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Aus dem Inhalt: Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? Die deutsche Einheit als Herausforderung der Justiz Zuwanderung und Integration statt Nichteinwan- derung Der Kampf geht weiter: Der Entwurf eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes Aus dem Rechtsprechungsteil: BGH: Amtspflichten einer Gemeinde bei Erschlie- ßung eines Baugebiets bzgl. Sicherungsmaßnah- men gegen Überschwemmungen – BGH: Anspruchsberechtigung nach SachenRBerG bei Kauf eines Eigenheims mit zwei Wohnungen BVerwG: Grundstücksnutzung durch Gemeinde und Widmung zum Gemeingebrauch als Restitu- tionsausschlussgrund OLG Naumburg: Keine durchgreifenden Bedenken gegen Verfassungsmäßigkeit des UBG LSA bzgl. nachträglicher Sicherungsverwahrung OVG Bautzen: Auflagen für NPD-Versammlung LAG Chemnitz: Tarifwidriger Verzicht eines Lehrers auf Reisekostenvergütung für Schulfahrt 9 02 56. Jahrgang NOMOS Berlin E 10934 N J Seiten 449-504 Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern Neue Justiz

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Aus dem Inhalt:

Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?

Die deutsche Einheit als Herausforderung der Justiz

Zuwanderung und Integration statt Nichteinwan-derung

Der Kampf geht weiter: Der Entwurf eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes

Aus dem Rechtsprechungsteil:– BGH: Amtspflichten einer Gemeinde bei Erschlie-

ßung eines Baugebiets bzgl. Sicherungsmaßnah-men gegen Überschwemmungen

– BGH: Anspruchsberechtigung nach SachenRBerGbei Kauf eines Eigenheims mit zwei Wohnungen

– BVerwG: Grundstücksnutzung durch Gemeindeund Widmung zum Gemeingebrauch als Restitu-tionsausschlussgrund

– OLG Naumburg: Keine durchgreifenden Bedenkengegen Verfassungsmäßigkeit des UBG LSA bzgl.nachträglicher Sicherungsverwahrung

– OVG Bautzen: Auflagen für NPD-Versammlung– LAG Chemnitz: Tarifwidriger Verzicht eines Lehrers

auf Reisekostenvergütung für Schulfahrt

9 0256. Jahrgang

NOMOS Berlin

E 10934

NJSeiten 449-504

Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

Neue Justiz

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RECHTSPRECHUNG

� 01 Verfassungsrecht

BVerfG:Keine Entscheidung im PKH-Verfahren bei nicht geklärter Rechtsfrage/hier: Verjährung nach ZGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473BVerfG:LebenspartnerschaftsG mit GG vereinbar (Ls.) . . . 473

� 02 Bürgerliches Recht

BGH:Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Anfechtung eines Verwaltungsakts (Ls.). . . . . . 474

BGH:Schadensersatz nach Verkauf eines beschä-digten Hausgrundstücks (Winkler) . . . . . . . . . . . . . . 474

BGH:Substantiierung des Vorbringens eines Unter-nehmenskäufers bzgl. Zahlungsunfähigkeit des erworbenen Betriebs (Ehlers) . . . . . . . . . . . . 475

BGH:Anwaltshaftung und Grenzen der Sachverhalts-aufklärung durch Rechtsanwalt (Maskow). . . . . . . 476

BGH:Kostentragungspflicht für Sicherung einer Erdgasleitung wegen Straßenausbau nach Wiedervereinigung (Hirse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

BGH:Ungerechtfertigte Bereicherung und Ablösung der Grundschuld bei unwirksamem Grundstückskaufvertrag (Fritsche). . . . . . . . . . . . . . . 478

BGH:Vermögensbewertung einer Vor-GmbH und Leis-tung einer Bareinlage aus Kapitalerhöhung (Ls.) . . . 480

BGH:Leistung einer Bareinlage aus Kapitalerhöhungund Verfügungsbereich der Geschäftsführung der Gesellschaft (Ls.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

BGH:Amtspflichten einer Gemeinde bei Erschließungeines Baugebiets bzgl. Sicherungsmaßnahmengegen Überschwemmungen (Lühmann). . . . . . . . . 481

BGH:Kein Schadensersatz wegen Ausschlusses eines Bieters nach § 25 Nr. 1 Abs. 1 VOB/A (Ls.) . . . . . . 482

S. 473

I

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in denNeuen Ländern

56. Jahrgang, S. 449-504

NJ 9/02

INFORMATIONEN S. 465

Herausgeber:

Prof. Dr. Peter-Alexis AlbrechtUniversität Frankfurt a.M. Prof. Dr. Marianne Andrae Universität Potsdam Dr. Bernhard Dombek Rechtsanwalt und Notar, BerlinPräsident der BundesrechtsanwaltskammerDr. Uwe Ewald Max-Planck-Institut für ausländischesund internationales StrafrechtDr. Rainer Faupel Staatssekretär a.D., Potsdam/BerlinGeorg Herbert Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Ernst GottfriedMahrenholz Vizepräsident desBundesverfassungsgerichts a.D.,KarlsruheDr. Wolfgang Peller Berlin Prof. Dr. Martin Posch Rechtsanwalt, Jena Karin Schubert Bürgermeisterin und Senatorin für Justizdes Landes BerlinProf. Dr. Jürgen Schwarze Universität Freiburg Prof. Dr. Horst Sendler Präsident des Bundesverwaltungsgerichts a.D.,BerlinDr. Dr. theol. h.c. Helmut SimonBundesverfassungsrichter i.R.,KarlsruheManfred Walther Rechtsanwalt, Berlin Dr. Friedrich Wolff Rechtsanwalt, Berlin

In d iesem Hef t …

S. 459KURZBEITRÄGE

Der Kampf geht weiter: Der Entwurf eines Graffiti-BekämpfungsgesetzesRoland Hefendehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Neue Entwicklungen der Informationstechnik in der JustizHans-Ulrich Borchert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462

Gleichstellung von Frauen und Männern – ein Wunschtraum?Ingrid Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464

S. 449AUFSÄTZE

Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?Uwe Scheffler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Die deutsche Einheit als Herausforderung der JustizJutta Limbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

DOKUMENTATION

Petitionsbericht des Deutschen Bundestags 2001

S. 469

S. 455NEUE RECHTSVORSCHRIFTEN

Zuwanderung und Integration statt NichteinwanderungGünter Renner

REZENSIONEN

Gunther Geserick/Klaus Vendura/Ingo Wirth: Zeitzeuge TodVon Gerhard Baatz

Gesellschaftsrecht für die PraxisVon Benjamin Ehlers

S. 472

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II

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

56. Jahrgang, S. 449-504

NJ 9/02

Redaktion: Rechtsanwältin Adelhaid Brandt(Chefredakteurin)Barbara Andrä Dr. Ralf Poscher

Redaktionsanschrift:Anklamer Str. 32, 10115 BerlinTel.: (030) 4 42 78 72/-73Fax: (030) 4 42 53 14e-mail: [email protected]

Internetadresse:http://www.nomos.de/nomos/zeitschr/nj/nj.htm

Erscheinungsfolge: einmal monatlich

Bezugspreise: Jahresabonnement 108,– €inkl. Jahrgangs-CD-ROM 139,– €jeweils inkl. MwSt., zzgl. Porto undVersandkosten

Vorzugspreis: (gegen Nachweis) für Studenten jährl. 30,– €

inkl. MwSt., zzgl. Porto und Versand-kosten

Einzelheft: 12,– € inkl. MwSt., zzgl. Porto und VersandkostenBestellungen beim örtlichen Buch-handel oder direkt bei der NOMOSVerlagsgesellschaft Baden-Baden. Abbestellungen bis jeweils 30. September zum Jahresende.

Verlag, Druckerei, Anzeigenver-waltung und Anzeigenannahme: Nomos VerlagsgesellschaftWaldseestr. 3-5, 76530 Baden-Baden,Tel.: (0 72 21) 21 04-0Fax: (0 72 21) 21 04-27

Urheber- und Verlagsrechte:Die in dieser Zeitschrift veröffentlich-ten Beiträge sind urheberrechtlichgeschützt. Das gilt auch für die veröf-fentlichten Gerichtsentscheidungenund ihre Leitsätze; diese sind geschützt, soweit sie vom Einsender oder vonder Redaktion erarbeitet und redigiert worden sind. Kein Teil dieser Zeit-schrift darf ohne vorherige schriftlicheZustimmung des Verlags verwendetwerden. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Bearbeitungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbei-tung in elektronischen Systemen.ISSN 0028-3231

Redaktionsschluss: 19. August 2002

In d iesem Hef t …

BGH:Zum Erstattungsanspruch gewöhnlicher Betriebs- und Erhaltungskosten nach VermG und Aufrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482

BGH:Schadensersatz aus Verkehrsunfall (Ls.) . . . . . . . . . 483

BGH:Anspruchsberechtigung nach SachenRBerG bei Kauf eines Eigenheims mit zwei Wohnungen(Zank) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483

BGH:Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . 484

OLG Brandenburg:Kostenentscheidung bei unzuständigem Gericht/hier: Rechtsanwalt als Arbeitnehmer . . . . 485

OLG Naumburg:Keine Pflicht des Grundstückseigentümers zur generellen Verhinderung des Regenwasser-abflusses auf Nachbargrundstück (Ls.) . . . . . . . . . . 486

OLG Dresden:Prüffähigkeit der Betriebskostenabrechnung bzgl. Heizkosten und Anhebung der Voraus-zahlungen (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

OLG Dresden:Vergütung eines Nachlasspflegers im Beitrittsgebiet (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

OLG Naumburg:Schadensersatzanspruch des Grundstücks-eigentümers wegen Grundwasserabsenkung (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

OLG Jena:Kindesunterhalt für die Vergangenheit bei Zusammenleben der Eltern in nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Verwirkung (Grandke). . . 486

LG Berlin:Keine Anwendung des Berliner Mietspiegelsauf Wohnungen in 2-Familien-Häusern. . . . . . . . . . 488

� 03 Strafrecht

OLG Dresden:Keine generelle Rechtsstaatswidrigkeit iSd StrRehaG bei Verurteilung zur Arbeits-erziehung nach DDR-VO von 1961 (Ls.) . . . . . . . . 489OLG Jena:§ 17 Abs. 1 u. 5 StrRehaG nF mit Grundgesetzvereinbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489

OLG Naumburg:Keine durchgreifenden Bedenken gegen Verfassungsmäßigkeit des UBG LSA bzgl. nachträglicher Sicherungsverwahrung (König). . . . 490LG Berlin:Zur strafrechtlichen Rehabilitierung bei einer verwaltungsrechtlichen Maßnahme (Ls.) . . . . . . . . . 491

� 04 Verwaltungsrecht

BVerwG:Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen behördliche Verfahrenshandlungen (Herbst). . . . . 492

BVerwG:Grundstücksnutzung durch Gemeinde und Widmung zum Gemeingebrauch alsRestitutionsausschlussgrund (Schmidt) . . . . . . . . . . 493

BVerwG:Übergang von Rechtstiteln nach US-Pauschal-entschädigungsabkommen (Gruber) . . . . . . . . . . . . 494

BVerwG:Ablösebetrag nach VermG bei Vorliegen einer Aufbauhypothek (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

BVerwG:Festgestellte Restitutionsberechtigung und erneuter Antrag wegen anderer Schädigung desselben Vermögenswerts (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

BVerwG:Entschädigungshöhe für »arisiertes« Unter-nehmen (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

OVG Bautzen:Auflagen für NPD-Versammlung (Kniesel) . . . . . . . 496

OVG Bautzen:Aufenthaltsstatus von Asylfolgeantragstellernund Grenzübertrittsbescheinigung (Renner) . . . . . 497

OVG Greifswald:Öffentlichkeit einer Straße nach DDR-Recht (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

� 05 Arbeitsrecht

BAG:Anforderungen an Stellenbesetzungsverfahren(Lakies). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

BAG:Anforderungen an Gericht bei der Beweis-würdigung (Ls.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500

LAG Chemnitz:Tarifwidriger Verzicht eines Lehrers auf Reisekostenvergütung für Schulfahrt . . . . . . . . . . . . 500

� 06 Sozialrecht

BSG:Ausschlusstatbestand des § 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VI erfasst nur Bezieher einer Vollrente wegen Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502

BSG:Berücksichtigung der DDR-Verwaltungs-praxis bei Anerkennung einer Berufskrankheit (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504

BSG:Opferentschädigung für behindertes Kindnach gewaltsam erzwungenem Inzest (Ls.). . . . . . 504

LSG Erfurt:Keine Abgeltung von Erstattungsforderungen für SV-Beiträge durch Vereinbarung prospek-tiver Pflegesätze (Ls.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504

Termine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III

Aktuelle Buchumschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III

Zeitschriftenübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt ein Prospektder Nomos Verlagsgesellschaft bei. Wir bittenfreundlichst um Beachtung.

