Newsletter für Engagement und Partizipation in Europa … · Europas „Bewegungslandschaft“...

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Seite 1 von 14 Newsletter für Engagement und Partizipation in Europa Nr. 6/2016 Ulrike Guérot Europas „Bewegungslandschaft“ oder was ist europäische Zivilgesellschaft? 1 Einleitung Es ist Bewegung gekommen in die europäische Zivilgesellschaft; überhaupt in die europäi- sche Meinungs- und Diskurslandschaft. 1 Inzwischen scheint auch bei „normalen Bürgern“ angekommen zu sein, dass das europäische Projekt in eine extreme Schieflage geraten ist und dass viele Dinge des ganz privaten Lebens – das eigene Geld, der Euro, die Sicherheit vor Terror, die freie Turnhalle für den Schulsport der Kinder – von der Handlungsfähigkeit der EU abhängen, diese aber nicht gegeben ist. Die Erfahrung der Unmittelbarkeit europäischer Ent- scheidungen für das eigene Leben ist neu; das Versagen der europäischen Institutionen führt konsequenterweise zu Vertrauensverlust: Während 2007 noch 57% der EU-Bürger den euro- päischen Entscheidungsträgern vertrauten, sank jener Prozentsatz in 2013 auf 31% (Europäi- sche Kommission 2013). Die schnelle Abfolge von europäischen Krisen, in den letzten Jahren eine Banken-, Staats- schulden- und Eurokrise, hat sich alleine in diesem Jahr zu einer Grexit-, Flüchtlings- und jetzt Terror-Krise verdichtet. Europa scheint am Abgrund, die „europäische Zivilgesellschaft“ indes im Aufbruch. Ihr Ruf nach Gehör wird immer lauter angesichts eines Systems, das immer weniger Lösungskapazitäten bereitzuhalten scheint, kaum greifbare Lösungen produziert und überdies in einem tiefen Reformstau zu stecken scheint. Je größer dieses Empfinden, desto mehr rückt „die Zivilgesellschaft“ in den Mittelpunkt der europäischen Betrachtung: Was macht sie, wohin will sie, was treibt sie an? Damit stellt sich aber zunächst die Frage: Was ist eigentlich Zivilgesellschaft? Wissenschaftli- che Definitionen scheinen kaum zielführend oder greifen doch zu kurz, wenn etwa Philipp van Amersfoort (2005: 396) in dem Versuch einer umfassenden Definition die moderne Zivil- gesellschaft beschreibt „als einen Zusammenschluss einer Vielzahl von Organen, die selbst- 1 Dieser Artikel entstand mit maßgeblicher Unterstützung von Johanna Schelle, die im Winter 2015 Programm- Assistentin am European Democracy Lab in Berlin war. Sie hat weitgehend die Recherche für diesen Artikel übernommen und einen Rohentwurf vorbereitet. Dieser kleine Beitrag ist der Vorlauf zu einer größeren Pub- likation über Europa und soziale Bewegungen, der im nächsten Frühjahr erscheinen soll. Daher ist der vorlie- gende Aufriss nicht als wissenschaftlicher Beitrag gedacht; vielmehr möchte er zunächst persönliche Überle- gungen und Beobachtungen aus der europapolitischen Praxis der Berliner (und europäischen) Think-Tank Praxis zum Thema Zivilgesellschaft formulieren.

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Newsletter für Engagement und Partizipation in Europa Nr. 6/2016 Ulrike Guérot

Europas „Bewegungslandschaft“ oder was ist europäische Zivilgesellschaft?

1 Einleitung

Es ist Bewegung gekommen in die europäische Zivilgesellschaft; überhaupt in die europäi-

sche Meinungs- und Diskurslandschaft.1 Inzwischen scheint auch bei „normalen Bürgern“

angekommen zu sein, dass das europäische Projekt in eine extreme Schieflage geraten ist

und dass viele Dinge des ganz privaten Lebens – das eigene Geld, der Euro, die Sicherheit vor

Terror, die freie Turnhalle für den Schulsport der Kinder – von der Handlungsfähigkeit der EU

abhängen, diese aber nicht gegeben ist. Die Erfahrung der Unmittelbarkeit europäischer Ent-

scheidungen für das eigene Leben ist neu; das Versagen der europäischen Institutionen führt

konsequenterweise zu Vertrauensverlust: Während 2007 noch 57% der EU-Bürger den euro-

päischen Entscheidungsträgern vertrauten, sank jener Prozentsatz in 2013 auf 31% (Europäi-

sche Kommission 2013).

Die schnelle Abfolge von europäischen Krisen, in den letzten Jahren eine Banken-, Staats-

schulden- und Eurokrise, hat sich alleine in diesem Jahr zu einer Grexit-, Flüchtlings- und jetzt

Terror-Krise verdichtet. Europa scheint am Abgrund, die „europäische Zivilgesellschaft“ indes

im Aufbruch. Ihr Ruf nach Gehör wird immer lauter angesichts eines Systems, das immer

weniger Lösungskapazitäten bereitzuhalten scheint, kaum greifbare Lösungen produziert

und überdies in einem tiefen Reformstau zu stecken scheint. Je größer dieses Empfinden,

desto mehr rückt „die Zivilgesellschaft“ in den Mittelpunkt der europäischen Betrachtung:

Was macht sie, wohin will sie, was treibt sie an?

