Nicht so sicher · 2019-01-17 · Die Stimme unseres Trainers Kevin schallt vom anderen ......

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Gedruckt auf FSC®-Papier Lösungsmittelfreier Klebstoff Drucklack auf WasserbasisHergestellt in Deutschland

1. Auflage 2018© 2016 Magellan GmbH & Co. KG, 96052 BambergAlle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten

Copyright © 2015 by Tamara Ireland StoneDie Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Every Last Word«

bei Hyperion, einem Imprint der Disney Book Group, New York.Aus dem Englischen von Sandra Knuffinke und Jessika Komina

Text » So Long, Lazy Ray« © by Joe RutUmschlaggestaltung: Christian Keller

unter Verwendung eines Motivs von iStock / elapelaISBN 978-3-7348-5401-9

www.magellanverlag.de

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5401_Worte_KlBr.indd 336 25.10.2017 13:13:23

Tamara Ireland Stone

Mit anderen Worten:

ich

Aus dem Englischen von Sandra Knuffinke und Jessika Komina

5401_Worte_KlBr.indd 3 25.10.2017 13:13:17

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Nicht so sicher

Bahn Nummer drei. Es muss immer Bahn Nummer drei sein. Meine Trainer finden das lustig. Sie halten es für einen Tick. Eine schrullige Angewohnheit, wie wenn jemand seine Glücks-socken nie wäscht oder sich so lange nicht rasiert, bis er den Titel gewonnen hat. Und das ist perfekt. Genau das sollen sie denken.

Auf dem Startblock drehe ich meinen Oberkörper hin und her und lockere Arme und Beine. Ich krümme die Zehen um die Kante und starre ins Wasser, während ich dreimal hinter-einander mit beiden Daumen über den zerkratzten Kunststoff fahre.

»Auf die Plätze, Leute!«Die Stimme unseres Trainers Kevin schallt vom anderen

Ende des Beckens durch die Schwimmhalle, und als er schließ-lich in seine Trillerpfeife bläst, reagiert mein Körper mit einem astreinen pawlowschen Reflex. Ich lege die Hände übereinan-der, und meine Oberarme pressen sich auf meine Ohren, als ich mich gestreckt nach vorne abstoße, mich so lang mache wie möglich und die Position halte, bis meine Fingerspitzen die Wasseroberfläche durchbrechen.

Und dann, für zehn glückselige Sekunden, höre ich nichts als das Rschhhh des Wassers.

Mit ein paar kräftigen Beinschlägen katapultiere ich mich vorwärts und suche nach einem Song. Der erste, der mir in den Kopf kommt, ist fröhlich, mit einem eingängigen Text, und ich gehe in den Schmetterlingsstil über. Meine Schwimmschläge

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leicht ist, seine Shorts zu ignorieren, die sich äußerst schmei-chelhaft um seine Hüften schmiegen.

In meinem ersten Sommer im Schwimmverein war Brandon einfach ein älterer Teamkollege mit einem irrsinnig schnellen Freistil, der bei Wettkämpfen immer die meisten Punkte hol-te und den Kindern schwimmen beibrachte. Seit zwei Jahren allerdings arbeitet er in den College-Semesterferien als Junior-trainer – mein Trainer – bei uns, was ihn natürlich absolut tabu macht. Und umso heißer.

»Danke.« Ich bin immer noch außer Atem. »Ich hab wohl einfach einen guten Rhythmus gefunden.«

Brandon zeigt seine perfekten Zähne und die kleinen Lach-fältchen um seine Augen treten hervor. »Kannst du das dieses Wochenende bitte noch mal ganz genauso machen?«

Ich suche nach einer schlagfertigen Antwort, einer, die ihn dazu veranlasst, mich weiter so anzulächeln, aber stattdessen werden bloß meine Wangen heiß, während er mich abwartend anblickt. Ich sehe zu Boden, auf das Wasser, das aus meinem Badeanzug rinnt und sich in einer Pfütze um meine Füße sam-melt, und verfluche mich insgeheim wegen meiner Einfallslo-sigkeit.

Brandon muss meinem Blick gefolgt sein, denn er deutet mit einem Mal zu der Reihe von Handtüchern an der Wand hinter ihm und sagt: »Warte kurz. Nicht bewegen.«

Ein paar Sekunden später ist er zurück. »Hier.« Er schlingt mir ein Handtuch um die Schultern und zieht es ein paarmal von rechts nach links. Ich warte darauf, dass er die Enden los-lässt, aber er hält sie fest. Zögerlich hebe ich den Kopf und bemerke, dass er mir fest in die Augen sieht. So als … wollte er mich vielleicht küssen. Und ich weiß, dass ich ihn ansehe, als wollte ich dasselbe, denn genauso ist es. Ich kann an nichts anderes denken.

Er blickt mich immer noch an, aber ich weiß, dass er niemals die Initiative ergreifen wird, also mache ich tapfer einen Schritt

passen sich perfekt dem Takt an. Bein, Bein, Arme. Bein, Bein, Arme. Eins, zwei, drei.

Kurz darauf erreiche ich auch schon das gegenüberliegende Ende des Beckens, wo ich eine Brustwende vollführe und mich mit aller Kraft von der Wand abstoße. Ich sehe kein einziges Mal auf oder nach rechts und links. Denn, wie unser Trainer immer sagt, in diesem Moment eines Wettkampfs ist man völlig allein mit sich selbst und nichts anderes ist wichtig.

Mein Kopf hebt sich alle paar Sekunden aus dem Wasser, und dann höre ich für einen winzigen Augenblick das Geschrei der Trainer: »Kinn runter!«, »Hüfte hoch!«, »Beine strecken!« oder »Den Rücken runder!«. Zwar höre ich nie meinen Namen, aber ich korrigiere trotzdem jedes Mal meine Haltung. Heute fühlt sich alles gut an. Ich fühle mich gut. Und schnell. Ich stei-gere das Tempo meines Songs, lege mich auf den letzten paar Metern noch einmal richtig ins Zeug, und als meine Fingerspit-zen schließlich auf die Wand treffen, tauche ich auf, und mein Blick wandert sofort zur Uhr. Ich habe meine Bestzeit um vier Zehntelsekunden unterboten.

Mein Atem geht keuchend, als Cassidy, die in Bahn vier ge-schwommen ist, ihre Faust gegen meine stößt. »Oh Mann … am Wochenende bei den Bezirksmeisterschaften putzt du mich so was von weg.« Cassidy hat die Meisterschaften die letzten drei Male in Folge gewonnen. Ich werde sie nie schlagen und weiß, dass sie nur nett sein will, aber es ist trotzdem schön, so etwas zu hören.

Wieder ertönt die Trillerpfeife, und irgendjemand springt vom Startblock über mir – mein Signal, das Becken zu verlas-sen. Ich stemme mich aus dem Wasser und schäle mir auf dem Weg zu meinem Handtuch die Badekappe vom Kopf.

»Wow! Wo hast du das denn hergenommen?« Als ich den Kopf hebe, sehe ich Brandon. Oder, genauer gesagt, Brandons Brust. Ich zwinge mich dazu, weiter hochzusehen, vorbei an seinem dünnen T-Shirt bis zu seinen Augen, obwohl es nicht

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sagen, aber in dem Moment ruft Kevin uns alle zusammen und lässt uns an der Wand Aufstellung nehmen. Brandon klopft mir ein letztes Mal auf die Schulter. Ganz trainermäßig. »Ich weiß, wie sehr du es dir wünschst, Sam.«

»Mehr, als du dir vorstellen kannst.«Er steht immer noch vor mir. Ich frage mich kurz, was wohl

passieren würde, wenn ich wirklich mein Handtuch öffnen und um ihn schlingen würde.

»Sam. Los, an die Wand!«, ruft Kevin mir zu. Er deutet auf meine Teamkollegen, die schon dort warten und zu mir herü-berstarren. Ich quetsche mich neben Cassidy, die mir, als Kevin außer Hörweite ist, den Ellenbogen in die Seite stößt und flüs-tert: »Okay, das war wirklich süß. Das mit dem Handtuch.«

»Ja, oder?« Ich werfe ihr einen überraschten Blick zu. Am Anfang dieses Sommers hat Cassidy ihn noch »Coach Knutsch« genannt, war aber mit der Zeit immer genervter geworden, als ich nicht aufhörte, für ihn zu schwärmen.

»Ich hab gesagt, es war süß, nicht, dass es irgendwas zu be-deuten hatte.«

»Vielleicht ja doch.«»Sam. Schatzi. Hatte es nicht, glaub mir. Er hat dein Hand-

tuch genommen und dich ein bisschen damit abgetrocknet. Das ist alles. Weil er nämlich eine Freundin hat. Am College.«

»Und?« Ich recke den Hals und versuche, nicht allzu auffällig zu ihm rüberzustarren. Er steht mit einer Cola in der Hand vor dem Büro und unterhält sich mit einem der Bademeister.

»Nichts ›und‹. Er hat eine Freundin. Am College«, wieder-holt sie mit besonderer Betonung auf dem letzten Wort. »Er redet die ganze Zeit von nichts anderem, und jeder außer dir hat mittlerweile kapiert, dass er total in sie verschossen ist.«

»Autsch.«»Tut mir leid. Aber das musste sein.« Cassidy wickelt ihr

langes rotes Haar zu einem unordentlichen Knödel mitten auf dem Kopf zusammen und ergreift dann mit beiden Händen

auf ihn zu, dann noch einen, und ohne darüber nachzudenken, was ich da im Begriff bin zu tun, stehe ich mit meinem trief-nassen Badeanzug an sein T-Shirt gepresst und spüre, wie das Wasser es bis auf seine Haut durchnässt.

Er atmet stoßartig aus, ballt die Enden meines Handtuchs zusammen und zieht mich damit noch enger an sich. Meine Hände wandern von seinen Hüften hoch zu seinem Rücken. Ich spüre, wie seine Muskeln sich anspannen, als er sich schließ-lich zu mir vorbeugt und mich küsst. Stürmisch. Dann zieht er abermals an meinem Handtuch.

Seine Lippen sind warm und sein Mund öffnet sich, und, oh Gott, passiert das hier gerade wirklich? Obwohl wir von Leuten umringt sind und ich hinter mir immer wieder die Trillerpfei-fen und die Rufe der Trainer höre, ist mir alles andere egal, denn in diesem Moment will ich einfach nur –

»Sam? Alles okay, Kleine?«Ich blinzle hektisch und schüttle kurz verwirrt den Kopf, als

Brandon das Handtuch loslässt und es mir lose von den Schul-tern hängt. Er steht immer noch zwei Schritte von mir entfernt und sein T-Shirt ist kein bisschen nass. Und ich bin auch keine »Kleine«. Ich bin sechzehn. Und er ist erst neunzehn. Das ist ja wohl kein so himmelweiter Unterschied.

