Nietzsche 1867 Historische Wissenschaften

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    Friedrich Nietzsche1867 Aufzeichnungen ber Geschichte und historische Wissenschaft 1

    Friedrich Nietzsche 18441900)

    Aufzeichnungen ber Geschichte

    und historische Wissenschaft

    1867)

    In: Nietzsche, Friedrich: Jugendschriften.

    Dichtungen/ Aufstze/ Vortrge/ Aufzeichnungen und Philologische Arbeiten 18581868

    (Sonderausgabe des Ersten Bandes der Musarion-Ausgabe von Friedrich NietzschesGesammelten Werken) Mnchen: Musarion Verlag, 1922, S. 237243

    [Textwiedergabe entsprechend der vorliegenden Schreibweise,Seitenzahlen bzw. -wechsel sind im Text in eckiger Klammer angegeben.]

    [S. 237]Den grossen Gedanken produzirt nur der Einzelne.Massenberzeugungen haben immer etwas Halbes und Verschwommenes.Dagegen sind die Triebe der Masse mchtiger als die des Einzelnen.Wer den Ideenkreis und Verlauf ganzer Zeiten darzustellen hat, muss immer die

    Dummheit und die Furcht vor der Ganzheit in Rechnung ziehn.Vlker leiten heisst, Triebe in Schwung zu bringen, um eine Idee durchzufhren.Dasselbe gilt auch in der Pdagogik.Was fr die einen ein Trieb ist, ist fr die andern oft eine Anschauung, ein Begriff.

    Eine Geschichte des Denkens im Gegensatz zu einer Geschichte der Triebe.

    Das ethische Leben und die ethischen Vorstellungen haben keinen nothwendigenParallelismus.

    Eine Anzahl Anschauungen sind vom Triebe erzeugt, z. B. Gott u. s. w., d. h. vomBedrfnisse. Hier ist der Irrthum fast nothwendig, aber eine begriffliche Widerlegung[237/ 238] nicht stark genug, die Anschauung aufzugeben. Es gilt, Bedrfniss durchBedrfniss auszurotten.

    Dies gilt auch von der Geschichte. Das Bedrfnis, geistig thtig zu sein, treibt die vielenMenschen auf sie hin. Der Nutzen, den sie leistet, liegt zum grssten Theil in derBeschftigung mit ihr. Im Ganzen steht es mit Philosophen, Naturwissenschaften u. s. w.

    nicht besser. Vor allem aber sind diese Studien dadurch ntzlich, dass sie die Menschen vomExperimentiren mit den Menschen, von socialen Reformen u. dergl. fernhalten. Auch sinddiese Beschftigungen im Grunde billig.

    Es ist ein schrecklicher Gedanke, eine Anzahl mittelmssiger Kpfe mit wirklicheinflussreichen Dingen beschftigt zu wissen.

    Das zeigt die Halbheit und Leidenschaft aller politischen Bestrebungen in der Menge.Aehnlich steht es mit theologischen Dingen.

    Immerhin aber ist es ntzlich, der Wissenschaft ihren beraus herrlichen Mantel etwasvom Leibe zu ziehn. Ein gesundes Volk, wie die Griechen, kennt sie nur in geringem Grade.Wir leugnen nicht ihren Nutzen, aber der Volksfhrer muss wissen, dass die Masse mit

    diesem Elemente nicht zu sehr getrnkt werden darf. Man fhre Krieg gegen alles, was dieMenschen beengt; aber ja nicht auf dem Wege, dass man sie lehrt, Bedrfnisse durchAnschauungen zu zersetzen. Kurz, man bilde die Bedrfnisse um, die Befriedigung mag sichdie Menge suchen, z. B. setze man die starken religisen Bedrfnisse in sittliche um. Die

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    politischen in wohlttige. Die Genussbedrfnisse in Kunstbedrfnisse. Aber langsam. EinemBranntweintrinker Sinn fr schne Statuen einflssen zu wollen, ist Unsinn. Aber Sinn frBier und Politik.[238/ 239]