Damit stellt sich aber zunächst die Frage: Was ist eigentlich Zivilgesellschaft? Wissenschaftli-

che Definitionen scheinen kaum zielführend oder greifen doch zu kurz, wenn etwa Philipp

van Amersfoort (2005: 396) in dem Versuch einer umfassenden Definition die moderne Zivil-

gesellschaft beschreibt „als einen Zusammenschluss einer Vielzahl von Organen, die selbst-

1 Dieser Artikel entstand mit maßgeblicher Unterstützung von Johanna Schelle, die im Winter 2015 Programm-

Assistentin am European Democracy Lab in Berlin war. Sie hat weitgehend die Recherche für diesen Artikel

übernommen und einen Rohentwurf vorbereitet. Dieser kleine Beitrag ist der Vorlauf zu einer größeren Pub-

likation über Europa und soziale Bewegungen, der im nächsten Frühjahr erscheinen soll. Daher ist der vorlie-

gende Aufriss nicht als wissenschaftlicher Beitrag gedacht; vielmehr möchte er zunächst persönliche Überle-

gungen und Beobachtungen aus der europapolitischen Praxis der Berliner (und europäischen) Think-Tank

Praxis zum Thema Zivilgesellschaft formulieren.

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verwaltend, überparteilich, sowie verfassungsmäßig unabhängig sind (…) und zum größten

Teil durch Voluntarismus funktionieren.“ Mit dem Zerfall der Sowjetunion entstand eine

neue Auffassung des Begriffs hin zu einer Freiheitsbewegung gegen das totalitäre System,

die vor allem von Arbeiterorganisationen sowie der bürgerlichen Mittelschicht getragen

wurde (van Amersfoort 2005). Womit sofort die Frage gestellt ist: wer rechnet wen zur „bür-

gerlichen Mittelschicht“? Der Begriff Zivilgesellschaft scheint anderen zivilen Bewegungen

kaum gerecht zu werden: Umfasst er auch jene, die inzwischen jeden Montag in Dresden bei

Pegida-Demonstrationen mitmachen? Der Begriff der Zivilgesellschaft hat eine positive nor-

mative Konnotierung, die man mit Pegida erst einmal nicht in Zusammenhang bringt. Aber

auch bei Pegida trifft sich die Mittelschicht und auch Pegida ist voluntaristisch organisiert.

Oder geht es nur um die sogenannte „organisierte“ Zivilgesellschaft, und, wenn ja, national

oder europaweit? Ist es nur dann Zivilgesellschaft, wenn die EU-Kommission in „Stakeholder

Meetings“ NGOs und Umweltorganisationen in die Beratungen zum TTIP-Abkommen struk-

turiert miteinbezieht oder eine „European Citizens‘ Initiative” startet? Oder ist es auch Zivil-

gesellschaft, wenn europäische, progressive Protestler im Mai 2015 eine Anti-EZB-

Demonstration in Frankfurt am Main veranstalten, bei der es zu gewaltsamen Ausschreitun-

gen kommt? So hatte z.B. das Blockupy-Bündnis durchaus eine länderübergreifende Wir-

kung. Es beschreibt sich selbst in seinem Programm als Teil eines europaweiten Netzwerks,

das durch soziale Netzwerke und gemeinsame Hashtags die räumliche Trennung seiner Mit-

glieder überbrückt und ein transnationales Movement schafft2. Tatsächlich gehörten die Ak-

tionstage im Mai 2012 zu den größten Demonstrationen in Europa während der Krise. Die

Proteste wandten sich gegen die Krisenbewältigungsstrategie der Troika und die Sparmaß-

nahmen in Europa (Bieling et al. 2013).

Das V-Dem Institute aus Göteborg hat im Oktober 2015 einen „Civil Society Index“ vorgelegt,

der – sehr knapp verkürzt – nicht nur das Wachsen der europäischen Zivilgesellschaft be-

schreibt, sondern auch der gesellschaftlichen Resilienz der europäischen Zivilgesellschaft ein

positives Zeugnis ausstellt. Die europäische Zivilgesellschaft insgesamt sei wachsamer und

achtsamer geworden, verstärkt zu bürgerschaftlichem Engagement bereit, bereit also, aktiv

zu werden und bereit, die Werte moderner demokratischer Gesellschaften zu schützen und

zu verteidigen. Dennoch erschließt sich dem Praktiker aus dem parapolitischen Raum der

europäischen Think Tank Community bei der Lektüre der Studie nicht unmittelbar, was hier

eigentlich gemessen wird (Bernhard et al. 2015), ist doch die Bandbreite von zivilgesell-

schaftlicher Teilhabe am europäischen Diskurs bis hin zu Engagement, Mitarbeit oder Akti-

vismus, gar Demonstrationen oder Kampagnen kaum noch überschaubar. In der neo-

gramscianischen Definition, die in modernen komparativen Studien gerne als zentrales Ana-

lyse-Konzept für Zivilgesellschaft verwandt wird, gehört der Underground oder gehören Pro-

2 Blockupy, Webauftritt unter http://blockupy.org. [12.01.2016]

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testbewegungen, die gegen „autoritäre Regime“3 vorgehen, eindeutig zur Zivilgesellschaft.

Wo also ist dann die Grenze zwischen schwach legitimiert und autoritär? Denn genau um

diese Frage ginge es ja, wenn sich als zivilgesellschaftliche Ausformung z.B. die Commune of

Europe4, als Anti-These zur EU definiert, mit deutlichem Bezug zu den Barrikaden von Paris

im 19. Jahrhundert, also de facto mit revolutionärem Vokabular.