Er schiebt seine Baseballkappe ein Stück hoch und schenkt mir erneut sein beinahe absurd süßes Lächeln. »Da warst du aber ganz weit weg in Gedanken, was?«

»Nein.« Im Gegenteil. Meine Brust zieht sich zusammen, als der Tagtraum verpufft und sich in Luft auflöst. »Ich hab bloß über was nachgedacht.«

»Wetten, ich weiß, worüber?«»Ach ja?«»Ja. Und du brauchst dir wirklich keinen Kopf zu machen.

Wenn du dich bei den Bezirksmeisterschaften noch mal genau-so anstrengst und fleißig weitertrainierst, wirst du bestimmt bald mit College-Stipendien bombardiert.« Er will noch etwas

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Brandon zum College. Ich werde sie vermissen, genau wie mei-ne frühmorgendlichen Kopfsprünge vom Startblock in Bahn Nummer drei.

Dann bin ich wieder Samantha – und mehr als alles andere werde ich Sam vermissen.

meinen Arm. »Ach komm, ich erzähle dir hier doch nichts, was du nicht längst weißt.« Sie tritt dichter neben mich. »Guck dich einfach mal um, Sam«, sagt sie mit einer Geste in Richtung der langen Reihe unserer Teamkollegen. »Andere Mütter haben auch hübsche Schwimmersöhne.«

Ich folge ihrer Geste und sehe Jungs in engen Badehosen, mit wohldefinierten Bauchmuskeln und durchtrainierten Ar-men, die Haut gebräunt von der nordkalifornischen Sonne, die Körper gestählt und drahtig nach drei Monaten Schwimmtrai-ning, aber keiner ist auch nur annähernd so perfekt wie Bran-don. Und selbst wenn ich einen von ihnen ein klitzekleines bisschen attraktiv fände – was sollte das jetzt noch bringen? Die Sommerferien sind schließlich so gut wie vorbei.

Cassidy legt den Kopf schief und zieht ein übertrieben ver-zweifeltes Gesicht. Dann stupst sie mir mit dem Finger auf die Nase und seufzt. »Ach, Sam, wie soll das bloß werden? Ohne dich komme ich doch überhaupt nicht klar.«

Mein Magen krampft sich zu einer kleinen, harten Kugel zu-sammen, als sie den Gedanken ausspricht, der mir schon seit Anfang August durch den Kopf spukt. Genau wie all meine an-deren Sommerfreunde kennt Cassidy mich nur vom Training. Sie hat keine Ahnung, wer ich bin, wenn ich nicht hier bin, und weiß darum auch nicht, dass es genau umgekehrt ist.

»Du kriegst das schon hin«, sage ich, weil es stimmt. Bei mir selbst bin ich mir da nicht so sicher.

Meine Therapeutin hat damals im Juni den Nagel auf den Kopf getroffen, als ich wie auf Wolken in ihre Praxis geschwebt kam und verkündete, ich hätte die letzte Klausur hinter mich gebracht. Sie ist sofort an ihren Minikühlschrank gegangen, hat Gingerale in zwei Champagnerflöten geschenkt und mit den Worten »Auf die triumphale Rückkehr von Sommer-Sam!« mit mir angestoßen.

Aber bald hat das alles wieder ein Ende. In zwei Wochen fängt die Schule wieder an, Cassidy muss zurück nach L.A. und

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»Alexis fragt, ob ich sie mit zur Schule nehmen kann.«»Wie kommt sie denn darauf?«, fragt Mom, während sie

Frühstücksflocken für Paige in eine Schale füllt. »Sie weiß doch, dass es gesetzlich verboten ist, im ersten Führerscheinjahr je-manden mitzunehmen.«

Natürlich weiß Alexis das, sie ist nur immer wieder erstaunt, dass ich mich an diese Regel halte, da die meisten Leute es nicht tun. Ich schreibe ihr zurück, dass ich sie nicht mitneh-men kann, weil meine Eltern mir, wenn sie dahinterkommen, das Auto wegnehmen würden. Dann drehe ich das Telefon so, dass Mom die Nachricht lesen kann. Sie nickt zufrieden und ich drücke auf »Senden«.

Ich stecke das Handy zurück in die Tasche und schlinge mir den Rucksack über die Schulter. »Guten Start in die sechste Klasse«, sage ich zu Paige, die sich gerade einen riesigen Löffel Cornflakes in den Mund schiebt.

Auf dem Weg zur Garage schreibe ich immer noch mit Alexis hin und her, die mich weiter zu überreden versucht. Schließlich lege ich das Handy in den Becherhalter – womit die Diskussi-on fürs Erste beendet ist, ohne dass ich ihr den wahren Grund dafür genannt habe, warum ich sie heute oder in Zukunft nicht mitnehmen kann – und setze rückwärts aus der Einfahrt.

Vor ein paar Wochen, an meinem sechzehnten Geburtstag, ist Dad mit mir zum Amt gefahren, um meinen Führerschein abzuholen, und als wir ein paar Stunden später nach Hause ka-men, stand ein Honda Civic in unserer Garage. Ich war voll-kommen perplex, denn ein eigenes Auto zu haben, bedeutete so viel mehr für mich, als bloß ein eigenes Transportmittel zu besitzen. Es bedeutete, dass Mom, Dad und meine Therapeutin der Meinung waren, dass ich damit würde umgehen können.

Ich hätte mein neues Auto am liebsten gleich allen vorge-führt, aber Alexis, Kaitlyn, Olivia und Hailey waren mit ihren Familien im Urlaub und Cassidy hatte Hausarrest, also fuhr ich den restlichen Nachmittag allein durch die Gegend, hörte Mu-

Nur noch fünf

»Toll siehst du aus«, sagt Mom, als ich in die Küche komme.Das sollte ich auch besser. Schließlich habe ich gerade eine

ganze Stunde damit verbracht, mich für die Schule fertig zu machen. Meine Haare, die ich mit dem Glätteisen bearbeitet habe, fallen mir offen über die Schultern. Ich trage ein durch-sichtiges Shirt über einem weißen Trägertop, enge Jeans und die Keilsandalen, um die ich Mom angebettelt habe. Meine Augen sind mit Eyeliner betont, meine Lippen nachgezogen und die Stresspickelchen an meinem Kinn unter einer Schicht Make-up verschwunden.

»Danke.« Ich drücke sie kurz und hoffe, sie weiß, dass ich damit nicht nur das Kompliment meine. Sondern all das, was sie den Sommer über für mich getan hat. Ich bin ihr dankbar dafür, dass sie zu jedem einzelnen meiner Schwimmwettkämpfe gekommen ist und mich so laut angefeuert hat, dass sie sonn-tagabends immer heiser war. Für die spätnächtlichen Gesprä-che, besonders in der vergangenen Woche, als Cassidy wieder in L.A. war, Brandon an der Ostküste und der erste Schultag am Horizont heraufzog wie eine finstere Gewitterwolke.

Mom schenkt mir dasselbe aufmunternde Lächeln wie im-mer, wenn sie weiß, dass ich nervös bin.

»Guck mich nicht so an, bitte«, stöhne ich und kämpfe den Drang nieder, die Augen zu verdrehen. »Mir geht’s gut. Wirk-lich.«

Mein Handy piepst und ich ziehe es aus der Hosentasche und werfe einen Blick aufs Display.

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mehr als bloß eine einseitige Obsession verband. Kurt mochte ich. Wirklich. Und er mochte mich auch, zumindest ein paar Monate.

Über Kurt kam ich nur schwer hinweg, aber dann trat mit Anfang des Sommers Brandon ins Rampenlicht. Wieder sehe ich ihn in seinen Badeshorts vor mir und frage mich, was er wohl gerade macht, als ich um eine Ecke biege.

Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Das kann nicht mein Spind sein.

Die Tür ist mit knallblauem Papier beklebt und irgendje-mand hat eine riesige silberne Schleife um die Mitte gewickelt. Ich streiche mit der Hand darüber. Ich kann nicht glauben, dass sie das wirklich gemacht haben.

Ich hebe den Kopf und sehe, wie sich die Menge auf dem Flur für Alexis teilt. Wie immer wirkt sie wie frisch dem Cover der »Teen Vogue« entstiegen mit ihren langen blonden Haa-ren, leuchtend grünen Augen und der makellosen Haut. Ich höre das Klacken ihrer High Heels auf dem Betonboden und ihr Designersommerkleid schwingt ihr bei jedem Schritt um die Beine. In den Händen hält sie einen riesigen Cupcake mit pink-weißer Cremehaube.

Rechts von ihr läuft Kaitlyn, die genauso hübsch ist, wenn auch auf eine vollkommen andere Art – eher exotisch und sexy. Heute trägt sie ein enges Top mit dünnen Trägern und ihr dunkles, welliges Haar fließt ihr wasserfallartig über die nack-ten Schultern.

Hailey löst sich aus dem Grüppchen und stürmt mit ausge-breiteten Armen auf mich zu. Sie schlingt sie mir um den Hals und quietscht: »Oh Mann, du hast echt keine Ahnung, wie sehr ich dich diesen Sommer vermisst habe!«

Ich drücke sie an mich und sage ihr, dass sie mir auch gefehlt hat. Sie sieht umwerfend aus, noch immer gebräunt nach ihrem Urlaub in Spanien.

Jetzt ist auch Olivia da und ich greife mit beiden Händen in

sik und genoss das Gefühl des Lenkrads in meinen Händen. Immer wieder jedoch warf ich einen Blick auf den Kilometer-zähler, fasziniert von den sich ständig ändernden Zahlen. Jedes Mal, wenn das letzte Feld eine Drei anzeigte, durchzuckte mich ein seltsames Kribbeln.

Als ich schließlich abends wieder in unsere Einfahrt einbog, stand an letzter Stelle eine Sechs, also setzte ich zurück und fuhr ein paar Runden um den Block, bis der Kilometerzähler die richtige Ziffer anzeigte. Das muss ich jetzt jedes Mal machen, bevor ich parke. Und da ich nicht vorhabe, Alexis und den Rest meiner Freundinnen in dieses Geheimnis einzuweihen, schiebe ich gern die Gesetzeslage vor und fahre weiter allein.

Bei meiner Ankunft auf dem Schülerparkplatz zeigt die letzte Stelle eine Neun, was bedeutet, dass ich bis zu den Tennisplät-zen ganz am anderen Ende fahren muss, bevor ich parken kann. Als ich den Motor ausschalte, krampft sich plötzlich mein Ma-gen zusammen, und mein Mund wird trocken, also bleibe ich noch eine Minute sitzen und atme tief ein und aus.

Ein neues Schuljahr. Ein kompletter Neuanfang.Meine Angst legt sich ein wenig, als ich über das Schulge-

lände schlendere. Avery Peterson quietscht begeistert los, als sie mich sieht. Wir umarmen uns und versprechen, uns später von unseren Ferien zu erzählen, bevor sie sich wieder umdreht und Dylan O’Keefes Hand nimmt.

