern“ der An-

gelsachsen) ist

● in Bezug auf die Sensibilität–– ob besondere Sensibilitätsstörungen vorlagen–– oder anfallsartige Schmerzen

● in Bezug auf die Sinnesorgane („Sensorik“)–– ob Geruchssensationen–– ob Sehstörungen–– oder Gehörstörungen vorlagen

● in Bezug auf vegetative Funktionen–– ob Urinverlust bemerkt wurde–– ob anschließend geschlafen wurde–– oder Nausea, Erbrechen, Schwitzen usw. vorhanden

waren● Die zeitlichen Charakteristika der Störungen

–– Welches war die Dauer der einzelnen Störungsepiso-den?

–– Welches war deren Häufigkeit bzw. Regelmäßigkeit?–– Wann traten sie auf?

● Die eventuelle Auslösbarkeit oder klare Beeinflussbar-keit durch bestimmte Faktoren (wobei hier das Kausa-litätsbedürfnis von Patient und Arzt gerne zu Fehlinter-pretationen verleitet).

● Eventuelle Ereignisse in der Vorgeschichte, die für dasVerursachen der Störung ätiologisch in Frage kommenkönnten (z. B. ein Schädel-Hirn-Trauma bei einer foka-len Epilepsie)

● oder eine familiäre Belastung mit ähnlichen Störun-gen.

11 Anfallsartige wiederholte Störungen,unwillkürliche Bewegungen undDifferenzialdiagnostik der Epilepsien

11.1 Vorbemerkungen und praktisches Vorgehen bei der Beurteilunganfallsartiger Störungen

Mumenthaler, Bassetti, Daetwyler, Neurologische Differenzialdiagnostik (ISBN 313592405X), © 2005 Georg Thieme Verlag

11.2 Vorwiegend motorische anfallsartige Phänomene 103

11.2 Vorwiegend motorische anfallsartige Phänomene

Noch einmal sei betont, dass bei dieser Kategorie zwar mo-torische Bewegungsabläufe als Leitsymptom im Vorder-grund stehen, dass aber sehr oft auch sensible Phänomeneoder Bewusstseinsstörungen mit vorhanden sein können,dass diese sorgfältig erfasst werden müssen und bei derätiologischen Beurteilung mit zu verwerten sind.

11.2.1 Mit einer Bewusstseinsstörungeinhergehend

● Der Patient wird während des Ablaufes des motorischenPhänomens bewusstlos.–– Dann wird am allerhäufigsten eine Epilepsie mit ei-

nem generalisierten Grand-Mal-Anfall vorliegen. Im-mer generalisierte Krämpfe, immer tiefe Bewusst-losigkeit, Zyanose, Schaum vor dem Mund, oft Zun-genbiss und/oder Urinabgang (Video 11.1). Zeugenbefragen. Anamnestisch evtl. epileptogene Gehirnlä-sionen. Suchen nach Zungenbiss, nasser Wäsche.EEG im Anfall immer pathologisch, zwischen denAnfällen können epilepsiespezifische Veränderun-gen nicht selten fehlen. Jede andere Epilepsieformkann mit Grand-Mal-Anfällen kombiniert sein, jederfokale Anfallstyp (s. u.) kann in einen Grand-Mal-An-fall mit Bewusstlosigkeit ausmünden.

–– Auch bei nicht-epileptischen Synkopen (s. S. 118)können tonische und/oder klonische motorische Er-scheinungen auftreten (sog. konvulsive Synkope).

–– Bei Kindern können im Rahmen von SchreikrämpfenBewusstlosigkeit und Zuckungen auftreten (s. S. 61).

● Der Patient hat eine Trübung des Bewusstseins aufgewie-sen (oft spricht man von „Abwesenheitszuständen“). Erwar nicht bewusstlos, aber in seinem Bewusstsein ver-ändert und in seinem Verhalten auffällig. Er hat meisteine mehr oder weniger vollständige Amnesie für dasGeschehen. Infrage kommen:–– Aus dem epileptischen Formenkreis partielle Anfälle

mit komplexer Symptomatik (Schläfenlappen- bzw.Temporallappenepilepsie sowie Frontallappenanfäl-le): Bei der Temporallappenepilepsie finden sich Epi-soden meist über Sekunden bis Minuten. LängereEpisoden (sog. Dämmerattacken) von wenigen Mi-nuten bis zu Stunden Dauer (Video 11.2 bis 11.4).Einleitung und Begleitung durch Schmatzen und an-dere orale Mechanismen, durch Nesteln, ziellosesund evtl. unsinniges Handeln; selten aber sinnvollesund scheinbar geordnetes Tun. Amnesie für den An-fall. Die Schläfenlappenepilepsie kann sich aber auchoder nur in anfallsartigen Störungen der vegetativenFunktionen und des Befindens äußern.

–– Bei den Frontallappenanfällen spielen sich z. T. bizarranmutende (und deshalb zu Unrecht oft als psycho-gen interpretierte) psychomotorische Anfälle ab. Siesind durch regellose, gelegentlich obszöne Bewe-

gungsabläufe gekennzeichnet, hypermotorisch undstereotyp und spielen sich besonders oft in der Nachtab (Video 11.5–11.8).

–– Absenzenepilepsie (Pyknolepsie, Petit Mal, Absen-zen im engeren Sinne des Wortes): Fast nur bei Kin-dern oder in der Kindheit beginnend, sehr häufige,nur Sekunden dauernde Anfälle, starrer Blick, evtl.geringfügiges Nesteln oder Mundbewegungen, keinHinstürzen, täglich u. U. sehr häufig sich wiederho-lend (Video 11.9).

–– Sowohl ein Status partieller Anfälle mit komplexerSymptomatik als auch ein Petit-Mal-Status könnenals lang dauernde, evtl. über Stunden oder Tagepersistierende Trübung des Bewusstseins oder alsVerwirrtheit imponieren (sog. nicht konvulsiver Sta-tus).

–– Bei der Hyperventilationstetanie (welche heute alseine Form der Panikstörung verstanden wird) ver-krampfen sich die Hände (Pfötchenstellung) und dieFüße werden nach plantar flektiert (Karpopedal-spasmus). Es traten vorher aber auch Parästhesienbeidseits in der Mundregion und in den Fingern auf.Bewusstseinsstörung s. S. 116.

● Bei psychogenen Anfällen (bezeichnet auch als „hysteri-scher“ Anfall, nicht epileptische Bewusstseinsstörung,dissoziativer Anfall) ist der Patient im Anfall nichtansprechbar und hat für den Anfall eine Amnesie. Siehaben oft demonstrativen Appellcharakter, die motori-schen Abläufe entsprechen keinem bekannten Anfalls-typus (Video 11.10). Besonders kritische auslösendeSituation, Persönlichkeitsstruktur beachten, Fehlenpathologischer Untersuchungsbefunde, normales EEGauch während der Störung und Fehlen einer postiktalenVerlangsamung der elektrischen Aktivität. Bei psycho-genen Anfällen werden die Augen in 90 % der Fälle ge-schlossen gehalten, bei echten epileptischen Anfällenhaben nur 5 % geschlossene Augen.

11.2.2 Ohne Beeinträchtigung des Bewusstseins

● Motorisch wiederholte epileptische Phänomene könnensich auch ohne Bewusstseinsstörungen abspielen. Hier-zu gehören:–– Versivanfälle (tonisches Drehen von Auge, Kopf und

Arm kontra- oder ipsilateral zum Herd),–– die motorischen Jackson-Anfälle (klonische Zuckun-

gen, beginnend an einer Körperstelle, meist Handoder Gesicht, und sich meist auf die ganze homolate-rale Seite ausdehnend, „march of convulsion“),

–– die partielle motorische Epilepsie (von Anfang anZuckungen der ganzen Körperseite ohne Ausbrei-tung, kann von Hemiplegie gefolgt sein = hemicon-vulsion hemiplegia syndrome = Todd-Lähmung),

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104 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

–– die seltenen, primär hemiparetischen Anfallsäquiva-lente, denen im Gegensatz zur Todd-Lähmung keineZuckungen vorausgehen und die ohne Bewusstseins-verlust einhergehen,

–– die Epilepsia partialis continua Kozevnikov (dauern-de klinische Zuckungen eines begrenzten Körper-teils, auch Ausdruck eines fokalen motorischen Sta-tus epilepticus, wobei aber nicht immer im EEG einFokus der entsprechenden kontralateralen motori-schen Großhirnrinde nachweisbar ist),

–– kurze Zuckungen bzw. myoklonische Phänomenefinden sich bei den BNS-Krämpfen und dem myoklo-nisch-astatischen Petit Mal des Kindesalters sowiebei der myoklonischen und der Myoklonusepilepsie(Video 11.11).

–– Paroxysmales Lidflattern ist gelegentlich bei Patien-ten zu sehen, die an einer medikamentös gut kon-trollierten Epilepsie leiden, oder als erste Symptomeeine solche einleiten.

In Abb. 11.1 sind die topischen Bezirke der einzelnen foka-len epileptischen Anfallstypen in der Großhirnrinde darge-stellt.● Zu den nicht epileptischen intermittierenden Lähmungen

gehören:–– Die alternierende Hemiplegie des Kindes (Synonym:

familiäre, hemiplegische Migräne), die auf S. 200 ab-gehandelt wird.

● Intermittierend vorhandene (evtl. anfallsartige), oderaber auch mehr oder weniger dauernd vorhandene, un-willkürliche Bewegungen nicht epileptischer Natur (sog.Dyskinesien).–– Dystonien sind repetitive Bewegungen mit abnor-

mer Rotation (engl. twisting), Flexion oder Extensiondes betroffenen Körperteils, der in einer abnormenHaltung bleiben kann. Diese ist durch Kokontraktionvon Agonisten und Antagonisten bedingt. Die lang-samen gegen Widerstand der Antagonisten ausge-führten Bewegungen erzeugen den Eindruck einermühsamen, gequälten Anstrengung. Die Bewegun-gen können aber auch rasch bzw. rhythmisch (dysto-ner Tremor) sein. Je nach Lokalisation und Verlaufkann man folgende Gruppen unterscheiden: fokal(an einem einzigen Körperteil), segmental (am gan-zen Kopf, an einer ganzen Extremität) und generali-siert. Ätiologisch unterscheidet man zwischen idio-pathischen (nicht selten genetisch bedingten) undsymptomatischen Dystonien. Letztere können v. a.bei Erkrankungen der Basalganglien (Parkinson-Syndrome, Insult, Morbus Wilson) oder als Medika-mentennebenwirkung (Antiemetika, Neuroleptika,L-Dopa, Dopamin-Agonisten) gesehen werden. Auchim Kap. 12 werden Dystonien noch erwähnt werden.Am häufigsten sind die fokalen Dystonien:

–– Blepharospasmus: Er kann als meist symmetrische,nicht beherrschbare Kontraktion des M. orbicularisoculi imponieren und verunmöglicht es den Patien-ten über oft lange Perioden zu sehen. Er kann aber

auch durch eine Lidheberapraxie (Apraxie des Au-genöffnens) zur gleichen hochgradigen Behinderungführen. Die Lidheberapraxie ist bei extrapyramidalenErkrankungen und v. a. bei der progressiven supra-nukleären Paralyse typisch. Der Blepharospamus istmeist idiopathisch. Der neurologische Befund istdann immer normal. Schwere Blepharospasmenkönnen aber auch bei Erkrankungen der Basalgang-lien und als Nebenwirkung bei lang dauernder L-Dopa-Medikation vorkommen.

–– Torticollis spasticus/spasmodicus: Drehende Kopf-bewegungen, immer auf die gleiche Seite, vor allemmit Kontraktion des M. sternocleidomastoideus,aber auch anderer Hals- und Nackenmuskeln, evtl.weiterer Schultergürtelmuskeln. Ein vorübergehen-des Verhindern der drehenden Kopfbewegungen istgelegentlich möglich, wenn sich der Patient nurleicht selber z. B. am Kinn hält, der sogenannte „ges-te antagoniste“ (Video 11.12). Der Tortikollis kannschließlich auch mehr oder weniger fixiert sein.Steht die Reklination im Vordergrund, spricht manvon einem Retrokollis. Ein Übergang in eine Torsi-onsdystonie (s. u.) kommt selten vor. Differenzial-diagnostisch ist der Torticollis spasticus abzugren-zen vom rheumatischen akuten Tortikollis (schmerz-hafte Blockierung aller Kopfbewegungen ohne aktiveMuskelkontraktion), von der kongenitalen Kopf-schiefhaltung bei Missbildungen der Halswirbelsäu-le und vom Caput obstipum musculare (bei geburts-traumatisch geschädigtem und narbig verkürztemM. sternocleidomastoideus).

–– Schreibkrampf: Dieser tritt nur beim Schreiben vonHand auf. Hierbei stellt sich im Laufe der Zeit zuneh-mend rasch eine dystone Verkrampfung der Fingerein, welche das Schreiben schließlich unmöglichmacht (Video 11.15 ). Er bleibt lokalisiert.

–– Isolierte dystone Koordinationsstörungen der moto-rischen Abläufe bei Musikern: Wir sahen sie nichtnur an der oberen, sondern auch an der unterenExtremität.