2 Das europäische „Wir“ und die Suche nach dem anderen Europa

Auch den klassisch politischen Teilen der Zivilgesellschaft, die sich nicht als Underground

oder Sub-Kultur verstehen, geht es unverkennbar um die Suche nach einem alternativen

Europa. Die vergangene Ausgabe der NEON, einer Zeitschrift für junge Leser aus dem Hause

Stern, titelte in verschiedenen Sprachen „WIR sind Europa - ein Europa Manifest“. Das „Wir“

ist hier nicht länger national, während sich Zivilgesellschaft früher maßgeblich in nationalen

Kontexten organisierte. Aktuelle europäische Bewegungen richten sich gegen EU-

Institutionen (Wigger/Horn 2014), aber sie mobilisieren sich für ein anderes Europa. Was

entsteht, so argumentieren Sozialwissenschaftler, ist eine „partizipatorische Revolution“

(Kaase 1984: 299), die dazu führt, dass bestimmte Bewegungen an Kraft gewinnen und

transnational wirken. Historische Vorläufer – Ostermärsche, Anti-Atomkraft- oder Vietnam-

Demonstrationen der 1970er Jahre – unterstreichen die Krisentheorie der Sozialwissen-

schaft, die davon ausgeht, dass Proteste ein Resultat „gesellschaftlicher Krisenerscheinun-

gen“ sind (Roth/Rucht 2008). Das, was soziale Bewegungen verändern wollen, ist dabei häu-

fig auch ihr Entstehungsgrund. Durch die in einer Krise empfundene Bestandbedrohung und

die daraus entstehende spürbare Deprivation gewinnen soziale Bewegungen an Zulauf

(Brand et al. 1986).

Mit Blick auf die europäischen Protestbewegungen ist derartiges – indes sehr eklektisch –

durchaus zu beobachten. An der Berliner Volksbühne wird eine solche „partizipatorische

Revolution“ und mit ihr das „Ende der europäischen Demokratie“ inszeniert in Form einer

Diskussion mit dem slowenischen Starphilosophen Slavoj Žižek, wobei ein Hauch von Che

Guevara in der Luft liegt5. Am Schauspielhaus Wien wird „Punk & Politik“ „gegen Brüssel“

und für eine transnationale Demokratie inszeniert (Pohl 2015). Ein ehemaliger griechischer

Finanzminister tourt durch Europa und vertritt „one (…), but radical idea: to democratise

Europe“ (Sakalis 2015). Ist er jetzt Zivilgesellschaft? Eine sprichwörtliche ganze „Armee“ von

Zivilgesellschaft scheint derzeit angetreten, dem EU-System den Garaus zu machen. Die eu-

ropäische Zivilgesellschaft demonstriert, formiert sich, ist aktiv und durchaus sichtbar, for-

3 Was auf das heutige Russland und seine jüngste Gesetzgebung, NGOs als „ausländische Staatsfeinde“ zu be-

zeichnen, sicherlich noch zutrifft, mit Blick auf die EU – die zugegebenermaßen schwach input-legitimiert ist –

wäre aber die Frage aufzuwerfen, ob sie als autoritär bezeichnet werden kann.

4 Die Commune of Europe – Webauftritt unter http://www.thecommuneofeurope.org - versteht sich als „au

nome Bewegung“ und „interventionistische Linke“.

5 Diskussionsrunde mit Jürgen Kuttner und mit Slavoj Žižek am 21. November 2015.

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dert Transparenz und Partizipation. Wer dieser Tage im Internet surft, findet unzählige euro-

päische Internet- und Bürgerinitiativen, also ganz viel europäische und globale Zivilgesell-

schaft, deren Vernetzung und öffentlicher Diskurs als Vorform einer europäischen Öffent-

lichkeit sogar schon messbar und empirisch belegbar sind (de Wilde et al. 2013). Manchmal

wird Europa nur durchreist und beschrieben, manchmal werden konkrete politische Forde-

rungen erhoben. Die Bandbreite der europäischen Zivilgesellschaft reicht vom „gemeinsa-

men Stricken“ entlang der Donau6 über Jugendtouren durch Europa (Herr et al. 2015) hin zu

transnationalen, europäischen Jugendfestival7 oder Unterschriftenaktionen für die Anwen-

dung von Artikel 7 EUV auf Ungarn8. Positiv anzuführen ist hier natürlich, dass die „Will-

kommenskultur“ im „Flüchtlingssommer“ 2015 weitgehend von der deutschen Zivilgesell-

schaft getragen wurde. Und es fühlt sich alles auf den ersten Blick erst einmal gut an. Somit

könnte die Hypothese aufgestellt werden, dass die Zivilgesellschaft ein zuverlässiger Relay

bei menschlichen Katastrophen ist, als politisches Instrument bei systemischen Problemen

indes eher wenig hilft; ferner bleibt an dieser Stelle zu konstatieren, dass die Zivilgesell-

schaft, so positiv dies in Deutschland bei der Flüchtlingsfrage zu beobachten war, dennoch

nicht verlässlich, dauerhaft belastbar oder gar als Substitut für staatliches Handeln zu setzen

ist, da das freiwillige Engagement der Bürger staatlicherseits schlechterdings nicht veranlasst

oder gar befohlen werden kann. Der (positive) zivilgesellschaftliche Claim muss daher immer

rückgekoppelt werden mit der eigentlich negativen Tendenz des Staatsabbaus und der Ero-

sion staatlicher Tätigkeit in Kernbereichen der Gesellschaft.