Von Dylan war ich in den ersten drei Monaten meines neun-ten Schuljahrs völlig besessen. Angefangen hat es, als er mich zum Abschlussball einlud, und geendet, als mich wenige Mona-te später Nick Adler auf einer Silvesterparty küsste und prompt Dylans Platz einnahm.

Ein paar Schritte weiter sehe ich Tyler Riola mit seinen Lacrosse-Kumpels an einem Tisch am anderen Ende des Innen-hofs sitzen. Tyler wurde am Anfang der Zehnten zum Objekt meiner Begierde, zumindest so lange, bis ich mit Kurt Frasier zusammenkam, dem einzigen Typen von allen, mit dem mich

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Ein Chor aus »Gern geschehen!« und »Wir haben dich so lieb!« erhebt sich. Dann tritt Alexis einen Schritt vor.

»Hey«, flüstert sie. »Entschuldige die ganzen Nachrichten heute Morgen, aber ich muss mal mit dir reden, und zwar am besten unter vier Augen.«

»Was gibt’s denn?« Ich versuche, meine Stimme unbeschwert klingen zu lassen, doch im selben Moment, als sie die Worte »Ich muss mal mit dir reden« ausspricht, zieht sich mein Magen wieder zu dem festen kleinen Knoten zusammen, den ich schon seit meiner Ankunft auf dem Parkplatz zu lösen versuche. Sol-che Ankündigungen sind selten ein gutes Zeichen.

»Wir können ja beim Mittagessen quatschen«, schlägt sie vor. Da dachte ich gerade noch, das hier wäre der beste erste Schultag meines Lebens, und jetzt habe ich Bammel vor der Mittagspause.

Kaitlyn tritt auf mich zu und umarmt mich. »Sag mal, zit-terst du?«, fragt sie.

Atmen. Atmen. Atmen.»Wahrscheinlich hatte ich heute Morgen zu viel Kaffee.« Es

klingelt zum ersten Mal und ich wende mich schnell meinem Spind zu und stelle mit bebenden Fingern die Kombination ein. »Wir sehen uns später, okay?«

Als die Acht aufbricht, macht sich auch der Rest auf den Weg zu den Klassenräumen. Ich stelle den Cupcake in meinen leeren Spind und klammere mich kurz Halt suchend an der Tür fest.

Ich starre auf die Fotos und anderen Andenken, die ich in den letzten zwei Jahren mit Tesafilm auf der Innenseite befes-tigt habe. Auf einem Bild sind wir fünf fürs Schulfest ganz in den Farben unserer Highschool gekleidet, auf einem anderen umringen wir zu viert Kaitlyn, nachdem sie zur Abschlussball-prinzessin gewählt wurde. Gleich daneben hängt eine Kopie der Verwarnung wegen Lärmbelästigung, als letztes Halloween Alexis’ Eltern nicht da waren und wir bei ihr zu Hause eine Megaparty geschmissen haben, über die die Leute noch Monate

ihr neuerdings tiefschwarz gefärbtes Haar. »Wow, steht dir su-per!«, schwärme ich, und sie schiebt kokett die Hüfte raus und entgegnet: »Ja, oder?«

Während meine Freundinnen sich um mich scharen, halten alle anderen inne mit dem, was sie tun, und rücken ein Stück-chen näher. Denn das passiert jedes Mal, wenn die Verrückten Acht in der Nähe sind: Die Leute gucken.

Den Namen haben wir uns schon damals im Kindergarten gegeben und irgendwie ist er hängen geblieben. Bis zum ers-ten Highschool-Jahr waren wir auch tatsächlich zu acht, bevor Ellas Familie nach San Diego gezogen und Hannah auf eine Privatschule gewechselt ist. Zuletzt hat vor einem Jahr Sarah die Hauptrolle im Schultheaterstück ergattert und hängt seitdem nur noch mit ihren Schauspielfreunden rum. Da waren’s nur noch fünf.

Zu der Zeit begann ich zu begreifen, dass ungerade Zahlen Freundschaften kompliziert machen. Acht ist gut. Sechs ist gut. Aber fünf? Fünf ist schlecht, weil immer eine außen vor bleibt. Und das bin meistens ich.

»Alles Gute zum Geburtstag, meine Hübsche!«, ruft Alexis, die wie wild auf und ab hüpft, als sie mir den Cupcake über-reicht.

Ich muss grinsen. »Mein Geburtstag ist doch schon zwei Wo-chen her.«

»Stimmt, aber ist doch blöd, mitten in den Ferien Geburts-tag zu haben, dachten wir. Da war ja keine von uns hier, um mit dir zu feiern.« Ich wundere mich, dass Alexis nicht schon früher etwas davon gesagt hat. Ich habe sie vergangene Woche zweimal gesehen, aber wir haben beide Male nur über den Tag im Spa geredet, den ihre Mom für uns plant, und das neue Cabrio, das sie zu ihrem Geburtstag bekommen soll.

»Ihr seid einfach die Besten, Mädels«, sage ich, halte den Cupcake hoch und deute auf die Schleife an meinem Spind. »Ganz im Ernst. Danke!«

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»Anscheinend nicht.« Sie deutet zum Ende der Spindreihe. »Ich habe schon seit der Neunten den Spind da drüben, aber wir haben noch nie wirklich miteinander geredet oder so. Ich bin Caroline Madsen.«

Ich mustere sie kurz, angefangen bei den Füßen. Braune Wanderstiefel. Ausgeblichene Schlabberjeans. Ein offenes Fla-nellhemd, das vielleicht bei ihrem Freund als cool durchgegan-gen wäre, aber ich bin mir relativ sicher, dass sie keinen hat. Auf ihrem T-Shirt steht: BEVOR DU FRAGST: NEIN!

Ich lache in mich hinein. Mein Blick wandert hoch zu ih-rem Gesicht. Keine Spur von Make-up. Sie hat eine lila-weiß gestreifte Wollmütze auf dem Kopf, und das Ende August. In Kalifornien.

»Samantha McAllister.« Wieder ertönt die Schulglocke und informiert uns offiziell darüber, dass wir gerade im Begriff sind, an unserem ersten Schultag zu spät zu kommen.

Sie zupft an ihrem Hemdsärmel, unter dem eine alte, ver-mackte Uhr zum Vorschein kommt. »Wir sollten wohl besser los. War schön, dich kennenzulernen, Sam.«

Sam.Letztes Jahr habe ich die Acht gebeten, mich Sam zu nen-

nen. Kaitlyn hat bloß gelacht und gesagt, so heiße ihr Hund, und Olivia meinte, das sei ja wohl ein Jungenname, woraufhin Alexis ihr beipflichtete, sie würde sich nie im Leben Alex nen-nen lassen.

Ich sehe Caroline nach, bis sie um die Ecke verschwindet und es zu spät ist, sie zu korrigieren.

später redeten. Dazwischen kleben überall meine gesammelten Konzertkarten. Es ist eine beachtliche, bunt zusammengewür-felte Sammlung – angefangen bei Bands, deren Namen noch nie jemand gehört hat, bis hin zu Beyoncé, Lady Gaga und Justin Timberlake – dank Olivias Dad, der Inhaber eines Indie-Plat-tenlabels ist und uns immer Plätze im VIP-Bereich besorgt.

Schnell kontrolliere ich in dem kleinen Spiegel mein Make- up. »Nur. Nicht. Ausrasten«, flüstere ich mir selbst zu. Dann schlage ich die Tür zu und starre noch einen Moment auf das Geschenkpapier, streiche mit der Fingerspitze darüber und lasse den Daumen über die silberne Schleife gleiten.

»Das war ja total nett.« Die Stimme ist so leise, dass ich mich im ersten Moment frage, ob ich sie mir eingebildet habe. Ich wende den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen ist, doch eine Spindtür verdeckt das Gesicht des Mädchens.

»Wie bitte?« Ich hoffe, sie hat mein albernes Schleifengestrei-chel nicht mitbekommen.

»Du hast echt nette Freundinnen.« Sie klappt ihren Spind zu und zeigt auf das Geschenkpapier, während sie zu mir he-rüberkommt. Beinahe hätte ich geantwortet: »Na ja, nicht im-mer«, kann mich aber gerade noch bremsen. Heute ist der erste Schultag. Ein ganz neues Jahr fängt an. Und heute habe ich tatsächlich nette Freundinnen.

»Wie haben die denn deinen Spind aufgekriegt?«»Sie kennen die Kombination. Das ist so eine Art Ge-

burtstagstradition bei uns. Wir haben einander schon in der Grundschule zu unseren Geburtstagen die Spinde geschmückt. Das hier ist erst das zweite Mal, dass meiner dran war, aber das waren auch wichtige Geburtstage. Mein dreizehnter und jetzt …« Wieder strecke ich die Hand nach der Silberschleife aus. »…  der sechzehnte.«

Warum erzähle ich ihr das überhaupt?Ich sehe mich um, und mir fällt auf, dass der Flur inzwischen

leer ist. »Äh, tut mir leid. Kennen wir uns?«

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Alexis blickt mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Aber mein Geburtstag ist am Samstag, Samantha.«

Wieder holt sie tief Luft und zieht zwei Umschläge aus ihrer Tasche. Einen davon reicht sie Kaitlyn, den anderen Olivia. »Ich habe die ganze letzte Woche darüber nachgegrübelt und bin zu dem Schluss gekommen, dass es am fairsten wäre, die beiden von euch mitzunehmen, die ich schon am längsten kenne.«

»Wir kennen uns doch alle schon seit dem Kindergarten«, wirft Hailey ein und spricht damit aus, was vermutlich jede von uns in diesem Moment denkt.

»Stimmt, aber unsere Mütter«, widerspricht Alexis mit einer Geste auf Kaitlyn und Olivia, »kannten sich sogar schon vor-her«, und die beiden nicken, als wäre das Erklärung genug. Und dann besitzen sie tatsächlich die Frechheit, vor unseren Augen die Umschläge zu öffnen.

Hailey spricht abermals für uns Verliererinnen. »Samantha hat doch jetzt ein Auto. Vielleicht können wir zwei ja wenigs-tens nachkommen und uns mit euch zum Mittagessen tref-fen?«

Angesichts Haileys flehender Miene denke ich einen Mo-ment lang ernsthaft darüber nach. Aber Mom und Dad würden das nie erlauben. Und selbst wenn, was sollte ich machen, wenn wir am Restaurant ankämen? Möglicherweise bräuchte ich zehn Minuten, um zu parken. Und was, wenn sie dort einen Park-service hatten?