–– Spasmodische Dysphonie: Sie wird durch eine Dys-tonie der Stimmmuskeln bedingt und wird meist, beinormalem klinischem Befund, primär oft als psycho-gen gedeutet. Eine aphone Stimme wird durch eineexzessive Kontraktion der Abduktoren, eine hohe/abgewürgte Stimme durch eine solche der Addukto-ren bewirkt.

–– Schmerzhafte dystone Arm- und Fingerbewegungenwurden bei Schädigungen des peripheren Nerven-systems, z. B. beim Status nach Schädigung des Arm-plexus durch Strahlentherapie oder nach Traumagesehen (sog. periphere Dystonie, bis heute umstrit-ten).

–– Dystonien im Gesichtsbereich sind ein typisches Bei-spiel für eine segmentale Dystonie: Im Gesichtsbe-reich kann eine sog. fazio-bukko-linguale Dystonie(bzw. Dyskinesie) im Senium (durch Fehlen der Zäh-ne begünstigt), aber auch akut und vorübergehend

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11.2 Vorwiegend motorische anfallsartige Phänomene 105

Abb. 11.1 Hirnrinde und Lokalisation anfallsartiger Phänomene.

Ober-schenkel

BauchBrust

SchulterOberarm

UnterarmHand

VIV

IIIII

DaumenNacken

Gesicht

ZungeSchlund

Zehen Fuss Unterschenkel Knie

Stimm-gebung

BlaseDarm

Augennach Gegenseite

Augen nachGegenseite

Insula

komplexeoptischeSens.

opti

sche

Sen

sati

onen

zent

rale

s op

t. S

koto

m

Kauen/Leck

en/Sch

luck

en

Stimm

gebung/Gru

nzen

Kopf/Augen/Rumpf nach Gegenseite

Beuge-/Srecksynergie der kontralateralen

Extremitäten

Lobus temporalis (heruntergeklappt)

(Heschl-

Querwindungen)Hörwahrnehmung

Zentralfurche

Kopf/Augen/Rumpfnach GegenseiteSekundäre mot. ZoneBeuge-/Strecksynergieder kontralateralenExtremitäten

Primär:Kopf-/Augendrehungnach GegenseiteSekundär:Beugesynergie derkontralateralenExtremitäten

6

6

9

8

19 19

1817hohe

mittlere

tiefe Freq.

z. B. nach Gabe von Antiemetika, Cholinergika (Anti-Demenzmittel), Phenothiazine, andere Neurolepti-ka, L-Dopa-Therapie und Opiate vorkommen. DieKombination mit Blepharospasmus wird als Meige-Syndrom bezeichnet (Video 11.14).

–– Weitere segmentale Dystonieformen sind das Pisa-Syndrom und die Kamptokormie (s. u.).

–– Generalisierte Dystonien sind oft konstant bzw. pro-gredient: Die eigentliche Torsionsdystonie ist durchvorwiegend rotierende, kraftvolle Bewegung von Kopf

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und Rumpf, kombiniert mit dystonen Bewegungen derExtremitäten und Hände charakterisiert. Die Gliedma-ßen werden oft in Extension gehalten und unbequemeKörperstellungen lange beibehalten. Auch das Gesichtist beteiligt. Bei der myostatischen Form sind keineBewegungen (mehr) vorhanden, und die Extremhal-tungen werden dauernd beibehalten. Ursächlich liegtmeistens ein Icterus gravis neonatorum zugrunde, sel-tener sind hereditäre Formen und symptomatischeFormen bei Morbus Wilson, bei Huntington-Chorea,bei Enzephalitis oder bei Hirnvenenthrombose.

–– Die progressive Dystonie mit ausgeprägten Tages-schwankungen (Segawa-Erkrankung) ist meist he-reditär. Sie beginnt im Kindesalter und ist durchwechselnd lokalisierte Dystonien an den unterenExtremitäten mit ausgeprägter Gangstörung charak-terisiert. Vor allem sind auch ausgeprägte Intensitäts-unterschiede im Laufe des Tages vorhanden. Fastpathognomonisch ist das Ansprechen auf L-Dopa.Ein Therapieversuch mit L-Dopa ist dementspre-chend bei Dystonie indiziert.

Dystonien können auch nur intermittierend vorhandensein bzw. anfallsartig auftreten:

–– Die paroxysmale nächtliche Dystonie manifestiertsich mit repetitiv auftretenden Attacken im Schlafmit dystoner Haltung und unwillkürlichen Bewe-gungen der Extremitäten, meist über nur wenigeSekunden auftretend, heute als Anfälle vom Frontal-lappen (nicht selten familiär gehäuft) gedeutet.

–– Die paroxysmale (nicht nächtliche) Dystonie kanndurch Bewegungen ausgelöst werden und ist oftautosomal vererbt.

–– Tics sind meist kurz dauernde, sich wiederholende,stereotype meist motorische (Drehung des Kopfes,Grimassieren, Herausstrecken der Zunge, Schulter-hebung …), aber auch vokale (Räuspern, Schnupfen,Husten …), sensible oder mentale Phänomene, wel-che willkürlich vorübergehend unterdrückt werdenkönnen. Repetitive Vokalisationen bzw. Handlungen,z. T. als Imitationsphänomene (sog. Echolalien/Echo-praxien bzw. Palilalien/Palipraxien), stellen komple-xe Tics dar. Ein obszöner Charakter ist möglich (Ko-prolalie/Kopropraxie). Neben idiopathischen Ticssind auch sekundäre Formen bei Zwangskrankheitenund bei gewissen Medikationen (Neuroleptika, An-tiepileptika) bekannt. Eine psychische Komponenteder Störung ist oft vorhanden.

–– Lokalisierte Tics, z. B. im Gesichtsbereich, sind v. a. beiKindern nicht selten und können nur für kurze Zeit-perioden vorhanden sein.

–– Generalisierte Tics entsprechen der sog. Tic-Krank-heit (Gilles-de-la-Tourette-Syndrom): die Tics sindtypischerweise sowohl motorisch als auch vokal,treten vor dem 20. Lebensjahr auf und persistieren > 1 Jahr. Eine Familiarität dieses Syndroms ist nichtungewöhnlich.

Tremor: Darunter versteht man einen regelmäßig-rhyth-mischen Bewegungsablauf von stereotypem Charakter mit

unterschiedlicher, für eine bestimmte Tremorform typi-schen Frequenz und oft mit geringem Bewegungseffekt.Eine Differenzierung kann z. B. nach den Umständen, unterdenen er auftritt, versucht werden.

–– Der physiologische Tremor mit einer Frequenz von8–12 pro Sekunde ist sehr feinschlägig und seinNachweis benötigt oft Hilfsmittel.

–– Beim Ruhetremor tritt das Zittern dann auf, wenn die Gliedmaße gegen die Schwerkraft unterstützt ist.Dies ist typisch für den Parkinson-Tremor. Er istdistal betont, hat eine Frequenz von 4–6 pro Sekun-de, ist relativ grobschlägig und zeigt charakteris-tische Flexions- und Extensionsbewegungen vonHand und Fingern. Bei Intentionsbewegungen ver-schwindet er vorübergehend. Seltener ist solch einRuhetremor bei älteren Patienten ohne Parkinson-Symptome und ohne Progredienz, dann gelegentlichauch den Kopf betreffend, oder bei Wilson-Krankheit(s. „Flügelschlagen“).

–– Der Aktionstremor tritt bei Anspannung der Muskula-tur auf, entweder beim Halten eines Körperteils gegendie Schwerkraft (Haltetremor) oder bei Durchführungeiner Bewegung (kinetischer Tremor); ist bei aktivemAnspannen von Muskelgruppen nachweisbar und be-sonders distal evident. Die häufigste Ursache für ei-nen Aktiontremor ist der essenzielle Tremor (in höhe-rem Alter spricht man von einem senilen Tremor), derin ca. 60 % der Fälle hereditär ist. Die Frequenz von8–13 pro Sekunde nimmt mit dem Alter ab, die Am-plitude eher zu. Eine typische Situation, in welcherdieser Tremor besonders deutlich und störend werdenkann, ist z. B. das sorgfältige Einschenken in ein Glas.

–– Eine besondere Form des Aktionstremors ist dieAsterixis („flapping tremor“), ein leicht unregelmäßi-ges Flektieren und Extendieren der extendiertenHände, wie es bei Leberaffektionen, aber auch beimMorbus Wilson und bei gewissen Intoxikationenvorkommt. Es wird heute als negative Myoklonus-form gedeutet (s. o.).

–– Unter rubralem Tremor (synonym mesenzephaleroder Holmes-Tremor) versteht man die Kombinationeines langsamen (3–4 Hz) Ruhetremors mit einem(meist ausgeprägteren) Aktionstremors, welcher beiLäsionen des Mittelhirns zu beobachten ist.

–– Tremor findet sich gelegentlich auch bei Polyneuro-pathien (Video 11.20).

–– Eine besondere Form des Haltetremors ist das Flügel-schlagen (Asterixis), ein grobes, leicht unregelmä-ßiges Flektieren und Extendieren der Hände beihorizontal zur Seite erhobenen Armen, wie es bei Le-beraffektionen, aber auch beim Morbus Wilson undbei gewissen Intoxikationen vorkommt. Es wird heu-te als negativer Myoklonusform gedeutet (s. u.).

–– Der Intentionstremor, auch ataktischer Tremor oderZieltremor genannt, ist immer verbunden mit zere-bellärer Ataxie und Folge einer Läsion des Nucleusdentatus bzw. seiner Efferenzen. Er fehlt in Ruhe, beiIntentionsbewegung wird er aber umso deutlicher,je exakter die Bewegung ausgeführt werden soll und

106 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

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je näher sie an ihr Ziel gelangt. Deutlich tritt er z. B.beim Finger-Nase-Versuch in Erscheinung. Beson-ders oft findet er sich bei der multiplen Sklerose.

–– Als primären orthostatischen Tremor bezeichnet maneine Standunsicherheit, die von einem nur elektro-physiologisch nachweisbaren hochfrequenten syn-chronen Tremor analoger Beinmuskeln begleitet ist.

–– Eine besondere Tremorform ist der psychogene Tre-mor. Er kann jeden anderen Tremor imitieren. Be-sonders oft ist er auf eine Extremität beschränkt, istoft unregelmäßig und grobschlägig und hat meist ei-nen dramatisch-eindrücklichen Charakter. DurchAblenkung kann er gemildert oder beseitigt werden.Beim passiven Fixieren eines zitternden Körperteilsbeginnt ein anderer zu zittern. Eine generalisierteForm von psychogenem Tremor stellt das „Kriegszit-tern“ von Frontsoldaten dar, wie es im Ersten Welt-krieg vielfach beschrieben wurde.

–– Bei einer X-chromosomal gebundenen Form derCharcot-Marie-Tooth-Krankheit sind Tremor und pa-roxysmale, kurz dauernde zentralnervöse Ausfällemit Signalanomalien im MRT des Schädels beschrie-ben worden.

–– Die fragile X-Prämutation kann mit Intentionstremor,Ataxie, Gangstörungen und kognitiven Störungen beiälteren Männern einhergehen.

–– Chorea: Diese ist charakterisiert durch nicht rhyth-mische, regellose, wechselnd lokalisierte, kurz dau-ernde, relativ rasche, distal betonte Bewegungen(Video 11.19). Dies führt vorübergehend zur Einnah-me extremer Gelenkstellungen. Das Verschmelzenmit aktiven Bewegungen oder der Ausbau zu gewoll-ten Zielbewegungen lassen die unwillkürlichen cho-reatischen Bewegungen manchmal in Willkürbewe-gungen gewissermaßen untergehen. Der Tonus istvermindert, die Reflexe normal, aber gelegentlichdurch Interferieren eines Muskeleigenreflexes miteiner unwillkürlichen Bewegung in ihrem Ablauf un-terbrochen (Gordon-Kniephänomen). Der Chorealiegt eine Erkrankung des Striatums bzw. eine Hy-peraktivität dopaminerger Neurone zugrunde. Be-sondere Formen können hervorgehoben werden:

–– Vorübergehende Chorea: Eine mehr oder wenigerlang dauernde, aber allmählich zunehmende unddann wieder abklingende Chorea ist am häufigstenAusdruck einer sogenannten Chorea minor oderrheumatica (Kinder, einige Wochen nach Streptokok-keninfektion des Rachens auftretend, oft mit Müdig-

keit, Gelenkbeschwerden und Angina einhergehend).Ähnlich erscheint die Chorea gravidarum, die Choreabei Einnahme von Medikamenten und anderen Subs-tanzen (Ovulationshemmer, Amphetamin, Chlor-promazin, L-Dopa) und die symptomatische Choreabei verschiedenen Erkrankungen (akute exanthema-tische Erkrankungen, Virusenzephalitiden, Lupuserythematodes, Polycythaemia vera, zerebrales arte-riovenöses Angiom, Thyreotoxikose, Gangliosidosen,mitochondriale Enzephalopathien, porto-systemi-sche Enzephalopathien, Lesch-Nyhan-Syndrom etc.).

–– Akut auftretende persistierende Chorea findet sich alspostapoplektische Hemichorea (Abb. 11.2) verbun-den mit Hemiparese und oft mit Ballismus. Eine aku-te Chorea kann auch nach CO- oder Manganintoxika-tion auftreten.