Es scheint eine Blütezeit der Zivilgesellschaft angebrochen, die als Lösung für die systemische

Krise der EU, zum Relay, zum Transmissionsriemen für eine bessere Gesellschaft avanciert.

Wo noch vor wenigen Jahren höchsten Insider den Begriff Zivilgesellschaft kannten – ebenso

wenig wie den des „Narrativ“, das zu suchen Europa sich vor geraumer Zeit aufgemacht hat

– ist die Literatur zum Thema Zivilgesellschaft heute überbordend (Müller-Pelzer 2015).

Hauptsache möglichst viele partizipieren, dann haben wir eine bessere Welt, so möchte man

glauben. Die Schnelligkeit mit der sich Stiftungen, Akademien, Diskurs und Medien in den

letzten Jahren als Reaktion auf eine tief empfundene Malaise der politischen Systeme vor

allem mit Blick auf Europa auf die Begriffe Transparenz, Partizipation und Zivilgesellschaft

eingestellt haben9, denen fast der Charakter einer Heilserwartung innewohnt, macht indes

etwas perplex.

6 Preisträger Europa-Professionell 2015: „Die gewollte Donau“, Webauftritt unter

http://thewanteddanube.eu/germany. [12.01.2016].

7 European Alternatives, Belgrade Festival, 1.-5. Oktober 2015, Webauftritt unter https://euroalter.com/.

[12.01.2016].

8 Act4democracy, Webauftritt unter http://act4democracy.eu/. [12.01.2016].

9 Ähnlichen Auftrieb haben im derzeitigen Europa-Diskurs die Begriffe Transparenz, Solidarität, Subsidiarität

oder sogar der Begriff der Demokratie selbst, die indes – in ihrem weitgehend formalen Gehalt – alle schnell in

diskursive Schieflagen führen können (Baumann 2014).

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3 Fehlende Antworten

Denn warum sollte die Zivilgesellschaft eine Antwort auf die fundamentale Systemkrise ha-

ben, in der die EU steckt, gar die „Lösung“ sein? Und welche Möglichkeiten sollte die Zivilge-

sellschaft haben, die „post-demokratischen Zustände“ der EU, die inzwischen auch wissen-

schaftlich ausgelotet sind, zu ändern? Wie sollte sie das tun?

Der Ruf nach zivilgesellschaftlicher Partizipation scheint das Korrelat zum Zustand der Post-

Demokratie zu sein, so wie von Colin Crouch (2008) beschrieben: „You can always vote, but

you have no choice“. Die sogenannte „15-M“-Bewegung, häufig auch Indignados („die Em-

pörten“) genannt, gründete sich ein paar Tage vor den Parlamentswahlen in Spanien am 15.

Mai 2011 (Nofre/Feixa 2013). Der Grund war die Aufstellung der Parteien, deren Programme

sich in den Augen der Bürger zu sehr ähnelten und damit keine politische Alternative boten.

Letztlich bemerken wir die Entkernung, die Aushöhlung von funktionaler Demokratie und

von institutioneller Wirkungsmächtigkeit angesichts eines rigiden Systems, den Leerlauf von

Opposition und Wahlakten sowie das Gefühl, die Dinge nicht ändern zu können, keine ande-

re Politik machen zu können. Demokratie scheint zu einer Formalität zu verkommen, obwohl

wir formal – durch Wahlen, durch zahllose „Stakeholder Meetings“, durch Bürgerinitiativen,

durch Kampagnen etc. – durchaus partizipieren dürfen und auch aktiv partizipieren. Aber

trotzdem offensichtlich keine Gestaltungsmacht haben: Millionen von Unterschriften gegen

das TTIP-Abkommen werden wahrscheinlich nichts daran ändern, dass das Europäische Par-

lament für das TTIP-Abkommen stimmen wird. Wenn dies aber zutrifft: ist dann eine „Ver-

stetigung der europäischen Zivilgesellschaft“ und mehr Partizipation die Lösung? Ist die Eu-

rokrise eine Chance, mehr Partizipation unser Glück? Doch sicher nicht!

Wer will schon permanente bürgerliche Achtsamkeit, wer will jeden Dienstag demonstrie-

ren, um den Pegida-Megaphonen etwas entgegenzusetzen, wer hat endlos Zeit, im Internet

über Europa zu diskutieren? Möchten wir nicht eher ein funktionierendes europäisches Sys-

tem, ausgestattet mit erkennbarer Input-Legitimität und mit ausreichender Output-Effizienz,

so dass am Ende dabei sehr viel europäische res publica, also öffentliche Güter, ein gutes

Gemeinwesen für alle Bürger in Europa herauskommt, und zwar so, dass man sich nicht

mehr über Europa aufzuregen oder sich Sorgen zu machen braucht, weil die EU dann einfach

systemisch funktioniert? Würden wir nicht doch lieber am Wochenende wieder ins Theater

gehen oder einfach spazieren?