Ich kann nicht fahren.»Daran hab ich auch schon gedacht«, sagt Alexis. »Aber Sa-

mantha darf ja niemanden mitnehmen. Stimmt’s?«Mein Gesicht wird immer heißer, je länger die anderen mich

anstarren. Ich schüttle den Kopf. Alexis sieht in die Runde und schafft es, mit diesem einzigen Blick sämtliche Schuld auf mich abzuwälzen.

Meine Gedanken beginnen, sich zusammenzurotten, sie stemmen sich gegen das rot-weiße Absperrband um mein Ge-

Dein Leben verändern

In der Mittagspause sitzen wir an unserem Stammplatz unter einem Baum im Innenhof, als Alexis plötzlich dramatisch Luft holt, die Hände flach auf den Boden stützt und sich zu uns anderen vorbeugt.

»Ich halt’s nicht länger aus. Ich muss euch was erzählen, Mä-dels.«

Kaitlyn legt ihr die Hand auf den Rücken, wie um sie still-schweigend zu unterstützen.

»Es geht um meinen Geburtstag dieses Wochenende«, fährt Alexis fort, während wir anderen gespannt lauschen. »Wir pla-nen ja schon seit Monaten, in dieses geniale Spa in Napa zu fahren, wisst ihr noch? Na ja, scheint, als hätte meine Mom sich früher um den Termin kümmern sollen, denn als sie vor zwei Wochen da angerufen hat, haben die gesagt, sie wären für das Wochenende total ausgebucht, weil sie dann eine Hochzeit im Haus haben.« Sie stößt einen gequälten Seufzer aus. »Darum hat sie nur drei Plätze bekommen.«

»Ist doch kein Problem. Dann fahren wir eben in ein anderes Spa«, winkt Olivia ab.

»Das hab ich auch gleich vorgeschlagen. Aber meine Mom meinte, sie hätte in allen guten angerufen und keins von denen hätte so kurzfristig für uns alle Platz gehabt. Außerdem ist das ihr Lieblingsspa – sie fährt seit Jahren zu besonderen Anlässen dahin –, und sie wollte mich schon immer mal mitnehmen.«

»Und wenn wir stattdessen am Sonntag hinfahren? Oder am Wochenende darauf?«, frage ich.

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senschaftsgebäudes. Dort vergrabe ich das Gesicht in den Hän-den, als reichte es, mich bloß vor dem grellen Sonnenschein abzuschirmen. Nach einer Weile folge ich weiter dem gepflas-terten Pfad, ohne darüber nachzudenken, wohin er eigentlich führt.

Er führt zum Schultheater.Ich war schon öfter hier, bei der alljährlichen Talentshow, bei

Bandproben oder Aufführungen der Theatergruppe  – haupt-sächlich den Pflichtveranstaltungen, für die der Unterricht aus-fällt. Wir fünf setzen uns natürlich nie auf die zugewiesenen Plätze, sondern verziehen uns in die allerletzte Reihe, wo wir ungestört tuscheln und uns über die Leute auf der Bühne lustig machen können, bis einer der Lehrer es satt hat, uns immer wieder zu ermahnen, und uns vor die Tür schickt, als wäre das eine Strafe. Dann setzen wir uns ins Gras, quatschen und ki-chern, bis irgendwann die anderen rauskommen, die sich die Vorstellung bis zum Schluss angucken mussten.

Ich kauere mich auf einen Stuhl in der Mitte der ersten Rei-he, weil es dort vorne am dunkelsten ist, und fühle mich schon etwas ruhiger, trotz der Tatsache, dass Alexis gerade ihre besten Freundinnen nach Beliebtheit sortiert und mich auf den letzten Platz verbannt hat. Tja, das Positive daran ist, dass ich nicht mehr so viel Zeit darauf verschwenden muss, mich zu fragen, was sie über mich denkt.

Es klingelt, und ich will gerade aufstehen und mich wieder auf den Weg in den Unterricht machen, als ich plötzlich Stim-men höre. Ich ziehe den Kopf ein. Ein paar Leute schlendern über die Bühne und unterhalten sich gedämpft. Ein Junge sagt: »Wir sehen uns am Donnerstag.«

Als Letztes tritt ein Mädchen hinter dem Vorhang hervor. Kurz bevor sie auf der anderen Seite wieder verschwindet, bleibt sie stehen und geht ein paar Schritte rückwärts. Die Hände in die Hüften gestemmt, lässt sie den Blick durch den Zuschauer-raum schweifen und entdeckt mich in der ersten Reihe.

hirn und bereiten sich auf die feindliche Übernahme vor. Ich wehre sie ab, sage mir im Stillen all die richtigen Sätze vor, re-zitiere meine Mantras, hole immer wieder tief Luft und zähle langsam meine Atemzüge.

Eins. Atmen.Zwei. Atmen.Drei. Atmen.Es hilft nicht. Mein Gesicht wird immer heißer, meine Hän-

de feucht und mein Atem flacher. Ich muss hier weg. Und zwar schnell.

Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und tue so, als hätte ich gerade eine Nachricht bekommen. »Ich muss los. Mei-ne neue Laborpartnerin braucht meine Aufzeichnungen aus der Chemiestunde.« Ich packe mein unangetastetes Sandwich wie-der ein und hoffe inständig, dass mich niemand nach der La-borpartnerin fragt, die es natürlich gar nicht gibt.

»Du bist doch jetzt nicht sauer, oder?«, fragt Alexis mit zu-ckersüßer Stimme.

Ich beiße mir dreimal auf die Unterlippe, bevor ich ihr in die Augen sehe. »Quatsch. Wir verstehen das schon, stimmt’s?« Die Frage ist an Hailey gerichtet, die sich damit als meine Verbün-dete fühlen darf, nachdem wir beide auf den untersten Platz auf Alexis’ Beliebtheitsliste verbannt wurden.

Dann drehe ich mich um und gehe weg, so langsam wie möglich, obwohl jeder Muskel in meinem Körper mich zum Rennen drängt.

Sobald sich die ersten Anzeichen einer Panikattacke be-merkbar machen, soll ich mich an einen ruhigen, vorzugsweise abgedunkelten Ort zurückziehen, an dem ich eine Weile für mich sein und meine Gedanken unter Kontrolle bekommen kann. Diese Anweisungen hat mir meine Therapeutin so sehr eingebläut, dass ich sie inzwischen normalerweise ganz automa-tisch befolge, jetzt jedoch biege ich nur um die nächste Ecke, außer Sichtweite, und lehne mich an die Mauer des Naturwis-

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dem Finger ans Kinn. »Deine Silberschleifen-Freundinnen sind in Wirklichkeit bloß ein Haufen berechnender Miststücke?«

Ich sehe zu ihr hoch. »Manchmal ja. Ist das so offensicht-lich?«

»Wenn man seinen Spind ein paar Meter weiter hat, kriegt man einiges mit.« Sie lehnt sich zurück und lässt sich ein Stück tiefer sinken, dann streckt sie die Beine aus und verschränkt die Knöchel, bis sie genau meine Haltung spiegelt. »Weißt du, was du brauchst?« Ich antworte nicht, und nach einer langen Pause sagt sie: »Nettere Freunde.«

»Witzig. Das predigt mir meine Therapeutin auch schon seit Jahren.«

Kaum dass die Worte über meine Lippen sind, schnappe ich nach Luft. Niemand außerhalb meiner Familie weiß von mei-ner Therapeutin. Sie ist vielleicht nicht mein größtes Geheim-nis, aber eins von vielen. Voller Sorge vor ihrer Reaktion sehe ich Caroline an und stelle mich auf einen blöden Spruch oder zumindest einen künstlich mitleidigen Blick ein.

»Wieso hast du denn eine Therapeutin?«, fragt sie bloß, als wäre nichts Besonderes daran.

Anscheinend bin ich nicht in der Lage, irgendetwas vor ihr zu verbergen, denn schon wieder sprudeln die Worte wie von selbst aus mir heraus. »Zwangserkrankung. Mehr auf Gedan-ken- als auf Handlungsebene, das heißt, das meiste ›Kranke‹ spielt sich in meinem Kopf ab. Dadurch lässt es sich besser ge-heim halten. Keiner weiß davon.«

Ich kann nicht glauben, dass ich ihr das gerade erzählt habe.Sie sieht mich an und wirkt aufrichtig interessiert, also rede

ich weiter. »Aber meine Obsessionen umfassen ziemlich vie-le Bereiche  – Jungs, meine Freunde oder total willkürlichen Kram. Es ist, als würde ich in einem Gedanken stecken bleiben und nicht mehr davon loskommen. Manchmal stürmen so viele Impulse nacheinander auf mich ein, dass ich eine Panikattacke bekomme. Ach ja, und dann ist da noch mein seltsames Ver-

»Hi.« Sie kommt auf mich zu, setzt sich an den Bühnenrand und lässt die Beine baumeln.

Ich blinzle, um sie in der Dunkelheit besser erkennen zu können. »Caroline?«, frage ich.

»Wow. Du weißt noch, wie ich heiße«, sagt sie, dann springt sie von der Bühne und lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen. »Das hätte ich nicht erwartet.«

»Wieso?«»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich bin einfach davon ausgegan-

gen, dass du zu den Leuten gehörst, denen man sich mehrmals vorstellen muss, bevor sie sich einen merken.«

»Caroline Madsen«, sage ich, um zu demonstrieren, dass ich mich sogar an ihren Nachnamen erinnern kann.

Sie wirkt ernsthaft beeindruckt. »Hast du eben auch die an-deren gesehen?«, fragt sie dann mit einer Geste in Richtung der nun leeren Bühne.

»Klar, da sind ein paar Leute vorbeigekommen. Warum?«Ihre Mundwinkel rutschen nach unten. »Nur so. Hab ich

mich bloß gefragt.«Aber jetzt ist meine Neugier geweckt. Abgesehen davon, dass

das Ganze mich wunderbar von meinen Problemen ablenkt. »Wer war das denn alles? Und wo kamt ihr her?«

»Nirgends. Wir haben uns bloß … ein bisschen hier umge-schaut.« Ich will sie gerade wegen Einzelheiten löchern, doch bevor ich etwas sagen kann, beugt sie sich zu mir vor, bis ihre Nase knapp vor meinem Gesicht ist. »Hast du geweint?«

Ich sacke in meinem Sitz zusammen.»Ärger mit Jungs?«, fragt sie.»Nein.«»Mit Mädchen?« Sie wirft mir einen Blick aus dem Augen-

winkel zu. »Nein. Also, nicht so. Aber stimmt, ja … könnte man wohl

so sagen.«»Lass mich raten.« Sie tippt sich gespielt nachdenklich mit

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Außerdem haben sich schließlich gerade meine Pläne zer-schlagen, mit meinen vier besten Freundinnen in ein schickes Spa zu fahren. Ich habe überhaupt nichts mehr vor am Wo-chenende. »Hey, was machst du am Samstagabend?«

Sie zieht die Nase kraus. »Keine Ahnung. Gar nichts. Wie-so?«

»Willst du vielleicht zu mir kommen? Wir könnten einen Film gucken oder so.«

Vielleicht kann ich sie dann ja sogar zu einem kleinen Um-styling überreden. Ein paar Strähnchen, um ihrem Haar ein bisschen Pep zu geben. Ein Hauch Concealer, um die kleinen Aknenarben und Rötungen in ihrem Gesicht zu kaschieren. Nichts Dramatisches, nur ein bisschen Farbe auf Wangen, Au-genlider und Lippen.