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IIINeue Justiz 9/2002

TERMINEDie Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer ver-anstaltet am 24. und 25. Oktober 2002 die 6. Speyerer Demokratie-tagung zum Thema

»Korruption in Politik und Verwaltung«.Staat und Gesellschaft galten in Deutschland lange als besonders kor-ruptionsresistent. Es herrschte das Bild des unbestechlichen »preußi-schen« Beamten. Um so mehr wurde die Öffentlichkeit durch spekta-kuläre Korruptionsfälle in letzter Zeit aufgeschreckt. Die Tagung unterder Leitung von Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim will ein realistischesBild der Lage geben und neben der Diagnose auch Therapien anbieten.Als Themen sind u.a. geplant:• Die Korruption und ihre Mechanismen (Ref.: Prof. Dr. Erwin Scheuch,

Universität Köln)• Korruption als Gegenstand der Politikwissenschaft (Ref.: Prof. Dr.

Ulrich von Alemann, Universität Düsseldorf)• Der Korruptionsskandal als Vehikel der Normsetzung in der Politik

(Ref.: Prof. Dr. Erhard Blankenburg, Freie Universität Amsterdam)• Korruptionsmuster. Ausgewählte Fälle politischer Korruption in

Deutschland (Ref.: Hans Leyendecker, Süddeutsche Zeitung)• Wie unabhängig sind Staatsanwälte in Deutschland? (Dinner Speech

mit RiOLG Dr. Winfried Maier, Staatsanwalt a.D.)• Zivilgesellschaftliche Organisation in der globalen Regierungs-

führung am Beispiel der internationalen Korruptionsbekämpfung(Ref.: Dr. Peter Eigen, Präsident von Transparency International e.V.)

• Ausgewählte Fälle von Korruption in der Verwaltung. Herausforde-rung von Staat und Recht (Ref.: Wolfgang Schaupensteiner, Ober-staatsanwalt am LG Frankfurt/M.)

Anmeldung und weitere Informationen: Deutsche Hochschule für Ver-waltungswissenschaften Speyer, Fortbildungs- und Tagungssekretariat,Lioba Diehl u. Beate Günster, Freiherr-vom-Stein-Str. 2, 67346 Speyer,Tel.: (06232) 654-226 u. -269, Fax: -208, e-mail: [email protected]

*Das Kommunale Bildungswerk e.V. veranstaltet im Oktober in Berlinfolgende Spezialseminare:

»Grundstücksveräußerung und -erwerb (unter besonderer Berücksichtigung der Aufgaben der Kommunalverwaltung)«.

Schwerpunkte:• Rechtsgeschäftlicher und originärer Erwerb• Verhältnis von Erwerbs- zu Grundgeschäft, insbesondere Kauf• Bedeutung des Grundbuchs, Fehlerhaftigkeit des Grundbuchs• Widerspruch und Vormerkung• Grundeigentum in den neuen Bundesländern• GrundstücksbelastungenDozent: Stadtoberrechtsrat Dr. Kay-Uwe RheinTermin: 14.-15.10.2002 Seminargebühr: 155

»Wertermittlung in Sanierungsgebieten und in Entwicklungsbereichen«.Schwerpunkte:• Grundzüge der Verkehrswertermittlung (Definition und Rechts-

grundlagen; Anforderung an ein Verkehrswertgutachten)• Ermittlung des Anfangswerts und des Endwerts/Neuordnungswerts

(Rechtsgrundlagen; Ermittlungsgrundlagen; Verfahren)Dozent: Obervermessungsrätin Dipl.-Ing. Gisela FabianTermin: 24.-25.10.2002 Seminargebühr: 155 €Weitere Informationen: Kommunales Bildungswerk e.V., Gürtelstr. 29 a/30,10247 Berlin. Tel.: (030) 293350-0, Fax: (030) 293350-39; e-mail:[email protected]; Internet: www.kbw.de

*Juristische Seminare in Berlin bietet am 28./29. Oktober 2002folgendes Seminar an:

»Immobiliarvollstreckung Kurs 6: Aufbaukurs, praxisrelevante Spezialfragen«.

Schwerpunkte: Erlösverteilung; Rang- und Bewertungsprobleme; Gemein-schaftliche Versteigerung mehrerer Grundstücke; GemeinschaftlicheVersteigerung bei GesamtbelastungenReferent: Prof. Dieter Eickmann, BerlinTagungsort: Hotel SteigenbergerTagungsgebühr: 440 € zzgl. MwStWeitere Informationen: Juristische Seminare in Berlin, Rackebüllerweg2 B, 12305 Berlin. Tel. u. Fax: (030) 743 19 36, e-mail: [email protected]; Internet: www.behr-seminare.de

AKTUELLE BUCHUMSCHAU

T. Müller-Heidelberg/U. Finckh/E. Steven/J. Neubert/J. Micksch/W. Kaleck/M. Kutscha (Hrsg.)Grundrechte-Report 2002Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in DeutschlandRowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 2002272 S., brosch., 9,90 €. ISBN 3-499-23058-5Freiheit oder Sicherheit? Die Terroranschläge in der USA am 11.9.2001haben die deutsche Innenpolitik verändert. Wie passen die neuenAntiterrorgesetze zu Geist und Buchstaben des Grundgesetzes? Der vor-liegende Band geht dieser Frage nach und gibt neue Impulse für einenotwendige Debatte. Weitere Themen sind u.a: die ausufernde Video-überwachung öffentlicher Räume, die Erosion des Demonstrations-rechts, der heimliche Abbau der Tarifautonomie und die alltäglicheVerletzung der Würde alter Menschen in Alten- und Pflegeheimen.

Beatrice Fabry/Ursula Augsten (Hrsg.)Handbuch für Unternehmen der Öffentlichen HandNomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2002713 S., geb., 91,– €. ISBN 3-7890-7521-3In vielen Bereichen sieht sich die öffentliche Hand einem zunehmen-den Wettbewerb ausgesetzt, der durch das Europarecht verstärkt wird.Das Werk will den Entscheidungsträgern Sicherheit bei der Fragegeben, ob vor diesem Hintergrund eine Privatisierung sinnvoll odergar geboten erscheint und wie diese zu gestalten ist. Es zeigt zugleichdie Besonderheiten bei öffentlichen Unternehmen, rechtliche, steuer-liche und finanzierungstechnische Aspekte sowie Fragen der Prüfungs-und Rechnungslegung und des Beteiligungscontrollings auf.

Wolfgang Arens/Klaus Rinck (Hrsg.)GesellschaftsrechtSchriftsätze, Verträge, ErläuterungenDeutscher Anwaltverlag, Bonn 20021.584 S., geb., mit CD-ROM, 122,– €. ISBN 3-8240-0489-5Das Gesellschaftsrecht stellt eine der komplexesten Rechtsmaterien inder anwaltlichen und notariellen Beratung dar. Das Formularbuch istein Arbeitsmittel für die tägliche Praxis. Es gibt dem Benutzer sowohlfür den beratenden und gestaltenden als auch für den prozessualenTeil seiner Tätigkeit praxisgerechte und präzise Erläuterungen unterBerücksichtigung auch der steuerlichen Aspekte. Die Formulierungs-muster haben Beispielcharakter und bilden die Arbeitsgrundlage füreine individuelle Vertrags- und Schrifsatzgestaltung; sie sind über diebeigefügte CD-ROM abrufbar.

Gerhard SchumannErbvertragsrechtKommentar zu den §§ 1941, 2274-2302 BGB mit Vertragsmustern für die RechtspraxisHaufe Verlag, Berlin 20021.200 S., geb., mit CD-ROM, 79,– €. ISBN 3-448-03960-8Der Erbvertrag bietet das juristische Instrument für einen verlässlichenGenerationenvertrag. In diesem Kontext ist in allen kommentiertenBereichen das jeweilige Einkommen- und Erbschaftsteuerrecht umfas-send mitbehandelt und das jeweilige internationale Privatrecht bei deneinzelnen Möglichkeiten erbrechtlicher Gestaltung berücksichtigt wor-den. Auf der CD-ROM finden sich über 100 Vertragsmuster, Rechts-vorschriften zur Erbschaft- und Einkommensteuer, Erlasse der oberstenFinanzbehörden der Länder und ein Erbschaftsteuerrechner.

Dieter BüteZugewinnausgleich bei EhescheidungBewertung – Berechnung – Sicherung – VerjährungErich Schmidt Verlag, 2., überarb. u. erg. Aufl., Bielefeld 2002277 S., kart., 39,80 €. ISBN 3-503-06660-8Das Buch bietet eine grundlegende Darstellung des Zugewinnaus-gleichsverfahrens bei der Ehescheidung und gibt Antworten zu allenFragen des Zugewinnausgleichs. Die Neuauflage wurde notwendigangesichts der Vielzahl neu ergangener Entscheidungen des BGH undder OLG. Sämtliche Kapitel wurden überarbeitet, ergänzt und auf denneuesten Stand von Rechtsprechung und Literatur gebracht. Das giltinsbesondere für den Schwerpunkt des Werks, das Verzeichnis zurBewertung von Vermögensgegenständen und Sachgesamtheiten imZugewinnausgleich.

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Neue Justiz 9/2002IV

Johannes EbertEinstweiliger Rechtsschutz in FamiliensachenDeutscher Anwaltverlag, Bonn 2002720 S., geb., 68,– €ISBN 3-8240-0461-5ZPO-Novelle, GewaltschutzG, LebenspartnerschaftsG und Kinder-rechteverbesserungsG haben den einstweiligen Rechtsschutz im Fami-lienrecht erheblich verändert. Der Autor, Familienrichter und Dozentin der Fachanwaltsausbildung, stellt Struktur und Inhalte der ver-schiedenen Mittel des einstweiligen Rechtsschutzes dar und vermittelt– Schritt für Schritt – die richtige Auswahl und Durchsetzung desjeweiligen Schutzinstruments. Besonderer Wert wird dabei auf dieAbgrenzung der verschiedenen Mittel und deren Anwendungsberei-che gelegt.

Elmar HuckoDas neue UrhebervertragsrechtAngemessene Vergütung – Neuer Bestsellerparagraf – Gemeinsame VergütungsregelnMitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2002172 S., kart., 18,– €ISBN 3-89812-157-7In der praxisorientierten Einführung erläutert der Autor, Abteilungs-leiter im BMJ und federführend an der Erarbeitung des ab 1.7.2002geltenden neuen Urhebervertragsrechts beteiligt, die wesentlichenNeuregelungen. Der Text des Gesetzes zur Stärkung der vertraglichenStellung von Urhebern und ausübenden Künstlern ist ebensoabgedruckt wie der Gesetzentwurf der Bundesregierung mit amtlicherBegründung, die Stellungnahme des Bundesrats sowie die im Gesetz-gebungsverfahren eingebrachten Änderungen gegenüber dem Entwurf.