4 Der „europäische Maschinenraum“

Ist nicht der „europäische Maschinenraum“ als das institutionelle Set-Up der europäischen

Institutionen in seiner jetzigen Form – ein Parlament ohne Initiativrecht und ohne Budget

und ein dysfunktionaler EU-Rat – das eigentliche Problem, an dessen permanenter „Produk-

tion von Krisen unter selbstreproduzierenden Bedingungen“ die Zivilgesellschaft bestenfalls

an der Oberfläche kratzt, ohne wirklichen Zugang zu haben, um die europäischen Verhältnis-

se durchgreifend ändern und verbessern zu können? Allenfalls kann Zivilgesellschaft Miss-

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mut äußern; Vorschläge in den öffentlichen Raum transportieren; einige der schlimmsten

systemischen Fehlgriffe – z.B. bei TTIP – durch eine Watchdog-Position10 von zivilgesell-

schaftlichen Akteuren abmildern, die sich hier durchaus institutionalisiert z.B. mit Blick auf

die Regulierungstätigkeit der EU-Kommission geradezu in einer Art „regulativem Stellungs-

krieg“ befinden und in kleinstteiligen Komitologie-Gefechten etwa bei Chemikalienrichtlinien

um Zahlenwerte hinter dem Komma und Punkte fechten. Heutige Bewegungen zeigen

durchaus strukturelle Defizite des institutionellen Gefüges auf und können gegebenenfalls

Dinge abmildern, bestenfalls verhindern, aber sie propagieren kaum wirkliche „Gegeninstitu-

tionen“ (Rucht 2002: 6). In diesem Zusammenhang wird gerne darauf verwiesen, dass z.B.

durch zivilgesellschaftliches Engagement – in diesem Fall eine Unterschriftenaktion – die

Wasserrichtlinie der EU (und damit die Privatisierung der Wasserbetriebe) verhindert wer-

den konnte. Das ist sicher begrüßenswert; dennoch bleibt die Frage nach der Politiksteue-

rung, konkret: warum muss ex-post etwas verhindert werden, weil es ex-ante, also syste-

misch, nicht verhindert werden kann, da das EU-System sich offensichtlich in weiten Teilen

von der Produktion akzeptabler öffentlicher Güter für die Gesamtheit der europäischen Bür-

ger verabschiedet hat. Als Negativ-Beispiele könnten hier angeführt werden, dass die Fi-

nanzmarkttransaktionssteuer trotz großen Engagements ziviler Akteure vom EU-Rat torpe-

diert wurde; oder aktuell die „Better Regulation“-Initiative der EU-Kommission, gegen die die

gesamte Bandbreite der organisierten Zivilgesellschaft mobilisiert, da sie zentrale demokrati-

sche Mechanismen im EU-System aushebelt. Aber auch diese Richtlinie konnte nicht verhin-

dert werden.

Damit drängt sich die Frage auf, ob Partizipation11 – und die Ambition einer Verstetigung von

europäischer Zivilgesellschaft – die richtige Frage, gar die richtige politische Forderung ist,

um das Europa der Euro-, Flüchtlings- und neuerdings auch Terrorkrise vor dem Abgrund zu

bewahren?12 Zumal auch die Abgründe unterschiedlich konnotiert sein dürften: Was ist der

10

Finance Watch, Webauftritt unter http://www.financewatch.org. [12.01.2016].Auch Lobby-Control, Abge-

ordneten-Watch etc., sind alles Einrichtungen, die eigentlich eine permanente „Systemüberwachung“ inszenie-

ren, womit die Frage aufzuwerfen wäre, ob systemischer Missbrauch quasi schon institutionalisiert ist, so dass

dies nötig ist? Für einen tiefen Einblick in das Paradoxon, dass trotz massiver zivilgesellschaftlicher Aktivität das

eigentliche Problem immer größer wird, siehe Schumann (2015).

11 Wobei hier nicht grundsätzlich gegen Partizipation argumentiert werden soll; in lokalen oder kommunalen

Räumen hat diese sicher einen konstruktiven Platz, hier muss je nach Politikebene ausdifferenziert werden.

Aber auch hier müsste jeweils ausgelotet werden, ob sich hinter dem Begriff Zivilgesellschaft nicht oft (oder

auch) ein Kampf um die Privilegien einer bürgerlichen Minderheit versteckt, durch den letztlich der verfas-

sungsrechtliche Grundsatz „Gemeinwohl kommt vor Eigenwohl“ durchbrochen wird (z.B. „Wutbürger“ in Stutt-

gart oder die bayrischen Initiativen gegen die neuen Stromtrassen im Rahmen der Energiewende). Dazu umfas-

send Walter (2013).

12 Gegen das durchaus problematische politische Mandat für europäische Kampfeinsätze gegen den IS gelang

indes nicht einmal eine Großdemonstration, wie seinerseits in London oder Berlin nach der US-Invasion im Irak

2003.

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Abgrund für Europa? Ein kosmopolitisches Europa der „Willkommenskultur“ dürfte der „eu-

ropäische Abgrund“ für viele Pegida-Demonstranten wie auch für viele „zivile“ Osteuropäer

von Polen bis Ungarn sein, während ein re-nationalisiertes, populistisches Europa umgekehrt

der Abgrund für eine progressive, engagierte und zivilgesellschaftlich in vielen Foren aktive

„Erasmus-Jugend“ wäre.