–– Eine sich allmählich einstellende und persistierendeChorea kann Folge einer perinatalen Schädigung,meist eines Icterus gravis, sein (oft mit Athetose ver-bunden, u. U. erst im späteren Kindesalter manifestwerdend und auch nach Jahren progredient; evtl. an-dere Zeichen perinataler Schädigung, wie Spastik,Debilität oder epileptische Anfälle).

–– Die Chorea Huntington ist autosomal dominant ver-erbt (Beginn zwischen 30. und 50. Jahr und mit De-menz einhergehend) und chronisch progredient.Genlokus auf dem kurzen Arm des Chromosoms4. Selten kann die Chorea Hungtington vor dem20. Lebensjahr (mit zusätzlich extrapyramidalenAusfällen und Epilepsie, sog. Westphal-Variante)oder aber nach dem 50. Lebensjahr (evtl. ohne kog-nitive und psychiatrische Symptome, oft als benigne,senile Chorea verkannt, s. u.) auftreten.

–– Andere progrediente, hereditäre Chorea-Syndromekönnen mit Erythrozytenakanthozytose (Choreo-akanthozytose und McLeod-Syndrom), mit Myoklo-nien, epileptischen Anfällen und Ataxie (sog. dentato-rubro-pallido-luysische Atrophie) assoziert sein.

–– Die gutartige familiäre Chorea (autosomal dominant,an das Chromosom 14 gebunden) beginnt in derKindheit und ist nicht von Demenz begleitet. Gele-gentlich können diese Patienten auch leichte Myo-klonien oder eine Dystonie aufweisen.

–– Athetose: Von der Chorea unterscheidet sich diesedurch langsamere, gequält-verkrampft aussehendeBewegungsabläufe. Die Abgrenzung zu Chorea undDystonie ist nicht immer leicht, Übergänge sind häu-fig. Zu den einzelnen Ursachen sei erwähnt:

11.2 Vorwiegend motorische anfallsartige Phänomene 107

Abb. 11.2 Verschiedene Kopf- und Arm-stellungen bei rechtsseitiger Hemichorea.Zeichnungen nach Filmaufnahmen.

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–– Eine persistierende, evtl. progrediente Form, wie beider Chorea, kommt vor allem nach Icterus gravisneonatorum vor, auch als Hemiathetose. Sie kannaber auch Ausdruck eines kongenitalen Status mar-moratus sein.

–– Eine akute Form kommt, ebenso wie eine Hemicho-rea, postapoplektisch vor (meist Läsionen im Basal-ganglien- oder Thalamusbereich).

–– Eine spezielle Form von Athetose, meist an beidenHänden lokalisiert, kann bei spinalen Prozessen (u. a.Plaque bei multipler Sklerose) mit Beeinträchtigungdes Lagesinns beobachet werden (sog. spinale Pseu-doathetose).

–– Symptomatische Formen kommen nach ähnlichenUrsachen wie bei der Chorea vor.

–– Parakinesie: Einbau von choretischen Bewegungenin semi-zielgerichtete Bewegungen.

–– Ballismus: Diese Form der unwillkürlichen Bewe-gungen, die durch weit ausladende, schleudernde,sehr ausgiebige Bewegungen charakterisiert ist, istAusdruck einer Läsion des Nucleus subthalamicusLuysii oder auch einer Schädigung des Striatumsoder des Globus pallidus.

–– Bei plötzlichem Auftreten liegt meist ein vaskulärerInsult, aber gelegentlich auch ein lokaler raumfor-dernder Prozess vor. Die Manifestationsform ist im-mer ein Hemiballismus (Video 11.20).

–– Transitorische Episoden von Hemiballismus kom-men bei basilärer Durchblutungsinsuffizienz vor.

–– Ein progredienter Hemiballismus kann als Hemibal-lismus bei lokaler Raumforderung (s. o.) auftretenund als beidseitiger Ballismus bei einer Reihe der beiChorea aufgeführten Ursachen bzw. als heredodege-nerativer Ballismus.

–– Myoklonien: Es sind dies plötzlich auftretende, ein-schießende („shock-like“), kurze Zuckungen einzel-ner Muskeln mit Bewegungseffekt, die repetitiv undnicht rhythmisch auftreten. Myoklonien können fo-kal, multifokal und generalisiert sein. Die lokalisier-ten Formen können an den verschiedensten Muskel-gruppen sich abspielen, so z. B. an einem Arm (Video11.21), an der Schulter oder z. B. an der Bauchwand-muskulatur (Video 11.22). Neben spontanen Myoklo-nien gibt es solche, welche bei Bewegung (Video11.23) oder infolge eines Reizes (Reflexmyoklonien)beobachtet werden. Ätiologisch ist die Differenzial-diagnose sehr breit:

–– Beim Übergang vom Wach- zum Schlafzustand sindharmlose Einschlafmyoklonien der Beine oder derRumpfmuskulatur häufig.

–– Myoklonien können aber auch mit epileptischen An-fällen vorkommen. Neben einigen Mitochondriopa-thien (MERFF) können auch Speicherkrankheiten (Li-pidosen, z. B. Lafora-Erkrankung) zu epileptischen(evtl. familiären) Moyklonussyndromen bzw. zu ei-ner Myoklonusepilepsie (s. Video 11.11).

–– Im Rahmen von Stoffwechselstörungen (hepatische,urämische Enzephalopathie usw.) finden sich sehr

oft Myoklonien. Hierbei handelt es sich oft um einennegativen Myoklonus, welcher durch eine kurze In-nervationspause zustande kommt (sog. Asterixisbzw. Flügelschlagen, „flapping tremor“).

–– Bei postanoxischen Hirnschäden tritt ein Aktionsmyo-klonus (oder Intentionsmyoklonus) erst bei aktivenBewegungen, besonders wenn diese exakt gezieltausgeführt werden, in Erscheinung (Lance-Adams-Syndrom), (Video 11.24).

–– Myoklonien können auch Intoxikationen begleiten,so z. B. mit Antidepressiva, Serotonin-Re-Uptake-Hemmern (serotoninerges Syndrom), Lithium usw.In diesem Zusammenhang können evtl. auch Be-wusstseinsstörungen, Nystagmus und Gangataxiebeobachtet werden.

–– Myoklonien können als Teilsymptom bei entzündli-chen, infektiösen und paraneoplastischen Syndro-men auftreten. Typisch – wenn auch nicht obligat –sind spontane und Reflexmyoklonien bei der Jakob-Creutzfeldt-Krankheit und der Hashimoto-Enzepha-lopathie. Anfallsweise Myoklonien, verbunden mitabnormem Schwitzen, wurden wohl als Ausdruck ei-ner cholinergen Hyperaktivität bei einem Thymombeobachtet.

–– Myoklonien können schließlich auch bei degenerati-ven Erkrankungen wie z. B. der kortikobasalen Dege-neration auftreten. Eine eindrückliche Besonderheitsind die Myoklonien bei der dentatorubralen Dege-neration, die von Hunt als Dyssynergia cerebellarismyoclonica bezeichnet worden war (hereditäre, pro-grediente zerebelläre Ataxie, später Myoklonien).

–– Myorhythmien: Diese rhythmischen Zuckungen im-mer derselben Muskelgruppe spielen sich mit einerFrequenz von 1–3 pro Sekunde ab. Sie sind Ausdruckeiner Läsion oder einer ungebremsten reflektori-schen Aktivität zentraler Strukturen im Hirnstammund finden sich besonders oft im Kopf- und Ge-sichtsbereich. Ein Beispiel ist der Gaumensegelnys-tagmus (auch Gaumensegeltremor oder -myorhyth-mie genannt) bei Läsion der zentralen Haubenbahnoder der unteren Olive als rhythmische Kontraktiondes Gaumensegels, manchmal begleitet von solchenvon Platysma, Orbicularis oculi oder der Zunge oderaber der Singultus („hoquet diabolique“) bei Enze-phalitis, nach Narkose, nach Abdominaloperationenoder bei multipler Sklerose. Nahezu pathognomo-nisch für einen ZNS-Befall bei Morbus Whipple istdie okulo-mastikatorische Myorhythmie.

–– Faszikulationen: Die unwillkürliche, regellose, Se-kunden dauernde, wechselnd lokalisierte Kontrakti-on einzelner Muskelfaserbündel ohne Bewegungsef-fekt ist oft nur bei längerer sorgfältiger Betrachtungdes Muskelreliefs am entkleideten Patienten und beitangentialer Beleuchtung sichtbar (s. Video 2.1). Ge-legentlich können (pathologische) Faszikulationendurch Muskelanspannung oder -beklopfen sowiedurch die Injektion eines Cholinesterasehemmers(z. B. 10 mg Edrophoniumchlorid = Tensilon) akti-

108 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

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viert bzw. provoziert werden. Beim Gesunden sindgelegentliche Faszikulationen besonders der perior-bitalen Muskeln und der Waden nicht selten.

–– Harmlos sind gehäufte Faszikulationen zugleich miteinem schwer lokalisierbaren Schmerzsyndrom alsSchmerz-Faszikulations-Syndrom (keine Atrophien,keine Paresen, keine anderen neurologischen Ausfäl-le, gelegentlich bei chronischen Infekten z. B. deroberen Luftwege, selbstlimitierend). Bei Läsion einerspinalen Wurzel und selten bei partieller Läsion einesperipheren Nervs können Faszikulationen vorhandensein, die immer auf das entsprechende Innervations-gebiet beschränkt bleiben (anamnestisch und kli-nisch Paresen, Sensibilitätsstörungen, fehlende Refle-xe als Hinweis für eine entsprechende Läsion).

–– Diagnostisch am bedeutsamsten sind Faszikulatio-nen allerdings als Ausdruck einer chronischen Läsionder Vorderhornganglienzellen, oft Leitsymptom einerprogredienten Erkrankung, nämlich einer spinalenMuskelatrophie, z. B. im Rahmen einer myatrophi-schen Lateralsklerose (progredientes Leiden mitMuskelatrophien, Paresen, Krampi, ohne Sensibi-litätsstörungen, zusätzliche Reflexsteigerung undPyramidenzeichen als Ausdruck einer Beteiligungdes zentralen motorischen Neurons bei der Moto-neuronerkrankung).

–– Bei starken, generalisierten Faszikulationen undMyokymien (evtl. mit Krämpfen, Muskelsteifigkeit,Hyperhydrose, Parästhesien assoziiert) sollte manauch an ein sog. neuromuskuläres (peripheres) Hy-peraktivitätssyndrom (Synonym: Neuromyotonie,Syndrom der dauernden Muskelfaseraktivität, Isaac-Syndrom) denken. Dieses Syndrom kann paraneo-plastisch (z. B. bei Bronchuskarzinom und Thymom,evtl. mit Autoantikörper gegen Kaliumkanälen asso-ziiert) aber auch bei Noxen (Kaffee, Tee, Alkohol),entzündlichen/autoimmunvermittelten Polyneuro-pathien und gewissen Medikamenten (Goldsalzeund Medikamente, welche die Azetylcholinkonzent-ration oder -sekretion verstärken wie z. B. Cholin-esterasehemmer oder Verapamil) auftreten.

Bei der Differenzierung der verschiedenen Faszikulati-onstypen spielt neben dem detaillierten Neurostatus dieElektroneuro-/-myographie eine wichtige Rolle. Hydan-toin, Carbamazepin und Gabapentin können therapeutschhilfreich sein.

–– Masseninnervation: Nach Unterbrechung eines pe-ripheren Nervs sprossen von proximal her im Rah-men der Regeneration Axone aus. Da diese oftMuskeln erreichen, für welche sie ursprünglich nichtbestimmt waren, kommt es schließlich bei der Akti-vierung der früher innervierten Muskeln zu einemnicht kontrollierten Mitinnervieren zusätzlicherMuskeln. Diese Masseninnervation kann zu stören-den Mitbewegungen führen. Dieses Phänomen ist imVideo 11.25 dargestellt.

11.2 Vorwiegend motorische anfallsartige Phänomene 109

–– Myokymien: Diese ergreifen mehr als nur einzelneMuskelfaserbündel und imponieren als wogende Be-wegung („live flesh“) unter der Haut. Sie haben kei-nen oder einen nur geringen Bewegungseffekt. Fa-ziale Myokymien spielen sich in einzelnen Muskelneiner Gesichtsseite ab und kommen bei pontinenProzessen wie z. B. einer Plaque bei multipler Sklero-se vor.

–– Pathologische Schreckhaftigkeit (startle disease):Hierbei können Schreckreize plötzliche Zuckungenund Sprünge auslösen.

–– Autosomal dominant vererbt tritt die Hyperexplexie(startle disease) auf, bei welcher Schreckreize hefti-ges Zusammenzucken und evtl. sogar Hinstürzen be-wirken. Differenzierung gegenüber der Kataplexie(meist durch Emotionen ausgelöst, Sturz durch To-nusverlust) und gegenüber einer Reflexepilepsie, beiwelcher ein bestimmter Auslösungsmechanismuseinen echten epileptischen Anfall mehr oder weni-ger regelmäßig auslöst.

–– Eine erworbene, pathologische Schreckhaftigkeitkann auch im Rahmen von Hirnstammprozessen so-wie neurodegenerativen Leiden auftreten.

