Newsletter 29 +++ November 2011 Haus der Wannsee … · 2 . Prof. Dr. Manfred Gailus . Elisabeth...
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Newsletter 29 +++ November 2011Haus der Wannsee-Konferenz
Manfred Gailus Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung Vortrag am 15. November 2009 in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Heiligenkult gilt als unprotestantisch. Gleichwohl haben auch Protestanten ihre eigenen Glaubenshelden, derer sie verehrend gedenken, Männer wie etwa Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller, Jochen Klepper und Karl Barth. Für die Zeit des Nationalsozialismus gibt es auch eine Reihe faszinierender Frauen, die das Zeug dazu hätten, in die inoffizielle protestantische Heiligen- und Heldengalerie aufgenommen zu werden. Elisabeth Schmitz wäre eine vorzügliche Kandidatin. 1893 in Hanau geboren, avanciert die 21jährige Studentin zur geschätzten Schülerin bei Adolf von Harnack und Friedrich Meinecke, der sie 1920 promoviert. Sie arbeitet als Studienrätin am Berliner Luisen-Oberlyzeum und hält lebhaften Kontakt zur freigeistig-liberalen, kulturprotestantischen Bildungsbürgerwelt der Harnacks, Meineckes, Hintzes und Troeltschs. Überliefert ist Elisabeth Schmitz intensiver Briefwechsel u. a. mit Karl Barth, Walter Künneth, Friedrich von Bodelschwingh, Martin Albertz, Gerhard Jacobi und Helmut Gollwitzer. 1933 empört sie sich, „dass von der Philosophie und Universität, überhaupt der gesamten Wissenschaft an {...] bis hin zur Frauenbewegung alles, aber auch alles restlos vor diesem Staat einfach umgefallen ist. Und soweit ich in eine oder mehrere dieser Kategorien hineingehöre, schäme ich mich dessen gründlich.“ In ihrer 1935 formulierten, subversiven „Denkschrift gegen die Judenverfolgung“ konfrontiert Elisabeth Schmitz oppositionelle Theologen und Kirchenführer mit ihren klaren Analysen und Kommentaren zum Zerfall der deutschen Zivilgesellschaft. In über 200 selbst gefertigten und im Großraum Berlin verschickten Exemplaren fordert sie ein bedingungs-loses Eintreten der Bekennenden Kirche und konkrete, praktische Hilfe für den verfolgten „Nächsten“ egal welcher Religionszugehörigkeit. Sie steht nicht nur mit dieser riskanten Aktion für eine aktiv gelebte, andere kirchliche Praxis. In der Berliner Nachkriegsgeschichte haben ihr sowohl die Universität wie auch die Schule und die Kirche lange die Anerkennung ihrer Lebensleistung verweigert.
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Prof. Dr. Manfred Gailus
Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung Im Jahr 1999, also vor gut zehn Jahren, konnte durch eine Publikation der Pfarrerin Dietgard Meyer zweifelsfrei enthüllt werden, dass es die Berliner Studienrätin Elisabeth Schmitz war, die 1935/36 anonym eine kluge und mutige Denkschrift gegen die Juden-verfolgung schrieb. Dieser sub-versive, gefährliche Text war in der Nachkriegszeit zwar vielfach gedruckt und als kirchlicher Wider-stand gelobt worden, aber man wusste nicht wirklich, von wem er stammte. Und kaum jemand konnte zum Zeitpunkt der Enthüllung 1999 mit dem Namen der tatsächlichen Verfasserin irgendetwas anfangen. Heute, zehn Jahre später, sieht es besser aus: So ganz unbekannt ist sie inzwischen nicht mehr, die Historikerin und Theologin Dr. Elisabeth Schmitz. In Hanau, ihrer Geburtsstadt, ehrten die Stadt und die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck die Denk-schriftautorin im November 2005 mit einem würdigen Gedenkstein. In Berlin, wo sie von 1915 bis 1943 lebte und arbeitete, fehlt es noch immer an angemessener Wahr-nehmung und Anerkennung ihrer Lebensleistung als ungewöhnlich scharfsichtige, vorausschauende „protestierende Protestantin“ und mutige Frau des christlichen Widerstands. Dankenswerter Weise hat Bischof Wolfgang Huber in seiner vielbeachteten Zehlen-dorfer Bußtagspredigt vom November 2002, und seither wiederholt, an ihr Wirken erinnert. Im Mai 2007 gab es in Berlin eine wissenschaftliche Konferenz zu Leben und Werk, aus der das erste Buch über Schmitz hervor-gegangen ist. 1 Bundeskanzlerin Angela Merkel hob anlässlich ihrer Gedenkrede zum 70. Jahrestag
Elisabeth Schmitz (23.08.1893-10.09.1977)
der Reichspogromnacht am 9. November 2008 das beispielhafte Verhalten der kritisch-aufmerksamen Studienrätin hervor: Schweigen, Achselzucken, Weg-sehen – so habe sich damals die Mehrheit der Deutschen verhalten. Elisabeth Schmitz, so die Bundes-kanzlerin, sei eine rühmliche „Ausnahme von der Regel des Schweigens“ gewesen. Ihr Stern ist zweifellos weiterhin im Aufsteigen begriffen. Inzwischen ist auch eine geschichtswissenschaftliche Bio-grafie erschienen. 2 Aber es bleibt noch viel zu tun, bis sie jenen Platz im kulturellen Gedächtnis der Stadt und darüber hinaus aller Deutschen einnimmt, der ihr aufgrund ihres herausragenden Denkens und Handelns in der Zeit der deutschen Katastrophe gebührt. Geboren 1893 im hessischen Hanau als dritte Tochter des Gymnasialprofessors August Schmitz, wächst Elisabeth Schmitz sehr behütet in wilhelminisch-bildungsbürgerlicher und kirchlich-frommer Umgebung auf. Nach dem Abitur 1914 beginnt sie ein Studium
der Germanistik, Geschichte und Theologie, anfangs in Bonn, seit 1915 in Berlin. Ihre bevorzugten Lehrer sind der berühmte Theologe und Kirchenhistoriker Adolf von Harnack sowie der führende deutsche Historiker Friedrich Meinecke. Im Jahr 1920 schließt sie ihr Studium vorläufig mit einer historischen Dissertation bei Meinecke ab. Thema ist Edwin von Manteuffel, ein erzkonservativer Politikberater des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. zur Zeit der Revolution von 1848/49. „Fräulein Doktor“, wie sie jetzt genannt wird, hätte durchaus das Zeug zu einer wissenschaftlichen Karriere gehabt, doch die zeitbedingten Barrieren für Frauen an Hochschulen um 1920 lassen ein solches Ziel unerreichbar erscheinen. Nach dem 1. Staats-examen 1921 tritt sie in den Höheren Schuldienst ein und absolviert gleichzeitig ein theo-logisches Ergänzungsstudium. Nach einer langen beruflichen Durststrecke des Wartens und der befristeten Verträge erhält sie 1929 endlich die langersehnte Studien-ratsstelle am Luisen-Oberlyzeum in Berlin-Mitte. Die wissenschaft-lichen Anregungen der Universität, die freundschaftlichen Kontakte zu namhaften Familien des haupt-städtischen Kulturprotestantismus, allen voran zum Hause Harnack, verwandeln die junge suchende Schmitz in eine moderne, kritische Protestantin: Sie liest Martin Rades Wochenblatt „Christliche Welt“, die linksliberale „Frankfurter Zeitung“, sie engagiert sich als Mitglied in der „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“, einem liberal-protestantischen Debattierclub, sie besucht politische Kundgebungen und Parteivorträge.
1 Vgl. Manfred Gailus (Hg.), Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung. Konturen einer vergessenen Biografie (1893-1977), Berlin 2008. 2 Vgl. Manfred Gailus, „Mir aber zerriss es das Herz“. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, Göttingen 2010. Für ausführliche Quellen- und Literaturangaben zum Thema sei auf diese Biografie verwiesen.
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Zu Hause, im Hanauer Familien-kreis mit den kirchlich-konser-vativen, etwas altmodischen Eltern und zwei älteren Schwestern, ist sie stets etwas neunmalklug, aufmüpfig, und politisch anstößig weit nach links orientiert: nicht DNVP, eher DDP oder SPD. 1933 erweist sich die kritische Protestantin von Anfang an als völlig immun gegenüber den mächtigen nationalen und völkischen Versuchungen, denen große Teile des deutschen Protestantismus zumindest zeit-weilig erliegen. Sie erlebt, wie die evangelischen Kirchen dem anschwellenden Nationalsozia-lismus bereitwillig, vielfach fasziniert, ihre Türen öffnen, um die „Ideen von 1933“ einströmen zu lassen. Mit Entsetzen sieht Schmitz, wie nationalsozialistische Pfarrer und Kirchenvolk in der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ ein „artgemäßes Christentum“ verkünden, wonach Rasse, Blut und Boden als geheiligte Werte einer göttlichen Schöpfungsordnung zu würdigen seien. Sie ist in höchster Alarmstimmung. Seit April 1933 beschwört sie einflussreiche Theologen und Kirchenführer wie Karl Barth, Friedrich von Bodelschwingh, Martin Niemöller, Walter Künneth und viele andere, gegen Unrecht und Verfolgung, besonders der Juden, zu protestieren. Mit Erbitterung habe sie feststel-
evangelische und jüdische Gemeinden müssen Kontakt zueinander aufnehmen; 3. die dog-matisch-theologische und die ethische Aufgabe seien gleichzeitig anzupacken. Die Kirche müsse sich um Menschen in den Konzen-trationslagern kümmern und generell für Humanität eintreten. Die Verfolgung der Juden und der „evangelischen Nichtarier“ erlebt Schmitz hautnah mit. Ihre lang-jährige Freundin, die Ärztin Martha Kassel, verliert infolge des „Arier-paragraphen“ (Berufsbeamten-gesetz vom 7. April 1933) ihr berufliches Einkommen. Im Brief an die Eltern vom 22. April 1933 berichtet Schmitz: „Gestern abend war Fr. Dr. [Kassel] wieder ganz verzweifelt. Sie sagte immerfort vor sich hin: ‚Warum hassen sie uns denn nur so? Ich kann es gar nicht verstehen. Es soll einer hingehen u. sie fragen.’ Und dann erzählte sie von der Kinderklinik, von all den Kindern, die sie operiert hat u. wie sie oft 6 x in der Nacht aufge-standen sei, um nach einem frisch operierten Kind zu sehen – u. dann kamen wieder dieselben Sätze. – Von jungen Menschen gehen sehr viele weg, weil sie ja hier nicht studieren können, wenigstens viele nicht, nach Frankreich, England, Spanien, Schweiz. Frankreich nimmt sie, scheints, mit offenen Armen auf. Aber Fr. Dr. denkt daran nicht. Sie fühlt sich ja gar nicht als Jüdin, hat es nie getan und ist fas- sungslos, dass man sie trennen will
Schmitz teilt mit der mittellosen evangelischen Christin jüdischer Herkunft seit Herbst 1933 ihre Dreizimmerwohnung in der Luisen-straße 67 (Berlin-Mitte). Spätere Versuche der NSDAP, nach Denunziation durch einen Blockwart die Studienrätin wegen angeblicher „Wohngemeinschaft mit einer Jüdin“ aus dem Amt zu drängen, scheitern. Tägliches Mitverhaftetsein in die Ausgrenzungserfahrungen ihrer nichtarischen Freundin Martha Kassel sowie deren Bruders, Rechtsanwalt Heinrich Kassel, Zugehörigkeit zum jüdischen Intellektuellenkreis um Julius Bab, die frühe Lektüre der Schriften Barths wie „Theologische Existenz heute!“ (Juli 1933) und intensiv-kritischer Briefwechsel mit dem reformierten Theologen – alles dies sind wesentliche Koordinaten, die Denken und Handeln der Schmitz seit 1933 bestimmen. Im September 1934 unterschreibt sie die „Rote Karte“, den Mitglieds-ausweis der BK, und gehört damit zur Bekenntnisgruppe um Pfarrer Gerhard Jacobi an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Zu-gleich besucht sie den soge-nannten „Mittwochskreis“ um Anna von Gierke in der Charlotten-burger Carmerstraße. Hier ver-sammelt sich ein intellektuell anspruchsvoller Zirkel von gebildeten Protestanten, nahezu alles, was Rang und Namen hat in der Hauptstadt.
len müssen, so schreibt sie im Februar 1934 an Barth, „daß von der Philosophie und Universität, überhaupt der gesamten Wissen-schaft an – und sie sollte doch auch im Gewissen gebunden - bis
„Ich wollte die Bekennende Kirche rufen zu ihrem Amt und zum Widerstand gegen die antichristlichen
Maßnahmen des Staates.“ (1)
hin zur Frauenbewegung alles, aber auch alles restlos vor diesem Staat einfach umgefallen ist. Und soweit ich in eine oder mehrere dieser Kategorien hineingehöre, schäme ich mich dessen gründlich.“ Als „Sofortprogramm“ regt sie in diesem Brief an den führenden Theologen der Bekennenden Kirche (BK) an: 1. Pfarrer haben ihre verfolgten Gemeindeglieder in Schutz zu nehmen; 2. katholische,
vom Deutschtum, wo sie doch deutsche Literatur u. Kunst u. Landschaft u. alles so liebt, so an Schlesien hängt u. noch vorhin sagte: Ans Vaterland ans teure schließ dich an – sei ungefähr das erste gewesen, was sie bei ihrem Lehrer gelernt habe. Ich sage dann immer, daß es ganz allein auf sie selbst und auf uns ankomme, ob sie deutsch sei – aber das schlägt ja alles nicht durch.“
Schmitz ist 1934 und 1935 kritisch begleitend an der Herausbildung der Kirchen-opposition beteiligt. Immer wieder ruft sie ihre Bekennende Kirche zu einem öffentlichen Wort gegen die rassistische Ausgrenzung und Verfolgung auf, vergeblich. Mit tiefer Empörung kritisiert sie brieflich Walter Künneths Anti-Rosenberg-Schrift „Antwort auf den Mythus“ (1935), ein Buch, das als autoritative Stimme der Beken-
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nenden Kirche in hoher Auflage verbreitet ist. „Sie reden über unser heutiges deutsches Judentum nicht anders als mit den heute beliebten Schlagworten von ‚dekadentem Weltjudentum’ und ‚Asphaltjuden-tum’ usw., und sie bringen es wirklich fertig zu behaupten, das nachchristliche Judentum suche letztlich nur sich selbst, es missbrauche die Völker und werde zum ‚Keimträger der Völkerver-giftung’, d. h. Sie kennen über-haupt nur das Zerrbild des Judentums, wenigstens reden Sie nur davon.“ Schmitz erinnert den Privat-dozenten der Theologie daran, wie viel die deutsche Wissenschaft Juden zu verdanken habe und an jüdische Stiftungen kultureller und sozialer Art. Seit dem Schock des Boykotts vom 1. April 1933 habe sie nichts mehr so erregt wie diese und ähnliche Stellen des Künnethschen Buches. Sie bittet den Theologen „herzlich und dringend“, sein Buch vor einer Neuauflage einer umfassenden Umarbeitung zu unterziehen.