Der Begriff der Zivilgesellschaft und ihrer Verstetigung führt also in die Irre. Was zur Zeit ver-

handelt wird – und dies durchaus mit viel Bewegung an der politischen Oberfläche, ganz egal

ob es dabei um Klima, Nachhaltigkeit, Post-Wachstumsgesellschaft, Flüchtlinge oder Europa

geht – ist eine Öffnungs- vs. eine Schließungs-Agenda, die beide jeweils sehr viel Zivilgesell-

schaft mobilisieren. Es sind alles Fragen, die die Gesellschaft polarisieren, gar spalten: Zivil-

gesellschaftlich steht in der Flüchtlingsfrage Pegida gegen Refugees Welcome. Was hier also

eigentlich verhandelt wird, ist die Verlagerung der politischen Willensbildung vom geschlos-

senen Parlamentsraum in den öffentlichen Raum, von einer Meinungsbildung durch Parteien

zu einer Meinungsbildung auf der Straße. Womit dann die Frage ist, welche zivilgesellschaft-

liche Seite gewinnt und wer die Mehrheit davonträgt bzw. überhaupt, wie die Mehrheitsfin-

dung zu organisieren ist?

5 Über die Zukunft der repräsentativen Demokratie

Zivilgesellschaft tritt oft in Erscheinung mit der Ambition dem Populismus entgegenzuwir-

ken; ihr haftet der Nimbus der moralischen Überlegenheit an. Als Populist darf aber eigent-

lich a priori niemand bezeichnet werden, nur weil seine Meinung nicht der herrschenden

Meinung der nationalen europäischen Eliten entspricht (Müller 2013). Anstatt die Ursachen

des populistischen Votums ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass es dafür reale Gründe

der sozialen und kulturellen Exklusion gibt, reagiert die politische Klasse – und die „organi-

sierte“ Zivilgesellschaft – oft mit einer Moralisierung der sogenannten Populisten: Das eige-

ne Argument wird moralisch höher gestellt, Populisten gelten als nicht integer, irrational,

böswillig oder gefährlich, wobei die identitären Bedürfnisse der oft ländlichen Globalisie-

rungsverlierer als konkurrierende Werteordnung nicht respektiert werden. De facto werden

dadurch die Argumente der Anderen politisch entwertet, dem demokratischen Diskurs wird

mithin selbst die Grundlage entzogen: Er muss zwangläufig erodieren, wenn die politischen

Argumente a priori nicht gleichwertig sind und in einer Polarisierung und Frontstellung en-

den, in der politische Überzeugungsarbeit letztlich nicht mehr funktioniert.

Verhandelt wird derzeit also nichts Geringeres als der Fortbestand der repräsentativen De-

mokratie, wie wir sie kennen. Um die Rousseausche Terminologie zu bemühen: wo die vo-

lonté générale offensichtlich nicht mehr genügt und erodiert, zu viele Verlierer produziert

oder pervertiert erscheint von wahlweise Finanzmarkt, Handels- oder Big-Data-Lobbies, wo

das allgemeine Gute also nicht mehr sichtbar ist, es zu viele Systemverlierer gibt, die zu Sys-

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temgegnern werden können, floriert die volonté de tous, der addierte Wille aller13. Im pro-

gressiv-elitären Spektrum ist das „die Zivilgesellschaft“, die auf Teilhabe und Partizipation

pocht; auf der anderen Seite schlicht „das Volk“, das – gerade mit Blick auf Europa – derzeit

auf der Straße ist und Referenden fordert.

Es geht also um Plebiszit gegen Repräsentation. Das aber ist gefährlich, denn die Mehrheit

der Straße ist keine Demokratie, sondern, wie schon die alten Griechen wussten, jener

„Mob“, den Sokrates gefürchtet und der ihn schließlich sogar hingerichtet hat. Dieser Logik

entkommen könnte man lediglich, wenn man Zivilgesellschaft gleichsam elitär abgrenzen

wollte und dem Volk letztlich die Qualität von Zivilgesellschaft absprechen würde. Wer aber

würde darüber befinden wollen, wer zivil ist und wer nicht?

Statt zivilgesellschaftlicher Partizipation müsste es also das eigentliche Ziel sein, das politi-

sche System in Europa wieder zum Laufen zu bringen, wieder eine volonté générale, einen

allgemeinen Willen zu produzieren, der den Bedürfnissen der großen Mehrheit gerecht wird,

der einer res publica europaea, der öffentlichen europäischen Sache dient. In seinem Buch

„The Society of Equals“ bringt Pierre Rosanvallon (2013) das auf den Punkt. Nach ihm geht es

bei Demokratie nicht in erster Linie um Partizipation, sondern vielmehr um das Prinzip der

Gleichheit und er erinnert an den Grundsatz der französischen Revolution: liberté, égalité,

fraternité. Freiheit ist nur mit Gleichheit zusammen denkbar. Wo in Europa formale Demo-

kratie angeboten, die soziale Frage aber nicht gelöst bzw. das Gleichheitsversprechen der

Gesellschaft nicht – wenigstens bis zu einem bestimmten Grad – eingelöst wird, hat das de-

mokratische System versagt, weil es seine Funktion nicht mehr erfüllt. Mehr als um Partizi-

pation geht es bei der Demokratie um die Erhaltung sozialer Körper. Dazu passt die Renais-

sance republikanischen Denkens, das augenblicklich überall in der politikwissenschaftlichen

Debatte zu beobachten ist und in dem der Begriff des Gemeinwohls, der commons oder All-

mende vor allem in sozialen Bewegungen neu besetzt und reflektiert wird (Besson/Martí

2009; Nowrot 2014).