● Besondere Formen: Einige unwillkürliche Bewegungenlassen sich nur schwer in die oben stehenden Kategori-en einreihen und sollen hier noch aufgeführt werden.–– Spasmus nutans nennt man eine ätiologisch nicht

klare, vorübergehende Störung des Kleinkindesal-ters: Ein unregelmäßiges Kopfnicken und ein einsei-tig ausgeprägterer Nystagmus begleiten eine Ge-neigthaltung des Kopfes. Möglicherweise wirkt derlängere Aufenthalt in einem dunklen Zimmer auslö-send. Die Störung besteht vorübergehend zwischendem ersten und dem zweiten Lebensjahr.

–– Jactatio capitis ist eine typischerweise bei jüngerenKindern vorkommende rhythmisch-wetzende Bewe-gung des Kopfes in Rückenlage, welche oft bei Vigi-lanzminderung bzw. im Prozess des Einschlafens auf-tritt (s. unter Parasomnien). Andere abnorme Kopfbe-wegungen beim Kind erfordern eine eingehendeAnalyse: Kopf-Fallenlassen bei Hypotonie, Kopftre-mor, Myoklonien z. B. bei der myoklonischen Enze-phalopathie von Kinsbourne, bei Dyskinesien etc.

–– Akathisie nennt man ein dauerndes unruhigesTrippeln auf den Beinen sowie zwanghaftes Hin-und-her-Gehen, wie wir es nach meist länger dau-ernder Einnahme von Chlorpromazinderivaten se-hen (Video 11.28). Im Unterschied zum Restless-Legs-Syndrom wird der Bewegungsdrang am ganzenKörper und den ganzen Tag hindurch verspürt (Dif-ferenzierung vom Restless-Legs-Syndrom s. S. 74).

–– Als Geniospasmus imponiert ein familiär (autosomaldominant) auftretendes Zittern des Kinnes, das meistanfallsweise bei emotionaler Belastung sichtbar wird.

Tab. 11.1 gibt einen Überblick über die soeben geschilder-ten und einige noch zu besprechende anfallsartige motori-sche Phänomene.

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110 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

Tabelle 11.1 Anfallsartige unwillkürliche Bewegungen und gestörte Bewegungsabläufe

Bezeichnung Phänomenologie Topische Ursachen BemerkungenZuordnung

epileptischeAnfälle

Spasmen z. B.hemifazialerSpasmus oderBlepharospas-mus

Krampi

Faszikulationen

Myokymien

Myorhythmien

z. B. Gaumen-segel-nystagmus

Myoklonien

Tremor

Chorea

Athetose

anfallartig, zeitlich begrenzt, in unre-gelmäßigen Abständen, klonisch, hef-tig zuckend, oft mit Bewusstseins-störungen einhergehend

in unregelmäßigen Abständen, unter-schiedlich häufige und unterschiedlichausgiebige Kontraktionen von Muskelnoder Muskelgruppen, manchmalschmerzhaft

beim hemifazialen Spasmus synchronalle vom N. facialis innervierten mimi-schen Muskeln

bei Blepharospasmus beidseitig perior-bitale Muskeln, zeitlich unregelmäßig,kann sehr lange andauern

langdauernde, tonische Kontraktioneneinzelner Muskeln oder Muskelgruppen,fixierte Stellung der Gelenke, meist mitSchmerzen verbunden, besonders oftan der Wade

unregelmäßige, kurze Kontraktioneneinzelner Muskelfaserbündel ohne Be-wegungseffekt auf Gelenk, mit bloßemAuge sichtbar

Kontraktionswellen in immer neuenFaszikelgruppen einzelner Muskeln oderMuskelgruppen ohne nennenswertenBewegungseffekt, als Wogen sichtbar

rhythmische Zuckungen, in der glei-chen Muskelgruppe mit Bewegungsef-fekt

nichtrhythmische, rasche, ausgiebige,evtl. sogar heftige Zuckungen einzelneroder mehrerer Muskeln mit nennens-wertem Bewegungseffekt

rhythmisch, individuell weitgehendkonstante Frequenz, unter bestimmtenBedingungen besonders auftretend,mehr oder weniger konstant lokalisiertmit meist geringem Bewegungseffekt

nichtrhythmisch, regellos, wechselndlokalisiert, distal betont, kurzdauerndund relativ rasch, kurzdauernd extremeGelenkstellungen

wie Chorea, aber langsamer, mit über-triebener und lange andauernder Ex-tremstellung der Gelenke

Großhirnrinde

Nervus-facialis-Stammevtl. Fazialiskern

evtl. Stamm-ganglienaffektion

muskulär

peripheres motori-sches Neuron

peripherer motori-scher Nerv

zentrale Struktu-ren

zentrale Hauben-bahn mit Olive

Hirnrinde, Klein-hirnrinde

zentrales Nerven-system

Stammganglien

Stammganglien

Jackson-Epilepsie undandere fokale Epilepsi-en sowie die Epilepsiapartialis continuaKozevnikov ohne Be-wusstseinsstörung

vgl. Tic

Schreibkrampf (s. u.)

durch Beklopfen pro-voziert, durch Injekti-on von Cholinestera-sehemmern aktiviert

selten

1–3/Sekunde

Aktionsmyoklonus (s. u.)

physiologischerTremor6–12/Sekunde,essentieller Tremor6–11/Sekunde,Parkinson-Tremor3–6/Sekunde

evtl. halbseitigeHemichorea

Hemiathetosen oderAthetose double

Hirnschädigung ver-schiedener Ursachenmit anatomischer Alte-ration bzw. toxisch

mechanischeLäsion

extrapyramidale Er-krankung, eventuellpsychogen

verschiedene

vor allem chronischeLäsion der Vorderhorn-ganglienzellen, selte-ner des peripherenNervs bzw. Nerven-wurzel, eventuellbenigne

Radiotherapie, Guillain-Barré, hereditär, andere

vaskulär, degenerativ

erblich, anoxisch,Stoffwechselstörungen

erblich, toxisch, dege-nerativ

vaskulär, degenerativ,evtl. erblich, Stoff-wechselstörungen,infektiös

Icterus gravis, andereGeburtsschäden

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11.2 Vorwiegend motorische anfallsartige Phänomene 111

Fortsetzung Tabelle 11.1

Bezeichnung Phänomenologie Topische Ursachen BemerkungenZuordnung

Ballismus

Torsions-dystonie

LokalisierteDystonien

z. B. Torti-collisspasticus

Schreib-krampf

Faziobukko-lingualeDystonie

Tic und tic-ar-tige Bewegun-gen

Tic-Krankheit

Spasmusnutans

Ataxie

Intentions-tremor

Aktions-myoklonus

Synkinesien

unregelmäßige, weitausholende,schleudernde, blitzartige Bewegungenmehrerer Gliedmaßenabschnitte

unregelmäßige, langsame, gegen denWiderstand der Antagonisten sichdurchsetzende Bewegungen, oft rotie-rende Komponente, zahlreiche Muskel-gruppen verschiedener Körperabschnit-te betreffend, führt zu bizarren Stellun-gen

wie oben, aber lokalisiert an wenigenMuskelgruppen

wiederholte, langsame Kopfbewegun-gen, meist drehend, eventuell forcierteReklination (Retrokollis), regellos

nur bei Schreibakt dystone Fingerstel-lungen

Auf Mund-Zungen-Muskeln beschränkt

unregelmäßig, auf bestimmte Körper-teile begrenzt, rasch, aber nicht blitzar-tig

rascher als psychogener Tic, mitZwangshandlungen und Koprolalieeinhergehend

unregelmäßiges Kopfnicken, Geneigt-haltung des Kopfes, Nystagmus, der aneinem Auge ausgeprägter ist

bei Willkürbewegungen während desganzen Ablaufs von Anfang an Abwei-chen von Ideallinie

erst mit Annäherung an das Ziel zuneh-mend ausgiebiges und heftiges Abwei-chen von der Ideallinie

von Anfang an bei aktiven Bewegungenauftretende, heftige, blitzartig ein-schießende, ausgiebige, ruckartigeBewegungen

bei aktiver Innervation eines Muskels(oder Muskelgruppe) zwangsweisesMitinnervieren eines oder mehrereranderer Muskeln

Nucleus subthala-micus oder andereBasalganglien-Strukturen

Stammganglien

Stammganglien

Stammganglien

Stammganglien

Stammganglien

psychogen

Basalganglien bzw.Stammganglien

?

Störungen der sen-siblen Afferenzen,Kleinhirnaffektio-nen oder Störungder motorischenEfferenzen

Nucleus dentatusund seine Efferen-zen

Kleinhirn

lokalisierte Formen (s. u.)

kann in generalisierteDystonie übergehen

bleibt lokalisiert

Differenzierung ge-genüber organischenSpasmen und Dysto-nien

Auftreten im 1. Lebensjahr, Verschwinden mit 2 Jahren

wie Chorea

vor allem Icterus gra-vis, erbliche Form

eventuell nach Nacken-trauma

organisch

besonders medika-mentös, senil degene-rativ

nicht organisch

organisch, eventuellerblich

selten nach Neurolep-tikaentzug

psychogen?Aufenthalt in dunklemZimmer?

ähnliche Symptomebei Tumor des drittenVentrikels und Chias-mas

multiple

besonders häufig mul-tiple Sklerose

Anoxie, degenerativ,akute Urämie

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112 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

11.3 Anfallsartige Störungen des Muskeltonus

Die länger dauernden Anomalien des Muskeltonus werdenin Kap. 20 geschildert.

11.3.1 Generalisierte oder halbseitige anfalls-artige Tonuserhöhungen und gestörteBewegungsabläufe

● Generalisierte Spasmen mehr oder weniger der ganzenKörpermuskulatur finden sich beim bewusstlosen Pa-tienten, u. a. als „Dekortikations- und Dezerebrations-krämpfe“ („cerebellar fits“) (s. auch Abb. 5.4), bei Prozes-sen in der hinteren Schädelgrube (z. B. bei einer drohen-den Einklemmung des Hirnstammes in das Foramenmagnum) wie auch bei diffus-metabolischen (u. a. hypo-xischen) Enzephalopathien (hier ohne lokaliserendenCharakter!). Ohne Bewusstseinsstörung kommen genera-lisierte Spasmen beim Tetanus vor (Verletzung, Trismus,

evtl. Fieber). Eine mehr oder weniger dauernd vorhande-ne Tonuserhöhung aller Muskeln kann auch im Rahmeneines neuromuskulären Hyperaktivitätssyndroms beob-achtet werden (s. o.) Auch ein sog. Stiff-Man-Syndrom (s.S. 317) kann mit Episoden mit deutlicher Erhöhung desMuskeltonus („Krämpfe“) einhergehen (s. u.).

● Die tonischen Hirnstammanfälle („Hirnstammepilepsie“)treten stets halbseitig und stets auf der gleichen Seiteohne Beeinträchtigung des Bewusstseins auf (durch La-gewechsel oder Hyperventilation ausgelöst, schmerzhaf-te tonische Kontraktion aller Muskeln einer Körperseite,Arm in Flexions- und Bein in Extensionshaltung, dauertBruchteile einer Minute, von refraktärer Phase gefolgt).Ursächlich meist multiple Sklerose (jüngere Patienten),vaskulär (ältere), selten Tumor im Hirnstamm. ÄhnlicheEpisoden können, mit oder ohne Schmerzen, bilateral anden oberen Extremitäten bei zervikalen Plaques beob-achtet werden (sog. paroxysmale spinale Anfälle).

Fortsetzung Tabelle 11.1

Bezeichnung Phänomenologie Topische Ursachen BemerkungenZuordnung

– Globale Syn-– kinesien

– Koordina-– tionssyn-– kinesien

– Nachah-– mungssyn-– kinesien

– Synkinesien– nach Läsio-– nen periphe-– rer Nerven

okulogyreKrisen

Karpopedal-spasmen

tonische Hirn-stammanfälle

Restless legs

Akathisie

Zunahme einer Tonussteigerung bei ak-tiver Willkürinnervation

durch eine aktive Bewegung wird in ei-nem gelähmten Bereich eine entspre-chende Bewegungssynkinesie aus-gelöst

unwillkürliche Mitbewegung bei aktiverInnervation in einer anderen Körperre-gion

bei aktiver Betätigung eines Muskelswird ein anderer, vom gleichen periphe-ren Nerven versorgter, zwangsweisemitinnerviert

längere Zeit andauernde zwanghafteBlickwendung meist nach oben

maximale Kontraktion von Fuß- und Ze-henflexoren

meist schmerzhafte tonische Kontrakti-on von Muskeln einer Körperhälfte,Arm in Flexion, Bein in Extension, Dauerbis eine Minute

zwanghaftes Bewegenmüssen der Beine

nicht beherrschbarer Drang, stehend anOrt die Beine dauernd zu bewegen

Läsionen des Trac-tus cortico-spinalis

Läsionen des Trac-tus cortico-spinalis

Läsionen des Trac-tus cortico-spinalis

Läsion eines peri-pheren Nervs

Stammganglien

stoffwechselbe-dingt

Läsion Substantiareticularis, Hirn-stamm kontra-lateral

spinal

Stammganglien

z. B. bei zerebralen Be-wegungsstörungen

kann als Hilfe bei Re-habilitation dienen

normal bei Kindern,verstärkt bei Spasti-kern

z. B. Mitbewegungennach peripherer Fazia-lislähmung

besonders nach Ence-phalitis lethargica

auslösbar durch Hy-perventilation oderEsmarch-Binde amUnterschenkel

auslösbar z. B. durchLagewechselDD: paroxysmale He-miathetose, paroxys-male Hemichorea

besonders im Liegenoder Sitzen in weichenStühlen

verschiedene

verschiedene

verschiedene

Fehlsprossung nachKontinuitätsunterbre-chung verschiedenerAxone eines periphe-ren Nervenstammes

meist postenzephali-tisch

Hypokalzämie, beson-ders Tetanie

multiple Sklerose, vas-kulär, selten Tumor

idiopathische undsymptomatische Formen

Phenothiazinmedika-tion, Antiepileptika

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● Halbseitenspasmen sollen auch als Hemitetanie vor-kommen (im Rahmen einer Hyperventilation bzw.Panikstörung, was aber auch bei den tonischen Hirn-stammanfällen der Fall ist).