Caroline zieht einen Stift aus der Tasche ihrer Labberjeans.»Ich schicke dir meine Adresse«, sage ich und greife nach

meinem Handy.Sie schüttelt den Kopf. »Diese moderne Technik ist ein

Fluch«, sagt sie und wedelt abwehrend mit ihrem Stift durch die Luft. »Schieß los.«

Also diktiere ich ihr unsere Festnetznummer und Adresse und sie notiert sich alles in ihrer Handfläche, bevor sie den Stift zurück in die Tasche schiebt. Dann springt sie so abrupt auf, dass ich zusammenzucke. Sie geht rückwärts zur Bühne, legt die Hände auf die Kante und zieht sich mit einem kleinen Hüpfer wieder nach oben, bevor sie den Hals reckt und sich im Zu-schauerraum umsieht.

»Ich würde dir gerne helfen, Sam.«Moment mal. Was? Sie will mir helfen? »Was meinst du da-

mit?«»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«Ich bin ziemlich gut im Geheimnishüten. Meine Freundin-

nen laden ständig ihren Mist bei mir ab, weil sie wissen, dass ich nie ein Sterbenswörtchen darüber verlieren würde. Sie haben

hältnis zur Zahl Drei. Ich zähle generell sehr viel. Und ich muss viele Sachen dreimal machen.«

»Warum ausgerechnet drei?«Ich schüttle langsam den Kopf. »Ich hab keine Ahnung.«»Das klingt aber ziemlich furchtbar, Sam.«Sam.Caroline mustert mich, als fände sie die Sache absolut faszi-

nierend. Sie beugt sich vor und stützt ihre Ellenbogen auf die Knie, genau wie meine Therapeutin es immer macht, wenn sie will, dass ich weiterrede. Also rede ich weiter.

»Ich kann meinen Kopf einfach nicht ausschalten, darum schlafe ich auch sehr schlecht. Ohne Medikamente würde ich kaum mehr als drei oder vier Stunden Schlaf pro Nacht bekom-men. Das ist schon so, seit ich zehn war.« Jetzt tritt Betroffen-heit in ihren Blick. Ich will nicht, dass sie Mitleid mit mir hat. »Aber das ist okay. Ich nehme Medikamente dagegen. Und ich hab gelernt, die Panikattacken in den Griff zu kriegen.« Zu-mindest glaube ich das. Obwohl ich seit dem Vorfall mit den Valentinsrosen nicht mehr ganz davon überzeugt bin.

»Ich gehe schon zur Therapie, seit ich dreizehn war«, sagt Caroline nüchtern. Nach einer langen Pause fügt sie hinzu: »Depressionen.«

»Echt?«, frage ich und stemme den Ellenbogen auf die Arm-lehne zwischen uns.

»Ich hab über die Jahre schon alle möglichen Antidepressiva ausprobiert, aber … ich weiß nicht … manchmal fühlt es sich an, als würde es schlimmer, nicht besser.«

»Ich hab auch mal Antidepressiva genommen.« Es ist ein seltsames Gefühl, das alles so offen auszusprechen. Ich habe noch nie mit jemandem in meinem Alter darüber geredet.

Caroline lehnt sich wieder zurück und lächelt. Sie ist richtig hübsch, wenn sie lächelt. Noch hübscher wäre sie allerdings, wenn sie sich ein bisschen schminken würde.

Vielleicht könnte ich ihr ja dabei helfen.

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In the Deep

Der Aufzug wartet schon. Ich drücke auf die Sieben und dann, weil ich nicht anders kann, noch zwei weitere Male. Als ich die Praxistür öffne und hineingehe, hebt Colleen hinter ihrem Schreibtisch den Kopf, und ihr Gesicht hellt sich auf. »Na, ist denn schon wieder Mittwoch?«

Am Anfang war mir ihre persönliche Begrüßung peinlich, dann aber fiel mir auf, dass sowieso nie andere Patienten hier sind, und selbst wenn, wäre das trotzdem kein Grund, sich für irgendwas zu schämen. Schließlich kommen wir alle regelmäßig hierher.

»Sie braucht noch fünf Minuten. Wasser?«, fragt sie, und ich nicke.

Ich krame mein Handy aus der Tasche, stöpsle meine Kopf-hörer ein und höre meine gewohnte Warte-Playlist, die ich »In the Deep« genannt habe, nach einer Songzeile von Florence + the Machine. Ich sehe die Sache mit den Namen als Hobby, ob-wohl meine Therapeutin da anderer Meinung ist. Ich höre nicht einfach Musik, ich studiere die Texte, und wenn ich eine neue Playlist erstelle, suche ich mir immer drei Wörter aus einem der Songs aus – drei Wörter, die die gesamte Playlist widerspie-geln –, und das wird dann der Titel.

Ich lasse den Kopf gegen die Wand hinter mir sinken und schließe die Augen, ohne auf all die Motivationsposter um mich herum zu achten. Im Geist reise ich zurück zu dem Moment in der Schwimmhalle vor zwei Wochen, als Brandon mich ge-küsst hat und doch wieder nicht, und ich spüre, wie sich mein

keinen Schimmer, dass ich seit fünf Jahren eine Zwangsstörung vor ihnen verberge.

»Klar kann ich das.«»Gut. Dann zeige ich dir jetzt was. Aber du darfst nieman-

dem davon erzählen. Und damit meine ich, wirklich nieman-dem. Nicht mal deiner Therapeutin.«

»Aber der erzähle ich alles.«»Das hier nicht.«Caroline winkt mich zu sich. »Siehst du die Ecke da drü-

ben?« Sie deutet in Richtung des Klaviers im hinteren Teil der Bühne. »Komm am Donnerstag hierher, gleich wenn es zur Mittagspause geklingelt hat, und warte auf mich. Und denk dran, kein Wort zu niemandem. Versteck dich da hinter dem Vorhang, und komm erst raus, wenn ich dich hole.«

»Wieso das denn?«»Siehst du dann.« Sie packt mich bei den Schultern. »Ich will

dir was zeigen, was dein Leben verändern wird.«Ich verdrehe die Augen. »Ach, jetzt hör aber auf.«»Na ja, vielleicht auch nicht.« Caroline legt mir die Hän-

de auf die Wangen. »Aber wenn ich mich in dir nicht täusche, dann wird es das.«

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was ich sage, und meinen Händen etwas zu tun geben, damit ich nicht die gesamten fünfzig Minuten unserer Sitzung damit zubringe, mich ununterbrochen dreimal im Nacken zu kratzen.

»Okay«, beginnt sie und öffnet, wie jedes Mal, die braune Ledermappe auf ihrem Schoß. »Wo möchtest du heute anfan-gen?«

Nicht mit der Acht. Nicht mit dem Spa.»Ich weiß nicht.« Ich wünschte, ich könnte ihr von meinem

geheimen Treffen mit Caroline morgen erzählen, denn das ist so ziemlich alles, worüber ich in den letzten zwei Tagen nach-gegrübelt habe, aber ich darf mein Versprechen nicht brechen. Dann denke ich an den Rest unserer Unterhaltung, daran, wie wir zwei über unsere Medikamente und Therapiesitzungen ge-redet haben.

»Vielleicht habe ich … diese Woche eine neue Freundin ge-funden.« Die Worte klingen so lächerlich aus meinem Mund, wenn auch offenbar nicht für Hör-zu-Sue, deren Blick sich so-fort aufhellt, als wären das die besten Neuigkeiten, die sie seit Jahren zu hören bekommen hat.

»Wirklich? Wie ist sie denn so?«, fragt sie, und ich merke, dass ich ihr Lächeln erwidere. Ich kann einfach nicht anders. Ich denke daran, wie Caroline mir die Hände auf die Wangen gelegt hat wie eine alte Freundin. An den Ausdruck in ihren Augen, als sie gesagt hat, sie wolle mir helfen. Ich bin immer noch völlig perplex, wenn ich daran zurückdenke.

»Na ja, sie ist jedenfalls kein bisschen wie die von der Ver-rückten Acht«, erwidere ich, als ich an Carolines lange, strähni-ge Haare, ihr ungeschminktes Gesicht und die klobigen Wan-derstiefel denke. »Sie ist ein bisschen eigen, aber ganz nett. Ich kenne sie noch nicht gut, aber irgendwie habe ich jetzt schon das Gefühl, dass sie … versteht, wie ich ticke.«

Sue öffnet den Mund, doch ich hebe die Hand, bevor sie etwas entgegnen kann.

»Bitte. Sagen Sie es nicht.«

Gesicht entspannt, als ich mich in meinen Tagträumen verliere. Sein Mund war so warm. Und er hat so gut gerochen, nach Sprite und Kokos-Sonnenmilch.

»Du kannst jetzt reingehen«, sagt Colleen.Sues Büro hat sich in den letzten fünf Jahren kein bisschen

verändert. In den Regalen stehen dieselben Bücher und an den seit eh und je beige gestrichenen Wänden hängen dieselben Zertifikate. Auf ihrem Schreibtisch stehen dieselben Fotos ihrer Kinder, genauso unberührt von der Zeit wie der Rest des Büros.

»Hallo, Sam!« Sue kommt auf mich zu, um mich zu begrü-ßen. Sie ist eine zierliche Japanerin mit dickem schwarzem, schulterlangem Haar und immer makellos gekleidet. Sie wirkt kultiviert und sanftmütig, zumindest so lange, bis sie den Mund aufmacht.

Nachdem ich sie ein paar Monate kannte, dachte ich mir irgendwann den Spitznamen »Hör-zu-Sue« für sie aus. Ich hat-te nie vorgehabt, ihn tatsächlich mal laut zu sagen, aber dann rutschte er mir eines Tages einfach raus. Sue wollte wissen, wie ich auf den Namen gekommen sei, und ich erklärte ihr, dass das für mich ein kleines bisschen japanisch klinge und ihre Tä-tigkeit ja nun mal zu großen Teilen darin bestehe, sich mein Geschwafel anzuhören.

Bis zu diesem Punkt hatte ich mich nie gefragt, ob Sue der Spitzname wohl etwas ausmachen würde, aber ich war damals schließlich erst elf. Und ich hatte es nicht böse gemeint, aber nachdem der Name einmal raus war, konnte ich ihn auch nicht mehr zurücknehmen.