In Berlin finden die antijüdischen Krawalle auf dem Kurfürstendamm statt, direkt vor der Haustür der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, deren Bekenntnisgruppe Schmitz angehört. Vor diesem Hintergrund beschließt Elisabeth Schmitz während der Sommerferien 1935, die sie wie immer in Hanau verbringt, mehr zu tun. Aber wie könnte sie mehr tun? Alle ihre Versuche: Briefe, Gespräche, Besuche, Bitten, Mahnungen, Erinnerungen waren vergeblich gewesen. Am 16. Juli schreibt sie aus Hanau ihrer Berliner Freundin Elisabet von Harnack eine Postkarte, die durch einen unscheinbaren, etwas kryptischen Satz am Rande aufschlussreiche Hinweise liefert: „Ich habe eine ‚kl. Erika’ erstanden u. lerne.“ Das heißt: Sie hat eine kleine Schreibmaschine gekauft und lernt Maschineschreiben. Wofür? Um „ihre Sache“, die sie seit Jahren schmerzlich umtreibt, nun endlich einmal gründlicher, offizieller, maschinenschriftlich und damit auch in größerer Anzahl von Schriftstücken an jene Stellen zu leiten, die das Thema angeht.
in Berlin, dem sie vertraut, zur weiteren Verwendung ab. Dieser unbekannte Pfarrer könnte nach Lage der Dinge Gerhard Jacobi von der Gedächtniskirche sein, den sie gut kennt. Jacobi ist zu dieser Zeit Präses der Bekennenden Kirche Berlin-Brandenburgs und somit der richtige Mann, um das brisante Papier an BK-Führungskreise weiterzuleiten. Es ist allerdings strittig, ob die Denkschrift auf der dritten BK-Synode der altpreußischen Union in Steglitz (23.-26. September) vorgelegen habe. Offizieller Beratungsgegenstand ist sie dort jedenfalls nicht – viel zu brisant, zu gefährlich.3 Im ersten Abschnitt, über-schrieben „Die innere Not“, schildert Schmitz die „Aufhetzung der öffentlichen Meinung“ und die „Folgen der Verhetzung“. Im wesentlichen präsentiert sie hier eine Sammlung einschlägiger Zitate aus NS-Blättern über antijüdische Maßnahmen sowie aus Artikeln oder Reden prominenter NS-Führer. Am häufigsten werden hier Julius Streicher und sein Wochenblatt „Der Stürmer“ zitiert.
„Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“ (2)
„Bis zu welcher Rohheit die Dinge gediehen sind, zeigt ein Vorgang in Nürnberg beim Faschingszug, über den es in der ‚Fränkischen Tageszeitung’ heißt: ‚Am heitersten wurde die ausziehende Judensipp-schaft, die in naturgetreuen Nach-
Im Sommer 1935 geht eine neue Welle nationalsozialistischer Gewalt gegen Juden über das Land - Übergriffe, die stellenweise pogromhafte Züge annehmen. Jüdische Geschäfte werden boy-kottiert, Gaststättenbesitzer erteilen „nichtarischen“ Gästen Hausverbot, Juden wird der Besuch von Schwimmbädern untersagt, jüdische Friedhöfe und Synagogen werden beschmiert oder zerstört, judenfeindliche Schilder vor Ortschaften ange-bracht, sogenannte „Rassen-schänder“ öffentlich vorgeführt und in Gestapo-Haft genommen.
Dieser verschlüsselte Satz von der „kleinen Erika“ ist ein wichtiges Indiz für ihren in diesem Sommer gefassten Plan, die Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ zu schreiben. Der zweifellos gefähr-liche Text entsteht zunächst handschriftlich in Hanau und Berlin. Diese originale Handschriften-fassung ist im Jahr 2004 in einem Hanauer Kirchenkeller aufgefunden worden, abgelegt und verstaubt in ihrer alten Aktentasche.
Am 5. September 1935 liefert sie ihr Memorandum bei einem namentlich nicht genannten Pfarrer
bildungen zu sehen war, aufgenommen.’ – Die CV-Zeitung bemerkt dazu: ‚Eine wirklich heitere Angelegenheit! Bürger eines Staates, die seit Generationen in ihm wurzeln, verlassen bestimmt nicht aus Vergnügen ihr Vaterland.’ – Und die, die das so heiter stimmte, sind ja wohl in ihrer großen Mehrzahl Glieder der evangelischen Kirche.“ Wiederholt weist Schmitz in der Denkschrift und in ihren Briefen auf einen Sachverhalt hin, der sowohl von Zeitgenossen wie auch von Theologen und Kirchenhistorikern nach 1945 übersehen wurde und harte Kirchenkritik enthält: Sehr
3 Die Denkschrift ist dokumentiert in: Gailus, „Mir aber zerriss es das Herz“, S. 223-252.
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viele NS-Propagandisten und Gewalttäter waren eingeschrie-bene Kirchenmitglieder, nominelle Christen, christliche Nationalsozia-listen. Gegen Ende dieses ersten Abschnitts verweist Schmitz auf den Rundbrief Nr. 1 der Bekennt-nisgemeinschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Nürnberg) vom 8. Mai 1935: Dieser Rundbrief bringe einen Bericht über das rasche Anwachsen der Bekenntnis-gemeinschaft in Franken, auf das er reichlich stolz sei. Binnen kurzem, so heiße es dort weiter, seien in Nürnberg und Fürth über 50 000 Mitglieder gezählt worden. In Nürnberg besprächen Männer-kreise der BK-Gruppen das Thema ‚Praktisches Christentum’. Nicht frei von Sarkasmus fügt Schmitz ihren Kommentar hinzu: „Vielleicht sorgt die Bayr. Kirche einmal dafür, dass man in ihren großen Bekenntnisgemeinschaften der Nürnberger Gegend in der Praxis etwas mehr vom praktischen Christentum merkt! Es ist tief beschämend, dass gerade diese Gegend des kath. Bayerns protestantisch ist.“ Einen zweiten Schwerpunkt dieser Anfangspassagen bilden Berichte über rassistische Maß-nahmen und Kundgebungen im Bereich der Gesundheitspflege und Ärzteschaft. Gewiss rührt ihre Wahrnehmungssensibilität an dieser Stelle aus der Freundschaft mit der Ärztin Martha Kassel. In einer zitierten Verlautbarung des Provinzialverbands der Ärzte Brandenburgs heißt es: „Wir deutschen Ärzte fordern daher Ausschluß aller Juden von der ärztlichen Behandlung deutscher Volksgenossen, weil der Jude die Inkarnation der Lüge und des Betrugs ist...“ Solches zielte unmittelbar auf die berufliche Existenz von Personen in ihrem Freundeskreis. Schmitz zitiert ferner aus einem Telegramm der Ärzte Mittelfrankens an Reichs-innenminister Frick (Dezember 1934), worin schwere Strafen für „jede versuchte körperliche Gemeinschaft zwischen deutscher Frau und Judenstämmling“ gefordert wird.
Dass sich etliche Personen im Schmitzschen Freundeskreis von solchen barbarischen ärztlichen Phantasien bedroht fühlen mussten, liegt auf der Hand. Schmitz zitiert ferner aus einem Artikel des Brandenburger Ober-präsidenten Wilhelm Kube, dessen Biographie bis 1933 eine gewisse Nähe zur evangelischen Kirche aufwies. Der Jude sei die personifizierte Verneinung, hin-gegen der Deutsche die „gott-gewollte und gottbedingte Schöpfungskraft“. Jude sei, deklariert Kube, wer mindestens 10 Prozent „jüdischer Blutsteile“ habe. Über das großstädtische Kulturleben urteilt der neue Oberpräsident: „An den – fast ausschließlich jüdisch geleiteten – Bühnen Berlins, Frankfurts, Hamburgs usw. herrschte ein Sauherdenton gemeinster Perversi-tät und frechster Kunstschändung. Wenn diese krummnasigen Theaterhuren männlicher und weiblicher Anatomie heute nicht überwiegend in Prag, Wien usw. säßen, sollte man sie noch nachträglich sterilisieren und einsperren.“ Faktisch war Oberpräsident Kube oberster Vorgesetzter der im Staatsdienst stehenden Studienrätin Elisabeth Schmitz. Sie beschränkt sich auf einen knappen Kommentar: Das Gewerbe des Ehrabschneiders und Verleumders gilt von jeher mit Recht als das erbärmlichste und verächtlichste. Und abgesehen von der menschlichen Verurteilung – sollte nicht auch uns das 8. Gebot gelten? Und sollte es nicht der Kirche aufgetragen sein, angesichts der unaufhörlichen Übertretung des Gebotes zu reden und nicht zu schweigen?“ Unter der Überschrift „Folgen der Verhetzung“ berichtet die Denk-schrift über die „Lage der Kinder“. Schmitz versammelt hier Beo-bachtungen aus ihrem Schulalltag und Berichte, die ihr zugetragen wurden. In einer kleinen Stadt, so heißt es, würden jetzt den jüdischen Kindern von den anderen immer wieder die Hefte zerrissen, das Frühstücksbrot weggenommen und in den Schmutz getreten.
Elisabeth Schmitz, (Datum unbekannt)
Es seien christliche Kinder, fügt Schmitz hinzu, die solches tun, christliche Eltern, Lehrer und Pfarrer, die solches geschehen ließen. Ein Lehrer in einer mitteldeutschen Stadt habe in seiner Schulklasse immer wieder gefragt: Wer ist nichtarisch? Er habe das einzige nichtarische Kind aus einer angesehenen evangelischen Familie damit immer wieder gezwungen, als einziges aufzustehen. Das Kind musste schließlich von der Schule genommen werden. Was, so fragt die Autorin, „soll aus den Seelen dieser Kinder werden, und was aus einem Volk, das solche Kinder-martyrien duldet? Und was aus der Jugend dieses Volkes, die in solcher Luft aufwächst und so missbraucht wird?“ Im zweiten Abschnitt „Die äußere Not“ beschreibt Schmitz anhand zahlreicher Beispiele die Folgen der NS-Gesetzgebung: Existenznot durch das Berufsbeamtengesetz, wirtschaftliche Not durch Boykott der Geschäfte. Hier sei ein wütender Konkurrenzkampf ent-brannt, in dem der Schwächere brutal zu Boden getreten werde. Es sei keine Übertreibung, wenn von einem Versuch der Ausrottung des Judentums gesprochen werde. Man habe von Anfang an gesagt, man brauche keine Bartholomäus-nacht dafür, man habe heute ‚andere Methoden’.
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Es fehle an präzisen Verlustlisten dieser Verfolgung, aber man müsse sich klarmachen, dass bereits Hunderte, vielleicht mehr Menschenleben dieser Verfolgung zum Opfer gefallen seien. Im dritten Abschnitt „Die Stellung der Kirche“ resümiert die Verfasserin, was sie angesichts aller dieser Ereignisse und Maß-nahmen zum weitgehenden Schweigen der Kirche, ihrer Bekennenden Kirche, zu sagen hat. Nahezu jeder sei heute unentrinnbar in diese „Schuld-gemeinschaft“ verstrickt. „Was soll man antworten auf all die verzweifelten Bitten, Fragen und Anklagen: Warum tut die Kirche nichts? Warum lässt sie das namenlose Unrecht geschehen? Wie kann sie immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teiles ihrer eigenen Glieder richten?
Warum schützt sie nicht wenigstens die Kinder? Sollte denn alles das, was mit der heute so verachteten Humanität schlechterdings unver-einbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein? (...) Menschlich geredet bleibt die Schuld, dass alles dies geschehen konnte vor den Augen der Christen, für alle Zeiten und vor allen Völkern und nicht zuletzt vor den eigenen künftigen Generationen auf den Christen Deutschlands liegen. (...) Daß es aber in der Bek. Kirche Menschen geben kann, die zu glauben wagen, sie seien berechtigt oder gar aufgerufen, dem Judentum in dem heutigen historischen Geschehen und dem von uns verschuldeten Leiden Gericht und Gnade Gottes zu verkündigen, ist eine Tatsache, angesichts deren uns eine kalte Angst ergreift. Seit wann hat der Übeltäter das Recht, seine Übeltat als den Willen Gottes auszugeben? Seit wann ist es etwas anderes als Gotteslästerung zu behaupten, es sei der Wille Gottes, dass wir Unrecht tun?“
Über die Verteilung und Aufnahme dieses ersten Teils der Denkschrift in den Wochen und Monaten seit September 1935 ist wenig bekannt. Auch Dietrich Bonhoeffer hält in diesen Wochen ein Exemplar in seinen Händen und schickt es an Pfarrer Julius Rieger in London. Nach allem, was wir wissen, kannten sich Bonhoeffer und Schmitz nicht persönlich. Vermutlich kursiert das anonyme Papier zunächst nur in wenigen Exemplaren. Die Wirkung ist begrenzt. Schmitz sammelt weiteres Material und schreibt bis Mai 1936 einen Nachtrag: „Folgen der Nürnberger Gesetze“. Sie tippt den gesamten Text auf Matrizen und erwirbt einen Verviel-fältigungsapparat. Vermutlich in ihrer Wohnung Luisenstraße 67 stellt sie eigenhändig 200 Exemplare her. Diese erweiterte Denkschrift verteilt sie an etwa zwanzig Adressen, direkt, persön-lich, vertraulich: Die Vorläufige Leitung der Bekennenden Kirche, an Landes- und Provinzialbruder-räte von Altpreußen, Kurhessen, Frankfurt, Nassau-Hessen, Würt-temberg, ferner an eine Reihe von Einzelpersönlichkeiten.
Propst Wilhelm Wibbeling bestätigt Elisabeth Schmitz die Verfasserschaft der Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“. Abgedruckt in: Erhart, H. [u. a.]: Katharina Staritz. Neukirchen-Vluyn 1999, S. 189.
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Im Nachtrag berichtet sie über die Praxis der Nürnberger Gesetze im nationalsozialistischen Alltag: Ehe, Hausangestelltenparagraph, Reichsbürgergesetz, Erziehung, Schule und Kinder, Arierparagraph in der Wirtschaft, Winterhilfe, ausländische Hilfsmaßnahmen. Unter Verwendung eines Artikels aus der Londoner Times beschreibt sie die deutschen Verhältnisse als „cold pogrom“ und belegt anhand von Zahlen die übergroße Sterblichkeit in den jüdischen Gemeinden. Abschlie-ßend zitiert sie die Osterbotschaft der Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche, in der das Wort ergriffen werde für „die Ehre des Wehrlosen“. Ihr wiederum kritischer Kommentar dazu: „Hier aber geht es längst schon nicht mehr um die Ehre. Es geht um die Existenz von Hunderttausenden, es geht um das nackte Leben.“
In einem Brief an Barth vom Juli 1936 schreibt sie dem Theologen: „Was ich will, ist vor allem dies: dass ich nicht als Privatperson XY einigen mir zufällig erreichbaren Pfarrern Material gebe, sondern dass die Kirche anerkennt, dass es sich um ein Gebiet handelt, das sie angeht, u. dass sie meine Arbeit in irgendeiner Form als einen ihr erwiesenen Dienst annimmt.“ Elisabeth Schmitz war mitver-haftet in die Schicksale ihrer nichtarischen und jüdischen Freunde. Von daher, durch starke Empathie für ihre Nächsten, bestimmte sich ihr aktuelles Denken und Empfinden im „Dritten Reich“. Aber es war nicht voraus-setzungslos, vielmehr strikt christ-lich-wertgebunden und liberal-pro-testantisch aufgeklärt in der Tradi-tion der Harnacks und des haupt-städtischen Kulturprotestantismus.
inzwischen unterrichtet, verengen sich die Spielräume. Neue Richtlinien für Schule und Unterricht verlangen die Erziehung zum nationalsozialistischen Men-schen, eine Zielsetzung, die Schmitz zutiefst zuwider läuft. Während der Osterferien 1938 nimmt sich die ihr nahestehende nichtarische Kollegin Dr. Lotte-Sophie Hartzfeld das Leben. Kirchlich hat sich Schmitz inzwischen von der Charlotten-burger Gemeinde der Beken-nenden Kirche um Pfarrer Jacobi abgewandt, der ihr zu ängstlich und moderat erscheint. Sie besucht vorzugsweise die berühmten Dahlemer Gottes-dienste des charismatischen Predigers Martin Niemöller. Nach dessen Verhaftung beteiligt sie sich an den täglichen Dahlemer Fürbittgottesdiensten und stellt Verbindung zu Helmut Gollwitzer
„Das Wort der Kirche ist nicht gekommen. Dafür haben wir das Grauenhafte erlebt und müssen nun weiter-leben mit dem Wissen, dass wir daran schuld sind.“ (3)
her. Zurückgekehrt von den Sommerferien 1938, sucht sie im September eine Aussprache mit Gollwitzer, der sie an den reformierten Pfarrer Wilhelm Niesel verweist.