● Tonische Halbseitenanfälle kommen auch als partielleAnfälle im Rahmen einer Epilepsie vor.

● Als Pisa-Syndrom wird eine segmentale Dystonieform(s. o.), welche sich mit einer lang dauernden, tonischenNeigung und leichter Rotation des Rumpfes auf eine Sei-te einhergeht bezeichnet. Es wurde nach der Gabe vonButyrophenonen, aber auch nach Neuroleptika, Thymo-leptika und Cholinesterasehemmern beschrieben, wur-de vor allem auch bei dementen Patienten beobachtetund ist manchmal nach Absetzen des Medikamentes re-versibel.

● Die Kamptokormie stellt eine weitere segmentale Dys-tonieform dar, welche sich mit einer Vornüberbeugungdes Rumpfes manifestiert. Neben psychogenen Formenkönnen sekundäre Formen bei idiopathischem Parkin-son-Syndrom wie auch bei Parkinson-plus-Syndromen(u. a. Multisystematrophie) angetroffen werden.

● Mehr oder weniger symmetrische Spasmen der Extre-mitätenenden sind als Pfötchenstellung der Hände bzw.als Karpopedalspasmen im Rahmen der Tetanie bekannt(s. S. 116).

● Bei Tetanus treten lokalisierte oder generalisierte,schmerzhafte spastische Tonuserhöhungen auf.

● Symmetrisch, aber auf die Muskeln von Beckengürtelund Oberschenkel beschränkt sind die schmerzhaftenKontrakturen bei Morbus Addison und bei Hypopituita-rismus.

11.3.2 Lokalisierte anfallsartige Tonus-erhöhungen und gestörte Bewegungsabläufe

● Lokalisierte Spasmen können einzelne Körperregionenbetreffen. Hierzu gehört z. B. der Hemifazialspasmus,der synchron alle vom N. facialis versorgten Muskelnbetrifft, insbesondere auch das Platysma (Abb. 11.3). Erist meist Ausdruck einer Reizung der Fazialiswurzel beiihrem Austritt aus dem Hirnstamm durch eine Ge-fäßschlinge (Abb. 11.4), (normaler Neurostatus). Seltentritt er nach peripherer Fazialisparese auf, ebenso beiHirnstammtumoren (dann mit den Zeichen einer peri-pheren Fazialisparese oder anderen Ausfällen vonseitendes Hirnstammes einhergehend). Er ist differenzialdiag-nostisch abzugrenzen von fokalen epileptischen Anfäl-len (die immer über das N.-facialis-Gebiet hinausgehen)und auch von Synkinesien nach peripherer Fazialispa-rese (bei welchen als Ausdruck einer Fehlsprossungdurch die willkürliche Innervation einer Muskelgrup-pe auch Kontraktionen einer anderen obligat mit-ausgelöst werden), (Abb. 11.5). Bei der Trigeminusneu-ralgie begleitet oft eine halbseitige Schmerzgrimassedie Schmerzattacke (Tic douloureux). Ein hemimastika-torischer Spasmus ist durch die unwillkürliche, repetiti-

11.3 Anfallsartige Störungen des Muskeltonus 113

Abb. 11.3 47-jährige Patientin mit hemifazialem Spasmusrechts. Alle vom N. facialis innervierten Muskeln, inkl. das Pla-tysma kontrahieren sich immer wieder unwillkürlich synchron.

ve Aktivierung des M. masseter nur einer Seite charak-terisiert. Bei okulogyren Krisen werden die Bulbi syn-chron, aber konjugiert langsam auf eine Seite und meistnach oben gewendet. Dies kommt postenzephalitisch,aber auch bei lang dauernder L-Dopa-Medikation undauch als akute Dystonie (z. B. nach Gabe von Antiemeti-ka, s. o.) vor. Ein lokaler Tetanus am Ort der Infektionkann einer Generalisation vorausgehen.

● Wiederholt auftretende Spasmen können auch andereMuskeln oder Muskelgruppen betreffen, z. B. Spasmendes M. palmaris brevis, wie er z. B. bei intensivem Ge-brauch der Computermaus gesehen wird.

● Kurz dauernde, schmerzhafte lokalisierte Krämpfe (Kram-pi) betreffen zwar besonders oft die Wadenmuskulatur,können aber im Prinzip in beliebigen Muskelgruppenauftreten. Spontane Krampi der Waden (bretthartes,schmerzhaftes Anspannen der Wadenmuskeln, dauertBruchteile von Minuten an) im Bett bzw. in Ruhe auftre-tend, sind meist harmlos. Spontane Krampi der unterenund evtl. auch oberen Extremitäten können familiärgehäuft sowie in Assoziation mit Faszikulationen, Myo-kymien und Restless-Legs-Syndrom auftreten. Krampiin aktiv betätigten Muskelgruppen können Ausdruckeiner generalisierten Störung des Muskelstoffwech-sels sein, so z. B. eines Muskelphosphorylasemangels(McArdle-Erkrankung). Sie können aber auch Ausdruck

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114 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

Abb. 11.4 Hemifazialer Spasmus (b), ent-standen durch den Druck einer ektatischen A. basilaris (im MRT gut sichtbar [Pfeil],a) auf die austretende N.-facialis-Wurzellinks (aus: D. G. Garibaldi et al.: Arch Neurol 60 [2003] 626. Mit freundlicherErlaubnis des Autors).

a

b

einer lokalen Ischämie sein, sei es im Rahmen einer lo-kalen Gefäßstenose (Claudicatio intermittens), sei es imRahmen eines Kompartmentsyndromes (z. B. Tibialis-anterior-Syndrom in der Tibialisloge bei forcierterBetätigung der Fuß- und Zehenextensoren). Manchmalsind sie Zeichen einer chronischen spinalen Muskel-atrophie, z. B. bei ALS. Bei einer ALS können als frühesSymptom spontane Krämpfe der Waden angegebenwerden.

11.3.3 Anfallsartige Tonusverminderungenbzw. Tonusverlust (mit entsprechen-der „Lähmung“)

● Dieses kann generalisiert und plötzlich sein:–– Eine schlagartig einsetzende und nur extrem kurz

dauernde, allgemeine Lähmung ist das Versagen desMuskeltonus im Rahmen der Synkopen, wobei derenu. U. nur sehr kurz dauernde Bewusstseinsstörungdie Anfälle auch lediglich als Attacken von motori-scher Schwäche (Sturzanfälle) in Erscheinung tretenlässt (S. 118). Dies gilt besonders für die sog. DropAttacks (s. u.).

–– Bei Hirnstammanfällen (S. 112) kommt neben derhäufigeren tonischen Form auch eine atonische Formvor, die sich dann als kurz dauernde, meist lokali-sierte Schwäche, z. B. als Ptose auswirken kann.

–– Auch der kataplektische Anfall (affektiver Tonusver-lust) und der pathophysiologisch wahrscheinlichauch in den Hirnstamm zu lokalisierende und ischä-misch bedingte Lachschlag sind durch einen Tonus-verlust gekennzeichnet.

–– Schlaflähmungen im Rahmen des Narkolepsie-Kata-plexie-Syndromes (S. 77) müssen hier auch erwähntwerden.

–– Sturzattacken ohne Bewusstseinsverlust (sog. dropattacks, dérobement des jambes) entsprechen einemkurzem Erschlaffen der Beine mit Hinstürzen, ohneBewusstlosigkeit. Die Differenzialdiagnose solcherEpisoden ist sehr breit und beinhaltet neben einervertebrobasilären Durchblutungsstörung (selten als

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isoliertes Symptom, ältere Patienten, vaskuläre Risi-kofaktoren) u. a. auch eine Hydrozephalie, eine ex-trapyramidale Erkrankung (als Spätphänomen beimidiopathischen Parkinson-Syndrom, evtl. als Früh-symptom bei Parkinson-plus-Syndromen), einenmittelliniennahen Tumor, eine Läsion am kraniozer-vikalen Übergang (evtl. in Zusammenhang mit Hus-ten oder Koitus), eine pathologische Schreckhaftig-keit, eine otologische Erkrankung (meist MorbusMenière, mit sog. vestibulären „Synkopen“ oder Tu-markin-Syndrom), einen akzidentellen Sturz des al-ternden Menschen bei einer multifaktoriellen Gang-störung (die häufigste Ursache von rezidivierendenSturzattacken im Senium), eine Kataplexie (s. o.),und ein epileptisches Phänomen in Form von akine-tischen Anfällen im Rahmen des myoklonisch-astati-schen Petit Mal (Kinder, myoklonische Zuckungenund andere Petit-Mal-Symptome, evtl. kurze Be-nommenheit, entsprechendes EEG) oder beim Er-wachsenen als Ausdruck einer psychomotorischenEpilepsie (Bewegungen im Schlaf s. Kap. 7.4);

● Plötzlicher, aber lediglich lokalisierter Tonusverlust–– tritt ebenfalls, an den Beinen, an den Armen oder

im Bereiche der Kopfmuskeln im Rahmen einerKataplexie (meist durch Lachen ausgelöst, kurz dau-ernd, bilateral auftretend, bei erhaltenem Bewusst-sein) auf

–– oder eines partiellen atonischen Hirnstammanfalles● Partielle kurz dauernde eigentliche Paresen (S. 134 ff.).● Sehr rasch sich einstellender generalisierter Tonusverlust

tritt auf–– bei den autosomal dominant vererbten dyskaliämi-

schen familiären Lähmungen.–– Die häufigere, die hypokaliämische paroxysmale

Lähmung beginnt im zweiten Lebensjahrzehnt undverursacht etwa alle paar Monate während etwa ei-nem Tag, meist aus dem Schlaf heraus, eine fokaleoder (häufiger) generalisierte Lähmung (ohne Atem-und Gesichtsmuskulatur). Auslösend können Mus-keltätigkeit oder reichliche Kohlehydratzufuhr wir-ken. Das Serumkalium ist erniedrigt.

–– Bei der hyperkaliämischen Adynamia episodicahereditaria sind die Paresen häufiger, dauern nurwenige Stunden, sind oft auf die unteren Extremitä-ten beschränkt und gehen mit einer Hyperkaliämieeinher.

● Langsam progredient und nicht eigentlich anfallsartigauftretende Paresen:–– Hierzu gehören die Paresen bei symptomatischer

Hypokaliämie im Rahmen von Nierenstörungen,primärem Aldosteronismus oder bei gewissen Medi-kamenten.

11.3 Anfallsartige Störungen des Muskeltonus 115

Abb. 11.5 58-jährige Patientin. Status nach (kryptogenetischer) peripherer Fazialisparese rechts vor 5 Jahren.a In Ruhe keine signifikanten Anomalien. b Beim Versuch, die Stirne zu runzeln, kommt es zu einer pathologischen Mitinnervation des M. orbicularis oculi sowie des M. cani-

nus und des M. orbicularis oris rechts.

a b

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11.4 Episodisch auftretende Störungen der Koordination(episodische Ataxie)

Eine Reihe der auf S. 104 ff. erwähnten unwillkürlichen Be-wegungen können auch nicht ständig, sondern lediglichepisodisch immer wieder auftreten.● Eine paroxysmale Ataxie kann vorübergehend bei Into-

xikationen, aber auch bei der multiplen Sklerose oderselten auch bei der basilären Migräne in Erscheinungtreten.

● Verschiedene genetischen Formen von episodischenAtaxien (über Minuten bis Stunden andauernd) konn-ten identifiziert werden. Im Intervall können die Patien-ten Myokymien, myotone Reaktionen oder eine patho-logische Okulomotorik (u. a. mit Down-beat-Nystag-mus) aufweisen. Die Therapie mit Azetazolamid oderPhenytoin ist oft sehr wirksam (s. Kap. 12).

116 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

● Anfallsweise auftretende Chorea. Die paroxysmale Cho-reoathetose (während Minuten bis Stunden) kann ent-weder familiär (oft mit Paraspastik im Intervall assozi-iert) oder bei multipler Sklerose auftreten. Sie kannaber auch Ausdruck einer Überdosierung einer L-Dopa-Medikation sein.