Sue erwiderte jedoch, ihr gefalle der Name. Und sie sagte, ich könne sie nennen, wie ich wolle – sogar »Blöde-Kuh-Sue«, of-fen oder hinter ihrem Rücken, denn es würde Zeiten geben, in denen mir ganz sicher der Sinn danach stehen würde. Danach mochte ich sie sogar noch lieber.

Jetzt setzt sie sich in den Sessel mir gegenüber und reicht mir meine »Denkknete«. Die soll mein Gehirn von dem ablenken,

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»Das ist jedenfalls schon mal eine sehr positive Entwicklung, Sam. Ich bin froh, dass du offen für neue Freundinnen bist.«

»Eine Freundin. Singular. Nur eine.« Ich hebe den Finger. »Und niemand darf je von Caroline erfahren.«

»Warum das denn nicht?«Bevor ich antworten kann, fängt mein Kinn an zu zittern.

Ich atme tief durch, um mich zu beruhigen, und starre auf den Teppich.

»Warum dürfen die anderen nichts von ihr wissen, Sam?«, wiederholt Sue leise.

»Weil …« Meine Stimme klingt zittrig. »Wenn die anderen mir die Freundschaft kündigen  …« Ich kann den Gedanken nicht zu Ende führen. Mit aller Kraft kneife ich mir dreimal in den Nacken, doch es hilft nicht. Sue muss mir anmerken, wie aufgebracht ich bin, denn sie steht plötzlich auf und schlägt vor: »Wie wär’s, wenn wir über was anderes reden?«

»Ja, bitte«, flüstere ich.»Hattest du schon Gelegenheit, dir die Bilder auszudrucken?«»Ja.« Ich atme geräuschvoll aus und greife in meine Tasche.Dad hat während der Bezirksmeisterschaften ein paar Fotos

geschossen und sie mir gemailt. Letzte Woche habe ich sie Sue gezeigt. Sie hat zwanzig Minuten lang auf dem Display mei-nes Handys herumgewischt und jedes Bild eingehend studiert. Dann hat sie mir aufgetragen, meine drei Lieblingsfotos auszu-drucken und sie heute mitzubringen.

»Die sind wirklich toll«, sagt sie, als sie eins nach dem ande-ren lange betrachtet. »Erklär mir doch mal, warum du dich für diese drei entschieden hast.«

»Ich weiß nicht«, entgegne ich schulterzuckend. »Vielleicht weil ich darauf glücklich aussehe.«

Ihre Miene verrät mir, dass das nicht die Antwort ist, die sie hören wollte. »Welches Wort kommt dir in den Sinn, wenn du dir dieses hier ansiehst?«, fragt sie und hält mir eins der Bilder hin. »Nur ein Wort.«

Ihr Mund klappt wieder zu.»Das heißt jetzt nicht, dass ich nichts mehr mit der Acht zu

tun haben will. Bei Ihnen klingt das immer so einfach, Sue, aber ich finde nun mal nicht so leicht ›neue Freunde‹.« Um die letzten Worte zeichne ich Anführungszeichen in die Luft. »Die vier sind meine Freundinnen. Jedes Mädchen in meiner Stufe würde sonst was geben, damit sie sich mit ihm abgeben. Und außerdem wären sie völlig fertig, wenn ich sie im Stich lassen würde. Besonders Hailey.«

Sue schlägt die Beine übereinander und nimmt eine autori-tärere Haltung ein. »Du musst aber Entscheidungen treffen, die gut für dich selbst sind, Sam. Nicht für Hailey oder irgendwen sonst«, sagt sie auf ihre unverblümte Art.

»Sarah hat auch eine Entscheidung getroffen, die gut für sie selbst war, und Sie wissen ja, wie das ausgegangen ist.«

Ich denke daran, wie wir Sarah damals behandelt haben. An die giftigen Blicke, die wir ihr zuwarfen, wann immer wir ihr im Schulflur begegneten, die hämischen Kommentare vom anderen Ende der Cafeteria, die Wochenendplanungen, in die wir sie nicht mehr einbezogen. Ich bin nicht stolz darauf, aber nachdem sie uns für ihre neuen Theaterfreunde hatte sitzen lassen, haben wir alles darangesetzt, ihr das Gefühl zu geben, sie hätte uns aufs Übelste verraten. Und ich will nicht dasselbe durchmachen müssen.

»Wahrscheinlich ist sie heute ziemlich froh darüber«, merkt Sue an.

»Bestimmt. Aber ich bin nun mal froh, weiter zur Acht zu gehören.«

Mag sein, dass ihre Freundschaft nur mit einer wöchentli-chen Therapiesitzung zu ertragen ist, aber wir haben auch so viel Spaß zusammen. Und ich wäre doch wohl erst recht ver-rückt, all die Partywochenenden in den Wind zu schlagen, die süßen Jungs, die uns jede Mittagspause umschwärmen, nicht zu vergessen die VIP-Tickets für jedes große Konzert in der Stadt.

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»Gut. Als Nächstes möchte ich, dass du die Fotos morgen mit zur Schule nimmst und sie innen an deine Spindtür hängst.« Sie tippt mit ihrem perfekt manikürten Fingernagel auf das letzte Foto. »Häng das hier genau auf Augenhöhe. Und dann guck es dir im Laufe des Tages immer wieder an, um dich an dein Ziel zu erinnern, das du dir für dieses Jahr gesetzt hast. Welches lautet?«, fordert sie mich auf.

»Schwimmen wird meine oberste Priorität, damit ich ein Sti-pendium bekomme und aufs College meiner Wahl gehen kann. Selbst wenn es weit weg ist.«

Bei dem »weit weg«-Teil fange ich beinahe an zu hyperven-tilieren. Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke, von hier wegzuziehen, weg von Mom, weg von Sue. Aber ich zwinge mich, weiterhin auf das Bild zu starren und den starken, ent-schlossenen Gesichtsausdruck zu verinnerlichen.

Ein Schwimmstipendium. Die College-Liga. Die Chance auf einen kompletten Neuanfang.

Das Mädchen auf dem Foto sieht aus wie jemand, der all das erreichen könnte.

»Und vergiss nicht«, mahnt Sue. »Das hier ist nicht Som-mer-Sam, die im Juni auftaucht und verschwindet, sobald die Schule wieder anfängt. Das hier bist du.«

»Ich weiß nicht«, murmle ich und starre auf das Foto. Der Wettkampf ist gerade mal zwei Wochen her und trotzdem fühle ich mich wie ein völlig anderer Mensch.

Sue stützt ihre Ellenbogen auf die Knie und hält meinen Blick fest. »Aber ich. Sie steckt das ganze Jahr in dir. Das verspreche ich dir. Du musst nur einen Weg finden, sie hervorzulocken.«

Auf dem Foto drückt Cassidy mich fest an sich; ihre Nase ist ganz krausgezogen und ihr Mund aufgerissen, als würde sie schreien. Dad hat das Bild gemacht, kurz nachdem ich ihren Rekord im Schmetterling um eine Zehntelsekunde geschlagen habe. Ich hatte mir Sorgen gemacht, sie könnte sauer sein, aber das war sie nicht. »Freundschaft.«

Sue hält mir das nächste Foto hin. Mein Magen fühlt sich plötzlich leicht und flattrig an, als ich Brandon sehe, dessen eine Hand auf meiner Schulter liegt, während er mit der anderen triumphierend auf die Siegesmedaille um meinen Hals zeigt. Er hat mir immer wieder High Fives gegeben. Und mich umarmt. Den ganzen Tag lang.

Das Wort »Liebe« würde Sue nicht hören wollen, obwohl es das erste ist, das mir in den Kopf kommt, also konzentriere ich mich auf die Medaille und denke daran, wie Brandon mich den Sommer über gepusht hat, wie er mich selbst hat glauben ma-chen, dass ich schneller und stärker sein kann als alle anderen. »Motivation.«

Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird, und bin erleichtert, als Sue sich dem nächsten Foto zuwendet. »Ah ja, ich hatte ge-hofft, dass du dir dieses hier aussuchen würdest.«

Dad hat das Bild mit dem Teleobjektiv aufgenommen, so-dass man jedes Detail meines Gesichts erkennen kann. Ich stehe auf dem Startblock meiner Bahn, Sekunden vor dem Sprung, und obwohl ich eine Schwimmbrille aufhabe, sieht man meine Augen gestochen scharf. Ich starre lange auf das Foto und versu-che, mich für ein Wort zu entscheiden, das beschreibt, was ich daran mag. Ich wirke stark. Entschlossen. Wie ein Mädchen, das offen seine Meinung sagt, und nicht wie eins, das sich ver-schüchtert in die nächste dunkle Ecke flüchten muss, sobald jemand seine Gefühle verletzt.

»Selbstbewusstsein«, sage ich schließlich.Sue nickt, stolz und nachdrücklich, und ich weiß, dass ich

ins Schwarze getroffen habe.

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ter zu sehen, aber ich presse mich nur mit dem Rücken an die Wand und halte die Luft an.

Die Stimmen werden wieder leiser und dann steckt Caroline den Kopf hinter den Vorhang. »Komm mit«, flüstert sie.

»Wo gehen wir denn hin?«, frage ich, woraufhin sie den Fin-ger an die Lippen hebt und »Pssst« macht. Wir verschwinden hinter die Bühne und fünf, sechs Meter vor uns klappt eine Tür zu. Wir warten, bis sie ins Schloss gefallen ist, bevor wir weiterschleichen.

»Dadurch«, weist Caroline mich an und fügt dann schnell hinzu: »Aber leise.« Sie stemmt die Hände in die Hüften, und ich kann lesen, was auf ihrem T-Shirt steht: ICH HÖRE STIM-MEN – UND SIE MÖGEN DICH NICHT!

So vorsichtig wie möglich drehe ich den Türknauf und sehe kurz darauf eine enge, steile Treppe hinunter. Mein erster Im-puls ist es, die Tür wieder zuzumachen und zu gehen. Ich werfe Caroline einen fragenden Blick zu und sie deutet auf die Trep-pe. »Geh vor. Runter.«

»Da runter?«Sie hebt eine Augenbraue. »Na ja, rauf geht’s ja wohl nicht,

oder?«Nein. »Okay«, sagt sie dann. »Ich gehe vor.« Und bevor ich noch

etwas sagen kann, drängt sie sich an mir vorbei und steigt die Treppe hinunter. Und weil ich in diesem Moment einfach nicht weiß, was ich anderes tun soll, mache ich die Tür hinter uns zu und folge ihr.

Der schmale Gang am unteren Ende der Treppe ist dunkel-grau gestrichen, und als ich zu den Lampen an der Decke aufse-he, frage ich mich, warum das Licht so schummrig ist. Caroline und ich biegen in einen weiteren Flur ein und sehen gerade noch, wie auch an dessen Ende eine Tür zufällt. Ich bleibe ihr dicht auf den Fersen, bis wir direkt davorstehen.