Sabine Zentek/Thomas MeinkeUrheberrechtsreform 2002Haufe Verlag, Berlin 2002296 S., brosch., 34,90 €

ISBN 3-448-05208-6Die Autoren stellen alle Neuerungen des Urhebervertragsrechts im Ver-gleich zum bisherigen Recht dar und benennen zugleich noch immervorhandene Widersprüchlichkeiten. Der Ratgeber bietet konkretePraxisvorlagen, die sofort genutzt und angepasst werden können, vorallem Tarifverträge, Honorarempfehlungen, Norm- und Musterver-träge, und einen Überblick über die Verwertungsgesellschaften undTarife der VG Bild/Kunst in Auszügen. Adressen, Links, Gesetzestexteund eine Volltext-Synopse runden den Band ab.

Reinhard BindemannHandbuch VerbraucherkonkursEine praxisorientierte Einführung für Schuldner, Schuldenberater,Gläubiger und RechtsberaterNomos Verlagsgesellschaft, 3. Aufl., Baden-Baden 2002328 S., brosch., mit Diskette, 29,– €

ISBN 3-7890-7766-6Bundesweit sind 2,8 Mio. Verbraucherhaushalte zahlungsunfähig.Diese enorm hohe Überschuldung zieht einen immensen Beratungs-bedarf nach sich. Der Autor, langjähriger Mitarbeiter einer Verbrau-cherzentrale, schildert den Ablauf der Verbraucherinsolvenz leichtverständlich. In allen Kapiteln wird eine Vielzahl von Einzelproblemenerörtert, die in der täglichen Beratungspraxis aus Sicht der Schuldner,Schuldenberater, Gläubiger und Rechtsanwälte gelöst werden müssen.Arbeitshilfen finden sich auf der beigefügten Diskette.

Alexander Ostrowicz/Reinhard Künzl/Horst SchäferDer ArbeitsgerichtsprozessEine systematische Darstellung des gesamten Verfahrensrechts miteinstweiligem Rechtsschutz und ZwangsvollstreckungsrechtErich Schmidt Verlag, 2. akt. u. erw. Aufl., Bielefeld 2002526 S., geb., 86,– €

ISBN 3-503-06655-1Das Buch richtet sich vor allem an Prozessvertreter und die Berufs-richter der Arbeitsgerichtsbarkeit. Die unmittelbaren Änderungen desArbeitsgerichtsG durch das ZPO-Reformgesetz und die jeweiligenÜbergangsvorschriften werden in den einzelnen Abschnitten erör-tert; außerdem wurden die Verweisungen auf die ZPO-Vorschriftenund deren Auswirkungen auf den neuesten Stand gebracht. DieLösung von Streitfragen orientiert sich in erster Linie an der Recht-sprechung.

Peter MockGebührenrechtC. F. Müller Verlag, 2., neu bearb. Aufl., Heidelberg 2002507 S., kart., 54,– €. ISBN 3-8114-5053-0Die Neuauflage informiert über die Grundsätze der richtigen Wertermitt-lung und die wichtigsten, immer wieder vorkommenden Gebühren-vorschriften. Anhand neuester Rechtsprechung und aktueller Gesetzes-änderungen werden die Gebührenabrechnung im außergerichtlichenBereich, im bürgerlichen Recht, in Familien- und Lebenspartner-schaftssachen, in Arbeitssachen, in Strafsachen sowie Zwangsvoll-streckungs-, Zwangsversteigerungs-, Konkurs- und Insolvenzsachen,bei Honorarvereinbarungen und Beratungsverträgen behandelt.

Birgit von DerschauDer GullydeckelmörderKriminalfälle aus DeutschlandVerlag Das Neue Berlin, Berlin 2002256 S., brosch., 12,90 €. ISBN 3-360-00970-3In acht schweren Fällen von Mord und Raubmord, Entführung undVergewaltigung recherchierte die Autorin, bekannt als Moderatorinvon »Kripo-live« im MDR-Fernsehen, Tathergänge, untersucht Motiveder Täter und zeichnet die polizeiliche Fahndungs- und Ermittlungs-arbeit nach. Sie beschreibt Täterpsychogramme ebenso wie Spuren-sicherung und Verhörtechnik. Die spannenden Darstellungen beruhenauf Gesprächen mit Kriminalbeamten, Staatsanwälten und Personenim Umfeld der Tat sowie auf Einsicht in die Originalakten.

Das Deutsche Bundesrechtauf CD-ROMNomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2002Grundwerk für Windows 249,– €, vierteljährliche Updates jew. 125,– €(Bezieher der Loseblattausgabe erhalten das Grundwerk kostenlos)ISBN 3-7890-9351-3Das Deutsche Bundesrecht erscheint seit 1949 und enthält dasgesamte geltende Recht der Bundesrepublik Deutschland in vollemWortlaut. Die CD-ROM »kennt« die Strukturen von Gesetzestextenund die Suchstrategien der Juristen. Es kann eine gezielte Gewichtungder Treffer nach der Häufigkeit des gesuchten Wortes im Paragra-phentext und seiner Position vornehmen. Interne Verlinkungenerleichtern das Springen zwischen Rechtsnormen und die Erschlie-ßung von Passivzitierungen; komfortable Druckfunktionen ermög-lichen den Ausdruck einzelner Paragraphen und ganzer Gesetze.

Weitere Neuerscheinungen:

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(ausführliche Rezensionen bleiben vorbehalten)

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VNeue Justiz 9/2002

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Chefredakteurin:Rechtsanwältin Adelhaid BrandtAnschrift der Redaktion:Anklamer Straße 32 • 10115 Berlin • Tel. (030) 4427872/73 • Fax (030) 4425314 • e-mail: [email protected]

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

449Neue Justiz 9/2002

Mit der gestellten Frage beschäftigt sich der diesjährige 64. Deutsche Juris-tentag (DJT) in seiner strafrechtlichen Abteilung. Vor diesem Hintergrundbeleuchtet der Autor kritisch die Fülle der in der 14. Legislaturperiodevorgelegten Gesetzesinitiativen zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes.Er gelangt zu dem Ergebnis, dass sie letztlich – unter Preisgabe des Erziehungs-prinzips – auf eine Angleichung des Jugendstrafrechts an das Erwachsenen-strafrecht hinauslaufen.

I. Hommage an den Zeitgeist?

Zunächst einmal: Die Fragestellungen jedenfalls der strafrechtlichenAbteilung der Deutschen Juristentage in jüngerer Zeit waren eigentlichimmer »zeitgemäß«, vielleicht sogar zu sehr. Kaum war aus Kreisen derPolitik ein neues strafrechtliches Thema auserkoren, Tatkraft undHandlungsbereitschaft zu zeigen, griff es der Deutsche Juristentagsofort auf. So manches Mal entstand dadurch der falsche Anschein,dass nicht etwa seitens des Gesetzgebers eine »neue Sau durchs Dorfgejagt« wird, sondern dass vielmehr die Kriminalwissenschaften unddie Strafrechtspflege ein Problem hätten. Stichworte seien hier nur die»Verfahrensbeschleunigung« als Thema des 60. DJT 19941 »mittendrinin einer Flut von Beschleunigungsgesetzen«2 und die »Korruptions-bekämpfung«, den Vorgaben des Gesetzgebers folgend bezogen auf dasStraf- und Strafprozessrecht3 als Thema des darauf folgenden Juristen-tags 1996.4 Erinnert sei aber vor allem an die auf dem letzten DJTdiskutierte Rechtsmittelreform,5 deren Notwendigkeit eigentlich bisdato nur die Bundesjustizministerin bemerkt hatte,6 was zu einembesonderen Kuriosum führte: Während der Verhandlungen des DJTließ das Ministerium verlautbaren, es sich nun anders überlegt zu haben,so dass »das BMJ eine veränderte Konzeption des Rechtsmittelsystemsin Strafsachen nicht weiterverfolge«.7 Die strafrechtliche Abteilung desJuristentags diskutierte ein bloßes Phantom,8 die Beschlussvorschlägewurden nicht zu Unrecht als »Makulatur« bezeichnet,9 die »schon

veraltet waren, bevor sie gefasst wurden«10; niemand spricht seitdemmehr von einer grundlegenden Rechtsmittelreform im Strafverfahren.

Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)

9 0256. Jahrgang • Seiten 449-504

1 Gössel, Verh. 60. DJT, 1994, S. C 13: »Mögen so auch die soeben erwähnten Datenzu einer Beschleunigung des Strafverfahrens keinen dringenden Anlass bieten …«;Hamm, ebenda, S. M 204: »Ich erwähne dies alles hier nicht, um Kritik daran zuüben, dass die Ständige Deputation uns dieses Thema erneut gestellt hat, obwohlmir der Grund, offen gesagt, während der Debatte nicht klar geworden ist.«

2 Scheffler, GA 1995, 465.3 Böttcher, Verh. 61. DJT, 1996, S. L 70: »Dem Deutschen Bundestag liegt ein

Gesetz des Bundesrats mit zahlreichen detaillierten Vorschlägen zur Änderungdes Straf- und Strafverfahrensrechts vor, und es wird ihm demnächst zugeleitetwerden ein ähnlicher … Entwurf der Bundesregierung. Der Juristentag kann sich… schmeicheln, dass der Gesetzgeber … mit Interesse erwartet, was wir zu diesemThema zu sagen haben … Dabei – das heben wir in der Fassung unseres Themasja ausdrücklich hervor – beschränkt sich der Beratungsgegenstand grundsätzlichauf die straf- und strafprozessualen Aspekte des Themas. Jeder weiß …, daß dieProblematik viel weiter reicht … «

4 Volk, Verh. 61. DJT, S. L 36: »Wieder einmal geht es, wie schon bei der Bekämp-fung der Wirtschaftskriminalität, um die ethische Sanierung der Wirtschafts-gesellschaft mit strafrechtlichen Mitteln.«; Kerner/Rixen, GA 1996, 396: »DieStrafrechtliche Abteilung des 61. Deutschen Juristentages könnte … auf dieselbstgestellte Frage dem Gesetzgeber antworten: Änderungen des Straf- undStrafprozessrechts, um der Gefahr von Korruption in Staat, Wirtschaft undGesellschaft wirksam zu begegnen, empfehlen sich allenfalls flankierend bzw.eingebettet in ein breit angelegtes Konzept integrierter (Kriminal-)Prävention.«

5 Böttcher, FS Rieß, 2002, S. 41: »Im Benehmen mit den BMJ hat die StändigeDeputation dem 63. Deutschen Juristentag … die Frage gestellt, ob für die Straf-justiz … eine Reform des Rechtsmittelsystems … zu empfehlen ist.«

6 Lilie, Verh. 63. DJT, 2000, S. D 11 f.: »… ist das Gespräch nicht in erster Linie von derWissenschaft oder gar von der Praxis ausgelöst worden, sondern es sind politischeVorgaben, die die Diskussion in Gang gebracht haben.«; Michalke, ebenda, S. M26 f.: »… der Anlass dafür, dass wir uns wiederum mit der Frage einer Rechtsmittel-reform in Strafsachen befassen, … hat eigentlich überhaupt nichts mit dem beste-henden Rechtsmittelsystem zu tun. Weder gibt es eine verbreitete Unzufriedenheitüber die Leistungsfähigkeit der Beschwerde, der Berufung und der Revision, nochhat jemand – wie damals – einen Gesetzentwurf vorgelegt, der uns darauf gebrachthätte, die Argumente von 1978 noch einmal auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen.«

7 Vgl. DRiZ 2000, 468.8 Nelles, zit. n. DRiZ 2000, 468: » … die politische Vorgabe lautet jetzt ›ätsch, ätsch‹

… und man komme sich vor wie die Teilnehmer eines Mensch-ärger-dich-nicht-oder Skatspiels, bei dem während des Spiels die Regeln ständig geändert würden.«

9 Groß, Verh. 63. DJT, S. M 106. 10 F.A.Z. zit. n. DRiZ 2000, 468.

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Neue Justiz 9/2002450

Jetzt also das Jugendstrafrecht. Die zu verhandelnde Frage lautet aberdiesmal nicht, wie sonst im Allgemeinen, ob es – im Hinblick auf mehroder weniger allgemein anerkannte Ziele – irgendwie zu verbessernwäre, sondern ob es noch »zeitgemäß« ist, also dem Zeitgeist entspricht,en vogue ist, ob es noch als »trendy« und »hip« betrachtet werden kann.