● Anfallsweise können auch eine Dysarthrie und ein Nys-tagmus, evtl. bei multipler Sklerose oder familiär auf-treten.

● Schließlich können auch psychogene Bewegungsstö-rungen (u. a. ein psychogener Tremor, s. S. 106) episo-disch anfallsweise auftreten.

11.5 Anfallsartige, vorwiegend sensible Störungen

Die (anfallsartigen) Schmerzsyndrome werden in denKap. 17–21 abgehandelt.

11.5.1 Anfallsartige Missempfindungen undParästhesien

Diese werden aufgrund ihrer Lokalisation, ihrer Dauer, ih-rer Begleitphänomene und ihres Auslösungsmodus ätiolo-gisch zu deuten sein.● Einseitige Parästhesien großer Körperabschnitte oder gar

des ganzen Hemisoma kommen vor bei–– Läsionen im Bereich der postzentralen Großhirnrin-

de, so z. B. in der Erholungsphase nach einer Durch-blutungsstörung oder als primäre Parästhesien beieiner Migraine accompagnée; bei einer Migräne istdie Ausbreitung der Sensibilitätstörung langsamerals bei einer transienten ischämischen Attacken undfolgt auch nicht dem topographischen Muster einerspezifischen zerebralen Gefäßversorgung,

–– sensiblen fokalen Epilepsien oder einer sensiblenJackson-Epilepsie (dann mit March, also Ausbreitungder sensiblen Sensationen).

● Vorübergehende Funktionsstörung peripherer Nerven, inder Regel im Sinne einer Druckläsion. Dies kann je nachbetroffenem peripherem Nerv mit einer motorischenStörung kombiniert sein (z. B. bei Plexusläsionen oderDruckschädigung eines gemischten peripheren Nervs)oder aber nur sensibel sein, wenn ein rein sensiblerNerv, wie z. B. der R. superficialis n. radialis (Sensibi-litätsausfall radial am Handrücken), z. B. bei einer Fes-selung, betroffen ist.

● Die tonischen Hirnstammanfälle und die paroxysmalenspinalen Anfälle werden von paroxysmalen Schmerzen

einer (oder beider) Körperhälften begleitet, manchmaltreten letztere auch isoliert, ohne tonische Muskelsteifeauf. Die Ursache ist bei jüngeren Individuen praktischimmer eine multiple Sklerose. Letztere ist auch vermut-lich für lokalisierte, nur Minuten dauernde Anfälle vonSchmerzen und/oder paroxysmalen Parästhesien ver-antwortlich.

● Anfallsartige symmetrische Missempfindungen und Pa-rästhesien kommen vor–– bei basilärer Migräne, z. B. als Parästhesien der Hän-

de oder Perioralregion,–– als Nackenbeugezeichen (Signe de Lhermitte) wer-

den elektrisierende, in den Rücken, die Arme und/oder Beine ausstrahlende Sensationen beim Kopfnei-gen nach vorn bezeichnet; sie kommen z. B. vor beider multiplen Sklerose, nach Kopf-Nacken-Traumen,nach Röntgenbestrahlung der Körperachse oder beiintraspinalen Raumforderungen, bei Vitamin-B12-Mangel und seltener bei Entzündungen der hinterenSchädelgrube oder des Halsmarkes.

–– Bei der Tetanie sind die Parästhesien oft beidseitig,Hände und periorale Region, meist jüngere Individu-en und oft Frauen, Angstgefühl und Lufthunger, Hy-perventilation, Bewusstsein evtl. auch getrübt, Pföt-chenstellung der Hände, Karpopedalspasmus undpositiver Chvostek). Gelegentlich können die Gefühl-störungen einseitig auftreten (interessanterweiselinks häufiger als rechts).

● Lokalisierte Parästhesien sind meist Ausdruck einer Rei-zung eines sensiblen peripheren Nervs oder einer Ner-venwurzel. Lokalisation, Auslösungsmodus und evtl.weitere periphere Symptome (Paresen, Reflexe) erlau-ben die präzise Diagnose.

Mumenthaler, Bassetti, Daetwyler, Neurologische Differenzialdiagnostik (ISBN 313592405X), © 2005 Georg Thieme Verlag

● sensiblen fokalen Epilepsien mit Einbezug der Postzent-ralregion der Gegenseite,

● ebenso wie lokalisierte Parästhesien kann auch ein an-fallsweiser Sensibilitätsausfall bei einem vorübergehen-den, mehr oder wenig lang dauernden Funktionsausfalleines peripheren Nervs, z. B. bei äußerem Druck, einemGanglion oder einem Engpasssyndrom, auftreten.

11.6 Anfallsartige sensorische Störungen 117

11.5.2 Anfallsweise vorübergehende Sensibilitätsstörungen

Diese kommt vor bei● Durchblutungsstörungen u. a. in der Postzentralregion,

im Parietallappen oder im Thalamusbereich, sei es einvaskulärer Insult mit rascher Erholung, sei es eine sen-sible Migraine accompagnée,

11.6 Anfallsartige sensorische Störungen

11.6.1 Anfallsartige Störungen des Riechens

Während ein kurz dauernder anfallsartiger Ausfall des Ge-ruchssinnes nicht vorkommt, sind anfallsartige Geruchs-sensationen nicht so selten. Sie kommen ausnahmsweisebei Reizung des Bulbus olfactorius, wesentlich häufiger alsAusdruck einer epileptogenen Läsion des Unkus, der Amyg-dala oder Basis des Temporallappens oder im Parietallap-pen vor. Solche, meist unangenehmen Geruchssensationen(Kakosmien) können isoliert vorkommen, leiten aber vielhäufiger eine komplexere Temporallappen-Symptomatolo-gie ein oder begleiten eine solche. Diese Unzinatuskrisenkommen häufiger bei Tumoren als im Rahmen einer Resi-dualepilepsie vor. Man forsche also nach anderen Zeicheneiner Temporallappenepilepsie (s. S. 103) und nach Zeicheneines Hirntumors. Immer ist eine Bildgebung beim Vorlie-gen von Geruchshalluzinationen gerechtfertigt.

11.6.2 Anfallsartige Störungen des Sehens

● Anfallsartige Sehstörungen bzw. produktive visuelle Sen-sationen können–– monokulär sein; man hüte sich allerdings vor Ver-

wechslungen zwischen monokulären Störungen undsolchen von homonymen Gesichtsfeldern; mono-kuläre Störungen sind immer Ausdruck einer retro-bulbären oder bulbären Läsion, sei es aus dem oph-thalmologischen Bereich, sei es eine ischämische Lä-sion, z. B. im Rahmen einer Migräne.

–– Ein anfallsartiger Visusverlust eines Auges über Mi-nuten, oft dann rezidivierend, kann bei Migräne alsretinale (oder okuläre) Migräne vorkommen, u. U.auch ohne begleitendes Kopfweh.

–– Er kann aber auch bei vorübergehender Ischämie im Ausbreitungsgebiete der A. ophthalmica (odereines ihrer Äste) meist während Minuten auftreten(Amaurosis fugax). Es ist dann Ausdruck eines dortoder an der A. carotis interna lokalisierten Prozesses,seltener aber auch als kardioembolisches Phänomen.Bei dem Vorliegen einer Karotisstenose kann diesel-be auch von Symptomen der gegenüberliegendenKörperseite begleitet sein (sog. optikozerebralesSyndrom).

–– Als amblyopische Attacke tritt ein vorübergehenderoder aber auch über Stunden persistierender mono-kulärer Visusverlust bei Stauungspapillen (z. B. imRahmen eines Pseudotumor cerebri) auf, welchedurch rasche Kopfbewegungen oder plötzlichemAufstehen ausgelöst werden.

–– Ein einseitiger (oder beidseitiger) Visusverlust kannbei schwerer Karotisstenose bei plötzlicher Lichtex-position (z. B. beim Aussteigen aus der U-Bahn) auf-treten. Eine hämodynamisch bedingte, Klaudikatio-artige Störung im Bereiche der grenzwertig versorg-ten Retina wird hierbei diskutiert. Eine familiäreVariante dieses Syndroms ist auch bekannt.

–– Binokuläre Phänomene:–– Bei beidseitigem vorübergehendem Visusverlust

denke man an ein Aortenbogensyndrom (Visus-störung tritt beim Aufstehen oder bei Blutdruckab-fall auf, im Anfall fehlt die Lichtreaktion der Pupillen,es fehlen meist die Radialispulse) oder an die we-sentlich häufigere Ischämie der Okzipitalrinde(anamnestisch Angaben zunächst über Verlust desFarbsehens, erhaltene Lichtreflexe der Pupillen, Pati-enten mit vaskulären Risikofaktoren). Die letztge-nannte Störung erholt sich meist nach Tagen. Plötz-lich einsetzende, aber länger dauernde Sehstörun-gen s. S. 264.

–– Zu den produktiven binokulären Phänomenengehören als häufigste die anfallsartigen Gesichtsfeld-störungen im Rahmen der Migraine ophtalmique (s.S. 266). Es gehören aber dazu auch optische Halluzi-nationen bei Prozessen irgendwo in der Sehbahn(von der Retina bis zur Okzipitalrinde), bei Hirn-stammläsionen (v. a. mesenzephal und thalamisch).Sie sind umso geformter, je weiter rostral die Läsionist (Näheres s. S. 266). Ebenfalls bei Okzipitallappen-läsionen kommen Palinopsien vor (Bestehenbleibenoder verzögertes erneutes Wahrnehmen von vorhergesehenen Bildern). Dysmorphopsien (Gegenständewerden deformiert oder in ihrer Größe verändert ge-sehen) können anfallsweise bei Temporallappen-läsionen auftreten und finden sich auch bei Migräne(Alice-im-Wunderland-Syndrom).

Mumenthaler, Bassetti, Daetwyler, Neurologische Differenzialdiagnostik (ISBN 313592405X), © 2005 Georg Thieme Verlag

11.6.3 Anfallsweise Störungen des Hörens

● Anfallsartige Hörsensationen im Sinne abnormer akusti-scher Phänomene sind selten, z. B. als Parakusien (ab-norm laut oder „anders“ empfundene Geräusche) undakustische Halluzinationen bei Läsionen im Temporal-lappen. Auch anders lokalisierte Prozesse (z. B. im Cor-pus geniculatum und im Pons) können zu mehr oder

118 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

weniger komplexen akustischen Halluzinationen, z. B.das Hören von Melodien und Musik, führen. Längerdauernde Gehörsstörungen s. Kap. 26.

● Anfallsweise Hörverminderungen sind selten und kön-nen bei vorübergehenden lokalen Affektionen desGehörorganes vorkommen. Sie sind auch ein Symptomeiner besonderen Unterform des Morbus Menière, desLermoyez-Syndromes.

11.7 Anfallsweise Bewusstseinsstörungen

11.7.1 Vorbemerkungen

Zu der Pathophysiologie und den anatomischen Grundla-gen s. Kap. 5.1. Ob eine eigentliche Bewusstlosigkeit vorge-legen hat oder lediglich ein Zustand, für welchen der Pati-ent eine Amnesie hat, kann naturgemäß der Patient selberoft nicht beurteilen. Dies muss vielmehr durch Zusatzin-formationen eruiert werden.● Für eine echte Bewusstlosigkeit können vor allem Augen-

zeugenberichte sprechen: regloses Daliegen mit ge-schlossenen Augen, keine Reaktion auf Anrufe oderBerührung. Beim Fehlen solcher Beobachtungen spre-chen dafür bei einem Sturz erlittene Verletzungen, be-dingt auch das Wiedererwachen am gleichen Ort, anwelchem die Bewusstseinsstörung einsetzte, und einelängere Dauer derselben. Anhaltspunkte für Uhrzeitfehlen aber oft. Auf eine echte Bewusstlosigkeit kann in-direkt auch geschlossen werden, wenn andere Merkma-le für eben eine Störung mit bekannter Bewusstlosigkeitsprechen, so z. B. die charakteristischen Spuren einesGrand-Mal-Anfalles (s. u.).

● Gegen eine eigentliche, zumindest dauernde Bewusstlo-sigkeit können Beobachtungen von Augenzeugen spre-chen (hat Augen offen, agiert weiter, bewegt sich gezieltetc.), bedingt auch das „Wiedererwachen“ an einem an-deren Ort als der des Bewusstseinsverlustes.

11.7.2 Eigentliche Bewusstlosigkeit

Es hat eine eigentliche Bewusstlosigkeit vorgelegen. Diehierfür in Frage kommenden Kategorien und Ursachen sindin Tab. 11.2 zusammengefasst. Eine weitere Differenzierungkann bei Beachtung folgender Kriterien erfolgen:

–– Dauer (wenn präzisierbar)–– begleitende Phänomene–– Befunde während–– bzw. nach der Bewusstlosigkeit–– evtl. auslösende Ursachen–– frühere Vorgeschichte

● Die Bewusstlosigkeit hat nur Sekunden gedauert. In dieseKategorie fallen vor allem die Synkopen, dann aber auchgewisse epileptische Störungen.–– Synkope: Hierbei kommt es in der Regel auch zu ei-

nem Hinstürzen, evtl. mit meist leichten Verletzun-

gen. Die komplexe ätiologische Analyse einer Synko-pe würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Diehauptsächlichsten Kriterien seien nachfolgend auf-geführt und in Tab. 11.3 zusammengefasst.