Gemessen an allem anderen, was während der Hitlerzeit kritisch geschrieben wurde, war diese Schrift ein enorm starker, ein unerhörter und zweifellos gefähr-licher Text, stellte er doch die nationalsozialistische Politik an einem zentralen Punkt, der Rassenpolitik, fundamental in Frage. Es wäre gewiss nicht günstig gewesen, sich mit diesem Text in der Tasche von der Gestapo erwischen zu lassen. Nach meinen derzeitigen Schätzungen gab es bis Kriegsende überhaupt nur ca. 15 bis 20 Personen, die vollständig in dieses subversive Unternehmen eingeweiht waren, die also nicht nur den Text kannten, sondern auch wussten, wer ihn geschrieben hatte. Irgendwann im Sommer 1936 gelangte die Schrift auch über die Schweizer Grenze an Karl Barth in Basel. Viermal seit 1936 fuhr Schmitz in den Sommerferien in die Schweiz, um mit Barth über „ihre Sache“ zu diskutieren.
Sie handelte in Briefen, durch Gespräche, Vorträge. Da der Verfolgungsdruck permanent anstieg und vonseiten der Kirche wenig geschah, fasste sie den Entschluss zur Denkschrift, um aufzuklären und aufzurütteln. Es war eine mutige Tat: der Text selbst, die Beschaffung des Vervielfältigungsapparats, das Ab-ziehen von 200 Exemplaren, die Papierstapel in ihrer Wohnung, die riskante Verteilung an mehr als ein Dutzend Stellen. Die fromme Studienrätin in hochgeschlossener, weißer Bluse und im langen, grauen Faltenrock war damit zur Widerstandskämpferin geworden. Niemand sah ihr das an. Vieles, was sie unternahm, machte sie nicht allein, sondern im Kontext eines fein gesponnenen Netzwerks von gleich-gesinnten Mitstreiterinnen – still und äußerst verschwiegen. Das Jahr 1938 sollte zeigen, dass die Dramatik ihres Lebens noch steigerungsfähig war. 1938 wird das aufregendste Jahr ihres Lebens. Am Lankwitzer Lyzeum, wo sie
Ein Schmitz-Brief an Niesel zeigt, dass sie einen neuen Anlauf in „ihrer Sache“ plant: Seit nunmehr fünf Jahren steigere sich die Verfolgungsnot. Es könnte bald zu spät sein für Hilfe. Die Gemeinden müssten umfassender informiert werden über die Verfolgung ihrer nichtarischen Glieder. Wir, sagt Schmitz, hätten immer nur geschwiegen, wo wir hätten reden müssen. Wir schwiegen zur gewaltsamen Zerreißung der Ehen, zur erzwungenen Arisierung des Eigentums, das größtenteils nichts anderes als „Diebstahl“ sei. Wir dürfen die jüdische Gemeinde, die in absehbarer Zeit nur noch aus Hilfsbedürftigen bestehe, nicht sich selbst überlassen. Mit größerer Verbindlichkeit fordert Schmitz: Pfarrer und Laien müssten diese Einsichten gemeinsam beschließen und tragen, durch ein öffentliches Wort. Dieses sei durch Unterschrift zu bekräftigen. Sie sei bereit, ihren Namen zur Verfügung zu stellen.
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Wie frühere Initiativen ver-sandete auch dieser Vorstoß irgendwo in den Akten der Bruderräte. Die Tage um den 9. November 1938 versetzen Schmitz in einen permanenten Erregungs- und Unruhezustand, der sie krank macht und zur
Konsequenz hat, dass sie seit diesem Tag nicht mehr die Schule des „Dritten Reiches“ betritt. Zunächst lässt sie sich krank-schreiben. Aber zugleich hatte sie inzwischen aus Gewissensgründen entschieden, nicht weiter in der Schule eines Staates zu unter-
richten, dessen Regierung die Synagogen in Brand stecken lasse. Drei in kurzen Zeitabständen im November an Pfarrer Gollwitzer geschriebene Briefe erlauben, ihre Aktivitäten, Empfindungen und Reflexionen während dieser Schreckenstage zu rekonstruieren.
Gesuch von Elisabeth Schmitz um Versetzung in den Ruhestand aus dem Schuldienst vom 31. Dezember 1938. Abgedruckt in: Erhart, H. [u. a.]: Katharina Staritz. Neukirchen-Vluyn 1999, S. 206.
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Der erste Brief vom 14./15. November zeigt sie wiederum als akribische Sammlerin von Infor-mationen: „Im ganzen Reich begann nachts um 2.30 Uhr ‚spontan’ nach einheitlichem Plan die Aktion gegen die Synagogen und die Geschäfte, z. T. auch gegen Privatwohnungen, und die Verhaftungen. Die Verhaftungen dauerten gestern noch an, und es heißt, dass sie bis übermorgen noch weitergehen würden. Es wird die Zahl von 40 000 genannt, die gefordert worden sei. In München, Nürnberg, Breslau und wohl auch Frankfurt a. M. scheinen alle oder fast alle jüdischen Männer im Alter von 16-60 Jahren verhaftet zu sein. Daß in München die übrigge-bliebene jüdische Bevölkerung binnen 48 Stunden die Stadt verlassen musste, sagte ich wohl schon. Gestern früh wusste man hier in maßgeblichen jüdischen Kreisen noch nicht, wohin die Menschen gekommen sind. (...) Von den Berliner Rabbinern soll ein großer Teil verhaftet sein. Dr. Baeck ist frei.“ Wie bei ihrer Denkschrift zeigt sich Schmitz auch in dieser Krisenzeit sehr gut informiert. Sie muss einen Zugang zu „maß-geblichen jüdischen Kreisen“ gehabt haben, oder sie kannte jemand, der diesen Zugang hatte und ihr berichtete. Sehr konkrete Berichte ihres Briefes stammen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis: Martha Kassel, „ein Bekannter“, ein „Freund von uns“, „der Schuster meiner Freundin“, „meine Ärztin“. Seit Donnerstag den 10. November meidet die Studienrätin die Schule. Tagelang und vielleicht auch Nächte hindurch fährt sie durch die große Stadt, sieht hier und hört dort, besucht, erkundet und berichtet, führt Gespräche, telephoniert, empfängt Briefe und schreibt Briefe, liest Zeitungen, vor allem ausländische. Einige auf diesen Wegen erlangte Nach-richten fügt sie in den ersten Brief ein: „Selbst beim Anzünden der Synagogen scheint man einen Plan gehabt zu haben. Wenigstens
ist verschiedentlich berichtet worden, dass zuerst die Torarollen mit Brennstoff übergossen und angezündet wurden. Das Volk hat irgendwie verstanden, dass die Gebote verbrannt worden sind. Ein Autodroschkenchauffeur äußerte sich meiner Freundin gegenüber, die Gebote seien eigentlich sehr gut gewesen, man habe seine Kinder danach erziehen können. ‚Na, die haben sie ja jetzt verbrannt!’“ Schmitz berichtet von Plünde-rungen, an denen alle Kreise, Stände und Altersstufen der Bevölkerung beteiligt gewesen seien. In der Straßenbahn gingen derzeit Gespräche darüber, dass die Leute nicht die richtigen Schuhnummern bekommen hätten. In Zepernick (nordöstlich Berlins) hätten sie den Schwager eines Freundes abgeholt, einen pensio-nierten Beamten: „Seine Frau war nun allein in dem Häuschen. Um 5 Uhr kamen 20 Männer, darunter 3 Beamte, und schlugen im Haus alles kurz und klein, rissen die Heizkörper heraus (mit Eisen-stangen und Brecheisen), zer-schlugen die Fensterkreuze, die Treppe, stülpten die Badewanne um, zerstörten die Lichtleitung und ließen die Frau im Dunkeln in einer Dachkammer sitzen.“ Angesichts dieser Lage, so ihre Konsequenz gegenüber Gollwitzer, sei es ganz unmöglich, dass in wenigen Tagen ein Buß- und Bettag gefeiert werde, wo von all dem Geschehen keine Rede sein soll. Schmitz nimmt Bezug auf ein zuvor geführtes Gespräch mit dem Dahlemer Pfarrer und betont: „eine evangelische Kirche, noch dazu eine, die sich den Namen ‚bekennende Kirche’ gegeben hat, in einem Land, in dem geschehen ist, was in Deutschland geschieht, müsste sofort in allen Gemeinden Bußgottesdienste ansetzen. Und nun ist Bußtag und die Kirche sollte schweigen?“ Dieser Brief zeigt, dass Schmitz im Vorfeld der berühmten Bußtags-predigt Gollwitzers vom 16. November Einfluss auf den Dahlemer Theologen nahm und zu-
mindest dazu beitrug, dass er diese mutige Predigt tatsächlich hielt und nicht, wie zunächst erwogen, schwieg. Im überfüllten Gemeindesaal des Dahlemer Gemeindehauses spricht Goll-witzer als einer der ganz wenigen Pfarrer im Deutschen Reich kritisch und nimmt, wenn auch notwen-digerweise verschlüsselt, auf die Gewaltereignisse Bezug. „Ist nicht uns allen der Mund gestopft an diesem Tage? (...) Was hat nun uns und unserem Volk und unserer Kirche all das predigen und Predigthören genutzt die ganzen Jahre und Jahrhunderte lang...?“ In selbstkritischer Rede bezieht Gollwitzer auch die Bekennende Kirche in das große Versagen der Zeit ein und bekennt, dass „wir mit verhaftet sind in die große Schuld, dass wir schamrot werden müssen und mit gemeinsamer Schande behaftet sind. Es steckt ja in uns allen; dass man erleben kann, wie biedere Menschen sich auf einmal in grausame Bestien verwandeln, ist ein Hinweis auf das, was mehr oder weiniger verborgen in uns allen steckt. Wir sind auch alle daran beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere durch die Bequemlichkeit, die allem aus dem Wege geht, durch das Vorüber-gehen, das Schweigen, das Augenzumachen, durch die Träg-heit des Herzens, die auf die Not erst dann aufmerksam wird, wenn sie offen zu sehen ist, durch die verfluchte Vorsicht, die sich durch jeden schiefen Blick und jeden drohenden Nachteil von jedem guten Werk abbringen lässt,...“. Und was sollen wir nun tun, fragt Gollwitzer die Gemeinde: Teil-nehmen am Leiden der Nächsten, teilen, geben, sofern wir noch etwas haben – Gemeinschaft, Besitz, Ehre, Schutz, Freundschaft. Angesichts der knapp eine Woche zurückliegenden Pogromereignisse konnte kein Zweifel bestehen, wer dieser Nächste sei. Gollwitzer entlässt seine Hörer mit der Auf- forderung: „Nun wartet draußen unser Nächster, notleidend, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt
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„Im Namen von Blut und Rasse wird seit stark zwei Jahren die Atmosphäre in Deutschland unaufhörlich planmäßig vergiftet durch Haß, Lüge, Verleumdung, Schmähungen niedrigster Art in Reden, Aufrufen, Zeitschriften, Tagespresse, um die Menschen zu willigen Werkzeugen dieser Verfolgung zu machen.“ (4) und getrieben von der Angst um die nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die christliche Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat.“ Auch Elisabeth Schmitz und Martha Kassel gehören an diesem Mittwochvormittag zu den Dahlemer Predigthörern. Eine Woche später bedankt sich Schmitz und liefert dabei eine eindrucksvolle Situationsbeschrei-bung November 1938: nach der Predigt sei sie erfüllt gewesen von dem Gefühl: So, und nur so, könne und dürfe nach allem, was geschehen ist, eine christliche Gemeinde in Deutschland zusam-men sein. Ihre Freundin stehe jetzt vor der Emigration und Gollwitzers Worte hätten ihr aus Bitterkeit und Verzweiflung über die Haltung der Kirche herausgeholfen. Auch nach ihrem letzten Brief an Pfarrer Niesel, so resümiert Schmitz, sei das erwartete öffentliche Wort der Kirche nicht gekommen. „Dafür haben wir das Grauenhafte erlebt und müssen nun weiterleben mit dem Wissen, dass wir daran schuld sind. Als wir zum 1. April 33 schwiegen, als wir schwiegen zu den Stürmerkästen, zu der satanischen Hetze in der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte ‚Gesetze’, zu den Methoden von Buchenwald – da und tausendmal sonst sind wir schuldig geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, dass die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überlässt, ob er etwas sagen will, und was.“ Dringend geboten sei nun öffentliche Fürbitte für die Verfolgten, nicht allein für die Christen, sondern auch die Juden, die „40 000 oder mehr Verschleppten“.