Nun ist es mit dem Zeitgeist so eine Sache. 1998 gaben 54 Professo-ren des Jugendstrafrechts und der Jugendkriminologie eine öffentlicheErklärung ab, in der sie betonten, dass es »nahezu zwingend« dasPostulat verantwortlicher Kriminalpolitik sein müsse, »die gesetz-lichen Vorgaben für die Jugendgerichtsbarkeit derzeit nicht zu verän-dern«.11 Und mit Blick auf geforderte Änderungen des Jugendstraf-rechts: »Anlassgesetzgebung« mit »dem Ziel allein, zu demonstrieren,dass Ängste und Sorgen der Bevölkerung … vom Gesetzgeber ernstgenommen werden«, habe »noch nie mehr genutzt als geschadet«.12

Unberührt davon die öffentliche Meinung. Jugendtypische Bagatell-delikte liefern Anlass für weitgehende Strafphantasien: So sind einervor kurzem durchgeführten Umfrage zufolge 85% der West- undsogar 95% der Ostdeutschen dafür, das Wegwerfen von Abfall stärkerzu bestrafen – »wie etwa in Kalifornien, wo das Wegwerfen einerGetränkedose bis zu 1.000 Dollar Bußgeld kostet«.13 Und der Bundes-tag hat gerade mal wieder den Entwurf eines »Graffiti-Bekämpfungs-gesetzes« auf dem Tisch14 – der vierte in dieser Legislaturperiode,15 derdie Rund-um-Pönalisierung des Sprayens vorsieht.

Schaue ich mir den Zeitgeist näher an, und konstatiere ich dannanhand der Gesetzgebung der letzten Jahre, was im Strafrecht (im wei-teren Sinne) »zeitgemäß« ist, verfestigt sich die Befürchtung, Reformenkönnten nur zu einer allgemeinen Verschärfung des Jugendstrafrechtsführen: Tatbestände des StGB wie der Geldwäsche- oder der Kindes-missbrauchparagraph sind in den letzten Jahren vielfältig verschärft16

und (einschl. §§ 176a, 176b StGB) auf jeweils zehn Absätze aufgeblähtworden; der »Große Lauschangriff« betraf bis zur Änderung der Recht-sprechung zu den Bandendelikten17 auch schon zwei Jugendliche,die sich zur gemeinsamen Begehung bspw. mehrerer Autoeinbrüchezusammengetan haben;18 Rasterfahndung19 und der »freiwillige«DNA-Massentest20 machen strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmengegen Unverdächtige hoffähig, in Gendateien sollen sogar diejenigenauf Dauer gesammelt werden, die – eine solche Akte hatte ich als Straf-verteidiger gerade auf dem Tisch21 –, einige Liter Benzin aus einemfremden Fahrzeug absaugen wollten (§ 243 StGB22!). Die Liste ließesich beliebig fortsetzen.

II. Die Gesetzesinitiativen auf dem Prüfstand

Zurück zum Jugendstrafrecht: Wir wollen erkunden, ob es noch»zeitgemäß« ist. Prüfen wir also, wo es nicht mehr »zeitgemäß« zu seinscheint und gehen wir dabei von den zahlreichen Gesetzgebungs-initiativen der Politik in dieser Legislaturperiode als Indikatoren aus.Große Klagen der Wissenschaft und selbst der Praxis am Jugendstraf-recht sind verglichen damit kaum zu vernehmen.

1. In dieser Legislaturperiode stammte der erste Gesetzesantrag, derdas JGG neu gestalten sollte, vom Freistaat Bayern.23 Der Entwurf wollteden sog. Einstiegsarrest (also Jugendarrest neben zur Bewährung aus-gesetzter Verhängung [§ 21 JGG] oder Vollstreckung [§ 27 JGG] derJugendstrafe), die Meldepflicht als Weisung, das (isolierte) Fahrverbot alsvon Straßenverkehrsdelikten losgelöstes Zuchtmittel sowie Vorführungund Haftbefehl (§ 230 Abs. 2 StPO) im Vereinfachten Verfahren (§§ 76 ff.JGG) einführen. Die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwach-sende (§ 105 JGG) sollte auf Ausnahmen beschränkt, dann aber wenig-stens die Höchststrafe auf 15 Jahre Jugendstrafe heraufgesetzt werden.

Nachdem dieser Gesetzesantrag vom Bundesrat am 5.11.1999 abge-lehnt worden war,24 wurden am 12.4.2000 die weitgehend gleichenVorschläge von der Fraktion der CDU/CSU in den Deutschen Bundes-tag eingebracht.25

2. Der Freistaat Thüringen legte sodann im Sept. 2000 dem Bundes-rat einen Gesetzesantrag vor, das Beschleunigte Verfahren (§ 417 ff.StPO) einschließlich der Hauptverhandlungshaft (§ 127b StPO) auchgegenüber Jugendlichen zuzulassen.26 Eine entsprechende Initiativehatte das Bundesland Brandenburg schon in der letzten Legislatur-periode starten wollen;27 der zurückgetretene Justizminister Schelterhatte es auch jüngst noch gefordert.28 Der Bundesrat beschloss dieEinbringung der thüringischen Vorschläge in den Bundestag mit derErgänzung, zusätzlich Vorführung und Haftbefehl im VereinfachtenJugendstrafverfahren zu erlauben.29

3. Im Okt. 2000 brachte Bayern einen Gesetzesantrag in den Bundes-rat ein, die Meldepflicht als Weisung, das Fahrverbot als allgemeines,von Straßenverkehrsdelikten gelöstes Zuchtmittel sowie Vorführungund Haftbefehl im Vereinfachten Verfahren in das JGG aufzuneh-men.30

4. Im Nov. 2000 verabschiedete der Bundesrat auf Antrag Baden-Württembergs eine Entschließung »zur wirksameren Bekämpfung vonRechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit«, in der wiederum Ein-stiegsarrest, Vorführung und Haftbefehl im Vereinfachten Verfahrensowie die Zurückdrängung der Anwendung von Jugendstrafrecht aufHeranwachsende gefordert wurde.31 Baden-Württemberg befürwor-tete in seinem Antrag darüber hinaus noch die Einführung einesisolierten Fahrverbots (auch) im Jugendstrafrecht bei Straftaten imZusammenhang mit dem Straßenverkehr.32

5. Ebenfalls im Nov. 2000 schlug das Land Mecklenburg-Vorpom-mern dem Bundesrat in einem Gesetzesantrag wiederum vor, das Fahr-verbot als allgemeines Zuchtmittel gegen Jugendliche einzuführen.33

6. In einem weiteren Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestags-fraktion vom April 2002 ist vorgesehen, Nebenklage und Adhäsions-verfahren auch im Jugendstrafrecht zuzulassen.34

7. Schließlich will die Bundesregierung mit dem »Entwurf einesGesetzes zur Reform des Sanktionenrechts« vom Juni 200235 offenbarebenfalls eine Ausweitung des Fahrverbots als Sanktion (auch) gegenJugendliche.36

Ein jedenfalls z.T. überraschend monotoner Katalog, wenn manbedenkt, dass praktisch das gesamte politische Spektrum an ihmbeteiligt ist.37 Besonders bemerkenswert, dass der zweite Gesetzesantrag

Aufsätze Schef f le r, I s t das deutsche Jugendstraf recht noch ze i tgemäß?

11 ZRP 1998, 447.12 Ebenda, S. 446.13 Der Spiegel 23/2000, S. 20.14 BT-Drucks. 14/8013; siehe dazu Hefendehl, NJ 2002, 459 ff., in diesem Heft.15 Des Weiteren: BT-Drucks. 14/546, 14/569, 14/872.16 Vgl. zu weiteren Initiativen zur Verschärfung von §§ 176, 176a StGB insbes.

BR-Drucks. 706/98, 706/1/98 sowie BT-Drucks. 14/6704, 14/1125.17 Siehe BGH-GS, Beschl. v. 22.3.2001 (BGHSt 46, 321), wonach der Begriff der Bande

den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraussetzt.18 Vgl. Frister, 101. Sitzg. des Rechtsausschusses des Bundestags v. 21.11.1997, S. 12.19 Vgl. Wittig, JuS 1997, 968; Rogall, GA 1985, 4 f.20 Vgl. Satzger, JZ 2001, 647 mwN.21 Inzwischen ist das Verfahren gem. § 153 Abs. 1 (!) StPO eingestellt worden.22 Siehe Nr. 29 Anl. zu § 2c DNA-IFG.23 BR-Drucks. 449/99.24 Vgl. Stenogr. Ber., Verh. des Bundesrats v. 5.11.1999, 744. Sitzg., S. 398.25 BT-Drucks. 14/3189; dazu P.-A. Albrecht, FS Lüderssen, 2002, S. 153 ff.26 BR-Drucks. 549/00; dazu Scheffler, NJ 2001, 464 ff.27 Näher Scheffler, NJ 1999, 113 f.28 Märkische Oderzeitung v. 10.7.2002, S. 7.29 BT-Drucks. 14/5014.30 BR-Drucks. 637/00 (teilw. abgedr. in BA [Blutalkohol] 2001, 104 ff.).31 BR-Drucks. 564/3/00; Stenogr. Ber., 756. Sitzg., S. 464 D.32 BR-Drucks. 564/00.33 BR-Drucks. 759/00 (teilw. abgedr. in BA 2001, 104 ff.).34 BT-Drucks. 14/8788.35 BT-Drucks. 14/9358 (der zugrunde liegende Ref.Entw. ist teilw. abgedr. in NJ 2001,

134 ff. u. BA 2001, 109 ff. m. Anm. Scheffler).36 Vgl. ebenda, Begr., S. 19 f.37 Kurz vor Fertigstellung des Manuskripts hat auch Brandenburg einen Gesetzes-

antrag in den Bundesrat eingebracht (BR-Drucks. 634/02), der u.a. wiederum dasFahrverbot als Zuchtmitel und die Meldepflicht als Weisung vorsieht, darüber hin-aus allerdings – hierzu kann nicht mehr Stellung genommen werden – auch »neue«Ideen beinhaltet, wie Streichung des Kurzarrests im Bereich des Jugendarrests undEinräumung der Möglichkeit der Aussetzung des Dauerarrests zur Bewährung.