–– Auf eine kardiale Ursache weisen höheres Alter, vorallem aber Pulsunregelmäßigkeiten, evtl. im EKGdemonstriert, sowie Anhaltspunkte für ein Herz-vitium (speziell Aortenstenose und Mitralklappen-insuffizienz) sowie das Auftreten bei Anstrengungenhin.

–– Für eine Regulationsstörung von Kreislauf und Blut-druck als Ursache spricht die Einleitung der Synkopedurch Schwarzwerden vor den Augen, unbestimm-tem Schwindel, initialem/prodromalem Schwitzenund objektive Blässe. Die Auslösung durch bestimm-te Mechanismen und andere Besonderheiten erlau-ben die Zuordnung zu bestimmten Unterkategorien.Beim idiopathischen Vasomotorenkollaps des Ado-leszenten fördern Hitze, Übermüdung und Emotio-nen die Synkope. Nicht selten kommt es zu Ver-krampfungen und gar Zuckungen, ja sogar zumEinnässen (konvulsive Synkope). Orthostatische Hy-potonie als Synkopenursache findet sich postinfek-tiös, beim Morbus Addison, bei Hypovolämie, beiEinnahme gewisser Pharmaka, im Rahmen einer Dys-autonomie bei Erkrankungen des peripheren oderzentralen Nervensystems. Starke Emotionen, wie dasSehen von Blut oder physischer Schmerz können beientsprechender Disposition zu vagovasalen Synko-pen führen. Schlucksynkopen, ebenso wie das Karo-tissinussyndrom sind Ausdruck einer Glossopharyn-geus- und dann Vagusreizung mit dadurch erzeugterBradykardie, Blutdruckabfall und Synkope. DieserMechanismus dürfte auch den vestibulären Synko-pen zugrunde liegen (im Anschluss an einen evtl.sehr kurzen Drehschwindelanfall auftretend) (vgl.auch S. 297). Die postpressorisch-reflektorischenSynkopen werden meist durch eine Kombinationvon Vagusreiz und Beeinträchtigung des venösenRückflusses zum Herzen verursacht. Hierzu gehörender Husten- und Lachschlag, die Miktionssynkopen,die Strecksynkopen und die Synkopen schwangererFrauen in Rückenlage.

–– Von Synkopen im engeren Sinne nicht immer gut un-terscheidbar oder überlappend, wegen einer extrem

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kurzen Bewusstlosigkeit sind die sog. Drop Attacks(s. o.). Stürze können als Frühsymptom eines begin-nenden atypischen Parkinson-Syndroms (v. a. bei dersupranukleären Paralyse Steel-Richardson-Olzewsky)auftreten oder als sogenannte kryptogenetischeSturzattacken der Frau („klimakterische Sturzsynko-pen“). Diese Gruppe stellt übrigens bereits den Über-gang zu den anfallsartigen (motorischen) Störungenohne Beeinträchtigung des Bewusstseins dar (s.S. 103).

–– Absenzen und ganz kurze absenzartige Episodenund Dämmerattacken im Rahmen einer Epilepsiedauern Sekunden bzw. Bruchteile von Minuten (s. Video 11.9). Im Gegensatz zur Synkope kommt esnicht zum Sturz, höchstens manchmal zu einem To-nusverlust mit unvollständigem Einknicken. Im Wei-teren wirken die Patienten (trotz ihrer Amnesie fürden Anfall) für den Beobachter keineswegs bewusst-los, sondern verändert, abwesend, aber haben die Au-gen offen und „handeln“ (Näheres s. deshalb unten).

● Die Bewusstlosigkeit hat Minuten bis zu Bruchteilen einerStunde gedauert.–– Das allerhäufigste ist ein echter primär oder sekun-

där generalisierter epileptischer Anfall (s. Video11.1). Hierfür sprechen gegebenenfalls Beschreibun-gen von Zeugen (plötzlicher Beginn, evtl. mit Schrei,

primär tonische und klonische Zuckungen, evtl. se-kundär auf fokale Phänomene folgend, Zyanose,anschließende dämmrig-verwirrte Aufwachphasevon ein bis zwei Minuten Dauer), das Vorliegen einesZungenbisses (Abb. 11.6) oder von Einnässen bzw.Einkoten, eine große Müdigkeit oder Gliederschmer-zen, epileptische Anfälle oder eine Epilepsieursachein der Vorgeschichte und eine erhöhte CPK bzw. er-höhtes Bromocriptin 15–20 Minuten nach dem An-fall. Der neurologische Untersuchungsbefund ist

11.7 Anfallsweise Bewusstseinsstörungen 119

Synkope

Absenzen (Petit Mal)

Dämmer-attacken

generalisierterepileptischerGrand-Mal-An-fall (primäroder sekun-där)

Commotio/Contusio cerebri

vaskulärerGroßhirninsult

Ischämie imBasilarisgebiet

Sekunden

Sekunden

Bruchteile von Minu-ten bis Minuten

wenige Minuten bis15 Minuten

Minuten bis Stunden

Minuten bis Stunden

Sekunden bis Stun-den

mehr oder weniger plötzlich, oft mitVorboten; zu Boden Sinken, meist reg-los; sofort wieder klar; einmalig, gele-gentlich wiederholt

plötzlich, Augen offen, kleine Bewegun-gen, kein Sturz, eventuell Tonusverlust,gehäuft pro Tag

dämmerig und abwesend, komplexemotorische Handlungen

immer mit tonisch-klonischen motori-schen Erscheinungen, Zyanose, eventu-ell Zungenbiss und Sphinkterinsuffizi-enz, langsames Erwachen (Dämmer-phase)

Schädel-Hirn-Trauma vorausgegangen,eventuell fokale neurologische Ausfälle

mit fokalen zerebralen neurologischenAusfällen (vor allem Hemiparese)

bei kurzer Ischämie: Drop attack (s.Synkope), länger andauernd, evtl. langdauerndes Koma, dann z. B. StörungenAugenmotilität und Tetraparese

Orthostase, vasovagal,kardial, vagovasal etc.

Petit-Mal-Epilepsie

Schläfenlappenläsionenverschiedener Genese

Läsion Großhirnkortexoder genuine Form

Schädel-Hirn-Trauma

(arterielle) zerebraleDurchblutungsstörung

basiläre Migräne, basilä-re Ischämie, evtl. Basila-risthrombose

ausnahmsweisekonvulsiv

meist Schulalter,provoziert durchHyperventilation

kann sekundär inGrand Mal überge-hen

eventuell CPK- undBromocriptinanstieg

CT nicht obligatpathologisch

Alter, vaskuläreRisikofaktoren

Tabelle 11.2 Kategorien und Charakteristika anfallsartiger Bewusstseinsverluste

Name Dauer Charakteristika und Ursachen BemerkungenBegleiterscheinungen

Abb. 11.6 Nach einem Grand-Mal-Anfall hinterließen die un-teren Schneidezähne eine Bissspur an der Zunge des Patienten.

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120 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

Tabelle 11.3 Charakteristika einiger ätiologischer Gruppen von sehr kurz dauernden Bewusstseinsverlusten und Sturzanfällen

„Sturzkrankheiten“ Vorkommen Provokation Prodromi

Orthostatische Hypotonie (Vasomotorenkollaps)

chron. Sympatikusdefekt Shy-Drager/Tabes

medikamentös Diuretika/BD ↓γ-Blocker/L-Dopa

Adoleszente evtl. Anämie/AZ ↓

Reflektorische Kreislaufsynkope (vagale Hemmung)

vagovasale Synkope Hyperventilation EmotionHitze/Angst etc. Schmerz

Schluck-S/IX-Neuralgie Paroxysmen

Karotissinussyndrom ältere Männer Karotisdruck

Pressorische Synkope (venöse Rückstauung)

„Husten- und Lach- Emphysematiker Hustenanfallschlag“ Lachanfall

Miktionssynkope Männer, Alkohol stehende Miktion

Hyperextension„Strecksynkope“/Kauern Kinder evtl. Absicht Hocke u.

Pressen!

Primär kardiovaskuläre SynkopeSubklavia-Anzapf. (Arm)

zervikobrachiale Aortenbogen-S. physischeStenosen z. B. Subaortenst. AnstrengungHerzvitien/-insuffizienz„sinoatriale Synkope“ Herzrhythmusstörg. evtl. Emotion Oppression/AngstAdams- AV-Block III positions- oft unvermitteltStoke-Anfall unabhängig

Respiratorischer Affektkrampfzyanotischer Affektkrampf Wut/Trotz

Kleinkinder Schreckweißer Affektkrampf Vorschulalter Schmerz

Echte reflektorische Menière-Krankheit evtl. evtl. Schwindel„vestibuläre“ Synkopen paroxysm. Lager.-S. Kopfbewegung Vertigo

Intermittierende vertebro- ältere, vaskuläre Risiko- evtl. Nausea/Schwindelbasiläre Durchblutungsstörung faktoren Kopfwenden Sehstörungen etc.

Kryptogene Sturzattacken Frauen mittleren nur im Gehen keinerlei Prodromider Frau Alters

im Rahmen einer EmotionKataplektischer Sturz Narkolepsie Lachen völlig unvermittelt

Schreck

„Temporale Ohnmacht“ psychomotorische evtl. Emotion psychomotorischeEpilepsie Aura möglich

evtl. mehrmals täglich.Grand-Mal-Anfall auftretend Schlafentzug evtl. Aura

jedes Alter Alkohol

Sturzanfälle (myoklonisch- Lennox-Gastaut-Syndromastatische) (Kinder)

Hysterische Anfälle (mit neurotische StörungenBewußtseinsstörung) Krankheitsgewinn

evtl. Kranke mit echtenStimulation Anfällen Zuschauer!

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11.7 Anfallsweise Bewusstseinsstörungen 121

Fortsetzung Tabelle 11.3

Sturz Begleitsymptome Bewusst- Konvul- Restitutionsein sion

keine Gesichtsblässekeine Tachykardie/Schwitzen

blasses Gesicht, kalterSchweiß, schwacher Puls,oberflächliche Atmung,Pupillen, weit, L-reaktiv, Herz-frequenz rasch

Puls langsam → (rasch)+ schwachPuls langsam + schwach

plethorisch gerötetes Gesicht(gestaute Venen!) Pulsschwach und rasch, evtl.Schwitzen

evtl. protrahiertesGesicht eher gerötet Erwachen; neurologische evtl. stertoröse Atmung Ausfälle u. Pyramidenzeichenevtl. neurologische Ausfälle möglich (TIA)(TIA!)

Gesicht blass-livide

evtl. protrahiertesGesicht blaß → zyanotisch* ErwachenPupillen weit + lichtstarr evtl. noch Babinski

weinen → (expiratorische)zusammensinken Apnoe → Zyanose → Sturz Kinder sind sofort wiederselten u. ± heftig bewusstseinsklar, evtl. erschöpft

Schreien → blass (bradykard)

evtl. persistierenderevtl. Nystagmus (Schwindel) Schwindel oder Vertigo

passagere neurologische Symp- neurologische Ausfälletome möglich (Nystagmus) vorübergehend möglich

keinerlei akzessorische Symp- Frauen können sofort wieder auf-tome (subjektiv und objektiv) stehen und weitergehen

zu Boden gleiten bleibt evtl. einige Sekunden bis Patient stehen mehr oder wenigerohne Verletzung Minuten regungslos am Boden rasch wieder auf, fühlen sich völlig

liegen wohlAtmung normal, Puls o. B.

unterschiedlich schlafähnlich (Puls und Gesichts- Aufstehen „wie wenn nichts wäre“,farbe o. B.) meist Wohlbefinden

sehr heftig evtl. Initialschrei, tonisch-klo- Dämmerzustand od. Terminalschlaf,nisch, Zyanose, Schaum Kopfschmerz, Babinski

heftig oder sinken Myokloni oder Astasie können sofort wieder aufstehenVerletzung möglich, kurz und weiterspielen

theatralisch-appellativ oft inadäquat gleichgültig evtl.aktiver Lidschluss etc. auch Dämmerzustand

Verletzungen normale somatische Befunde „bagatellisierend“selten

* evtl. stertoröse Atmung + Urinabgang

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nach dem Anfall normal (es sei denn, der Anfall sel-ber war Folge einer Affektion, die ihrerseits neurolo-gische Symptome verursacht oder es liegt eines derseltenen HH-Syndrome [Hemikonvulsions-Hemiple-gie-Syndrom] vor, also fokale, wiederholte, halbseiti-ge epileptische Anfälle – evtl. als Hemi-grand-Malmit Bewusstseinsverlust – mit anschließender He-miparese). Manchmal ist schon primär eine Differen-zierung verschiedener Epilepsieformen möglich, oftgelingt dies erst später durch weitere klinische undvor allem elektroenzephalographische Untersuchun-gen.

–– Für einen primären Grand-Mal-Anfall spricht dasFehlen von Vorboten, die eventuelle Schilderung desgeneralisierten Anfallsbeginnes, eine entsprechendeSchilderung früherer Anfälle und evtl. eine familiäreBelastung. Die zuverlässigsten anamnestischen Un-terscheidungsmerkmale sind die meist sofort undübergangslos wieder einsetzende Klarheit und Ori-entierung bei der klassichen Synkope (eine Ausnah-me hierzu kann die sog. konvulsive Synkope darstel-len, s. o.) und der Nachweis eines lateralen Zungen-bisses bei einer Grand-Mal-Epilepsie. Der Anfallspa-tient hingegen erreicht das völlig klare Bewusstseinerst über ein Zwischenstadium der Verwirrtheit.