Sie fragt, ob jemand auf die Idee gekommen sei, an Leo Baeck oder die jüdische Gemeinde im Namen der Kirche zu schreiben? Wo sollen die Gemeinden jetzt, wo ihre Gotteshäuser verbrannt seien, Gottesdienst halten? Nach Ankündigung der Regierung komme jetzt „zweifellos die völlige Trennung zwischen Juden und Nichtjuden. Es gehen Gerüchte um (...), dass ein Zeichen an der Kleidung beabsichtigt sei. Unmöglich ist nichts in diesem Lande, das wissen wir. (...) Wenn die ‚Gesetze’ da sind, ist es zu spät. Hierfür müssen die Gemeinden zugerüstet werden. Und weiter: Wir haben die Vernichtung des Eigentums erlebt, zu diesem Zweck hatte man im Sommer die Geschäfte bezeichnet. Geht man dazu über, die Menschen zu bezeichnen – so liegt ein Schluß nah, den ich nicht weiter präzisieren möchte. Und niemand wird behaupten wollen, dass diese Befehle nicht ebenso prompt, ebenso gewissenlos und stur, ebenso böse und sadistisch ausgeführt würden wie die jetzigen. Ich habe schon diesmal von grauenhaften blutigen Exzessen gehört. (...) Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“ Ihre seit Jahren geschärfte Aufmerksamkeit, ihr systematisches Hinhören und Wissenwollen statt Wegschauen, ihre ausgeprägte Fähigkeit, die schlimmen Zeichen der Zeit zu lesen – alles dies ermöglichte Schmitz ungewöhn-lichen Durchblick und Vorausschau. Bereits 1935 sprach sie von drohender „Ausrottung“ der Juden. Im September 1938 ahnte sie, was der Kriegszustand für die jüdische Existenz in Deutschland bedeuten
würde, im November 1938 rechnete sie mit der äußerlichen Kennzeichnung der Juden und sah darin ein Vorzeichen kommender Vernichtung. Es war ihre Nähe zur „jüdischen Erfahrung“, die sie immer wieder neue Vorstöße machen ließ, eine andere Theologie des Verhältnisses von Christentum und Judentum einzufordern. Mit ihrem jahre-langen Insistieren bei namhaften Theologen gab sie frühe Impulse zu einer fundamentalen Neufor-mulierung des christlich-jüdischen Verhältnisses, frei vom allgegen-wärtig-selbstverständlichen christ-lichen Antijudaismus. Insofern kann sie als Pionierin einer theologischen Jahrhundert-aufgabe gelten, die eigentlich erst Jahrzehnte nach der NS-Diktatur nachhaltig in Angriff genommen worden und bis heute nicht abgeschlossen ist. Aber wie sollte es jetzt für sie persönlich weitergehen, nach der tiefen persönlichen Zäsur der Pogromerfahrung? Seit dem 10. November erteilt sie keinen Unterricht mehr. Sie ist krank-geschrieben. Eine Dauerlösung konnte das nicht sein. Durch vertrauliche Gespräche mit ihr wohlgesonnenen christlich-konser-vativen Beamten in der Schulverwaltung findet sich ein Ausweg: Antrag auf Frühpensio-nierung. Ende Dezember 1938 richtet sie das folgende Gesuch an einen ins Vertrauen gezogenen Regierungsrat in der Schulver-waltung: „Hierdurch bitte ich um Versetzung in den Ruhestand zum 1. April 1939 und um Urlaub bis dahin. – Begründung: Ich befinde mich seit Monaten in einer zunehmenden inneren Unruhe und in starken seelischen Spannungen. Hierzu darf ich auf das in der Anlage beigefügt Attest verweisen. Es ist mir in steigendem Maße
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zweifelhaft geworden, ob ich den Unterricht bei meinen rein weltanschaulichen Fächern – Religion, Geschichte, Deutsch – so geben kann, wie ihn der nationalsozialistische Staat von mir erwartet und fordert. Nach immer wiederholter eingehender Prüfung bin ich schließlich zu der Über-zeugung gekommen, dass das nicht der Fall ist. Da dieser dauernde Gewissenskonflikt un-tragbar geworden ist, sehe ich mich genötigt, den obigen Antrag zu stellen.“ Ihrem Antrag wird stattgegeben. Seit dem 1. April 1939 ist die 45jährige Studienrätin frühpensio-niert und erhält das ihr zustehende Ruhegehalt.
Im Dezember 1938 emigriert ihre langjährige Freundin Martha Kassel, zusammen mit ihrem Ehemann, dem Arzt Dr. Max Seefeld, nach Argentinien. Schmitz erwirbt als Freundschaftsdienst deren „Kleinwohnheim“ in Wandlitz bei Berlin, ein idyllisch gelegenes Gartenhäuschen am Wandlitzsee, das ihr zum geliebten Refugium wird und das während der Kriegsjahre wiederholt als Unterkunft für Verfolgte und Untergetauchte dient. Schmitz engagiert sich weiterhin in der Dahlemer BK-Gemeinde um Gollwitzer, im Charlottenburger Mittwochskreis und zuletzt vor allem in der Friedenauer BK-Gemeinde um Pfarrer Wilhelm Jannasch. Hier leistet sie Besuchsdienste bei „nichtarischen Christen“ und erteilt Religions-unterricht bei konversionswilligen Juden. Hausbesuche bei Juden sind zu dieser Zeit bereits verboten. Sie gewinnt tiefe Einblicke in die Praxis der Verfolgungen und Deportationen, und sie weiß sehr genau, welches Schicksal die „Evakuierten“ im Osten erwartet. Irgendwann im Frühjahr des Jahres 1943 trifft sie die wichtige Entscheidung, sich aus der Gefahrenzone Berlin zurückzuziehen, nicht nur wegen der Luftangriffe. Die Verhaftungen von Mitstreiterinnen und Mit-streitern häufen sich, die Zugriffe der Gestapo kommen näher.
Im April 1943 wird Bonhoeffer verhaftet. Seit August 1943 wird der Dahlemer Kaufmann-Kreis, der inzwischen illegale Judenhilfe leistet, nach und nach inhaftiert. Dieser Kreis ging aus einer theologischen Arbeitsgemeinschaft hervor, der Schmitz jahrelang auch angehörte. Im September greift die Gestapo ihre Dahlemer Freundin Hildegard Schaeder wegen freund-schaftlichen Verkehrs mit Juden und bringt sie ins KZ Ravensbrück.
Im November 1943 brennt ihre Berliner Wohnung Luisenstraße 67 nach Bombentreffern vollständig aus. Sie verliert fast alles, vor allem trauert sie über ihre große Bibliothek. Das Kriegsende erlebt sie im ebenfalls schwer bomben-zerstörten Hanau, im Elternhaus, das glücklicherweise fast unzer-stört bleibt. Von 1946 bis 1958 kehrt sie in Hanau noch einmal in den Schuldienst zurück. Sie hat bis weit in die 50er Jahre hinein schwere Wiedergut-machungskämpfe wegen ihrer sieben versäumten Dienstjahre auszufechten, die man ihr zunächst nicht anrechnen will. Von ihrer Denkschrift spricht sie während der Hanauer Nachkriegsjahre nicht. Andere, die von ihrer Autorschaft vielleicht noch wissen oder hätten wissen können, sprechen auch nicht davon. Eine Anerkennung und öffentliche Würdigung ihrer anti-nationalsozialistischen Aktivitäten während der Diktatur erfährt sie zeitlebens nicht. Sie stirbt am 10. September im Alter von 84 Jahren in einem Offenbacher Krankenhaus. Als sie auf dem Hanauer Stadtfriedhof beigesetzt wird, sollen sieben Personen an der Zeremonie teilgenommen haben.
Die Frage, warum die hier erzählte Schmitz-Geschichte insgesamt noch immer so unbekannt und insbesondere das Geheimnis um ihre Denkschrift so spät enthüllt worden ist, verlangt viele Antworten und bleibt teilweise rätselhaft. Eine erste Erklärung liegt bei ihr selbst: Die Hanauer Protestantin war durch Familienherkunft und Erziehung auffallend zurückhaltend, bescheiden – eine Person, die sich nicht nach
vorn drängte und ihre Dinge an die große Glocke hängte. Niemals zu Nachkriegszeiten trat sie auftrumpfend hervor und enthüllte: Ich war es, ich schrieb die anonyme Denkschrift von 1935 gegen die Judenverfolgung! Eine zweite Erklärung dürfte die extreme Verschwiegenheit sein, die sie mit ihren Verbündeten und Weggefährtinnen während der Hitlerzeit eingeübt hatte. Das war eine überlebensnotwendige Tugend. Diese verinnerlichte Grundhaltung löste sich nach 1945 nicht einfach auf. Drittens ist die Anonymität des Memorandums zu bedenken. Irrtümlicherweise wurde der Text von Kirchenhistorikern der Nachkriegszeit einer anderen mutigen Frau des Kirchenkampfes zugeschrieben, Margarete Meusel, die ebenfalls für Verfolgte eintrat. Die falsche Zuschreibung geriet so für lange Zeit zu einer vermeint-lichen „kirchenhistorischen Tat-sache“. Schließlich gab es einige Kirchenführer der Bekennenden Kirche und namhafte Universitäts-theologen, die eingeweiht waren und die sich merkwürdigerweise zu Nachkriegszeiten nicht daran erinnern wollten. Jedenfalls taten sie nichts für die Aufdeckung des Geheimnisses, was eine Voraus-setzung für Anerkennung und Würdigung der Verfasserin noch zu Lebzeiten gewesen wäre. Bewertet man als Historiker die Lebensleistung der „protestieren-den Protestantin“ Elisabeth Schmitz vor dem Hintergrund des sehr weitreichenden Versagens der evangelischen Kirchen im „Dritten Reich“, so gebührt der Denkschriftautorin eine heraus-gehobene, nahezu singuläre Stellung in der protestantischen Gedenkkultur der Gegenwart und Zukunft. In der historischen und kirchlichen Erinnerung und Aufarbeitung protestantischen Ver-haltens im „Dritten Reich“ ist im Allgemeinen zugestanden worden, dass man den Verfolgten, besonders den „nichtarischen Christen“ als Gliedern der Kirchen, und den Juden nicht genügend geholfen habe.
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Tatsächlich aber hatte man nicht nur nicht genügend geholfen - über weite Strecken hatten die Evangelischen als antisemitische „Deutsche Christen“, als christliche Nationalsozialisten und als ange-passte obrigkeitstreue Lutheraner an völkischer Ausgrenzung und politischer Verfolgung aktiv teilge-nommen. In Thüringen beispiels-weise gründeten Universitäts-theologen und deutschchristliche Kirchenführer ein „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Die Gründungsfeier fand im Mai 1939 auf der Wartburg statt. Man publizierte ein von allem Jüdischen gereinigtes Neues Testament und ein mit deutsch-völkischen Lob-liedern angereichertes Gesang-buch.
In Mecklenburg richtete ein Nazi-Pfarrer eine kirchliche Sippen-kanzlei in Schwerin ein, um bei der Verfolgung zu helfen. In Berlin beispielsweise hatte sich Pfarrer Karl Themel als sippenforschender Nazi-Pfarrer durch Auswertung der Kirchenbücher direkt am Aufspüren „nichtarischer Christen“ beteiligt und meldete seine Forschungs-ergebnisse an Partei- und Staats-stellen weiter. Nach dem Krieg, als er pensioniert war, bestellte ihn das Konsistorium zum ehrenamtlichen Leiter des landeskirchlichen Archivs und ehrte ihn bei runden Geburtstagen mit Buchgeschenken und 1965 mit zehn Flaschen Sekt. Elisabeth Schmitz hingegen war in der Berliner Nachkriegskirche vollständig vergessen, man wusste nichts mehr von ihr.
Die historischen Schatten von Hitlerzeit und Holocaust sind lang und werden weit in das 21. Jahrhundert hinein und darüber hinaus reichen. Vor diesem Hintergrund fällt mir die folgende Prognose nicht schwer: Elisabeth Schmitz, die Unbekannte, die Vergessene, wird eines Tages als protestantische Ikone des 20. Jahrhunderts gelten und viel geehrt werden. Posthum wird ihr jene Würdigung zuteil werden, die sie eigentlich bereits zu Lebzeiten hätte erhalten müssen.
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Professor. Dr. MANFRED GAILUS: Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt „Protestantismus und Nationalsozialismus“, Hochschullehrer an der Technischen Universität Berlin. 2008 erschien der von ihm herausgegebene Sammelband „Kirchliche Amtshilfe – Die Kirche und die Judenverfolgung im 'Dritten Reich'“. Literatur: Gailus, Manfred: Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 320 S. (ISBN 978-3-325-55008-3). Zitate:
(1) Elisabeth Schmitz: Denkschrift „Zur Lage der Nation“ (1935/36) (2) Elisabeth Schmitz in einem Brief an Pfarrer Helmut Gollwitzer vom 24.11.1938 (3) ebenso. (4) Schmitz: Denkschrift
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Manfred Gailus
Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung 1935/36.
Biografie einer „protestierenden Protestantin“
Vor gut zehn Jahren, im Jahr 1999, konnte erstmals zweifelsfrei enthüllt werden, dass es die
Berliner Studienrätin Elisabeth Schmitz war, die 1935/36 anonym eine kluge und mutige
Denkschrift gegen die Judenverfolgung schrieb. Dieser subversive, im „Dritten Reich“ höchst
gefährliche Text war in der Nachkriegszeit zwar mehrfach gedruckt und als kirchlicher
Widerstand gelobt worden, aber man wusste nicht wirklich, von wem er stammte. Und kaum
jemand konnte zum Zeitpunkt der Enthüllung im Jahre 1999 mit dem Namen der
tatsächlichen Verfasserin irgendetwas anfangen.1 Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, sieht
es besser aus: So ganz unbekannt ist sie inzwischen nicht mehr, die Historikerin und
Theologin Dr. Elisabeth Schmitz. In Hanau, ihrer Geburtsstadt, ehrten die Stadt und die
Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck die Denkschriftautorin im November 2005 mit
einem würdigen Gedenkstein. In Berlin, wo sie von 1915 bis 1943 lebte und arbeitete, fehlt es
noch immer an angemessener Wahrnehmung und Anerkennung ihrer Lebensleistung als
ungewöhnlich scharfsichtige, vorausschauende „protestierende Protestantin“ und mutige Frau
des christlichen Widerstands. In seiner viel beachteten Zehlendorfer Bußtagspredigt vom
November 2002 hat der damalige Bischof Wolfgang Huber dankenswerter Weise an ihr
Wirken erinnert.2 Im Mai 2007 gab es in Berlin eine wissenschaftliche Konferenz zu Leben
1 Vgl. Dietgard Meyer, Elisabeth Schmitz: Die Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“, in: Hannelore
Erhart/Ilse Meseberg-Haubold/Dietgard Meyer, Katharina Staritz 1903-1953. Mit einem Exkurs Elisabeth
Schmitz. Dokumentation Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 185-269. 2 Wolfgang Huber, Unsere Kirche und ihre jüdischen Glieder in der Zeit des Nationalsozialismus. Predigt am 20.
November 2002 in der Paulus-Kirche in Berlin-Zehlendorf; jetzt auch in: Hildegard Frisius u.a. (Hg.),
Evangelisch getauft – als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden, Berlin 2008, S. 402-410.