Geht’s vielleicht noch unheimlicher? »Wo sind wir hier?«

An deiner Seite

Donnerstagmorgen. Nachdem es zum ersten Mal geklingelt hat, trödle ich noch ein wenig an meinem Spind herum. Im-mer wieder spähe ich zum Ende der Reihe, auf der Suche nach Caroline, aber die ist heute noch gar nicht dort aufgetaucht. Seit unserem Treffen im Theater am Montag habe ich sie kein einziges Mal mehr gesehen. Schließlich gebe ich auf und renne los zu meinem Klassenraum.

Die letzten paar Tage waren wirklich hart – ich habe Carolines Worte einfach nicht aus dem Kopf bekommen. Ich kann mir absolut nicht vorstellen, was sie mir heute zeigen will, und schon gar nicht, inwieweit das mein Leben verändern sollte. Wenn sie sich in mir nicht täuscht. Was hat sie bloß damit gemeint?

Ich kann die Mittagspause kaum erwarten. Sobald es nach der vierten Stunde klingelt, springe ich auf und stürme an den anderen in meinem Geschichtskurs vorbei zur Tür. Alles strömt zur Cafeteria oder in den Innenhof, nur ich renne in die entge-gengesetzte Richtung.

Als ich die große Flügeltür am Eingang des Theaters erreiche, sehe ich mich kurz um. Dann schlüpfe ich hinein, husche zum Klavier und verstecke mich hinter dem Vorhang, genau wie Ca-roline gesagt hat.

Immer wieder sehe ich auf meine Handyuhr und fange ge-rade an, mich zu fragen, ob das alles womöglich nur ein blöder Scherz war, als ich plötzlich Stimmen höre, leise, aber deutlich, und sie bewegen sich auf mich zu. Ich bin schwer in Versu-chung, hinter dem Vorhang hervorzulugen, um ihre Gesich-

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von einer Seite zur anderen schaukeln, als hätte jemand sie vor Kurzem noch angestoßen. Ich schiebe sie zur Seite, und dahin-ter kommt eine schmale Fuge zum Vorschein, die die Wand hinaufreicht, bis sie ganz oben auf eine weitere trifft. Es ist eine Tür. Der Rahmen ist schwarz angestrichen, genau wie der Rie-gel davor, sodass alles perfekt getarnt ist.

»Klopf an«, befiehlt Caroline hinter mir. Ich gehorche, ohne Fragen zu stellen oder auch nur darüber nachzudenken.

Zuerst ertönt ein Klicken, dann schwingt mir die Tür ein Stück entgegen, und in der schmalen Öffnung erscheint ein Augenpaar. »Wer bist du?«, fragt eine Mädchenstimme.

Ich sehe mich zu Caroline um, doch sie wirft mir bloß ei-nen Blick zu, der eindeutig »Sag was!« bedeutet, also wende ich mich wieder dem Mädchen zu.

»Ich heiße Samantha.« Dann hebe ich die Hand. »Nein, ich meine, Sam.« Warum nicht, überlege ich, wenn ich mich sowie-so neu vorstelle? »Darf ich vielleicht reinkommen?«

Mein Gegenüber wirft einen Blick an mir vorbei, und Caro-line flüstert: »Sie gehört zu mir.«

Das Mädchen verzieht das Gesicht, macht die Tür jedoch weiter auf, um uns reinzulassen. Dann blickt sie sich gründlich in der Besenkammer um, wie um sich zu vergewissern, dass wir auch ganz sicher allein sind, bevor ich höre, wie sich der Riegel wieder hinter uns schließt.

Mir bleibt keine Zeit, meine Umgebung näher in Augen-schein zu nehmen, denn plötzlich baut sich ein Junge vor mir auf. Er ist groß und dünn, mit breiten Schultern und wu-scheligem dunkelblondem Haar. Er kommt mir vage bekannt vor, und ich versuche hastig, ihn einzuordnen, als er mich aus schmalen Augen mustert und fragt: »Was willst du hier?«

Wieder sehe ich mich Hilfe suchend nach Caroline um, doch sie fährt sich mit der Hand über die Lippen, als würde sie einen Reißverschluss zuziehen, und in diesem Moment würde ich ihr am liebsten eine reinhauen.

Sie geht nicht auf meine Frage ein und deutet bloß auf den Türknauf. »Okay, nur damit du Bescheid weißt: Ich bin die ganze Zeit an deiner Seite, aber ansonsten liegt es ab jetzt an dir. Du musst das Reden übernehmen.«

»Reden? Mit wem denn? Und was soll das heißen, es liegt an mir?«

»Wart’s ab.«Ich will aber nicht abwarten. Ich will hier weg. Und zwar so-

fort.»Das ist echt gruselig, Caroline. Hier unten kommt doch nie

jemand hin.« Ich versuche, nicht allzu verängstigt zu wirken, aber genau das bin ich. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendwas in diesem düsteren Keller unter dem Schultheater mein Leben verändern sollte. Mein Gehirn arbeitet inzwischen auf Hochtouren, ein Gedanke jagt den anderen, und ich spüre, wie sich eine handfeste Panikattacke zusammenbraut.

Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Ich kenne sie doch über-haupt nicht.

Ich drehe mich um und gehe zurück den Gang hinunter. »Sam«, sagt Caroline, und ich bleibe stehen. Sie ergreift mich

beim Unterarm und sieht mir in die Augen. »Bitte, versuch es wenigstens.«

Etwas in ihrem Blick löst in mir den Wunsch aus, ihr zu ver-trauen, als würde ich sie schon mein Leben lang kennen. Und – Nervosität hin oder her – ich bin einfach furchtbar neugierig, was sich auf der anderen Seite dieser Tür befindet.

»Na schön«, sage ich schließlich und beiße die Zähne zusam-men. Dann strecke ich die Hand nach dem Türknauf aus und drehe ihn.

Der Raum auf der anderen Seite ist klein und komplett schwarz gestrichen. Schwarze Decke. Schwarzer Boden. Über drei Wände ziehen sich Regale voller Putzmittel und an der vierten hängen Schrubber und Besen.

Caroline deutet auf eine Stelle, an der die Besenstiele sachte

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»Ist angekommen«, entgegne ich. »Und bitte nenn mich Sam.«

Er legt die Stirn in Falten. »Von mir aus. Aber das macht uns noch lange nicht zu Freunden oder so was.«

Zu Freunden? Meine Freundinnen nennen mich jedenfalls nicht Sam. »Warum sollte ich das denken? Ich kenne dich doch überhaupt nicht.«

Er lächelt und dabei kommt ein Grübchen neben seinem lin-ken Mundwinkel zum Vorschein. »Nein«, erwidert er, als wäre daran irgendetwas lustig. »Dass du mich nicht kennst, ist mir klar.« Dann geht er kopfschüttelnd weg und lässt Caroline und mich allein am hinteren Ende des Raums stehen.

»Was war das denn bitte?«, frage ich. Meine Stimme klingt noch mickriger als vor ein paar Minuten.

Caroline versetzt mir einen aufmunternden Stups mit dem Ellenbogen. »Mach dir keinen Kopf. Du hast dich gut geschla-gen.«

Jetzt, als der Typ mir nicht mehr den Blick versperrt, erkenne ich endlich, wo ich gelandet bin. Der Raum ist lang gezogen und schmal und, genau wie die Besenkammer, von oben bis unten schwarz angestrichen. Die Decke dagegen ist doppelt so hoch, und obwohl es auch hier schummrig ist, wirkt das Ganze viel weniger klaustrophobisch. Am gegenüberliegenden Ende des Raums sehe ich eine niedrige Erhebung, die wie eine selbst zusammengezimmerte Bühne aussieht. Genau in der Mitte steht ein hölzerner Barhocker.

Ich zähle fünf weitere Leute. Sie lümmeln auf kleinen Sofas oder riesigen Sesseln, die leicht seitlich der Bühne zugewandt stehen. Die Möbel sind alle ganz unterschiedlich – hier blau-er Knautschsamt, da braunes Leder, da rot-grau karierter Filz. An den Wänden stehen niedrige Bücherregale und nicht zuei-nanderpassende Stehlampen sind gleichmäßig über den ganzen Raum verteilt. Ich werde kurz nervös, als ich mich frage, wie es hier unten wohl ist, wenn mal der Strom ausfällt.

»Ich bin Sam  –«, setze ich an, aber er fällt mir sofort ins Wort.

»Ich weiß, wer du bist, Samantha.« Ich sehe ihm abermals ins Gesicht. Er kennt meinen Namen. Aber ich seinen nicht.

»Tut mir leid.« Ich bin nicht ganz sicher, wofür ich mich eigentlich entschuldige, aber es kommt mir irgendwie angemes-sen vor. Ich weiche einen Schritt zurück in Richtung Tür und taste nach dem Knauf, aber es gibt keinen.

Das Mädchen, das uns reingelassen hat, reicht dem Jungen eine dicke, geflochtene Kordel, und er schlingt sie sich um den Hals. Ein goldener Schlüssel baumelt daran vor seiner Brust.

»Wie hast du hierhergefunden?«»Meine Freundin …«, beginne ich mit einer Geste auf Caro-

line. Er sieht sie an und sie nickt. Rasch wendet er sich wieder mir zu.

»Deine Freundin?«Caroline hat mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben,

dass sie mir nicht helfen wird, aber das heißt ja nicht, dass ich nicht auf ihre Worte zurückgreifen kann, um endlich in diesen Raum gelassen zu werden.

»Sie hat gesagt, dass irgendwas hier unten mein Leben ver-ändern könnte, und, na ja … mein Leben könnte wirklich ein paar Veränderungen vertragen, darum dachte ich …« Ich ver-stumme und sehe ihn an, warte darauf, dass sein Gesicht sich endlich entspannt, aber vergeblich.

Er starrt mich bestimmt eine geschlagene Minute lang an. Ich starre zurück, unwillig, klein beizugeben. Auch Caroline scheint sich langsam Sorgen zu machen, denn sie legt plötzlich beide Hände um meinen Arm und tritt näher an mich heran, wie um zu demonstrieren, dass sie auf meiner Seite ist. Der Typ verschränkt die Arme, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Okay«, sagt er schließlich. »Du kannst heute hierbleiben, aber nur heute. Danach musst du vergessen, dass du je hier ge-wesen bist. Nur dieses eine Mal, klar, Samantha?«

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»Keine Sorge«, sagt das Pixie-Mädchen. Sie verstärkt ihren Griff um meinen Arm und zieht mich näher zu sich. »Ich bin die Neueste hier und ich kann mich noch gut an meinen ersten Tag erinnern. Du musst keine Angst haben. Heute hörst du einfach nur zu.«

Sie lässt sich auf die Couch fallen und klopft einladend auf das Polster neben sich.