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Das Argument, das hier in dem längeren Beitrag entwickelt werden wird, ist, dass der Ruf nach Zivilgesell-

schaft de facto eine Reaktion auf ein kolossales Elitenversagen ist, die das politische EU-System – das auf-

grund eines zwischen nationaler und europäischer Ebene gleichsam zerriebenen Parlamentarismus kein insti-

tutionell eingebautes Selbstkorrektiv hatte und dadurch zur „leichten Beute“ werden konnte – durch mas-

sierte Anstandslosigkeit zur „Selbstbedienung“ genutzt und in eine quasi systemische Perversion getrieben

haben, anstatt der volonté générale zu dienen (Grimm 2015). An der Finanzkrise kann das leicht und gut

nachgezeichnet werden. Zu einem falsch – weil amoralisch – verstandenen Verständnis von Liberalismus,

siehe Michéa (2007). Nicht von ungefähr weisen progressive Ökonomen wie Joseph Stiglitz (2012) seit Jahren

darauf hin, dass, ist ein Gini-Koeffizient von rund 25 Prozentpunkten erst einmal überschritten, er sich syste-

misch in Richtung immer größere Ungleichheit selbst verstärkt und der Mangel an Gleichheit die Demokratie

dann systemisch in Gefahr bringt. Die Demokratie erodiert, wie wir das heute in der „Weimarisierung Euro-

pas“ (von Lucke 2015) bemerken. Folgt man dieser Hypothese, dann wären die positive Konnotierung der Zi-

vilgesellschaft in ihrer heutigen – herkömmlichen – Lesart und ihr augenblicklicher Auftrieb eher ein Indiz für

die Unruhe und Nervosität in der (bürgerlichen) Gesellschaft, dass eben genau dies gerade in Europa passiert.

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Die Forderung nach Aktivierung und Verstetigung einer europäischen Zivilgesellschaft wäre

dann ein Ablenkungsmanöver, ein Nebenkriegsschauplatz, der am eigentlichen Kern vorbei

geht, nämlich an der Tatsache, dass wir einen neugestalteten europäischen Parlamentaris-

mus brauchen, eine andere Input-Legitimität für die EU-Institutionen, die uns regieren, ein

System, in dem Opposition funktioniert, und das funktionierende Transmissionsriemen für

eine andere Politikgestaltung hat. Den „Abgrund Europas“ überwinden wir nicht mit mehr

Transparenz, mehr Partizipation oder mehr Konfliktlösung und schon gar nicht mit Konsens,

eben jenen Begriffen, auf die sich der augenblickliche europäische Diskurs eingeschossen,

um nicht zu sagen: in denen er sich festgefahren hat. Mehr Partizipation schafft Marine Le

Pen nicht aus der Welt, mehr Transparenz entmachtet Orban nicht, mehr Konfliktlösung hilft

der Ukraine nicht, mehr Konsens führt nur zu Stillstand.

6 Es geht um Macht

Darum kommt vor allem ein Begriff in den Diskurs zurück und zwar der der Macht, gepaart

mit dem der Werte, vor allem dem Wert des Sozialen an sich als Antipode zu einer als alter-

nativlos gesetzten Ökonomisierung der Welt. Es geht, um Chantal Mouffe (2007) zu zitieren,

um die Wiederkehr und die Wiederentdeckung des Politischen selbst. Mouffe erlebt derzeit

mit ihren radikalpolitischen Thesen eine Renaissance – besonders bei jüngeren Lesern –

wenn sie gegen den „Empire“-Diskurs von Hardt und Negri (2002) ins Feld führt, dass das

„hegemoniale Empire“ – gemeint ist die neo-liberale Weltordnung und das globalisierte

Marktsystem – sich nicht von selber auflösen werde, sondern dass man einen ausdauernden

und gezielten „Stellungskrieg“ gegen alle „Knotenpunkte“ dieses System führen müsse

(Mouffe 2009). Eine (linke) Gegenmacht müsse „politisch gebündelt“ werden, um jenseits

von Demonstrationen der Multitude von Hardt/Negri, die Mouffe als unpolitisch („Exodus“)

bezeichnet, eine Alternative zum bestehenden System aufzubauen. Zivilgesellschaft ist aber

gerade keine solche Macht, sie ist nicht gebündelt und läuft darum allzu oft ins Leere. Nur

am Rande sei erwähnt, dass die Bündelung von politischer Macht genau das ist, was den

Populisten derzeit in Europa überall fast mühelos gelingt, und zwar durch die Herausbildung

von Parteien: die AfD und der FN, Jobbik, Fidesz und die FPÖ, UKIP oder die schwedischen

Demokraten, sie alle haben längst die nationalen Parteiensysteme gekapert und sind zu ent-

scheidenden politischen Faktoren in den jeweiligen nationalen politischen Systemen gewor-

den. Blockupy kann das nicht von sich behaupten.

7 Vom gemeinsamen Rotieren im Netzwerk

Das Gros der zeitgenössischen Anti-Austerity-Bewegungen entstand in Europa zwischen

2010 und 2013. Diese Bewegungen erfüllten die grundlegenden Charakteristika einer sozia-

len Bewegung im Sinne von James/van Seeters (2014). Es ging um Grassroot-Proteste von

unten gegen vorherrschende Regime der Wirtschaft, Politik und Ökologie. Aber eine zentrale

Bedingung, die James und van Seeters, aber auch Hopke (2015) als bestimmendes Element

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sehen, nämlich die Herausbildung einer gemeinsamen Identität, war nicht erfüllt. Die Bil-

dung einer europäischen Protestpartei gelang mithin nicht.