2
und Werk von Elisabeth Schmitz, aus der das erste Buch über sie hervorgegangen ist.3 Vor
zwei Jahren, im März 2010, erschien meine Schmitz-Biografie unter dem Titel: „Mir aber
zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz“.4 Einige weitere Fortschritte
in der Gedenkarbeit sind inzwischen hinzugekommen: Im Oktober 2011 konnte an der
Beethoven Schule (vormals Auguste-Sprengel-Schule) in Berlin-Lankwitz, wo Schmitz
zuletzt während der NS-Zeit bis November 1938 unterrichtete, eine Berliner Gedenktafel
enthüllt werden.5 Zugleich anerkannte die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Elisabeth
Schmitz als „Gerechte unter den Völkern“.6 Eine von der EKD veranlasste und im November
2011 eröffnete Internet-Ausstellung zum evangelischen Widerstand im Nationalsozialismus
präsentiert das Wirken von Elisabeth Schmitz an herausgehobener Stelle.7
So ganz unbekannt ist die Berliner Historikerin und Pädagogin also inzwischen nicht mehr.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hob anlässlich ihrer Gedenkrede zum 70. Jahrestag der
Reichspogromnacht am 9. November 2008 das beispielhafte Verhalten der kritisch-
aufmerksamen Studienrätin hervor: Schweigen, Achselzucken, Wegsehen – so habe sich
damals die Mehrheit der Deutschen verhalten. Elisabeth Schmitz, so die Bundeskanzlerin, sei
eine rühmliche „Ausnahme von der Regel des Schweigens“ gewesen.8 Gewiss, der
Schmitzsche Stern ist in der allgemeinen und kirchlichen Erinnerungskultur zweifellos im
Aufsteigen begriffen. Aber es bleibt noch viel zu tun, bis sie jenen Platz im kulturellen
Gedächtnis der Stadt Berlin und darüber hinaus aller Deutschen einnimmt, der ihr aufgrund
3 Vgl. Manfred Gailus (Hg.), Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung. Konturen einer
vergessenen Biografie (1893-1977), Berlin 2008. 4 Vgl. Manfred Gailus, Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, Göttingen
2010 (2. Aufl. 2011). 5 Der Text ist im Internet unter „Berliner Gedenktafel“ zu sehen. Vgl. auch die Berichte auf der Homepage der
Beethoven Schule in Berlin-Lankwitz. 6 Der Antrag wurde vom Hanauer Geschichtsverein in Verbindung mit dem Hanauer OB Claus Kaminsky
gestellt. Vgl. hierzu: Irena Steinfeldt (Director Righteous Among the Nationas Department, Yad Vashem,
Jerusalem) vom 27.10.2011 an OB Claus Kaminsky in Hanau. Ferner den Bericht: Andreas Zitzmann, NS-
Geschichte in Hanau. Gerechte unter den Völkern, in: Frankfurter Rundschau (http://www.fr-online.de/hanau/ns-
geschichte-in-hanau-gerechte-unter-den-voelkern, 1472866, 11133170.html). 7 Aufzufinden im Internet unter „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“.
Die Ausstellung wurde (und wird) von der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte an der Universität
München bearbeitet. 8 Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Pogromnacht von 1938,
in: Regierung online (http:/www.bundesregierung.de), S. 1-3, S. 1.
3
ihres herausragend klaren Denkens und vorbildlichen Handelns in der Zeit der „deutschen
Katastrophe“ gebührt.
I
Geboren 1893 im hessischen Hanau als dritte Tochter des Gymnasialprofessors August
Schmitz, wuchs Elisabeth Schmitz sehr behütet in wilhelminisch-bildungsbürgerlicher und
kirchlich-frommer Umgebung auf. Nach dem Abitur 1914 an der Frankfurter Schiller Schule
begann sie ein Studium der Germanistik, Geschichte und Theologie, anfangs in Bonn, seit
1915 in Berlin. Ihre bevorzugten Lehrer waren der berühmte Theologe und Kirchenhistoriker
Adolf von Harnack sowie der führende deutsche Historiker Friedrich Meinecke. Im Jahr 1920
schloss sie ihr Studium vorläufig mit einer historischen Dissertation bei Meinecke ab. Ihr
Thema war Edwin von Manteuffel, ein erzkonservativer Politikberater des preußischen
Königs Friedrich Wilhelm IV., und seine reaktionäre Wirksamkeit zur Zeit der Revolution
von 1848/49.9 „Fräulein Doktor“, wie sie jetzt allenthalben genannt wurde, hätte durchaus das
Zeug zu einer wissenschaftlichen Karriere gehabt, doch die zeitbedingten Barrieren für
Frauen an Hochschulen um 1920 ließen ein solches Ziel unerreichbar erscheinen. Nach dem
1. Staatsexamen 1921 trat sie in den Höheren Schuldienst ein und absolvierte gleichzeitig ein
theologisches Ergänzungsstudium. Nach einer langen beruflichen Durststrecke des Wartens
und der befristeten Verträge erhielt sie 1929 endlich die langersehnte Studienratsstelle am
Luisen-Oberlyzeum in Berlin-Mitte. Die zahlreichen wissenschaftlichen Anregungen in der
renommierten Friedrich-Wilhelms-Universität, die freundschaftlichen Kontakte zu namhaften
Familien des hauptstädtischen Kulturprotestantismus, allen voran zum Hause Harnack,
verwandelten die junge suchende Schmitz in eine moderne, kritische Protestantin: Sie las
Martin Rades Wochenblatt „Die Christliche Welt“, die linksliberale „Frankfurter Zeitung“, sie
9 Vgl. Elisabeth Schmitz, Edwin von Manteuffel als Quelle zur Geschichte Friedrich Wilhelms IV., München/
Berlin 1921.
4
engagierte sich als Mitglied in der „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“, einem
liberalprotestantischen Debattierclub, sie besuchte während der revolutionär-unruhigen Zeiten
um 1918 politische Kundgebungen und Parteivorträge. Zu Hause, im Hanauer Familienkreis
mit den kirchlich-konservativen, etwas altmodischen Eltern und zwei älteren Schwestern, war
sie stets etwas neunmalklug, aufmüpfig, und politisch anstößig weit nach links orientiert: sie
bevorzugte nicht die DNVP, wie sonst sehr verbreitet im protestantischen Milieu, sondern
eher die linksliberale DDP, die Partei Friedrich Naumanns und des jungen Theodor Heuss,
oder sogar die SPD, was seinerzeit als anstößig weit links unter Protestanten galt.10
1933 erwies sich die kritische Protestantin von Anfang an als völlig immun gegenüber den
mächtigen nationalen und völkischen Versuchungen, denen große Teile des deutschen
Protestantismus zumindest zeitweilig erlagen. Sie erlebte, wie die evangelischen Kirchen dem
anschwellenden Nationalsozialismus bereitwillig, vielfach fasziniert, ihre Türen öffneten, um
die „Ideen von 1933“ einströmen zu lassen. Mit Entsetzen sah Schmitz, wie
nationalsozialistische Pfarrer und Kirchenvolk in der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“
ein „artgemäßes Christentum“ verkündeten, wonach Rasse, Blut und Boden als geheiligte
Werte einer göttlichen Schöpfungsordnung zu würdigen seien.11
Sie war in höchster
Alarmstimmung. Seit April 1933 beschwor sie einflussreiche Theologen und Kirchenführer
wie Karl Barth, Friedrich von Bodelschwingh, Martin Niemöller, Walter Künneth, Helmut
Gollwitzer und viele andere, gegen Unrecht und Verfolgung, besonders der Juden, zu
protestieren. Mit Erbitterung habe sie feststellen müssen, so schrieb sie im Februar 1934 an
Barth, „daß von der Philosophie u. Universität, überhaupt der gesamten Wissenschaft an –
und sie sollte doch auch im Gewissen gebunden sein – bis hin zur Frauenbewegung alles, aber
auch alles restlos vor diesem Staat einfach umgefallen ist. Und soweit ich in eine oder
mehrere dieser Kategorien hineingehöre, schäme ich mich dessen gründlich.“ Als
10
Ausf. zu dieser Lebensphase: Gailus, Der stille Widerstand, S. 38-57. 11
Vgl. Doris L. Bergen, Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill 1996;
Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung
des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001.
5
„Sofortprogramm“ regte sie in diesem Brief an den führenden Theologen der Bekennenden
Kirche (BK) an: 1. Pfarrer haben ihre verfolgten Gemeindeglieder in Schutz zu nehmen;
2. katholische, evangelische und jüdische Gemeinden müssen Kontakt zueinander aufnehmen;
3. die dogmatisch-theologische und die ethische Aufgabe seien gleichzeitig anzupacken. Die
Kirche müsse sich um Menschen in den Konzentrationslagern kümmern und generell für
Humanität eintreten.12
Die Verfolgung der Juden und der „evangelischen Nichtarier“ erlebte Schmitz hautnah mit.
Ihre langjährige Freundin, die Ärztin Martha Kassel, verlor infolge des „Arierparagraphen“
(Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933) ihr berufliches Einkommen. Im Brief an die Eltern
vom 22. April 1933 berichtete Schmitz: „Gestern abend war Fr. Dr. [Kassel] wieder ganz
verzweifelt. Sie sagte immerfort vor sich hin: ‚Warum hassen sie uns denn nur so? Ich kann es
gar nicht verstehen. Es soll einer hingehen u. sie fragen.’ Und dann erzählte sie von der
Kinderklinik, von all den Kindern, die sie operiert hat u. wie sie oft 6 x in der Nacht
aufgestanden sei, um nach einem frisch operierten Kind zu sehen – u. dann kamen wieder
dieselben Sätze. – Von jungen Menschen gehen sehr viele weg, weil sie ja hier nicht studieren
können, wenigstens viele nicht, nach Frankreich, England, Spanien, Schweiz. Frankreich
nimmt sie, scheints, mit offenen Armen auf. Aber Fr. Dr. denkt daran nicht. Sie fühlt sich ja
gar nicht als Jüdin, hat es nie getan u. ist so fassungslos, dass man sie trennen will vom
Deutschtum, wo sie doch deutsche Literatur u. Kunst u. Landschaft u. alles so liebt, so an
Schlesien hängt u. noch vorhin sagte: Ans Vaterland ans teure schließ dich an – sei ungefähr
das erste gewesen, was sie bei ihrem Lehrer gelernt habe. Ich sage dann immer, daß es ganz
allein auf sie selbst und auf uns ankomme, ob sie deutsch sei – aber das schlägt ja alles nicht
12
Elisabeth Schmitz vom 12.2.1934 an Karl Barth, in: Dietgard Meyer, „Wir haben keine Zeit zu warten“. Der
Briefwechsel zwischen Elisabeth Schmitz und Karl Barth in den Jahren 1934-1966, in: KZG 22, 2009, S. 328-
374, hier S. 350-356. Zu diesem Briefwechsel demnächst auch: Manfred Gailus, Karl Barth, Elisabeth Schmitz,
and her Denkschrift against the Persecution of Jews, in: [.....].
6
durch.“13
Schmitz teilte mit der mittellosen evangelischen Christin jüdischer Herkunft seit
Herbst 1933 ihre Dreizimmerwohnung in der Luisenstraße 67 in Berlin-Mitte. Spätere
Versuche der NSDAP, nach Denunziation durch einen Blockwart die Studienrätin wegen
angeblicher „Wohngemeinschaft mit einer Jüdin“ aus dem Amt zu drängen, scheiterten.14
Tägliches Mitverhaftetsein in die Ausgrenzungserfahrungen ihrer „nichtarischen“ Freundin
Martha Kassel sowie deren Bruders, Rechtsanwalt Heinrich Kassel, Zugehörigkeit zum
jüdischen Intellektuellenkreis um Julius Bab, die frühe Lektüre der Schriften Barths wie
„Theologische Existenz heute!“ (Juli 1933) und intensiv-kritischer Briefwechsel mit dem
reformierten Theologen – alles dies waren wesentliche Koordinaten, die Denken und Handeln
der Schmitz seit 1933 bestimmten. Im September 1934 unterschrieb sie die „Rote Karte“, den
Mitgliedsausweis der BK, und gehörte damit zur Bekenntnisgruppe um Pfarrer Gerhard
Jacobi an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.15
Zugleich besuchte sie den sogenannten
„Mittwochskreis“ um Anna von Gierke in der Charlottenburger Carmerstraße. Hier
versammelte sich ein intellektuell anspruchvoller Zirkel von gebildeten Protestanten, nahezu
alles, was zu jener Zeit Rang und Namen hatte in der Hauptstadt. Schmitz war 1934-35
kritisch begleitend an der Herausbildung der Kirchenopposition beteiligt. Immer wieder rief
sie ihre BK zu einem öffentlichen Wort gegen die rassistische Ausgrenzung und Verfolgung
auf - vergeblich. Mit tiefer Empörung kritisierte sie brieflich Walter Künneths Anti-
Rosenberg-Schrift „Antwort auf den Mythus“ (1935), ein Buch, das als autoritative Stimme
der BK in hoher Auflage verbreitet war. „Sie reden über unser heutiges deutsches Judentum
nicht anders als mit den heute beliebten Schlagworten von ‚dekadentem Weltjudentum’ und
‚Asphaltjudentum’ usw., und sie bringen es wirklich fertig zu behaupten, das nachchristliche
13
Elisabeth Schmitz vom 22.4.1933 an den Vater und die Schwester, in: Meyer, Elisabeth Schmitz: Die
Denkschrift, S. 215-217. 14
Vgl. Gailus, Der stille Widerstand, S. 106 f. 15
Zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisgemeinde und Pfarrer Jacobi im Kirchenkampf s. Gailus, Protestantismus und
Nationalsozialismus, S. 235-284; 540-553. Schmitz spielte in der BK-Gruppe dieser Gemeinde keine aktive
Rolle. Sie gehörte nicht, wie häufig geschrieben wird, dem „Vorstand“ (das wäre der Gemeindekirchenrat) dieser
Gemeinde an, sondern lediglich der viel seltener tagenden „Gemeindevertretung“, und zwar für die im Juli 1933
anlässlich der Kirchenwahl gebildete Liste „Evangelium und Kirche“.
7
Judentum suche letztlich nur sich selbst, es missbrauche die Völker und werde zum
‚Keimträger der Völkervergiftung’, d. h. Sie kennen überhaupt nur das Zerrbild des
Judentums, wenigstens reden Sie nur davon.“16
Schmitz erinnerte den Privatdozenten der
Theologie daran, wie viel die deutsche Wissenschaft Juden zu verdanken habe und an
jüdische Stiftungen kultureller und sozialer Art. Seit dem Schock des Boykotts vom 1. April
1933 habe sie nichts mehr so erregt wie diese und ähnliche Stellen des Künnethschen Buches.
Sie bat den Theologen „herzlich und dringend“, sein Buch vor einer Neuauflage einer
umfassenden Umarbeitung zu unterziehen.17
II
Im Sommer 1935 ging eine neue Welle nationalsozialistischer Gewalt gegen Juden über das
Land - Übergriffe, die stellenweise pogromhafte Züge annahmen. Jüdische Geschäfte wurden
boykottiert, Gaststättenbesitzer erteilten „nichtarischen“ Gästen Hausverbot, Juden wurde der
Besuch von Schwimmbädern untersagt, jüdische Friedhöfe und Synagogen wurden
beschmiert oder zerstört, judenfeindliche Schilder vor Ortschaften angebracht, sogenannte
„Rassenschänder“ öffentlich vorgeführt und in Gestapo-Haft genommen. In Berlin fanden die
antijüdischen Krawalle auf dem Kurfürstendamm statt, direkt vor der Haustür der Kaiser-
Wilhelm-Gedächtniskirche, deren Bekenntnisgruppe Schmitz angehörte.18
Vor diesem
Hintergrund beschloss Elisabeth Schmitz während der Sommerferien 1935, die sie wie immer
in Hanau verbrachte, mehr zu tun. Aber wie könnte sie mehr tun? Alle ihre Versuche: Briefe,
Gespräche, Besuche, Bitten, Mahnungen, Erinnerungen waren vergeblich gewesen. Am 16.
16
Vgl. Briefentwurf Elisabeth Schmitz vom 28.7.1935 an Prof. Dr. Walter Künneth, in: NL Hanau (Lüdecke).
S. auch: Walter Künneth, Antwort auf den Mythus. Die Entscheidung zwischen dem nordischen Mythus und
dem biblischen Christus, Berlin 1935. Hierzu kritisch: Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe,
München 2005, S. 219-221. Auffallend sei nach Piper Künneths ausgeprägter Wille gewesen, „dem rassistischen
Zeitgeist nach dem Munde zu reden“ (S. 220). 17
Ebd. (Briefentwurf Schmitz). 18
Zu dieser Welle antijüdischer Gewalt: Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der
nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 70-101, zu den Kurfürstendammkrawallen S. 85-88.