–– Für eine fokale Epilepsie mit sekundärer Generalisie-rung spricht eine erinnerte oder von Zeugen be-obachtete initiale Phase des Anfalles: eine Aura,halbseitige Zuckungen oder epileptische „March“ beifokal motorischen oder Jackson-Anfällen, eine Däm-merattacke oder sonstige Symptome einer komple-xen partiellen Epilepsie (Temporallappenepilepsie)(Bewusst.Glob.temporal1.mpg) (s. S. 103).

–– Akute zerebrale Läsion mit begleitender kurzer Be-wusstlosigkeit. Hierfür spricht das Fehlen vonZuckungen und Krämpfen bei Beobachtung durchZeugen und das Fehlen der anderen oben genanntenVerdachtsmomente für eine Epilepsie. Einschrän-kend, wie schon oben erwähnt, sei auf zerebrale Lä-sionen hingewiesen, die ihrerseits nebst neurologi-schen Ausfällen auch eine symptomatische Epilepsieverursachen können. Für eine primäre zerebrale Lä-sion spricht im Weiteren das Vorhandensein einerentsprechenden Anamnese, vor allem aber von neu-rologischen Symptomen. Im Einzelnen suche mannach:

–– einem Schädel-Hirn-Trauma mit Commotio cerebri(Trauma in der Anamnese, evtl. aber im Rahmen derretrograden Amnesie vergessen; äußere Anhalts-punkte für ein Unfallereignis, Verletzungsfolgen amSchädel); man vergesse aber nicht, dass auch ein an-deres primäres zerebrales Geschehen (Epi-Anfalloder akute zerebrale Läsion) sekundär zu einemSturz mit Schädel-Hirn-Trauma führen kann,

–– einem vaskulären zerebralen Insult, vor allem imSinne einer transienten ischämischen Attacke derGroßhirnhemisphäre (Alter bzw. vaskuläre Risiko-faktoren, Strömungsgeräusche oder entsprechende

dopplersonographische Befunde an den zervikalenoder zerebralen Gefäßen, evtl. Emboliequelle, Hemi-symptome). Es sei hier allerdings betont, dass TIA ei-ne seltene Ursache von transienten Bewusstseins-verlusten darstellen. Seltener kommen basiläreDurchblutungsstörungen infrage (transitorischebeidseitige Parästhesien oder Paresen in der Vorge-schichte, Schwindelsensationen, andere Hirnstamm-symptome, evtl. Doppelbilder, beidseitige Pyrami-denzeichen), intrazerebrale Blutung (spontan oderbei arteriovenösem Angiom) (mit Kopfweh, Hemi-symptomen, typischem CT-Befund) oder akute Sub-arachnoidalblutung bei basalem Aneurysma (Sym-ptome s. S. 65).

Länger dauernde Bewusstlosigkeit s. Kap. 5, S. 53.

11.7.3 Kein eigentlicher Bewusstseinsverlust

Es hat nicht ein eigentlicher Bewusstseinsverlust vorgele-gen. Meist wird der Patient einen Zustand von Verwirrtheitund Desorientiertheit oder eine amnestische Störung er-lebt haben, für welche er keine Erinnerung hat.● Die Dauer der Störung beträgt nur wenige Sekunden.

–– Absenzen im Rahmen einer Epilepsie (s. o.): ist meistals einfache Absenz Ausdruck einer Petit-Mal-Epi-lepsie des Schulalters (zwischen 2. und 14. Lebens-jahr, das Kind hält während Sekunden in seinem Tuninne, starrer Blick, evtl. kleine Automatismen, Dut-zende und mehr im Tag; in der Sprechstunde provo-zierbar durch Hyperventilation; typisches EEG mit3/Sekunde Spikes-waves) (s. Video 11.9). Es kommenaber auch atypische Absenzen, z. B. Blitz-Nick- undSalaamkrämpfe im 1. Lebensjahr mit ruckartigen Be-wegungen (und typischem EEG mit Hypsarrhyth-mie) vor, ebenso im 1. Lebensjahrzehnt akinetischeSturzanfälle.

–– Dämmerattacken bei Temporallappenepilepsie(komplex partielle Anfälle) können u. U. auch nur Se-kunden dauern und sind dann schwer von den obenbeschriebenen Absenzen zu unterscheiden. Für eineDämmerattacke (s. Video 11.2 bis 11.4) sprechenhöheres Lebensalter, längere Dauer, selteneres Auf-treten, komplexere motorische Manifestationen undim Besonderen deutliches Nesteln, orale Automatis-men, wie Lecken, Schmatzen, Würgen, und komple-xere motorische Akte, wie z. B. Herumgehen, sowiedie Nichtauslösbarkeit durch Hyperventilation. Inmanchen Fällen wird erst das EEG entscheiden.

Bei der Unterscheidung zwischen Absenzen und kurzenDämmerattacken bei einer Temporallappenepilepsie soll-ten die in Tab. 11.4 angeführten Aspekte gebührend be-rücksichtigt werden.● Die Bewusstseinsstörung dauerte Minuten bis zu Stunden.

–– Dies kann als anterograde Amnesie auf ein Schädel-Hirn-Trauma folgen.

122 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

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–– Dämmerzustände bei Temporallappenepilepsie sindu. U. von längerer Dauer als die oben beschriebenenkurzen Dämmerattacken. Unsinnige, komplizierte,z. T. schlecht koordinierte Handlungen, starrer Blickund Unansprechbarkeit, evtl. mit oralen Automatis-men und Herumnesteln, können Minuten andauern.Der Extremfall ist die über Stunden andauernde „fu-gue épileptique“ (s. Video 11.3) und der eigentlicheStatus psychomotorischer Anfälle.

–– Der Petit-Mal-Status (Status pycnolepticus), selteneinmal ausgelöst durch eine Hypothyreose oder ei-nen anderen zusätzlichen Faktor, imponiert als langdauernde Veränderung des Bewusstseins und desVerhaltens. Die Patienten sind verlangsamt, sie wir-ken unbestimmt, wie in einem Traumzustand. Im-mer ist das EEG typisch und für die Diagnose ent-scheidend.

–– Hyperventilationstetanie: Hier geht der anfänglicheZustand von bewusst erlebter Benommenheit (s. u.)gelegentlich in eine Phase über, für welche der Pati-ent eine Amnesie hat. Meist wird aber eine auslö-sende Situation erinnerbar sein (Emotion, Angst),evtl. die Hyperventilationszeichen (s. u.). Oft hat derPatient noch nebelhafte Erinnerungen an die Zeit derBewusstseinsstörung. Objektiv handelt es sich meistum emotional überdurchschnittlich labile Personen.Eventuell findet sich ein positiver Chvostek oderTrousseau.

–– Hypoglykämien, z. B. im Rahmen eines Insulinoms,können Dämmerzustände mit Amnesie verursachen.

Das Handeln ist hierbei komplex, aber nicht eigent-lich geordnet (im Gegensatz zu den amnestischenEpisoden, s. u.), wenn auch nicht völlig unsinnig, wiebei den eingangs beschriebenen Temporallappenan-fällen.

–– Eine amnestische Episode wird vom Patienten we-gen der bestehenden Amnesie von einigen Stundenals „Verlust des Bewusstseins“ erlebt. Zeugen aller-dings werden immer bestätigen, dass der Patientkeineswegs bewusstlos war. Symptomatologie s.S. 69. Betont sei, dass die Handlungen während derEpisode selbst für komplexe Verrichtungen (eine Au-tofahrt, das Zubereiten einer Mahlzeit) durchaus ge-ordnet sind.

–– Schlafattacken/-anfälle und automatische Handlun-gen (s. Kap. 7) im Rahmen von Erkrankungen mit ex-zessiver Tagesschläfrigkeit können von Patientenund Ärzten nicht selten als Synkopen, Abwesenheits-episoden oder „fugues“ fehlgedeutet werden. Die An-gabe einer vorausgegangener Schläfrigkeit, das Auf-treten in Zeiten einer zirkadianen Minderung derWachheit (u. a. postprandial), der Nachweis eines er-höhten Schlafdruckes (Questionnaires, MSLT/MWT)und die Besserung durch Beseitung der Tagesschläf-rigkeit können diagnostisch hilfreich sein.

–– Auch für einen rein psychogenen Dämmerzustandhat der Patient keine Erinnerung. Symptomatologies. S. 61.

11.7 Anfallsweise Bewusstseinsstörungen 123

Kriterien Psychomotorische Anfälle Absenzen

Alter bei Erstmanifestation jedes, oft Erwachsene 1. und 2. LebensjahrzehntAnfallsdauer < 30 Sekunden, > 60 Sekunden meist < 15 Sekunden, selten

> 30 SekundenAura häufig, gelegentlich nie

einzige Manifestationpostparoxysmale Störungen häufig niegeistige Retardierung gelegentlich fast nieAutomatismen häufig, komplexe häufig, einfacheKloni gelegentlich gelegentlichHyperventilation wirkungslos provoziert AnfallEEG interiktal oft normal, gelegentlich Spitzen, häufig normal, bei Hyperventilation

scharfe Wellen frontal oder temporalHyperventilation kein Effekt typisches Bild

EEG iktal uni- oder bilaterale, temporale 3/Sekunden, Spitzen und Wellenoder frontale Entladungen generalisiert

Tabelle 11.4 Unterschiede zwischen psychomotorischen Anfällen bei Temporallappenepilepsie und Absenzen

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11.8 Anfallsartige Störungen vegetativer Funktionen

124 11 Anfallsartige wiederholte Störungen, unwillkürliche Bewegungen und Differenzialdiagnostik der Epilepsien

● Anfallsweises Schwitzen kann zahlreiche internmedizi-nische Ursachen haben (z. B. konsumierende Krankhei-ten, Hyperthyreose etc.), aber kann auch Ausdruck vonEmotionen sein (s. auch S. 320).

● Anfälle von verstärkter Nahrungsaufnahme (Megaphagieoder Polyphagie), mit oder ohne verstärktem Hunger(Hyperphagie) können bei Kleine-Levin-Krankheit wieauch bei hypothalamischen Erkrankungen beobachtetwerden. Sie können aber auch Ausdruck einer Hypogly-kämie (bei Insulintherapie, bei Insulinom) sein.

● Anfallsweises Herzklopfen hat vorwiegend internmedizi-nische Ursachen (Wolff-Parkinson-White-Syndrom, Hy-perthyreose, betaadrenerge Hyperaktivität, vegetativeDystonie). Es kommt aber auch als Teilsymptom beiTemporallappenattacken vor (anfallsweises Herzklop-fen, Lufthunger, Angstgefühl, Würgegefühl, das von derMagengrube zum Hals hinaufsteigt, Entfremdungsge-

fühl gegenüber der Umwelt, Mühe, sich zu konzentrie-ren). Diese Anfälle dauern Minuten bis Stunden. Bei derbereits erwähnten sogenannten betaadrenergen Hyper-aktivität treten ebenfalls spontan oder durch Isopro-terenol-Hydrochlorid-Infusionen ausgelöst Tachykar-dien, zugleich mit Angstgefühl, Nervosität, Atemnotund Zittern auf, die ebenfalls Minuten bis Stunden dau-ern können und deshalb von den erwähnten vegetati-ven Symptomen bei Schläfenlappenepilepsie abge-grenzt werden müssen.

● Anfallsweiser Schlaf ist in Kap. 7 beschrieben worden.● Anfallsweiser Sexualtrieb kann als Ausdruck einer endo-

krinen Störung eine abnorme Produktion von Sexual-hormon begleiten. Er kann aber auch im Rahmen desKleine-Levin-Syndromes vorhanden sein, häufiger je-doch bei Temporallappenattacken.

11.9 Anfallsartige Störungen des Verhaltens

Diese werden in den allermeisten Fällen eine● psychiatrisch-psychologische Ursache haben. Dazu ge-

hören charakterologische Besonderheiten, neurotischeVerhaltensstörungen, depressive Verstimmungen oderpsychotische Schübe.

● Selten werden aber auch organische Ursachen zu an-fallsweisen Störungen des Verhaltens führen. Dazu ge-hören–– Stoffwechselstörungen, wie z. B. Hypoglykämien, ei-

ne portokavale Enzephalopathie oder eine Wilson-Krankheit.

–– Endokrinopathien, wie besonders die Hypothyreoseoder der Hyperparathyreoidismus.

–– Intoxikationen, z. B. mit psychoaktiven Drogen.–– Eine Anosognosie, d. h. eine Verneinung des Krank-

seins, findet sich nach Läsionen der rechten Zentro-Parietalregion.

–– Zwanghaftes Weinen kommt einerseits als Anfalls-äquivalent vor, z. B. nach Hemiplegien, andererseitsfinden wir es als Enthemmungsphänomen ebensowie übrigens Zwangslachen bei Patienten mit echterBulbärparalyse und mit Pseudobulbärparalyse.

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