Es wird an keinem gemeinsamen Strang gezogen. Zu sehen ist das anhand von geplanten

Pan-Europäischen Solidaritätstreffen wie „Firenze 10+10“ oder dem „Alter Summit“ in

Athen, die verschiedene Aktivistengruppen, soziale Bewegungen und andere zivilgesell-

schaftliche Organisationen versammelten und eine europäische Bewegungsdynamik herstel-

len sollten. Der erwünschte Zulauf blieb allerdings aus; mit weniger als 1000 Teilnehmern in

Florenz mangelte es auch an medialer Berichterstattung und dadurch an der Aufmerksam-

keit der breiten Öffentlichkeit (Wigger/Horn 2014). Beim „Alter Summit“ in Athen im Juni

2013 konnten die Veranstalter im Wesentlichen auf die Unterstützung von SYRIZA zählen.

Der Gipfel wurde später als eine ungeheure Verschwendung von Mitteln kritisiert und ging

weitestgehend unbemerkt an der griechischen Bevölkerung vorbei (Vogiatzoglou 2013). Der

Grund liegt wohl in zeitlichen und räumlichen Divergenzen der Europakrise. Die Krise hat

sich, angesichts heterogener Ursachen, ungleich in europäischen Ländern entwickelt und zu

„fragmentierten Konfliktdynamiken“ (Bieling et al. 2013: 231) geführt.

Eine klar definierbare europäische Zivilgesellschaft ist nicht entstanden – aber viel Bewegung

im Netz und an der Oberfläche. Neue Formen von Demokratie werden getestet – Liquid De-

mocracy, Appstimmung, Civocracy. Wir spüren, dass der Rahmen, die Statik der herkömmli-

chen (nationalen) repräsentativen Demokratie aufgebrochen wird, vor allem durch das In-

ternet, haben aber einen neuen Rahmen für repräsentative Demokratie sowohl unter trans-

nationalen, als auch unter neuen technischen Bedingungen noch nicht gefunden. Die Zivilge-

sellschaft hat durchaus eine sichtbare transnationale Dynamik und das ist sicherlich gut. Die

europäische Zivilgesellschaft ist damit Vorform oder auch der Vorbote einer europäischen

Politisierung – aber noch keine europäische Politik. Diejenigen, die an alternativen Politik-

konzepten arbeiten, die eine andere Weltordnung einfordern, die die kritischen Debattenfo-

ren in Europa bevölkern, sind heute, bedingt durch das Internet, meistens jung, digital, ver-

netzt, post-party und no hiercharchy. Aber ihnen gelingt keine Interessenbündelung, wie das

etwa bei den GRÜNEN noch gelungen ist. Asymmetrische Strukturen, wie etwa Partei und

Führung, Macht und Hierarchie werden nicht mehr akzeptiert (Nassehi 2015). Damit können

sie sich unter gegebenen institutionellen Bedingungen nicht durchsetzen und bekommen

kaum Gehör. Der Vernetzungs-Hype der Zivilgesellschaft nützt ihr nur bedingt. Ein Installati-

onskünstler hat kürzlich eine kleine Kunstperformance inszeniert und auf verschiedenen

Videos Folgendes dokumentiert: Fünf Personen sollten an einer Töpferscheibe zusammen

eine Schüssel formen. Es geht nicht. Nur mit Partizipation kommt man also nicht weiter.

Derweil schnappen sich die Populisten die nationalen politischen Systeme.

Was wir wirklich bräuchten, wäre eine „europäische Vergesellschaftung“ (Heidenreich 2014),

eine konsequente Europäisierung nationaler Bürokratien, Administrationen, politischer Pro-

zesse, Parteiensysteme, Strukturen und Öffentlichkeiten, die wie ein transnationales Zahn-

rad ineinander greifen müssten, damit sich die gesamten nationalen Gesellschaften quasi

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systemisch europäisieren, alle Gesellschaftsbereiche europäisch organisiert würden: die So-

zialsysteme, die Wahlsysteme etc. Dafür müssten die institutionellen Grundlagen und Me-

chanismen geschaffen werden. Das politische System Europa muss neu ausgestaltet werden,

es muss organisiert, administriert werden, es muss auch eine europäische Elite ausgebildet

werden, die dieses politische System Europa dann lenkt, aber mit Anstand, mit Gemeinwohl-

verpflichtung, eben zum Wohle aller Bürger, im Sinne einer europäischen volonté générale,

einer res publica europaea, so wie nationale Eliten – vorgängig zu post-demokratischen Ver-

hältnissen – auch die jeweiligen nationalen Systeme gelenkt haben.

Denn wir wollen nicht als Zivilgesellschaft an der Oberfläche eines EU-Systems kratzen, das

sich davon nicht beeinflussen lässt. Wir wollen letztlich auch nicht mit Megaphonen bei

Straßendemonstrationen um Mehrheiten buhlen, bei Demonstrationen mit Pegida konkur-

rieren und permanent Gegendemonstrationen organisieren. Und wir wollen komplexe The-

men nicht in Plebisziten strittig stellen. Schon gar nicht in Europa!

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Autorin

Dr. Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin und Direktorin des European Democracy Lab an

der European School of Governance in Berlin. Sie wurde im April 2016 als Universitätsprofes-

sorin für Europapolitik und Demokratieforschung an die Donau-Universität Krems berufen

und leitet das Department für Europapolitik und Demokratieforschung.

Kontakt: [email protected]

Der Beitrag ist zuerst im März 2016 erschienen im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Heft

1/2016, S. 82-93, im Themenschwerpunkt „Aufbruch am Abgrund? Europas Bewegungslandschaft in

der Eurozonen-Krise“.

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