»Setz dich.« Ich gehorche. »Du hast dir jedenfalls definitiv ei-nen guten Tag ausgesucht«, redet sie weiter. »Als Erste ist heute Sydney dran und nach ihr AJ.«

Caroline setzt sich auf meine andere Seite. Ich versuche, in ihrem Gesicht zu lesen, aber wie schon die ganze Zeit lässt sie rein gar nichts durchblicken.

Alle werden ruhig, als ein stämmiges Mädchen, das Sydney sein muss, das Podest betritt. Mit der Hüfte schiebt sie den Bar-hocker ein Stück zur Seite. Moment mal. Die kenne ich doch. Sie hat mit mir zusammen Geschichte.

Bis vor drei Tagen habe ich sie noch nie gesehen, aber jetzt fällt mir wieder ein, dass sie am ersten Schultag in einem schwarzen Vintage-Trägerkleid mit leuchtend roten Kirschen darauf in den Klassenraum spaziert ist. Aber es war nicht ihr Outfit gewesen, das meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, und auch nicht das Selbstbewusstsein, mit dem sie es trug. Es waren ihre Haare. Lang, dick und feuerrot, genau wie Cassidys. Ich hatte sowieso schon den ganzen Tag an sie ge-dacht und mich mit ihr zusammen zurück in die Schwimmhal-le gewünscht und beim Anblick dieser Haare hatte sie mir nur noch mehr gefehlt.

Sydney hält den Deckel einer Chicken-McNuggets-Schach-tel hoch. »Das hier hab ich gestern Abend geschrieben, bei …« Sie dreht die Pappe herum, um uns das McDonald’s-M zu prä-sentieren, wedelt ein bisschen damit durch die Luft und nickt stolz. »Diesmal war der Deckel nicht ganz so fettig, darum hab ich ein komplettes Gedicht draufbekommen«, erklärt sie, und

Dann bemerke ich die Wände.Langsam drehe ich mich einmal um mich selbst und stau-

ne. Jede der vier Wände ist kreuz und quer mit Papierfetzen in allen Formen und Farben zutapeziert. Ich sehe linierte, aus Spiral blöcken gerissene Seiten. Schlichtweiße, gelochte Bögen. An den Ecken ausgefranstes Millimeterpapier. Vergilbte Zettel neben Papierservietten und Post-its, braunen Butterbrottüten und sogar der einen oder anderen Schokoriegelverpackung.

Caroline beobachtet mich, als ich, um mehr erkennen zu können, ein paar Schritte auf die Wand zugehe. Ich strecke die Hand nach einem der Zettel aus und lasse den Rand zwi-schen meinen Fingern hindurchgleiten. Erst in dem Moment fällt mir auf, dass all diese Seiten von Hand beschrieben sind, jede Schrift so einzigartig wie das Papier selbst. Fließende, ge-schwungene Zeilen. Eng stehende, kerzengerade Buchstaben. Große, präzise Druckschrift.

Wow.Ich glaube nicht, dass ich so etwas jemals außerhalb eines

Schwimmbeckens verspürt habe, jetzt aber ist das Gefühl da, tief in meinem Inneren. Meine Schultern entspannen sich. Mein Herz hört auf zu rasen. Jeder negative, giftige Gedanke scheint plötzlich meilenweit entfernt.

»Wo sind wir hier?«, flüstere ich Caroline zu, doch bevor sie antworten kann, taucht völlig unerwartet das Mädchen von der Tür vor mir auf und nimmt mich beim Arm. Sie hat einen dunklen Pixie-Cut und hüpft regelrecht auf der Stelle, als wäre das hier der aufregendste Moment, den sie seit Langem erlebt hat.

»Komm, setz dich zu mir. Auf dem Sofa ganz vorne ist noch Platz.« Sie führt mich zu einer grün-rosa karierten Scheußlich-keit in der ersten Reihe. »Wie lange schreibst du schon?«

Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag fährt mein Kopf zu Caroline herum. Ihr Gesicht ist zu einem seltsamen Grinsen verzogen. »Schreiben?«

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Ein Junge auf einer anderen Couch wirft ihr einen Klebestift zu. Sie fängt ihn aus der Luft, schraubt den Deckel ab, benutzt den Hocker als Unterlage und fährt mit dem Stift ein paarmal über das McDonald’s-Logo.

Dann steigt sie von der Bühne, und ich denke kurz, sie kommt auf mich zu, dann aber geht sie bloß an unserem Sofa vorbei und bleibt vor der Wand stehen. Wir sehen zu, wie sie das, was von der Chicken-McNuggets-Schachtel übrig ist, an eine freie Stelle zwischen die anderen Zettel drückt. Dann klopft sie sich die Hände ab, und als sie sich auf das Sofa hinter mir setzt, begegnen sich unsere Blicke. Sie grinst mich an. Ich lächle zurück. Ich glaube nicht, dass ich sie bis heute auch nur einmal habe sprechen hören.

Als ich mich zurück nach vorn drehe, betritt gerade der Typ, der mich nicht reinlassen wollte, das Podest. An einem Gurt über seiner Schulter hängt eine Akustikgitarre. Er setzt sich auf den Barhocker.

Woher kenne ich ihn bloß?Mein Blick fällt auf die Kordel um seinen Hals und ich stelle

mir den goldenen Schlüssel hinter seiner Gitarre vor.»Das hier hab ich letztes Wochenende zu Hause in meinem

Zimmer geschrieben. Und, tja, tut mir leid, aber ich muss es einfach sagen.« Er lässt eine Kunstpause folgen. »Es ist scheiße geworden.«

Er steht auf, breitet die Arme aus und lässt seine Gitarre am Gurt hängen. Dann schließt er die Augen und legt den Kopf in den Nacken, wie um zu sagen: »Na los, gebt’s mir.« Alle um mich herum reißen Zettel aus ihren Blöcken und Notiz-büchern, knüllen sie zusammen und bewerfen ihn damit. Der Junge lacht und wedelt mit den Händen, um die anderen noch weiter anzustacheln.

Ich drehe mich zu Caroline um. Sie reagiert nicht, also stoße ich sanft das Pixie-Mädchen auf meiner anderen Seite an. »Wa-rum machen die das?«, frage ich sie, und sie flüstert zurück:

die anderen lachen, woraus ich schließe, dass das ein Insider-witz war.

»›Nujées‹«, deklamiert sie mit übertrieben französischem Ak-zent, dreht dabei die Pappe wieder um und streicht demon-strativ mit dem Finger über das Wort »Nuggets«, bevor sie sich dramatisch räuspert.

AUFTAKTMeine Zähne durchstoßen euer zartes Fleisch.Süßes Fett auf meiner Zunge,Warm in meiner Kehle.

ENTSCHEIDUNGENBarbecue oder Curry?Süßsauer oder Senf?Ich schließe die Augen.Soll das Schicksal entscheiden.Gedippt, ein Biss.Barbecue.

STUDIENGolden. Schimmert ihr unter dem Neonlicht.Gehäuft. Drängt ihr euch aneinander.Geduldig. Immer so geduldig.

BEWUNDERUNGGolden, weiß.Knusprig, salzig.Woraus zum Teufel besteht ihr eigentlich?

Alle stehen auf und klatschen und johlen, während Sydney ihr Kleid rafft und knickst.

Dann reißt sie die Arme hoch, wirft den Kopf zurück und ruft: »Yeaaah! Stift her!«

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einzigen fließenden Rumpfdrehung lässt er die Gitarre an ihrem Gurt auf seinen Rücken rutschen. Er schüttelt den Kopf, als mache der Applaus ihn verlegen, und zieht einen Zettel aus der hinteren Tasche seiner Jeans. Er faltet ihn auseinander, streicht ihn auf der Sitzfläche des Hockers glatt und schmiert ihn mit dem Kleber ein, bevor er schließlich von der Bühne steigt.

Mit dem Zettel in der Hand geht er auf die andere Seite des Raums und verbeugt sich kurz. Dann holt er aus und klatscht seine Worte weit oben an die Wand.

Ich spähe um mich, um zu sehen, ob die anderen genauso baff sind wie ich, aber es kommt mir nicht so vor. Findet außer mir etwa keiner, dass der Song gerade absolut genial war? Zwar jubeln immer noch alle, aber keiner von ihnen sieht so über-rascht aus, wie ich es bin, außerdem bin ich mir relativ sicher, dass ich die Einzige hier mit einer Gänsehaut bin. Sie wirken alle völlig normal.

Alle bis auf Caroline.Sie grinst von einem Ohr zum anderen, als wir uns wieder

hinsetzen, dann hakt sie sich bei mir unter und legt ihr Kinn auf meine Schulter. »Wusste ich’s doch«, sagt sie. »Dass ich mich nicht in dir getäuscht habe.«

Während meine Augen durch den Raum schweifen, über die unzähligen Zettel an den Wänden, meine ich zu sehen, wie Ca-roline und das Pixie-Mädchen einen Blick wechseln. »Wo sind wir hier?«, frage ich wieder und höre selbst die Ehrfurcht in meiner Stimme.

Das Pixie-Mädchen antwortet mir. »Wir nennen es die Dich-terecke.«

»Das ist eine unserer Grundregeln. Man darf niemandes Ge-dichte runtermachen, und schon gar nicht seine eigenen.«

Der Junge setzt sich wieder auf den Hocker, greift nach sei-ner Gitarre, und in derselben Sekunde versiegt der Regen aus Papierbällchen. Er fängt an zu zupfen und eine Melodie erfüllt den Raum. Es sind nur ein paar Töne, die in ihrer Folge aber wunderschön klingen, immer wieder. Dann fängt er an zu sin-gen.

So long, lazy ray. Were you a crack you’d be tempting to look through.Were you my coat on a cold day,You’d lose track of the ways you were worn.And it’s true.I haven’t got a clue.How to love you.

Beim Singen sieht er keinen von uns an. Er starrt bloß auf die Saiten seiner Gitarre und zupft. Es folgen noch zwei weitere Strophen, und seine Stimme wird lauter, eindringlicher, als er den Refrain erreicht. Nach einer weiteren Strophe wird er lang-samer, und ich weiß, dass der Song seinem Ende zugeht.

Like sunlight dancing on my skin,You’ll still be in my mind.So I’m only gonna say,So long, lazy ray.

Der letzte Ton verklingt in der Stille. Ein, zwei Sekunden lang regt sich niemand, dann aber springen alle auf, klatschen und johlen und bombardieren ihn mit noch mehr Papierbällchen, die er lachend wegschlägt. Schließlich fliegen auch Klebestifte.

Es gelingt ihm, einen, der hinter ihm von der Wand abprallt, aufzufangen, und dann macht er dieses Musikerding: Mit einer