    Jeder, der ein Bedrfnis seiner Zeit befriedigt, darf auf deren Dank rechnen.Aber es giebt Bedrfnisse, die erst gepflanzt werden und deren Urheber gewhnlich

    Unverstand und Undank ernten. Wer hiess sie auch, neue Bedrfnisse zu erzeugen?Man berschtzt gegenwrtig die Geschichte. Dass man sie treibt, ist natrlich. Denn ein

    Trieb ist der Ursprung ihres Daseins. Vielleicht lernt auch der Politiker oder der Diplomatetwas aus ihr. Wir andern fhlen recht wohl, dass die Entwicklung von Vorstellungen, diemit einzelnen Fakten hier und da belegt sind, etwas Schemenhaftes hat. Der historischeThatbestand hat etwas Erstarrendes, Medusenhaftes, das nur dem Auge des Dichtersschwindet. Aus den Blcken der historischen Thatsachen mssen wir uns erst Statuenheraushauen.

    Die Wissenschaft hat etwas Todtes. Insbesondere ist die Ethik schdlich den gutenEigenschaften des Menschen.

    Der Trieb, gut zu handeln, ist da: man darf ihn aber nicht bewusst anschauen. Siehe, dasist Amor und Psyche.

    Somit ist Geschichte, wie ich sie hier geschildert, nichts als Geschichte der Masse, frwelche Geschichte die einzelne Persnlichkeit nur soviel Einfluss hat, als sie auf die Masseeingewirkt hat.

    Im Allgemeinen aber ist Geschichte im Gegensatz zur Philosophie: Betrachtung derverschlungenen Bedrfnisse im Gegensatz zur Betrachtung des einzelnen losgelstenBedrfnisses.

    Doch dies hat sie mit den Naturwissenschaften gemein.Am Ende giebt es bloss eine Betrachtungsweise der Dinge, die wissenschaftlich ist.

    [239/ 240]Eine andere ist die, welche auf den Willen gerichtet ist.Z. B. ein Apfel fr das Kind und fr den Maler und fr den Naturforscher.Die dritte ist die fr den Knstler.Der organische Geschichtsschreiber muss Dichter sein: es schadet jedenfalls etwas,

    wenn er nicht Dichter ist.Die historischen Gesetze bewegen sich nicht in der Sphre der Ethik. Der Fortschritt ist

    berhaupt kein historisches Gesetz, weder der intellektuelle noch der moralische, noch derkonomische.

    Die Vorbereitungen des Christenthums in der Heidenwelt ein Lieblingsthema fr dieGeschichtsconstruktoren.

    Gesetzmssigkeit existirt nur fr den betrachtenden Geist, der es versteht, das Speziellstezu bersetzen. Dies ist keine vernnftige Gesetzmssigkeit, sondern nur der eine selbe Trieb,der in verschiedenem Material zur Erscheinung kommt.

    Die Aufgabe des Historikers ist es somit, Bedrfnisse zu erkennen, die der grossenMenge. Diese sind oft die durch starke Geister eingebornen Bedrfnisse. Diesen Werthhaben dann die einzelnen Persnlichkeiten fr: die einen als Beweise derMassenbedrfnisse, die andern Wenigen als Erzeuger neuer Bedrfnisse.

    Die Ereignisse, weder die des Einzelnen noch die der Geschichte haben einen

    nothwendigen Gang, d. h. den Gang einer vernnftigen Nothwendigkeit.Es versteht sich, dass alles was ist, aus Grnden ist und dass diese Kette nicht abbricht.

    Diese Nothwendigkeit ist nichts Erhabenes, nichts Schnes, nichts Vernnftiges.Z. B. ein Mann, der ein Volk oder eine Familie beglcken

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    [240/ 241] kann, fllt unter dem Sturz des Baumes. Hier ist Ursache und Wirkung, aberkeine Vernnftigkeit.