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451Neue Justiz 9/2002

des CSU-regierten Bayern und der des rot/rot-regierten Mecklenburg-Vorpommern im Bereich des Fahrverbots selbst in der Begründungweitgehend wortwörtlich übereinstimmen.38

1. Die »zeitgemäßen« Begründungen

Vor allem in den Ausführungen zum Fahrverbot und zur Meldepflichtwird der Zeitgeist deutlich:

Das Fahrverbot müsse eingeführt werden, weil es ein »spürbaresÜbel«,39 eine »empfindliche Folge«40 darstellt, ein »Strafübel, … das denVerurteilten hart trifft«41. Es würde von ihm »als belastender empfun-den, das Kraftfahrzeug nicht benutzen zu dürfen, als eine Geldstrafebezahlen zu müssen«.42 Diese »gesteigerte Sanktionswirkung«43 kommedaher, dass bei Jugendlichen und Heranwachsenden »mehr noch alsbei Erwachsenen … die Möglichkeit der Mobilität große Bedeutung«habe44. Und weiter: Junge Leute würden mit der Entziehung ihresFahrzeugs, das für sie »hohen Prestigewert«45 habe, »in ihrem Freizeit-und Bewegungsverhalten empfindlich eingeschränkt«46. »Angesichtsder Bedeutung, die das Kraftfahrzeug als Prestigeobjekt, als soziales undwirtschaftliches Statussymbol hat, kommt seiner Entziehung … eineerhöhte Strafwirkung zu«,47 kurz: Das Fahrverbot sei »Übelszufügung«.48

Auch die Meldepflicht wird gefeiert, weil sie in ihren »Wirkungendem Fahrverbot nahe steht«49. Laut den Vorstellungen Bayerns istauch sie »geeignet, den Verurteilten empfindlich zu treffen«:50 »Dieskann dem Verurteilten bspw. eine Urlaubsreise oder den Besuchbestimmter Veranstaltungen unmöglich machen«,51 etwa die »Beglei-tung einer Fußballmannschaft zu Auswärtsspielen«.52 Für diejenigen,die noch nicht so weit vom »Zeitgeist« eingefangen sind, in demzielgerichteten Zum-Platzen-Bringen von Urlaubsreisen einen geeig-neten Strafzweck des Jugendstrafrechts zu erkennen,53 schiebt Bayernin seiner jüngsten Bundesratsinitiative, uns alle beruhigend, nach:»Die Meldepflicht stünde z.B. der Teilnahme an rechtsextremistischenKonzerten oder der Begleitung einer Fußballmannschaft zu Auswärts-spielen durch einen ›Holligan‹ entgegen.«54 Ja, dann …

Aber auch sonst befürchtet man mangelnde Übelszufügung: DieBefürwortung des Einstiegsarrests ist der Sorge geschuldet, dass eineisolierte Bewährungsstrafe »durch viele Jugendliche als Sanktion kaumwahrgenommen«,55 als »Freispruch auf Bewährung«56 empfundenwerde. Die geforderte regelmäßige Bestrafung Heranwachsender nachallgemeinem Strafrecht würde dem Umstand Rechnung tragen, dassder Heranwachsende »mit Eintritt der Volljährigkeit alle Rechte undPflichten eines mündigen Staatsbürgers« übernehme.57 Würde den-noch nach Jugendstrafrecht verurteilt, reiche ein Strafmaß bis zu zehnJahren »bei schwerster Kriminalität« oftmals aufgrund der »Schwereder Schuld« nicht aus.58

Ferner sorgt man sich auch bei der vorgeschlagenen Übernahme von§ 230 Abs. 2 StPO und des Beschleunigten Verfahrens (einschl. der Haupt-verhandlungshaft) in das Jugendstrafrecht offenbar nur um eines: umBeschleunigung, die zwar auch einer »besseren Einwirkung« auf denTäter dienen soll, der aber nicht zuletzt die Funktion zugedacht wird,den Täter die Tatfolgen »unmittelbar spüren« zu lassen, während fürandere die »Abschreckung … erhöht« werde.59 Kein Wort dazu, dassdas Beschleunigte Verfahren schon einmal, nämlich 1940, für Jugend-liche zugelassen wurde (sogar nur beschränkt auf Fälle, in denenJugendarrest zu erwarten war),60 bis es 1943 nach »energischen Ein-wänden« durch das für jugendgerechter gehaltene Vereinfachte Ver-fahren abgelöst wurde,61 das nun aber kumulativ, sogar um Zwangs-mittel erweitert, beibehalten werden soll.

Die Interessen und Ansprüche des Tatopfers dem Jugendlichen »vorAugen zu führen« und Nebenklage und Adhäsionsverfahren zuzulassen,entspricht schließlich nach dem CDU/CSU-Vorschlag »dem moder-nen Verständnis des Strafprozesses«; anderes lasse sich »auch nichtunter dem« – offenbar weniger modernen, zeitgemäßen – »Gesichts-punkt des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht rechtfertigen«.62

2. Erziehungsgedanke – quo vadis?

Inwieweit diese Vorstellungen zumindest auch mit jugendstrafrecht-lichen Prinzipien in Übereinstimmung stehen, interessiert kaum.

a) Selbst das Wort »Erziehung« taucht kaum noch auf, eigentlichfast nur noch als gefeiertes Ergebnis von Verfahrensbeschleunigung:»Nur eine Sanktion, die der Tat auf dem Fuße folgt, kann die gewünschteerzieherische Wirkung bei dem jugendlichen Straftäter entfalten.«63

Und diesem Ziel hat sich etwa die Jugendgerichtshilfe unterzuordnen,deren Einschaltung das vom Bundesrat gewünschte BeschleunigteVerfahren »nicht verzögern« dürfe – Sorgen, die der von der CDU/CSUgewünschten Einschaltung des Opfers (Nebenklage, Adhäsionsver-fahren) offenbar nicht entgegenstehen. Ferner müssten Bedenkengegen die Hauptverhandlungshaft (§127b StPO) hinsichtlich des Ver-hältnismäßigkeitsgrundsatzes hinter die »schnellere Aburteilung desTäters … zurücktreten«.64 Und was das Vereinfachte Verfahren angeht,gilt es, eine »besondere Schwachstelle« dieser Beschleunigungsmög-lichkeit zu beheben65: Ist hier zukünftig ein Vorführungs- und gar einHaftbefehl gegen den nicht erschienenen jugendlichen Angeklagtenmöglich, hinge der »Beschleunigungseffekt … nicht mehr von derKooperationsbereitschaft des Angeklagten ab«.66 Kein Wort dazu, obdiese »Kooperationsbereitschaft« im Vereinfachten Verfahren, das ein»Angebot an den Jugendlichen« darstellen soll,67 konzeptionell über-haupt hinweggedacht werden kann.

Ein Blick beispielhaft in den JGG-Kommentar von Ostendorf:68

»… erlaubt das vereinfachte Verfahren … in erster Linie ein Abweichenvon der äußeren Form des Verfahrens. Das heißt, es kann und sollte aufdie Robe verzichtet werden, die Verhandlung kann … im Arbeitszimmerdes Richters stattfinden, zumindest in einer aufgelockerten Sitzordnung… die Justizsprache und Justizgebärde sollte zugunsten einer allge-meinverständlichen Ausdrucksweise und einer kompensatorischenVerhandlungsführung aufgegeben werden … «

Ostendorf schließt: »Der informelleren Verfahrensweise steht … der Einsatz von Zwangs-mitteln gem. § 230 Abs. 2 StPO entgegen« – keine Handschellen am»runden Tisch«!

b) Ein Hinweis auf den wissenschaftlichen Meinungsstand findet sich inden aufgeführten Gesetzesinitiativen kaum einmal. Ausnahmen sindhier der erste Gesetzesantrag Bayerns und sein »Wiederaufguss«, der

Schef f le r, I s t das deutsche Jugendstraf recht noch ze i tgemäß?

38 Siehe insoweit den Abdr. in BA 2001, 104 ff.39 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 14; BR-Drucks. 637/00, Begr., S. 10; BR-Drucks.

759/00, Begr., S. 16.40 BR-Drucks. 759/00, Begr., S. 17. 41 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 10; BR-Drucks. 637/00, Begr., S. 7.42 Ebenda.43 BR-Drucks. 759/00, Begr., S. 8.44 Ebenda; ähnl. BT-Drucks. 14/9358, Begr., S. 20.45 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 11; BR-Drucks. 637/00, Begr., S. 7; BT-Drucks. 14/3189,

Begr., S. 6; BT-Drucks. 14/9358, Begr., S. 20. 46 BR-Drucks. 759/00, Begr., S. 8.47 Ebenda, S. 17. 48 Ebenda.49 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 17; BR-Drucks. 637/00, Begr., S. 12.50 BR-Drucks. 449/99, unter: Lösung, S. 2.51 Ebenda, Begr., S. 10; BR-Drucks. 637/00, Begr., S. 7; BT-Drucks. 14/3189, unter:

Lösung, S. 2.52 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 10; BR-Drucks. 637/00, Begr., S. 12.53 Siehe dazu Höynck/Sonnen, ZRP 2001, 248.54 BR-Drucks. 637/00, Begr., S. 7.55 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 12; BT-Drucks. 14/3189, Begr., S. 6.56 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 19; BT-Drucks. 14/3181, Begr., S. 8. 57 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 12.58 Ebenda.59 BT-Drucks. 14/5014, unter: Zielsetzung, S. 6.60 Siehe § 2 Abs. 1 VO v. 4.10.1940, RGBl. S. 1336.61 Näher Kolbe, MDR 1978, 801.62 BT-Drucks. 14/8788, Begr., S. 3.63 BR-Drucks. 549/00, unter: Zielsetzung, S. 2 (Hervorhbg. von mir).64 BR-Drucks. 549/00, Begr., S. 3; BT-Drucks. 14/5014, Begr., S. 6.65 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 24.66 BT-Drucks. 14/5014, Begr., S. 6.67 Schoreit, in: Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 3. Aufl. 1999, § 78 Rn 2.68 Ostendorf, JGG, 5. Aufl. 2000, §§ 76-78 Rn 17.

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Neue Justiz 9/2002452

erste CDU/CSU-Entwurf, die zum sog. Einstiegsarrest, also demDauerarrest neben der Aussetzung der Verhängung (§ 27 JGG) oder derVollstreckung (§ 21 JGG) der Jugendstrafe zur Bewährung, allerdingsnur kurz – und ohnehin »in dieser Allgemeinheit unrichtig«69 –bemerken, der Einstiegsarrest werde »auch in der Wissenschaft positivbeurteilt«, und hierzu auf gerade einmal zwei gut 15 Jahre alte Ent-scheidungsanmerkungen hinweisen.70

Kleine weitere Schönheitsfehler zudem: Die eine Rezension zeich-net mit Rudolf Brunner ein »Leitender Oberstaatsanwalt a.D.«, also einMann der Praxis, der sich noch dazu ausschließlich auf den Einstiegs-arrest bei § 27 JGG bezieht;71 den bei § 21 JGG hat Brunner niemalsbefürwortet.72 Und neuerdings lesen wir bei ihm in nicht zu über-bietender Deutlichkeit: »Mit der 10. Aufl. Brunner/Dölling, 1996, § 27Rn. 12-15 haben wir uns der abl. h.M. angeschlossen und den Ein-stiegsarrest nicht mehr befürwortet«.73 Die andere zitierte Anmerkungverfasste mit Friedrich Schaffstein zwar ein Hochschullehrer, der in ihrjedoch dem bis zu 4-wöchigen Einstiegsarrest, so wie er jetzt von derCDU/CSU gewünscht wird, entgegentrat:74 Die Dauer müsse »auf eine,allenfalls auf 2 Wochen« beschränkt bleiben. Weiter bezog er sich wieschon Brunner ausschließlich auf den Einstiegsarrest bei § 27 JGG; dieBefürwortung der Anwendung bei § 21 JGG ließ Schaffstein mit demWort »vielleicht« in seiner Anmerkung offen. Und auch bei Schaffsteinheißt es ab der 10. Auflage von 1991 in seinem Lehrbuch nun sogar:»… de lege ferenda sprechen die überwiegenden Gründe doch wohlgegen den ›Einstiegsarrest‹ …«.75