8
Juli schrieb sie aus Hanau ihrer Berliner Freundin Elisabet von Harnack eine Postkarte, die
durch einen unscheinbaren, etwas kryptischen Satz am Rande aufschlussreiche Hinweise
liefert: „Ich habe eine ‚kl. Erika’ erstanden u. lerne.“19
Das heißt: Sie hatte eine kleine
Schreibmaschine gekauft und lernte Maschineschreiben. Wofür? Um „ihre Sache“, die sie seit
Jahren schmerzlich umtrieb, nun endlich einmal gründlicher, offizieller, maschinenschriftlich
und damit auch in größerer Anzahl von Schriftstücken an jene Stellen zu leiten, die das
Thema anging. Dieser verschlüsselte Satz von der „kleinen Erika“ ist ein wichtiges Indiz für
ihren in diesem Sommer gefassten Plan, die Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“
zu schreiben. Der zweifellos gefährliche Text entstand zunächst handschriftlich in Hanau und
Berlin. Der Entwurf dieser originalen Handschriftenfassung ist im Jahr 2004 in einem
Hanauer Kirchenkeller aufgefunden worden, abgelegt und verstaubt in ihrer alten
Aktentasche. Am 5. September 1935 lieferte sie ihr Memorandum bei einem namentlich nicht
genannten Pfarrer in Berlin, dem sie vertraute, zur weiteren Verwendung ab. Dieser
unbekannte Pfarrer könnte nach Lage der Dinge Gerhard Jacobi von der Gedächtniskirche
gewesen sein, den sie seit Jahren gut kannte. Jacobi war zu dieser Zeit Präses der BK Berlin-
Brandenburgs und somit der richtige Mann, um das brisante Papier an BK-Führungskreise
weiterzuleiten. Es ist allerdings strittig, ob die Denkschrift auf der dritten BK-Synode der
Evangelischen Kirche der altpreußischen Union in Steglitz (23.-26. September) vorgelegen
habe. Offizieller Beratungsgegenstand war sie dort jedenfalls nicht – sie war in den Augen
führender Männer der BK offenbar viel zu brisant, viel zu gefährlich.20
Im ersten Abschnitt, überschrieben „Die innere Not“, schilderte Schmitz die „Aufhetzung
der öffentlichen Meinung“ und die „Folgen der Verhetzung“. Im Wesentlichen präsentierte
sie hier eine Sammlung einschlägiger Zitate aus NS-Blättern über antijüdische Maßnahmen
19
Elisabeth Schmitz vom 16.7.1935 an Elisabet von Harnack, in: Staatsbibliothek zu Berlin,
Handschriftenabteilung, NL Elisabet von Harnack, darin: Briefe Elisabeth Schmitz an Elisabet von Harnack
1917-1948. 20
Die Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ ist dokumentiert in: Gailus, Der stille Widerstand, S.
223-252.
9
sowie aus Artikeln oder Reden prominenter NS-Führer. Am häufigsten wurden hier Julius
Streicher und sein Wochenblatt „Der Stürmer“ zitiert. „Bis zu welcher Rohheit die Dinge
gediehen sind, zeigt ein Vorgang in Nürnberg beim Faschingszug, über den es in der
‚Fränkischen Tageszeitung’ heißt: ‚Am heitersten wurde die ausziehende Judensippschaft, die
in naturgetreuen Nachbildungen zu sehen war, aufgenommen.’ – Die CV-Zeitung bemerkt
dazu: ‚Eine wirklich heitere Angelegenheit! Bürger eines Staates, die seit Generationen in ihm
wurzeln, verlassen bestimmt nicht aus Vergnügen ihr Vaterland.’ – Und die, die das so heiter
stimmte, sind ja wohl in ihrer großen Mehrzahl Glieder der evangelischen Kirche.“21
Wiederholt wies Schmitz in der Denkschrift und in ihren Briefen auf einen Sachverhalt hin,
der sowohl von Zeitgenossen wie auch von Theologen und Kirchenhistorikern nach 1945
übersehen wurde und harte Kirchenkritik enthält: Sehr viele NS-Propagandisten und
Gewalttäter waren eingeschriebene Kirchenmitglieder, nominelle Christen, christliche
Nationalsozialisten. Gegen Ende dieses ersten Abschnitts verwies Schmitz auf den Rundbrief
Nr. 1 der Bekenntnisgemeinschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Nürnberg)
vom 8. Mai 1935: Dieser Rundbrief bringe einen Bericht über das rasche Anwachsen der
Bekenntnisgemeinschaft in Franken, auf das er reichlich stolz sei. Binnen kurzem, so heiße es
dort weiter, seien in Nürnberg und Fürth über 50 000 Mitglieder gezählt worden. In Nürnberg
besprächen Männerkreise der BK-Gruppen das Thema ‚Praktisches Christentum’. Nicht frei
von Sarkasmus fügte Schmitz ihren persönlichen Kommentar hinzu: „Vielleicht sorgt die
Bayr. Kirche einmal dafür, dass man in ihren großen Bekenntnisgemeinschaften der
Nürnberger Gegend in der Praxis etwas mehr vom praktischen Christentum merkt! Es ist tief
beschämend, dass gerade diese Gegend des kath. Bayerns protestantisch ist.“22
Einen zweiten Schwerpunkt dieser Anfangspassagen bilden Berichte über rassistische
Maßnahmen und Kundgebungen im Bereich der Gesundheitspflege und Ärzteschaft. Gewiss
rührte ihre Wahrnehmungssensibilität an dieser Stelle aus der Freundschaft mit der Ärztin
21
Zit. n. Gailus, Der stille Widerstand, S. 229 f. 22
Ebd., S. 230.
10
Martha Kassel. In einer zitierten Verlautbarung des Provinzialverbands der Ärzte
Brandenburgs hieß es: „Wir deutschen Ärzte fordern daher Ausschluß aller Juden von der
ärztlichen Behandlung deutscher Volksgenossen, weil der Jude die Inkarnation der Lüge und
des Betrugs ist...“23
Solches zielte unmittelbar auf die berufliche Existenz von Personen in
ihrem Freundeskreis. Schmitz zitierte ferner aus einem Telegramm der Ärzte Mittelfrankens
an Reichsinnenminister Frick (Dezember 1934), worin schwere Strafen für „jede versuchte
körperliche Gemeinschaft zwischen deutscher Frau und Judenstämmling“ gefordert wird.24
Dass sich etliche Personen im Schmitzschen Freundeskreis von solchen barbarischen
ärztlichen Phantasien bedroht fühlen mussten, liegt auf der Hand. Schmitz zitierte ferner aus
einem Artikel des Brandenburger Oberpräsidenten Wilhelm Kube, dessen Biografie bis 1933
eine gewisse Nähe zur evangelischen Kirche aufwies.25
Der Jude sei die personifizierte
Verneinung, hingegen der Deutsche die „gottgewollte und gottbedingte Schöpfungskraft“.
Jude sei, deklarierte Kube, wer mindestens zehn Prozent „jüdischer Blutsteile“ habe. Über das
großstädtische Kulturleben urteilte der neue Oberpräsident: „An den – fast ausschließlich
jüdisch geleiteten – Bühnen Berlins, Frankfurts, Hamburgs usw. herrschte ein Sauherdenton
gemeinster Perversität und frechster Kunstschändung. Wenn diese krummnasigen
Theaterhuren männlicher und weiblicher Anatomie heute nicht überwiegend in Prag, Wien
usw. säßen, sollte man sie noch nachträglich sterilisieren und einsperren.“26
Faktisch war
Oberpräsident Kube oberster Vorgesetzter der im Staatsdienst stehenden Studienrätin
Elisabeth Schmitz. Sie beschränkte sich auf einen knappen Kommentar: „Das Gewerbe des
Ehrabschneiders und Verleumders gilt von jeher mit Recht als das erbärmlichste und
verächtlichste. Und abgesehen von der menschlichen Verurteilung – sollte nicht auch uns
23
Ebd., S. 225. 24
Ebd., S. 226. 25
Ebd., S. 227. Wilhelm Kube, geboren 1887 in Glogau (Schlesien), gehörte bereits während seiner Studienzeit
dem völkischen Verein Deutscher Studenten (VDSt) an und gründete den Deutsch-Völkischen Studentenbund..
1928 trat er der NSDAP bei und war deren Fraktionsführer im Preußischen Landtag sowie NSDAP-Gauleiter der
brandenburgischen Ostmark bzw. Kurmark. Während der 1920er Jahre amtierte er zeitweilig als Kirchenältester
in der Gethsemane-Gemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg. In den Jahren 1931-32 gehörte er zu den Initiatoren der
„Glaubensbewegung Deutsche Christen“ im Raum Berlin-Brandenburg. 26
Ebd.
11
das 8. Gebot gelten? Und sollte es nicht der Kirche aufgetragen sein, angesichts der
unaufhörlichen Übertretung des Gebotes zu reden und nicht zu schweigen?“27
Unter der Überschrift „Folgen der Verhetzung“ berichtet die Denkschrift über die „Lage der
Kinder“. Schmitz versammelte hier Beobachtungen aus ihrem Schulalltag und Berichte, die
ihr zugetragen wurden. In einer kleinen Stadt, so heißt es, würden jetzt den jüdischen Kindern
von den anderen immer wieder die Hefte zerrissen, das Frühstücksbrot weggenommen und in
den Schmutz getreten. Es seien christliche Kinder, fügte Schmitz hinzu, die solches tun,
christliche Eltern, Lehrer und Pfarrer, die solches geschehen ließen. Ein Lehrer in einer
mitteldeutschen Stadt habe in seiner Schulklasse immer wieder gefragt: Wer ist „nichtarisch“?
Er habe das einzige „nichtarische“ Kind aus einer angesehenen evangelischen Familie damit
immer wieder gezwungen, als einziges aufzustehen. Das Kind musste schließlich von der
Schule genommen werden. Was, so fragte sich die Autorin, „soll aus den Seelen dieser Kinder
werden, und was aus einem Volk, das solche Kindermartyrien duldet? Und was aus der
Jugend dieses Volkes, die in solcher Luft aufwächst und so missbraucht wird?“28
Im zweiten Abschnitt der Denkschrift, überschrieben „Die äußere Not“, schilderte Schmitz
anhand zahlreicher Beispiele die Folgen der NS-Gesetzgebung: Existenznot durch das
Berufsbeamtengesetz, wirtschaftliche Not durch Boykott der Geschäfte. Hier sei ein wütender
Konkurrenzkampf entbrannt, in dem der Schwächere brutal zu Boden getreten werde. Es sei
keine Übertreibung, wenn von einem Versuch der Ausrottung des Judentums gesprochen
werde. Man habe von Anfang an gesagt, man brauche keine Bartholomäusnacht dafür, man
habe heute ‚andere Methoden’. Es fehle an präzisen Verlustlisten dieser Verfolgung, aber man
müsse sich klarmachen, dass bereits Hunderte, vielleicht mehr Menschenleben dieser
Verfolgung zum Opfer gefallen seien.29
27
Ebd., S. 228. 28
Ebd., S. 231 f. 29
Ebd., S. 234-240.
12
Im dritten Abschnitt „Die Stellung der Kirche“ resümierte die Verfasserin, was sie
angesichts aller dieser Ereignisse und Maßnahmen zum weitgehenden Schweigen der Kirche,
ihrer BK, zu sagen hatte. Nahezu jeder sei heute unentrinnbar in diese „Schuldgemeinschaft“
verstrickt. „Was soll man antworten auf all die verzweifelten Bitten, Fragen und Anklagen:
Warum tut die Kirche nichts? Warum lässt sie das namenlose Unrecht geschehen? Wie kann
sie immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch
politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teiles ihrer eigenen Glieder
richten? Warum schützt sie nicht wenigstens die Kinder? Sollte denn alles das, was mit der
heute so verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum
vereinbar sein? (...) Menschlich geredet bleibt die Schuld, dass alles dies geschehen konnte
vor den Augen der Christen, für alle Zeiten und vor allen Völkern und nicht zuletzt vor den
eigenen künftigen Generationen auf den Christen Deutschlands liegen. (...) Daß es aber in der
Bek. Kirche Menschen geben kann, die zu glauben wagen, sie seien berechtigt oder gar
aufgerufen, dem Judentum in dem heutigen historischen Geschehen und dem von uns
verschuldeten Leiden Gericht und Gnade Gottes zu verkündigen, ist eine Tatsache, angesichts
deren uns eine kalte Angst ergreift. Seit wann hat der Übeltäter das Recht, seine Übeltat als
den Willen Gottes auszugeben? Seit wann ist es etwas anderes als Gotteslästerung zu
behaupten, es sei der Wille Gottes, dass wir Unrecht tun?“30
Über die Verteilung und Aufnahme dieses ersten Teils der Denkschrift in den Wochen und
Monaten seit September 1935 ist wenig bekannt. Auch Dietrich Bonhoeffer hielt in diesen
Wochen ein Exemplar in seinen Händen und schickte es an Pfarrer Julius Rieger nach
London.31
Nach allem, was wir wissen, kannten sich Bonhoeffer und Schmitz nicht
persönlich. Vermutlich kursierte das anonyme Papier zunächst nur in wenigen Exemplaren.
Die Wirkung war begrenzt. Schmitz sammelte weiteres Material und schrieb bis Mai 1936
30
Ebd., S. 241 f. 31
Vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, Gütersloh 81994, S. 557 f.; Christine-Ruth
Müller, Dietrich Bonhoeffers Kampf gegen die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung der Juden,
München 1990, S. 169.
13
einen Nachtrag: „Folgen der Nürnberger Gesetze“. Sie tippte den gesamten Text auf Matrizen
und erwarb einen Vervielfältigungsapparat. Vermutlich in ihrer Wohnung Luisenstraße 67
stellte sie eigenhändig 200 Exemplare her. Diese erweiterte Denkschrift verteilte sie an etwa
zwanzig Adressen, direkt, persönlich, vertraulich: Die Vorläufige Leitung der BK, an Landes-
und Provinzialbruderräte von Altpreußen, Kurhessen, Frankfurt, Nassau-Hessen,
Württemberg, ferner an eine Reihe von Einzelpersönlichkeiten.32
Im Nachtrag berichtete sie über die Praxis der Nürnberger Gesetze im
nationalsozialistischen Alltag: Ehe, Hausangestelltenparagraph, Reichsbürgergesetz,
Erziehung, Schule und Kinder, Arierparagraph in der Wirtschaft, Winterhilfe, ausländische
Hilfsmaßnahmen. Unter Verwendung eines Artikels aus der Londoner Times beschrieb sie die
deutschen Verhältnisse als „cold pogrom“ und belegte anhand von Zahlen die übergroße
Sterblichkeit in den jüdischen Gemeinden. Abschließend zitierte sie die Osterbotschaft der
Vorläufigen Leitung der BK, in der das Wort ergriffen werde für „die Ehre des Wehrlosen“.