    Den besagten natrlichen Gang der Nothwendigkeit zeigen kann kein Historiker. Dennwir knnen es nicht bei unseren einzelnen Erlebnissen.

    Einen groen Gang der Nothwendigkeit wollen manche zeigen? Es ist eine Tuschung.Wohl aber knnen wir Glieder der ersten Nothwendigkeitskette finden, die nach kurzem

    wieder abreisst.

    Nun finden wir einzelne Kettenstckchen im Ganzen hufig wieder. Diese nehmen wirzusammen und suchen uns die in der Bedrfnisslehre der Menschen vorkommendenGrnde, die solche Erscheinungen treiben.

    Kurz, wir wenden jetzt eine naturwissenschaftliche Methode an, wir erkennen eineGesetzmssigkeit, die sich bei Betrachtung des einzelnen Dinges nicht ergeben kann.

    Ebenso wie wir zur Einsicht der Gesetze unsres Handelns d. h. des Charakters durchCombination vieler einzelner Thatsachen kommen.

    Nur, dass der Irrthum einer Geschichtsbetrachtung nher liegt als einerCharakterbetrachtung.

    Aber vor allem betone man die Kleinheit der Kettenstckchen.Der Skeptiker kann immer noch die Existenz von Gesetzen abstreiten. Es giebt, kann er

    sagen, keine gleichen Ursachen, darum keine gleichen Wirkungen. Das ist auch richtig. JedeGleichheit ist imaginr. Ebenso doch ist es in der Natur, die trotzdem ihreGesetzmssigkeiten hat.

    Das Medium, durch das der Historiker sieht, sind seine eigenen Vorstellungen (auch dieseiner Zeit) und die seiner Quellen.[241/ 242]

    Baur dagegen glaubt daran, dass der Prozess, der sich hinter der Geschichte entwickele,sich anschauen lasse, er will nicht nur die zwei Hute der Zeit- und Quellen-Vorstellungenzerreissen, sondern auch die dicke und undurchdringbare Haut, mit der die Dinge an sich

    umhllt sind.Er will also mehr knnen als ein Philosoph bei einer Erscheinung, die sich vorseinenAugen entwickelt; wenn dieser das Gras nicht wachsen hren kann, weil er taub wiealle Menschen ist, so will Baur es sogar noch wachsen hren, wenn ihm jemand davonberichtet, dass es dort und dort wachse.

    Wir haben genug zu thun, ja vielleicht zu viel zu thun als mglich ist, wenn wir dieSubjektivitt unserer Erscheinung und der der Quellen abzustreifen suchen: dieObjektivitt, die wir erstreben knnen, ist weit entfernt, es zu sein. Es ist nichts alsSubjektivitt auf einer weiteren Stufe.

    Was ist Geschichte anders als der Kampf unendlich verschiedener und zahlloser

    Interessen fr ihre Existenz?Die grossen Ideen, in denen manche glauben, diesen Kampf aufzufassen, sind die

    abgeschwchten Reflexe grosser oder kleiner Ingenien auf dem verworrenen Meereschwimmend. Sie beherrschen das Meer nicht, aber verschnern oft die Welle fr das Augedes Zuschauers. Es ist aber gleichgltig, ob das Licht Mond-, Sonnen- oder Lampenlicht ist:Die Welle wird hchstens schwcher oder strker beleuchtet.

    Der Gedanke will auch existiren. Nur sind oft und weit fter als bei Trieben die Leiterdieser Art der Elektrizitt schlecht.[242/ 243]

    Bedrfnisse befriedigen heisst Erfolge haben und umgekehrt. Aber in der Geschichte wie

    im Leben des Einzelnen wechseln die Bedrfnisse. Die Bedrfnisse, deren Befriedigung rechtostensibel ist und sich in Kriegen, Litteraturen u. s. w. zeigt, sind deshalb nicht diewichtigsten. Ein Stck Brot ist immer wichtiger als ein Buch.