c) Was das neue Zuchtmittel Fahrverbot angeht, so findet sich keinWort in den Gesetzesbegründungen dazu, dass Zuchtmittel ihrerKonzeption zufolge nur einen »Appell an das Ehrgefühl« – was immerdas heißen mag – darstellen,76 also im Unterschied zur eigentlichenStrafe gerade nicht stigmatisieren sollen. Stattdessen jubelt man, wieoben näher dargelegt, über die »gesteigerte Sanktionswirkung«, überden »Prestigeverlust in der Gleichaltrigengruppe«. Ohne die Wider-sprüchlichkeit zur Konzeption der Zuchtmittel auch nur zu erwähnen,stimmen solche Äußerungen also, was die Wirkungen des Fahrverbotsangeht, dem zu, was vor kurzem Bundesanwalt Piesker zum Fahrver-bot im Erwachsenenstrafrecht, wo es ja konsequenterweise als Strafeim engeren Sinn fungiert,77 besonders prägnant beschrieben hat:»Ein Fahrverbot wird nicht nur als unangenehm und lästig, sondern… als ehrenrührig empfunden, weshalb man es vor der Kollegen- undNachbarschaft möglichst verborgen hält.«78

d) Die Meldepflicht soll nach den Vorstellungen des Entwurfs der Bun-destagsfraktion der CDU/CSU als Weisung in das JGG eingeführt wer-den. Keine Erklärung dafür, dass mit im Wesentlichen gleichlautenderBegründung die bayerischen Entwürfe die Meldepflicht darüber hinausnoch als Nebenstrafe für Erwachsene in das StGB einfügen wollten undbetonten, dass die Meldepflicht »in ihren Wirkungen dem Fahrverbotnahe steht«,79 also vom Verurteilten »als belastender empfunden«werde als etwa eine Geldsanktion.80 Nichts dazu, dass gem. § 10 JGGWeisungen »die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurchseine Erziehung fördern und sichern sollen« und von »vergeltendenoder repressiven Elementen« eigentlich gänzlich freibleiben sollen.81

e) Den Vorstellungen, die Straftaten Heranwachsender durch eineÄnderung von § 105 JGG »in der Regel« nach allgemeinem Strafrecht zuahnden, ging 1996 eine viel Staub aufwirbelnde Presseerklärung desCDU-Politikers Michael Teiser, Mitglied des Innenausschusses des Deut-schen Bundestags, voraus, mit der er die Herabsetzung des Strafmün-digkeitsalters von 14 auf 12 Jahre forderte,82 was sein Kollege RupertScholz auch in dieser Wahlperiode aufgegriffen hat.83 Dieser bisher inkeinen Gesetzesentwurf gemündete Vorschlag lässt sich noch mit Hin-weis auf die »schlechte Gesellschaft«84 abtun, hatten doch die Natio-nalsozialisten 1943 die von der Jugendgerichtsbewegung erkämpfte14-Jahre-Grenze schon einmal auf das 12. Lebensjahr – allerdings nurals Ausnahmeregelung – herabgesetzt.85 Auch die Zurückschneidungvon § 105 JGG kann man noch damit konfrontieren, dass selbst die

Nazis ein separates Heranwachsendenrecht offenbar nur »mit Rück-sicht auf Krieg und Wehrdienst«86 nicht »zeitgemäß« fanden. Vor allemaber: Beim Blick auf die gewollte Zurückdrängung des Heranwach-sendenrechts fällt es schwer, keine »polemische oder kabarettistischeVerbindung«87 zu anderen Vorstellungen aufzustellen: Die gleicheCDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich ebenfalls in dieser Legislatur-periode gegen die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ausgespro-chen, »weil es den Leuten in diesem Alter an Reife mangelt«.88

f) Klarheit bzgl. der »Zeitgemäßheit« herrscht auch insoweit, als dieGesetzesentwürfe die Höchstdauer der Verhängung von Jugendstrafe,sofern »(ausnahmsweise) Jugendstrafrecht Anwendung findet«,89 auf15 Jahre herauffahren wollen. Obwohl es hier um eine Klientel mit»erheblicher Verzögerung in der sittlichen oder geistigen Entwick-lung«90 geht, dennoch die Heraufsetzung nur mit der »Schwere derSchuld« bei »brutalen Mordtaten«91 zu begründen, spiegelt nochmalsdeutlich den Zeitgeist wider: »Zeitgemäß« ist ein nicht zu sehr durchden Erziehungsgedanken, selbst durch das Schuldprinzip limitiertesStrafrecht.

*Fassen wir zusammen: »Zeitgemäß« ist hartes Jugendstrafrecht. Des-halb stört das JGG in seiner heutigen Ausgestaltung dort, wo es nichtinfolge seiner erzieherisch legitimierten Sonderrolle sogar härter alsErwachsenenstrafrecht ist: Letzteres betrifft etwa das Zurverfügung-stellen freiheitsentziehender Sanktionen unterhalb der Freiheitsstrafe(Jugendarrest) sowie die Rechtsmittelbeschränkungen in § 55 JGG.92

Die »Zeitgemäßheit« solcher Vorschriften stellt ungeachtet der Kritikder Wissenschaft keiner der Gesetzesentwürfe in Frage. Neben dersogar geforderten Ausweitung dieser Besonderheiten (Einstiegsarrest!)ist stattdessen der gemeinsame Nenner all der in den Gesetzesent-würfen genannten »Reformen«: Angleichung des Jugendstrafrechtsan das Erwachsenenstrafrecht. Es geht um die Übernahme geplanter(Neben-)Strafen, und sei es durch deren Tarnung als Weisung oderZuchtmittel, in das JGG (Meldepflicht, Fahrverbot). Es betrifft dieZurückdrängung des Heranwachsendenrechts, es geht um dem Erwach-senenstrafrecht angeglichene Inhaftierungsmöglichkeiten (§§ 127b,230 Abs. 2 StPO) sowie um die Übertragung von bisher ausdrücklichausgeschlossenen besonderen Verfahrensarten in das Jugendstrafrecht(Beschleunigtes Verfahren und Adhäsionsverfahren, Nebenklage).

Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? Nein. Und dasist auch gut so.

Aufsätze Schef f le r, I s t das deutsche Jugendstraf recht noch ze i tgemäß?

69 Höynck/Sonnen, ZRP 2001, 248.70 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 11; BT-Drucks. 14/3189, Begr., S. 6.71 Brunner, NStZ 1986, 508 f.72 Vgl. Brunner, Kriminalistik 2002, 427 Fn 71.73 Brunner, ebenda.74 Schaffstein, NStZ 1986, 510.75 Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 10. Aufl. 1991 (u. in späteren Aufl.), § 26

IVa. 76 Schaffstein/Beulke, ebenda, 13. Aufl. 1998, § 19 II.77 Vgl. Scheffler, NZV 1995, 176 f.; BA 2001, 115.78 Piesker, BA 2002, 199.79 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 17; BR-Drucks. 637/00, Begr., S. 12.80 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 10.81 Eisenberg, JGG, 8. Aufl. 2000, § 10 Rn 6.82 Abgedr. in DVJJ-Journal 1996, 316; siehe dazu etwa die Kurzstellungnahmen in

DVJJ-Journal 1996, 321 ff.; Wolfslast, FS Bemmann, 1997, S. 274 ff.; siehe auchHinz, ZRP 2000, 107 ff.

83 Siehe Höynck/Sonnen, ZRP 2001, 246.84 Ostendorf, DVJJ-Journal 1996, 329.85 § 3 Abs. 2 RJGG 1943: »Wer unter 14 Jahren eine Verfehlung begeht, ist strafrecht-

lich nicht verantwortlich. Ist der Täter zur Zeit der Tat wenigstens 12 Jahre alt, sowird er wie ein Jugendlicher zur Verantwortung gezogen, wenn der Schutz desVolkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert …«

86 Schaffstein/Beulke (Fn 76), § 5 II.87 Elliger, DVJJ-Journal 1996, 324.88 Vgl. BT-Drucks. 14/2150, Begr., S. 4. 89 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 26; BT-Drucks. 14/3189, Begr., S. 11.90 BR-Drucks. 449/99, Begr., S. 25.91 Ebenda., S. 12; BT-Drucks. 14/3189, Begr., S. 7.92 Näher Scheffler, RdJB 1981, 451 ff.

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453Neue Justiz 9/2002

Die Berliner Arbeitsgerichtsbarkeit beging am 1.7.2002 mit einem Festaktihr 75-jähriges Jubiläum. Dort hat die frühere Berliner Justizsenatorin undehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts den im Folgendenabgedruckten Festvortrag gehalten.

Die Integrationskraft der Gerichte

Die Aufgabe, die die Justiz in der Bundesrepublik Deutschland nachdem großen weltpolitischen Umbruch zu meistern hatte, war in derTat eine der bisher schwierigsten in der Geschichte der bundesrepu-blikanischen Gerichtsbarkeit. Gleichwohl ist den Gerichten, vor allemdem BVerfG, von auswärtigen Beobachtern des Prozesses der Wieder-vereinigung eine besondere integrative Kraft beigemessen worden. AlsBeispiele seien die Entscheidungen zum Wahlvertrag, zur Strafbarkeitder DDR-Spionage und der Gewaltakte an der Mauer, zur Renten-überleitung und zur Überprüfung der Vertrauenswürdigkeit der altenDDR-Eliten vor der Übernahme in den öffentlichen Dienst genannt.

Die Gerichte haben sich wiederholt mit den Rechtsproblemen undRegelwerken der deutschen Einheit auseinandersetzen müssen, weil diePolitik – mangels situationsgerechter Wirklichkeitsbilder – vielfach mitherkömmlichen Instrumenten auf gänzlich neue Sachverhalte reagierthat. Die alte rechtssoziologische Einsicht war vernachlässigt worden,dass man das in einer Gesellschaft lebende Recht kennen muss, wennman neue Regeln einführen will. Nicht zu vergessen ist, dass die Politikangesichts der welt- und innenpolitischen Lage unter einem besonderenEntscheidungsdruck stand. Die einzige Konstante im Jahre 1990 wardie Hektik. Das BVerfG hat in den Entscheidungen immer wieder deut-lich gemacht, dass auch gegenüber den alten Eliten des DDR-Regimesdie rechtsstaatlichen Garantien mit Sorgfalt zu beachten seien.

Diese Leitlinie ist vor allem von den Opfern der DDR-Diktatur nurschwer akzeptiert worden. Verständlicherweise erzürnte es sie, dassden alten Genossen heute Rechtsgarantien zugute kommen, vondenen sie selbst vor 1989 nur haben träumen können. Doch einRechtsstaat, der hier nach dem Prinzip des »Wie Du mir, so ich Dir«verführe, gäbe sich selber auf. Unter der Diktatur begangenes Unrechtlässt sich nur begrenzt ausgleichen. Sowohl in der Rechtspolitik alsauch in der Justiz mussten wir uns der bitteren Einsicht stellen, dassman die in 40 Jahren DDR geschaffenen Rechtstatsachen nicht einfach»rückabwickeln« kann. Das gilt vor allem hinsichtlich der personalenGüter des Lebens, der Gesundheit, der Freiheit und des beruflichenFortkommens, die im großen Umfang rechtswidrig beeinträchtigt wor-den sind. Die Suche der Opfer und Regimekritiker nach Gerechtigkeitist daher nicht selten enttäuscht worden. Die von dem EvangelischenKirchentag im Jahre 1999 aufgeworfene Frage nach dem rechten Maßder deutschen Einheit gestattete keine einfachen, alle Betroffenenbefriedigende Antworten.

Drei Aufgaben standen damals im Vordergrund der Berliner Justiz,auf die ich mich heute im Wesentlichen beschränken werde: Diestrafrechtliche Ahndung der Gewaltakte an der Mauer, der Aufbau derJustiz im Ostteil der Stadt und das Berufsschicksal der DDR-Juristenund -Juristinnen.

Die Kriminalität der Mächtigen

Vor allem die Berliner Justiz hat sich mit der Kriminalität der Mächti-gen und ihrer Helfer auseinandersetzen müssen. Das Bemühen, auch

strafrechtliche Konsequenzen zu ziehen, ist von Anfang an kontroversdiskutiert worden. Zwiespältigkeit kennzeichnete das Meinungsklima.Auf der einen Seite war eine zunehmende Abwehr gegenüber staat-lichen Versuchen zu beobachten, die Vergangenheit mit den Mittelndes Strafrechts aufzuarbeiten. Immer lauter wurde der Wunschgeäußert, endlich Ruhe haben und einen Schlussstrich ziehen zuwollen. Auf der anderen Seite haben wir wiederholt die Enttäuschungder Opfer darüber erfahren, dass Gerechtigkeit im Rechtsstaat so kleinbuchstabiert wird.