Ihr wiederum kritischer Kommentar dazu: „Hier aber geht es längst schon nicht mehr um die
Ehre. Es geht um die Existenz von Hunderttausenden, es geht um das nackte Leben.“33
Gemessen an allem anderen, was während der Hitlerzeit kritisch geschrieben wurde, war
diese Schrift ein enorm starker, ein unerhörter und zweifellos gefährlicher Text, stellte er doch
die nationalsozialistische Politik an einem zentralen Punkt, der Rassenpolitik, fundamental in
Frage. Es wäre gewiss nicht günstig gewesen, sich mit diesem Text in der Tasche von der
Gestapo erwischen zu lassen. Nach meinen derzeitigen Schätzungen gab es bis Kriegsende
überhaupt nur ca. 15 bis 20 Personen, die vollständig in dieses subversive Unternehmen
eingeweiht waren, die also nicht nur den Text kannten, sondern auch wussten, wer ihn
geschrieben hatte.34
Irgendwann im Sommer 1936 gelangte die Schrift auch über die
Schweizer Grenze an Karl Barth in Basel. Viermal seit 1936 fuhr Schmitz in den
32
Vgl. Gailus, Der stille Widerstand, S. 104. 33
Vgl. Denkschrift (wie Anm. 20), S. 242-252, Zit. S. 252. 34
Vgl. die namentliche Auflistung in: Gailus, Der stille Widerstand, S. 298 f., Anm. 9.
14
Sommerferien in die Schweiz, um mit Barth über „ihre Sache“ zu diskutieren. In einem Brief
an Barth vom Juli 1936 schrieb sie dem Theologen: „Was ich will, ist vor allem dies: dass ich
nicht als Privatperson XY einigen mir zufällig erreichbaren Pfarrern Material gebe, sondern
dass die Kirche anerkennt, dass es sich um ein Gebiet handelt, das sie angeht, u. dass sie
meine Arbeit in irgendeiner Form als einen ihr erwiesenen Dienst annimmt.“35
Elisabeth Schmitz war mitverhaftet in die Schicksale ihrer „nichtarischen“ und jüdischen
Freunde. Von daher, durch starke Empathie für ihre Nächsten, bestimmte sich ihr aktuelles
Denken und Empfinden im „Dritten Reich“. Aber es war nicht voraussetzungslos, vielmehr
strikt christlich-wertgebunden und liberalprotestantisch-aufgeklärt in der Tradition der
Harnacks und des hauptstädtischen Kulturprotestantismus. Sie handelte in Briefen, durch
Gespräche, Vorträge. Da der Verfolgungsdruck permanent anstieg und vonseiten der Kirche
wenig geschah, fasste sie den Entschluss zur Denkschrift, um aufzuklären und aufzurütteln.
Es war eine mutige Tat: der Text selbst, die Beschaffung des Vervielfältigungsapparats, das
Abziehen von 200 Exemplaren, die Papierstapel in ihrer Wohnung, die riskante Verteilung an
mehr als ein Dutzend Stellen. Die fromme Studienrätin in hochgeschlossener, weißer Bluse
und im langen, grauen Faltenrock war damit zur Widerstandskämpferin geworden. Niemand
sah ihr das an. Vieles, was sie unternahm, machte sie nicht allein, sondern im Kontext eines
fein gesponnenen Netzwerks von gleichgesinnten Mitstreiterinnen – still und äußerst
verschwiegen. Zu diesen verbündeten Mitstreiterinnen zählten vor allem ihre ältere
Lehrerkollegin und Historikerin Dr. Elisabeth Abegg und die habilitierte Pflanzengenetikerin
Dr. Elisabeth Schiemann, eine der ersten Professorinnen an der Berliner Universität.36
Das
Jahr 1938 sollte zeigen, dass die Dramatik ihres widerständigen Lebens noch steigerungsfähig
war.
35
Elisabeth Schmitz vom 16.7.1936 (Basel) an Karl Barth, in: Meyer, Elisabeth Schmitz, S. 261 f. 36
Zu Elisabeth Abegg und Elisabeth Schiemann s. die Beiträge von Martina Voigt in diesem Band.
15
III
1938 geriet zum aufregendsten Jahr ihres Lebens. Am Lankwitzer Lyzeum, wo sie inzwischen
unterrichtete, verengten sich die Spielräume. Neue Richtlinien für Schule und Unterricht
verlangten die Erziehung zum nationalsozialistischen Menschen, eine Zielsetzung, die
Schmitz zutiefst zuwider lief. Während der Osterferien 1938 nahm sich die ihr nahestehende
„nichtarische“ Kollegin Dr. Lotte-Sophie Hartzfeld das Leben. Kirchlich hatte sich Schmitz
inzwischen von der Charlottenburger BK-Gemeinde um Pfarrer Jacobi abgewandt, der ihr zu
ängstlich und moderat erschien. Sie besuchte vorzugsweise die berühmten Dahlemer
Gottesdienste des charismatischen Predigers Martin Niemöller. Nach dessen Verhaftung am
1. Juli 1937 beteiligte sie sich an den täglichen Dahlemer Fürbittgottesdiensten und stellte
Verbindung zu Helmut Gollwitzer her, dem inoffiziellen Nachfolger Niemöllers in Dahlem.
Zurückgekehrt von den Sommerferien 1938, suchte sie im September eine Aussprache mit
Gollwitzer, der sie an den reformierten Pfarrer Wilhelm Niesel verwies. Ein Schmitz-Brief an
Niesel zeigt, dass sie einen neuen Anlauf in „ihrer Sache“ plante: Seit nunmehr fünf Jahren
steigere sich die Verfolgungsnot. Es könnte bald zu spät sein für Hilfe. Die Gemeinden
müssten umfassender informiert werden über die Verfolgung ihrer „nichtarischen“ Glieder.
Wir, beklagte Schmitz, hätten immer nur geschwiegen, wo wir hätten reden müssen. Wir
hätten geschwiegen zur gewaltsamen Zerreißung der Ehen, zur erzwungenen Arisierung des
Eigentums, das größtenteils nichts anderes als „Diebstahl“ sei. Wir dürften die jüdische
Gemeinde, die in absehbarer Zeit nur noch aus Hilfsbedürftigen bestehe, nicht sich selbst
überlassen. Mit größerer Verbindlichkeit forderte Schmitz: Pfarrer und Laien müssten diese
Einsichten gemeinsam beschließen und tragen, durch ein öffentliches Wort. Dieses sei durch
16
Unterschrift zu bekräftigen. Sie sei bereit, ihren Namen zur Verfügung zu stellen. Wie frühere
Initiativen versandete auch dieser Vorstoß irgendwo in den Akten der Bruderräte.37
Die Tage um den 9. November 1938 versetzten Schmitz in einen permanenten Erregungs-
und Unruhezustand, der sie krank machte und zur Konsequenz hatte, dass sie seit diesem Tag
nicht mehr die Schule des „Dritten Reiches“ betrat. Zunächst ließ sie sich krankschreiben.
Aber zugleich hatte sie inzwischen aus Gewissensgründen entschieden, nicht weiter in der
Schule eines Staates zu unterrichten, dessen Regierung die Synagogen in Brand stecken lasse.
Drei in kurzen Zeitabständen im November geschriebene Briefe erlauben, ihre Aktivitäten,
Empfindungen und Reflexionen während dieser Schreckenstage zu rekonstruieren. Der erste
Brief vom 14./15. November – vermutlich an den Schöneberger Pfarrer Eitel-Friedrich von
Rabenau gerichtet - zeigt sie wiederum als akribische Sammlerin von Informationen: „Im
ganzen Reich begann nachts um 2.30 Uhr ‚spontan’ nach einheitlichem Plan die Aktion gegen
die Synagogen und die Geschäfte, z.T. auch gegen Privatwohnungen, und die Verhaftungen.
Die Verhaftungen dauerten gestern noch an, und es heißt, dass sie bis übermorgen noch
weitergehen würden. Es wird die Zahl von 40 000 genannt, die gefordert worden sei. In
München, Nürnberg, Breslau und wohl auch Frankfurt a. M. scheinen alle oder fast alle
jüdischen Männer im Alter von 16-60 Jahren verhaftet zu sein. Daß in München die
übriggebliebene jüdische Bevölkerung binnen 48 Stunden die Stadt verlassen musste, sagte
ich wohl schon. Gestern früh wusste man hier in maßgeblichen jüdischen Kreisen noch nicht,
wohin die Menschen gekommen sind. (...) Von den Berliner Rabbinern soll ein großer Teil
verhaftet sein. Dr. Baeck ist frei.“ Wie bei ihrer Denkschrift zeigte sich Schmitz auch in
dieser Krisenzeit sehr gut informiert. Sie muss einen Zugang zu „maßgeblichen jüdischen
Kreisen“ gehabt haben, oder sie kannte jemand, der diesen Zugang hatte und ihr berichtete.
Sehr konkrete Episoden ihres Briefes stammten aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis:
Martha Kassel, „ein Bekannter“, ein „Freund von uns“, „der Schuster meiner Freundin“,
37
Vgl. Gailus, Der stille Widerstand, S. 108-114.
17
„meine Ärztin“. Seit Donnerstag den 10. November mied die Studienrätin die Schule.
Tagelang und vielleicht auch Nächte hindurch fuhr sie durch die große Stadt, sah hier und
hörte dort, besuchte, erkundete und berichtete, führte Gespräche, telefonierte, empfing und
schrieb Briefe, las Zeitungen, vor allem – soweit noch verfügbar – ausländische Blätter.
Einige auf diesen Wegen erlangte Nachrichten fügte sie in den ersten Brief ein: „Selbst beim
Anzünden der Synagogen scheint man einen Plan gehabt zu haben. Wenigstens ist
verschiedentlich berichtet worden, daß zuerst die Torarollen mit Brennstoff übergossen und
angezündet wurden. Das Volk hat irgendwie verstanden, dass die Gebote verbrannt worden
sind. Ein Autodroschkenchauffeur äußerte sich meiner Freundin gegenüber, die Gebote seien
eigentlich sehr gut gewesen, man habe seine Kinder danach erziehen können. ‚Na, die haben
sie ja jetzt verbrannt!’“ Schmitz berichtete von Plünderungen, an denen alle Kreise, Stände
und Altersstufen der Bevölkerung beteiligt gewesen seien. In der Straßenbahn gingen derzeit
Gespräche darüber, dass die Leute nicht die richtigen Schuhnummern bekommen hätten. In
Zepernick (nordöstlich Berlins) hätten sie den Schwager eines Freundes abgeholt, einen
pensionierten Beamten. „Seine Frau war nun allein in dem Häuschen. Um 5 Uhr kamen 20
Männer, darunter 3 Beamte, und schlugen im Haus alles kurz und klein, rissen die Heizkörper
heraus (mit Eisenstangen und Brecheisen), zerschlugen die Fensterkreuze, die Treppe,
stülpten die Badewanne um, zerstörten die Lichtleitung und ließen die Frau im Dunkeln in
einer Dachkammer sitzen.“ Angesichts dieser Lage, so ihre Konsequenz gegenüber von
Rabenau, sei es ganz unmöglich, dass in wenigen Tagen ein Buß- und Bettag gefeiert werde,
wo von all dem Geschehen keine Rede sein soll. Schmitz nahm Bezug auf ein zuvor geführtes
Gespräch mit dem Schöneberger Pfarrer und betonte: „eine evangelische Kirche, noch dazu
eine, die sich den Namen ‚bekennende Kirche’ gegeben hat, in einem Land, in dem geschehen
ist, was in Deutschland geschieht, müsste sofort in allen Gemeinden Bußgottesdienste
ansetzen. Und nun ist Bußtag und die Kirche sollte schweigen?“38
38
Elisabeth Schmitz vom 14./15. November 1938 (vermutlich) an Pfarrer von Rabenau, in: NL Hanau
18
Dieser Brief zeigt, dass Schmitz im Vorfeld des kirchlichen Buß- und Bettags vom
November 1938 darauf drang, dass Pfarrer nicht schweigend über die wenige Tage zurück
liegenden Schreckensereignisse hinweggehen dürften. Zusammen mit ihrer vor der
Emigration stehenden Freundin Martha Kassel nahm sie kurz darauf an der denkwürdigen
Bußtagspredigt Helmut Gollwitzers vom 16. November teil. Im überfüllten Gemeindesaal des
Dahlemer Gemeindehauses sprach Gollwitzer als einer der ganz wenigen Pfarrer im
Deutschen Reich kritisch und nahm, wenn auch notwendigerweise verschlüsselt, auf die
Gewaltereignisse Bezug. „Ist nicht uns allen der Mund gestopft an diesem Tage? (...) Was hat
nun uns und unserem Volk und unserer Kirche all das predigen und Predigthören genutzt die
ganzen Jahre und Jahrhunderte lang...?“ In selbstkritischer Rede bezog Gollwitzer auch die
BK in das große Versagen der Zeit ein und bekannte, dass „wir mit verhaftet sind in die große
Schuld, dass wir schamrot werden müssen und mit gemeinsamer Schande behaftet sind. Es
steckt ja in uns allen; dass man erleben kann, wie biedere Menschen sich auf einmal in
grausame Bestien verwandeln, ist ein Hinweis auf das, was mehr oder weiniger verborgen in
uns allen steckt. Wir sind auch alle daran beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere
durch die Bequemlichkeit, die allem aus dem Wege geht, durch das Vorübergehen, das
Schweigen, das Augenzumachen, durch die Trägheit des Herzens, die auf die Not erst dann
aufmerksam wird, wenn sie offen zu sehen ist, durch die verfluchte Vorsicht, die sich durch
jeden schiefen Blick und jeden drohenden Nachteil von jedem guten Werk abbringen lässt,...“.
Und was sollen wir nun tun, fragte Gollwitzer die Gemeinde: Teilnehmen am Leiden der
Nächsten, teilen, geben, sofern wir noch etwas haben – Gemeinschaft, Besitz, Ehre, Schutz,
Freundschaft. Angesichts der knapp eine Woche zurückliegenden Pogromereignisse konnte
kein Zweifel bestehen, wer dieser Nächste sei. Gollwitzer entließ seine Hörer mit der
Aufforderung: „Nun wartet draußen unser Nächster, notleidend, schutzlos, ehrlos, hungernd,
(Lüdecke). Als Adressat dieses Briefes war bislang Helmut Gollwitzer vermutet worden. Es sprechen indessen
mehr Indizien dafür, dass er tatsächlich an den Schöneberger Pfarrer an der Apostel-Paulus-Gemeinde gerichtet
worden war.