Demgegenüber haben wir immer wieder deutlich zu machenversucht, dass die Strafjustiz das Politische nur begrenzt mit Rechts-begriffen einfangen kann. Die politische Verantwortlichkeit für eineDiktatur zu konstatieren, ist eine Sache. Die strafrechtliche Schuld ineiner rechtsstaatlichen Erfordernissen genügenden Weise im Einzel-nen darzulegen, eine andere. Nicht um der Geschichte willen werdenStrafprozesse geführt. Mögen diese auch Elemente totalitärer Herr-schaft beispielhaft deutlich machen. Der staatlichen Strafjustiz geht esum die rechtswidrig-schuldhafte Einzeltat und nicht um das Versagen einerEpoche. Das einen Schuldvorwurf gegen Menschen formulierendeStrafrecht ist weder dazu gemacht noch taugt es dazu, mit einemverbrecherischen Regime abzurechnen. Gleichwohl dient die Straf-gerichtsbarkeit wegen ihrer über den Einzelfall hinausweisenden Miss-billigung des Unrechts letztlich auch dem gesellschaftlichen Frieden.Gerechtigkeit und Versöhnung schließen einander nicht aus, sie bedin-gen einander.

Mit der Rechtsprechung des Berliner Landgerichts zu der Verantwort-lichkeit der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats und derMauerschützen stand ein wichtiger Teil der Aufräumarbeit nach demEnde der DDR auf dem Prüfstand des BGH, des BVerfG und zu guterLetzt des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die beiden deut-schen Gerichte haben sich der Radbruch’schen Formel bedient, kraft dergesetztem Recht in extremen Ausnahmefällen wegen eines unerträg-lichen Widerspruchs zur Gerechtigkeit der Gehorsam versagt werdenkann. Ihr »Unbehagen«, auf vage Naturrechtssätze zurückzugreifen,haben beide Gerichte mit dem Hinweis aufgefangen, dass die natur-rechtlichen Gerechtigkeitsmaßstäbe heute in völkerrechtlich geschütztenMenschenrechten verankert seien.

Ein Rechtfertigungsgrund, der die vorsätzliche Tötung unbewaff-neter Flüchtlinge gestatte und damit der Durchsetzung des Verbots derAusreise aus der DDR Vorrang vor dem Lebensrecht des Menscheneinräume, so der BGH, sei wegen offensichtlichen, unerträglichenVerstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegenvölkerrechtliche geschützte Menschenrechte unwirksam (BGHSt 41,101 [105] = NJ 1995, 539). Dieser Einsicht sind sowohl das BVerfG alsauch der EMRK gefolgt. Angerufen von Krenz u.a. hat das europäischeGericht die deutsche Rechtsprechung in zwei Urteilen v. 22.3.2001(NJ 2001, 261 ff.) für konventionskonform, d.h. mit der EuropäischenMenschenrechtskonvention im Einklang stehend erklärt.

Der radikale Abschied von der DDR-Justiz

Zurück zum Zeitpunkt der Wende: Anfang August 1990 datierte derdamalige Ministerpräsident der neu begründeten DDR deren Beitrittauf den Monat Oktober desselben Jahres. Seit diesem Tag war die

Die deutsche Einheit als Herausforderung der JustizProf. Dr. Jutta Limbach, München*

* Die Autorin ist Präsidentin des Goethe-Instituts Inter Nationes in München.

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Neue Justiz 9/2002454

Hektik auch in der Berliner Politik die einzige Konstante auf dem Wegzur Justizeinheit.

Da Berlin altes und neues Land zugleich sein würde, waren diejustizpolitischen Weichen prompt zu stellen, sollten die Justiz- undRechtseinheit nicht verfehlt werden. Der Plan war schnell gefasst,angesichts des künftig ungeteilten Stadtgebiets sofort einheitlicheGerichtsstrukturen zu schaffen. Das Nebeneinander zweier unter-schiedlicher Gerichtsorganisationen in einer Stadt war nur unterunverhältnismäßigen Reibungsverlusten leistbar. Ohne eine erheb-liche Personaltransfusion von West nach Ost und ein Auswechselninsbesondere der DDR-Justizspitzen wäre eine funktionstüchtige undvertrauenswürdige Rechtspflege im Ostteil der Stadt nicht zu gewähr-leisten gewesen. In dem geographischen Zentrum des politischenUmbruchs war nur zu deutlich geworden, dass die übereilte Selbst-aufgabe der DDR auch der Einsicht geschuldet war, dass man mit denalten Eliten keinen Staat mehr machen konnte.

Die im EinigungsV für die Berliner Justiz ausbedungenen Sonder-regelungen hatten am 3.10.1990 ein abruptes Ende real-sozialistischerGerichtsstrukturen herbeigeführt. Die Gerichtsbehörden der DDRim Ostteil der Stadt hatten am Vortag ihre Tätigkeit eingestellt.Tags darauf übernahmen die Gerichte und Staatsanwaltschaften desWestteils der Stadt die Rechtspflege auch für die östlichen Bezirke.Die bisher an dem Stadtgericht und den Stadtbezirksgerichten tätigenRichter, Richterinnen und Staatsanwälte wurden in den Wartestandversetzt. Der radikale Abschied von den Gerichten im Ostteil derStadt ist uns nicht zuletzt deshalb möglich gewesen, weil in unmit-telbarer Nachbarschaft eine funktionsfähige Justiz zur Verfügungstand. Ich will den Übergang zu einem funktionierenden Justizsystemnicht im Einzelnen schildern. Nur soviel sei gesagt, dass die zum Teilmehrjährige Patenschaft des Westberliner Justizpersonals mit einergroßen Arbeitslast und einem erheblichen Zuwachs an Aufgabenverbunden war.

Nicht zuletzt deshalb war die Eröffnung jedes Amtsgerichts imOstteil der Stadt an den traditionellen Standorten für die BerlinerJustiz jeweils ein Freudenfest. Ein Höhepunkt war der Wiedereinzugvon mehreren Kammern des Landgerichts in den am Anfang des Jahr-hunderts im Zentrum der Stadt errichteten Justizpalast am 17.6.1991.Dieses an der Littenstraße gelegene Gebäude hatte während der Zeitder DDR das Oberste Gericht und das Stadtgericht Berlin beherbergt.Die Berliner Justiz veranstaltete einen Tag der Offenen Tür, an demsich auch die Rechtsanwalts- und Notarkammer sowie alle justiz-bezogenen Berufsverbände beteiligten. Ein Berliner Rechtsanwalt hielteine Gedenkrede für den Strafverteidiger Hans Litten, der sich währendder NS-Zeit unerschrocken für Regimegegner eingesetzt hatte und imKZ Dachau ermordet worden war. Ein Appell der Spitzen der BerlinerJustiz hatte bewirkt, dass der seinem Gedächtnis gewidmete Straßen-name nicht dem Umbenennungseifer der political correctness zumOpfer fiel.

Viele von Ihnen werden sich erinnern, dass nach der feierlichenEröffnung des Tags der Offenen Tür die Angehörigen der BerlinerJustiz – die bei der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauenbeheimatete Arbeitsgerichtsbarkeit eingeschlossen – den Bürgern undBürgerinnen Rede und Antwort standen. Diese beeindruckte zwar dieOffenheit und Unmittelbarkeit der Gespräche mit den RichterInnenund Staatsanwälten. Auch dass sich eine Politikerin ganz selbstver-ständlich unter ihnen bewegte. Doch verhehlten uns die Neubundes-republikaner nicht ihre Enttäuschung darüber, dass ihnen das Rechtund die Justiz als ein undurchdringlicher Dschungel und einschüchternderApparat erscheinen. Die Berührungsängste der Bevölkerung gegenüberallem, »was Recht ist«, war schon vor 1990 ein zentrales Thema derRechtskritik. Die Schwierigkeiten mussten sich jedoch zwangsläufigdurch die umstandslose Übernahme des bundesrepublikanischenRechtssystems erhöhen, die – so der damalige sächsische JustizministerHeitmann – eine »schockartige Orientierungslosigkeit« verursacht hatte.

Die Kompliziertheit der neuen Rechtsordnung war noch durch eineReihe von Sondergesetzen erhöht worden. Zu denken ist vorzugsweisean die Gesetze, mit denen die offenen Vermögensfragen beantwortet wer-den sollten. Kein Wunder, dass dieses in der Folge mehrfach geflickteund vom BVerfG wiederholt überprüfte Regelwerk als Schildbürger-streich, ja als ein bis in das Jahr 2000 reichendes ABM-Programm fürWestjuristen gescholten worden ist.

Der Elitenwechsel

Die vor der Einheit an dem Stadtgericht und den Stadtbezirksgerich-ten Berlins tätigen 195 Richter und Richterinnen sowie 86 Staats-anwälte waren mit dem 3.10.1990 in den Wartestand versetzt worden.Ihr Dienstverhältnis endete am 15.4.1991, sofern nicht bis dahin einneues Dienstverhältnis begründet worden war. Nur wenige von diesen,nämlich 33 Richterinnen und Richter sowie 10 Staatsanwälte, sindnach dem Überprüfungsverfahren in den Justizdienst des LandesBerlin übernommen worden.

Im Gegensatz dazu ist das nichtrichterliche Personal zu einemgroßen Teil sehr rasch übernommen und fortgebildet worden. Insge-samt sind im nichtrichterlichen Dienst 617 Mitarbeiterinnen undMitarbeiter aus dem Ostteil der Stadt übernommen worden, 320 davonin den Strafvollzug.

Bei der Überprüfung der RichterInnen und Staatsanwälte hat sich derRichterwahlausschuss an einem Kriterienkatalog orientiert, an dessenAnfang die Frage stand, ob die Bewerberin oder der Bewerber dieGewähr dafür bieten, ihr Amt im Sinne des Grundgesetzes auszu-üben. Dieser Katalog kannte Kriterien, die i.d.R. zur Ablehnung führ-ten: z.B. wenn der Bewerber in einer über die in der DDR üblichenDienstpflichten hinausgehenden Art und Weise mit dem Staats-sicherheitsdienst zusammengearbeitet hatte. Bewerberinnen undBewerber sind aber auch dann im Regelfall abgelehnt worden, wennsie schwerpunktmäßig im Bereich des politischen Strafrechts tätiggewesen waren oder in der DDR-Justiz herausgehobene Positionenbekleidet hatten.

Bei diesen beiden Kriterien kam es nicht darauf an, ob den Bewer-bern ein konkreter, individueller Vorwurf gemacht werden konnte.Denn es ging nicht um die Strafwürdigkeit des Verhaltens der Bewer-ber. In einem solchen Falle wäre selbstverständlich die Unschulds-vermutung heranzuziehen gewesen. Es ging vielmehr um die Frage,ob sie im Hinblick auf die frühere Tätigkeit im Gebiet des politischenStrafrechts oder auf Grund ihrer herausgehobenen Funktion in derDDR den Rechtsuchenden als Richter oder Staatsanwalt zugemutetwerden können. In Frage stand die objektive Unzumutbarkeit, einTatbestand, den Adolf Arndt nach 1945 im Hinblick auf vergleichbareSachverhalte während des NS-Regimes als objektive Kompromittierungbezeichnet hatte.