19
gejagt und getrieben von der Angst um die nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die
christliche Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat.“39
Eine Woche nach dieser Predigt bedankte sich Schmitz bei Gollwitzer und lieferte dabei
eine eindrucksvolle Situationsbeschreibung des November 1938. Nach der Predigt sei sie
erfüllt gewesen von dem Gefühl: So, und nur so, könne und dürfe nach allem, was geschehen
sei, eine christliche Gemeinde in Deutschland zusammen sein. Ihre Freundin stehe jetzt vor
der erzwungenen Auswanderung und Gollwitzers Worte hätten ihr aus Bitterkeit und
Verzweiflung über die Haltung der Kirche herausgeholfen. Auch nach ihrem letzten Brief an
Pfarrer Niesel, so resümierte Schmitz, sei das erwartete öffentliche Wort der Kirche nicht
gekommen. „Dafür haben wir das Grauenhafte erlebt und müssen nun weiterleben mit dem
Wissen, dass wir daran schuld sind. Als wir zum 1. April 33 schwiegen, als wir schwiegen zu
den Stürmerkästen, zu der satanischen Hetze in der Presse, zur Vergiftung der Seele des
Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte
‚Gesetze’, zu den Methoden von Buchenwald – da und tausendmal sonst sind wir schuldig
geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, dass die Kirche auch dieses Mal, wo
ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers
überlässt, ob er etwas sagen will, und was.“ Dringend geboten sei nun öffentliche Fürbitte für
die Verfolgten, nicht allein für die Christen, sondern auch die Juden, die „40 000 oder mehr
Verschleppten“. Sie stellte die Frage, ob jemand auf die Idee gekommen sei, an Leo Baeck
oder die jüdische Gemeinde im Namen der Kirche zu schreiben? Wo sollten die Gemeinden
jetzt, wo ihre Gotteshäuser verbrannt seien, Gottesdienst halten? Nach Ankündigung der
Regierung komme jetzt „zweifellos die völlige Trennung zwischen Juden und Nichtjuden. Es
gehen Gerüchte um (...), dass ein Zeichen an der Kleidung beabsichtigt sei. Unmöglich ist
nichts in diesem Lande, das wissen wir. (...) Wenn die ‚Gesetze’ da sind, ist es zu spät.
39
Die Predigt ist dokumentiert bei Gerhard Schäberle-Koenigs, Und sie waren täglich einmütig beieinander. Der
Weg der Bekennenden Gemeinde Berlin/Dahlem 1937-1943 mit Helmut Gollwitzer, Gütersloh 1998, S. 190-
198.
20
Hierfür müssen die Gemeinden zugerüstet werden. Und weiter: Wir haben die Vernichtung
des Eigentums erlebt, zu diesem Zweck hatte man im Sommer die Geschäfte bezeichnet. Geht
man dazu über, die Menschen zu bezeichnen – so liegt ein Schluß nah, den ich nicht weiter
präzisieren möchte. Und niemand wird behaupten wollen, dass diese Befehle nicht ebenso
prompt, ebenso gewissenlos und stur, ebenso böse und sadistisch ausgeführt würden wie die
jetzigen. Ich habe schon diesmal von grauenhaften blutigen Exzessen gehört. (...) Ich bin
überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus
Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“40
Ihre seit Jahren geschärfte Aufmerksamkeit, ihr systematisches Hinhören und Wissenwollen
statt Wegschauen, ihre ausgeprägte Fähigkeit, die schlimmen Zeichen der Zeit zu lesen – alles
dies ermöglichte Schmitz ungewöhnlichen Durchblick und Vorausschau. Bereits 1935 sprach
sie von drohender „Ausrottung“ der Juden. Im September 1938 ahnte sie, was der
Kriegszustand für die jüdische Existenz in Deutschland bedeuten würde, im November 1938
rechnete sie mit der äußerlichen Kennzeichnung der Juden und sah darin ein Vorzeichen
kommender Vernichtung. Es war ihre Nähe zur „jüdischen Erfahrung“, die sie immer wieder
neue Vorstöße machen ließ, eine andere Theologie des Verhältnisses von Christentum und
Judentum einzufordern. Mit ihrem jahrelangen Insistieren bei namhaften Theologen gab sie
frühe Impulse zu einer fundamentalen Neuformulierung des christlich-jüdischen
Verhältnisses, frei vom seinerzeit allgegenwärtig-selbstverständlichen christlichen
Antijudaismus. Insofern kann sie als Pionierin einer theologischen Jahrhundertaufgabe gelten,
die eigentlich erst Jahrzehnte nach der NS-Diktatur nachhaltig in Angriff genommen worden
und bis heute nicht abgeschlossen ist.41
Aber wie sollte es jetzt für sie persönlich weitergehen, nach der tiefen persönlichen Zäsur
der Pogromerfahrung? Seit dem 10. November erteilte sie keinen Unterricht mehr. Sie war
40
Elisabeth Schmitz vom 24.11.1938 an Helmut Gollwitzer, in: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (EZA),
ZA 5081/07, Nr. 686/8426. Dieser „Jahrhundertbrief“ ist vollständig dokumentiert in Gailus, Der stille
Widerstand, S. 253-255. 41
In diesem Sinne auch Schäberle-Koenigs, Der Weg der Bekennenden Gemeinde Berlin/Dahlem, S. 205 f.
21
krankgeschrieben. Eine Dauerlösung konnte das nicht sein. Durch vertrauliche Gespräche mit
ihr wohlgesonnenen christlich-konservativen Beamten in der Schulverwaltung fand sich ein
Ausweg: Antrag auf Frühpensionierung. Ende Dezember 1938 richtete sie das folgende
Gesuch an einen ins Vertrauen gezogenen Oberregierungsrat in der Schulverwaltung:
„Hierdurch bitte ich um Versetzung in den Ruhestand zum 1. April 1939 und um Urlaub bis
dahin. – Begründung: Ich befinde mich seit Monaten in einer zunehmenden inneren Unruhe
und in starken seelischen Spannungen. Hierzu darf ich auf das in der Anlage beigefügt Attest
verweisen. Es ist mir in steigendem Maße zweifelhaft geworden, ob ich den Unterricht bei
meinen rein weltanschaulichen Fächern – Religion, Geschichte, Deutsch – so geben kann, wie
ihn der nationalsozialistische Staat von mir erwartet und fordert. Nach immer wiederholter
eingehender Prüfung bin ich schließlich zu der Überzeugung gekommen, dass das nicht der
Fall ist. Da dieser dauernde Gewissenskonflikt untragbar geworden ist, sehe ich mich
genötigt, den obigen Antrag zu stellen.“42
Ihrem Antrag wurde stattgegeben. Seit dem 1. April
1939 war die 45jährige Studienrätin frühpensioniert und erhielt das ihr zustehende
Ruhegehalt.
Im Dezember 1938 emigrierte ihre langjährige Freundin Martha Kassel, zusammen mit
ihrem Ehemann, dem Arzt Dr. Max Seefeld, nach Argentinien. Schmitz erwarb als
Freundschaftsdienst deren „Kleinwohnheim“ in Wandlitz bei Berlin, ein idyllisch gelegenes
Gartenhäuschen am Wandlitzsee, das ihr zum geliebten Refugium wurde und das während der
Kriegsjahre wiederholt als Unterkunft für Verfolgte und Untergetauchte diente. Schmitz
engagierte sich weiterhin in der Dahlemer BK-Gemeinde um Gollwitzer, im Charlottenburger
Mittwochskreis und zuletzt vor allem in der Friedenauer BK-Gemeinde um Pfarrer Wilhelm
Jannasch. Hier leistete sie Besuchsdienste bei „nichtarischen Christen“ und erteilte
Religionsunterricht bei konversionswilligen Juden. Hausbesuche bei Juden waren zu dieser
Zeit bereits verboten. Sie gewann tiefe Einblicke in die Praxis der Verfolgungen und
42
Elisabeth Schmitz vom 31.12.1938 (Hanau) an den Herrn Stadtpräsidenten, Abt. für Höhere Schulen, z. Hden
Herrn Oberregierungsrat König; zit. n. Meyer, Elisabeth Schmitz: Die Denkschrift, S. 206.
22
Deportationen, und sie wusste schon bald sehr genau, welches Schicksal die „Evakuierten“ im
Osten erwartete. Irgendwann im Frühjahr des Jahres 1943 traf sie die wichtige Entscheidung,
sich aus der Gefahrenzone Berlin zurückzuziehen, nicht nur wegen der Luftangriffe. Die
Verhaftungen von Mitstreiterinnen und Mitstreitern häuften sich, die Zugriffe der Gestapo
kamen näher. Im April 1943 wurde Bonhoeffer verhaftet. Seit August 1943 geriet der
Dahlemer Kaufmann-Kreis, der inzwischen illegale Judenhilfe leistete, nach und nach in Haft.
Dieser Kreis ging aus einer theologischen Arbeitsgemeinschaft hervor, der Schmitz jahrelang
auch angehörte. Im September griff die Gestapo ihre Dahlemer Freundin Hildegard Schaeder
wegen freundschaftlichen Verkehrs mit Juden und brachte sie ins KZ Ravensbrück. Im
November 1943 brannte ihre Berliner Wohnung Luisenstraße 67 nach Bombentreffern
vollständig aus. Sie verlor fast alles, vor allem trauerte sie über ihre große Bibliothek. Das
Kriegsende erlebte sie im ebenfalls schwer bombenzerstörten Hanau, im Elternhaus, das
glücklicherweise fast unzerstört blieb. Von 1946 bis 1958 kehrte sie in Hanau noch einmal in
den Schuldienst zurück. Sie hatte bis weit in die 1950er Jahre hinein schwere
Wiedergutmachungskämpfe wegen ihrer sieben versäumten Dienstjahre auszufechten, die
man ihr zunächst nicht anrechnen wollte. Von ihrer Denkschrift sprach sie während der
Hanauer Nachkriegsjahre nicht. Andere, die von ihrer Autorschaft vielleicht noch wussten
oder hätten wissen können, sprachen auch nicht davon. Eine angemessene Anerkennung und
öffentliche Würdigung ihrer antinationalsozialistischen Aktivitäten während der Diktatur
erfuhr sie zeitlebens nicht. Sie starb am 10. September 1977 im Alter von 84 Jahren in einem
Offenbacher Krankenhaus. Als sie auf dem Hanauer Stadtfriedhof beigesetzt wurde, sollen
sieben oder acht Personen an der Zeremonie teilgenommen haben.43
43
Ausf. zum Ganzen s. Gailus, Der stille Widerstand, S. 127-141; 142-173.
23
IV
Die Frage, warum die hier erzählte Schmitz-Geschichte insgesamt noch immer so unbekannt
und insbesondere das Geheimnis um ihre Denkschrift so spät enthüllt worden ist, verlangt
viele Antworten und bleibt teilweise rätselhaft. Eine erste Erklärung liegt bei ihr selbst: Die
Hanauer Protestantin war durch Familienherkunft und Erziehung auffallend zurückhaltend,
bescheiden – eine Person, die sich nicht nach vorn drängte und ihre Dinge an die große
Glocke hängte. Niemals zu Nachkriegszeiten trat sie auftrumpfend hervor und enthüllte: Ich
war es, ich schrieb die anonyme Denkschrift von 1935 gegen die Judenverfolgung! Eine
zweite Erklärung dürfte die extreme Verschwiegenheit sein, die sie mit ihren Verbündeten
und Weggefährtinnen während der Hitlerzeit eingeübt hatte. Das war eine
überlebensnotwendige Tugend. Diese verinnerlichte Grundhaltung löste sich nach 1945 nicht
einfach auf. Drittens ist die Anonymität des Memorandums zu bedenken. Irrtümlicherweise
wurde der Text von Kirchenhistorikern der Nachkriegszeit einer anderen mutigen Frau des
Kirchenkampfes zugeschrieben, Margarete Meusel, die ebenfalls für Verfolgte eintrat. Die
falsche Zuschreibung geriet so für lange Zeit zu einer vermeintlichen „kirchenhistorischen
Tatsache“.44
Schließlich gab es einige Kirchenführer der BK und namhafte
Universitätstheologen, die in das Denkschriftunternehmen eingeweiht waren und die sich
merkwürdigerweise zu Nachkriegszeiten nicht daran erinnern wollten. Jedenfalls taten sie
nichts für die Aufdeckung des Geheimnisses, was eine Voraussetzung für Anerkennung und
Würdigung der Verfasserin noch zu Lebzeiten gewesen wäre.
Bewertet man als Historiker die Lebensleistung der „protestierenden Protestantin“ Elisabeth
Schmitz vor dem Hintergrund des sehr weitreichenden Versagens der evangelischen Kirchen
im „Dritten Reich“, so gebührt der Denkschriftautorin eine herausgehobene, nahezu singuläre
Stellung in der protestantischen Gedenkkultur der Gegenwart und Zukunft. In der historischen
44
Vgl. Gailus, Der stille Widerstand, S. 180; zu Margarete Meusel s. den Beitrag von Hansjörg Buss in diesem
Band.
24
und kirchlichen Erinnerung und Aufarbeitung protestantischen Verhaltens im „Dritten Reich“
ist im Allgemeinen zwar zugestanden worden, dass man den Verfolgten, besonders den
„nichtarischen“ Christen als Gliedern der Kirchen, und den Juden nicht genügend geholfen
habe. Tatsächlich aber hatte man nicht nur nicht genügend geholfen - über weite Strecken
hatten die Evangelischen als antisemitische „Deutsche Christen“, als christliche
Nationalsozialisten und als angepasste obrigkeitstreue Lutheraner an völkischer Ausgrenzung
und politischer Verfolgung aktiv teilgenommen. In Thüringen beispielsweise gründeten
Universitätstheologen und deutschchristliche Kirchenführer ein „Institut zur Erforschung und
Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Die Gründungsfeier
fand im Mai 1939 auf der Wartburg statt. Man publizierte ein von allem Jüdischen gereinigtes
Neues Testament und ein mit deutsch-völkischen Lobliedern angereichertes Gesangbuch.45
In Mecklenburg richtete ein Nazi-Pfarrer eine kirchliche Sippenkanzlei in Schwerin ein, um
bei der Verfolgung zu helfen.46
In Berlin beispielsweise hatte sich Pfarrer Karl Themel als
sippenforschender Nazi-Pfarrer durch Auswertung der Kirchenbücher direkt am Aufspüren
„nichtarischer“ Christen beteiligt und meldete seine Forschungsergebnisse an Partei- und
Staatsstellen weiter. Nach dem Krieg, als er pensioniert war, bestellte ihn das Konsistorium
zum ehrenamtlichen Leiter des landeskirchlichen Archivs und ehrte ihn bei runden
Geburtstagen mit Buchgeschenken und 1965 mit zehn Flaschen Sekt.47
Elisabeth Schmitz
hingegen war in der Berliner Nachkriegskirche vollständig vergessen, man wusste nichts
mehr von ihr.
45
Hierzu jetzt: Susannah Heschel, The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany,
Princeton/Oxford 2008; Oliver Arnhold, „Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung
Deutsche Christen 1928-1939 und das “Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf
das deutsche kirchliche Leben” 1939-1945, 2 Bde., Berlin 2010. 46
Vgl. Johann Peter Wurm, „Vom ‚Rohstoff’ Kirchenbücher zum ‚Veredelungsprodukt’ deutschblütiger
Volksaufbau“. Pastor Edmund Albrecht und die Mecklenburgische Sippenkanzlei (1934-1945), in: Manfred
Gailus (Hg.), Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“, Göttingen 2008, S.
48-81. 47
Zu Themel s. Manfred Gailus, „Hier werden täglich drei, vier Fälle einer nichtarischen Abstammung
aufgedeckt“. Pfarrer Karl Themel und die Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, in: ders. (Hg.), Kirchliche Amtshilfe, S.
82-100.
25
Die historischen Schatten von Hitlerzeit und Holocaust sind lang und werden weit in das 21.
Jahrhundert hinein und darüber hinaus reichen. Vor diesem Hintergrund fällt mir die folgende
Prognose nicht schwer: Elisabeth Schmitz, die Unbekannte, die Vergessene, wird eines Tages
als protestantische Ikone des 20. Jahrhunderts gelten und viel geehrt werden. Posthum wird
ihr jene Würdigung zuteil werden, die sie eigentlich bereits zu Lebzeiten hätte erhalten
müssen.