Dieser Gedanke hat nicht den Beifall des BVerfG gefunden. Jedenfallsnicht, soweit es um die politische Strafgerichtsbarkeit und die heraus-gehobene Funktion im Justizsystem der DDR ging. Der Erste Senathat hier eine Prüfung des Einzelfalls gefordert. Soweit die Tätigkeitfür den Staatssicherheitsdienst in Rede steht, haben die oberen Bundes-gerichte Entscheidungskriterien herausgearbeitet, die auf Alter desBetroffenen zur Zeit seiner Verpflichtungserklärung, Dauer und Vorteileeiner Mitarbeit, Schäden oder negative Folgen für Dritte, Zeitablaufder letzten Tätigkeit für das MfS und die Bedeutung des innegehabtenAmtes abstellen.

So war ein Koch weiterzubeschäftigen, während das BVerfG keineBedenken gegen die fristlose Kündigung eines Professors für Theologiehatte, der über 20 Jahre als inoffizieller Mitarbeiter des MfS geführtworden war. Hier hat das Gericht die Unzumutbarkeit der Weiter-beschäftigung eines Hochschullehrers betont, dessen Ansehen nach-haltig beeinträchtigt ist (BVerfGE 96, 189 [201] = NJ 1997, 477).

Aufsätze Limbach, Die deutsche E inhe i t a l s Heraus forderung der Just iz

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455Neue Justiz 9/2002

Das Berufsschicksal der jeweiligen DDR-Juristen ist im BerlinerRichterwahlausschuss mitunter sehr heftig und kontrovers erörtertworden. Hatte sich doch die Mehrzahl wie viele andere Funktionäredes DDR-Regimes im Einvernehmen mit ihrem Staat und ihrer Gesell-schaft geglaubt. Warum wollte man nicht auch ihnen ein Recht aufIrrtum zugestehen? Wo doch unter den Sozialisations- und Lebens-bedingungen einer Diktatur eine innere Abwehrkraft gegen politi-sche Einflussnahme oder gar ein richterliches Arbeitsethos kaumgedeihen konnten. Doch trotz oder gerade wegen dieser richtigenEinsicht hat sich der Richterwahlausschuss die Überprüfung – etwaaus Mitleid oder um dem Vorwurf der Selbstgerechtigkeit zu ent-gehen – nicht leicht gemacht. Die Richterinnen, Richter und Staats-anwälte aus der ehem. DDR stellten eine Berufsgruppe dar, die inbesonderem Maße politisch handverlesen und ideologisch mit demSED-Staat verstrickt war und die einen erheblichen Anteil daranhatte, dass in der DDR politisch Andersdenkende diskriminiert oderausgeschaltet worden waren, um die Herrschaft des SED-Regimes zustabilisieren.

Kaum ein anderes Konfliktfeld hat mich so eindringlich über dieDifferenz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen gelehrt, vorallem darüber, dass ein Amt prägt. Es zieht eine Grenze zwischen dem,was ein Privatgeschöpf fühlt, und dem, was die Politikerin unterEntscheidungszwang zu tun für richtig hält. So ist es eine Sache, demBericht einer hohen Richterin der DDR über ihr Denken und Handelnzu Zeiten der Diktatur bei einem Glas Wein verständnisvoll zuzu-hören. Eine andere ist, eine Antwort auf die politische Frage zu finden,ob diese weiterhin ein Richteramt in der Bundesrepublik ausübensollte.

War es klug?

Die Politikwissenschaft hat den Politikern des Einigungsvertrages dieLeviten gelesen. Allerdings hält sie der praktischen Politik zugute, dasssie sich angesichts der weltpolitischen Lage zu prompten Maßnahmengedrängt gesehen habe. Und zwar ohne die Chance zu haben, derenVoraussetzungen und Folgen analytisch ausloten zu können. In derhistorisch einzigartigen Situation der Wiedervereinigung ist die Politikmehr oder minder bewusst nach der Devise »Versuch und Irrtum«verfahren. Sie hat mit herkömmlichen Instrumenten und Konzeptenauf ganz neuartige Sachverhalte reagiert. Wiederholt sind Fehlein-schätzungen korrigiert worden. Und man mag sich heute grundsätz-licher fragen, ob es politisch klug war, sich für das Prinzip »Rückgabevor Entschädigung« zu entscheiden. War es politisch klug, volkseigeneBetriebe zuvörderst zu privatisieren, statt sie zu sanieren? War esrechtspolitisch klug, die altbundesrepublikanische Rechtsordnungunversehens auf die neuen Länder der Bundesrepublik zu übertragen?Und nicht zuletzt: Wäre es nicht politisch klüger gewesen, hinsicht-lich der Übernahme der Angehörigen der DDR-Justiz mehr auf dieIntegrationskraft des Rechtsstaates zu vertrauen, wie es ein Richter desBerliner Richterwahlausschusses formuliert hat?

Die Liste dieser Fragen lässt sich spielend verlängern. Wir alle wis-sen, dass wir aus späterer Sicht die eine oder andere Frage nicht so wieim Jahre 1990 beantworten würden. Und sei es auch nur deshalb, weilwir inzwischen über ein gediegeneres Wissen verfügen als zur Zeit derturbulenten Umbruchsituation. Für Politiker kann das nur bedeuten,gemäß einer Devise von Brecht zu verfahren, dass Fehler nicht dazuda sind, dass man sie vermeidet, sondern dass man aus ihnen lernt.

L imbach, Die deutsche E inhe i t a l s Heraus forderung … Neue Rechtsvorschr i f ten

Nach Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten ist am 25.6.2002(BGBl. I S. 1946) das Zuwanderungsgesetz verkündet worden. Der Autor erläu-tert in seinem Beitrag die Ziele des neuen Zuwanderungs-, Aufenthalts- undIntegrationsrechts und stellt die – im Gesetzgebungsverfahren und auch heutenoch sehr umstrittenen – Neuregelungen in den wichtigsten Grundzügen vor.

I. Gang der Gesetzgebung

Seit langem besteht weitgehend Einigkeit über die Notwendigkeitneuer Zuwanderungsregeln. Dabei richtet sich die Kritik an dergeltenden Rechtslage nicht gegen Methodik und Systematik derNormen, eher schon gegen deren Unübersichtlichkeit, vor allem abergegen die überholte Ausländerpolitik selbst. Die Übereinstimmung inGesellschaft und Politik endet jedoch gemeinhin bei der Festlegungder Ziele und des konkreten Inhalts einer Reform. Daher kommt demBericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«1 die Bedeu-tung einer erstmaligen umfassenden Bestandsaufnahme zu, die aufeine breite Zustimmung gestoßen ist. Die sehr differenzierten Analy-sen und Empfehlungen können weder einzeln noch in ihrer Gesamt-heit zu kurzen Schlagworten verdichtet werden. Zusammenfassendkann aber festgehalten werden, dass die Kommission Zuwanderung

nach Deutschland aus demografischen und aus ökonomischenGründen für notwendig hält und diese zum Wohle Deutschlands undseiner Bevölkerung aktiv und ideenreich zu gestalten rät.

In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung2 und der Koalitions-fraktionen3 für ein Zuwanderungsgesetz waren als Zweck nur dieRegelung von Einreise, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit sowie dieFörderung der Integration von Ausländern im Bundesgebiet genannt.Auf Empfehlung des Bundestags-Innenausschusses4 sind dort nunaußerdem die Steuerung und Begrenzung des Zuzugs, die Integra-tionsfähigkeit und die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischenInteressen sowie die humanitären Verpflichtungen genannt. Vonaktiver Zuwanderungspolitik zum Zwecke des Ausgleichs demogra-fischer Defizite5 und fehlender qualifizierter Arbeitskräfte6 ist imgesamten Gesetzestext nicht die Rede. Diese beiden Aspekte sind auchin der Gesetzesbegründung nur bei Beschreibung der Ausgangslage,

1 Bericht »Zuwanderung gestalten – Integration fördern« v. 4.7.2001; dazu Renner,ZAR 2001, 147.

2 BT-Drucks. 14/7987, 14/8046.3 BT-Drucks. 14/7387. 4 BT-Drucks. 14/8395. Bericht gesondert in BT-Drucks. 14/8414.5 Vgl. dazu Birg, ZAR 1999, 195; Schnapp/Kostorz, ZAR 2002, 163.6 Vgl. dazu Braun, ZAR 2001, 197; Putzhammer, ZAR 2001, 204.

Zuwanderung und Integration statt NichteinwanderungVorsRiVGH Dr. Günter Renner, Melsungen

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nicht aber bei Darstellung der Problemlösung ausdrücklich erwähnt.7

Dort wird auch anders als in dem Bericht der Zuwanderungskom-mission nicht festgestellt, dass Deutschland zum Einwanderungslandgeworden ist und Zuwanderung benötigt.8 Deshalb soll zunächstuntersucht werden, welche Ziele das neue Gesetzespaket mit welchenMitteln grundsätzlich verfolgt. Anschließend werden die einzelnenZuwanderungswege sowie die Bereiche Einbürgerung und Integrationbehandelt. Auf die weiteren Gesetzesänderungen kann hier aus Raum-gründen nicht eingegangen werden.9

Das Zuwanderungsgesetz10 wurde am 1.3.2002 im Bundestag und am22.3.2002 im Bundesrat verabschiedet und am 25.6.2002 nach Unter-zeichnung durch den Bundespräsidenten verkündet.11 Es enthält außerdem AufenthG12 eine Zusammenfassung der Vorschriften für Unions-bürger in einem FreizügigkeitsG/EU (FreizügG/EU) und Änderungenvor allem der folgenden Gesetze: StaatsangehörigkeitsG (StAG), Asyl-verfahrensG, Ges. über das Ausländerzentralregister (AZR-G), Bundes-vertriebenenG (BVFG) und AsylbewerberleistungsG sowie SGB III.

Das Gesetz tritt stufenweise in Kraft (Art. 15 ZuwG). Seit 26.6.2002sind die Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen in Kraftund seit 1.7.2002 vor allem die Weisungsfreiheit der Entscheider desBundesamts und die Einrichtung des Bundesbeauftragten für Asyl-angelegenheiten aufgehoben; letzterer ist nur noch an den zuvoranhängig gewordenen Gerichtsverfahren beteiligt.13

II. Grundsätze des Zuwanderungsgesetzes

Um Gestaltungsräume für eine gesteuerte Zuwanderung zu eröffnen,ist das AuslG 1990 durch ein neu strukturiertes AufenthG ersetzt wor-den, mit dem das Aufenthaltsrecht und das Verfahren vereinfacht unddie Zuständigkeiten neu geordnet werden.14 Anders als bisher wird vondem Aufenthaltszweck und nicht vom Aufenthaltstitel ausgegangen;die Anzahl der Titel wurde auf drei reduziert: – die (befristete) Aufenthaltserlaubnis, – die (unbefristete) Niederlassungserlaubnis und – das Visum. Die Titel berechtigen zugleich zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit,soweit es das Gesetz oder der Titel bestimmt. Die Aufenthaltserlaubnisist wie bisher ein »Einstiegstitel«15 und wird zum Zwecke der Ausbil-dung, Erwerbstätigkeit, Familienzusammenführung oder humanitä-ren Schutzgewährung erteilt. Die Niederlassungserlaubnis entsprichtim Wesentlichen der bisherigen Aufenthaltsberechtigung, wird aberauch als erstmaliger Titel vergeben.

Unionsbürger werden grundsätzlich nicht mehr dem allgemeinenAufenthG unterworfen; ihre Rechtsverhältnisse sind, soweit erforder-lich, in dem neuen FreizügG/EU zusammengefasst. Die Erlaubnis-erteilung für Arbeitskräfte wird vereinfacht, indem die Arbeitsver-waltung nur noch intern von der Ausländerbehörde beteiligt wird.Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wird erleichtert, u.a. durch einAuswahlsystem für besonders geeignete Personen. Studenten kannnach abgeschlossenem Studium eine Erwerbstätigkeit gestattet werden.Die humanitären Aufenthalts- und Bleiberechte werden vereinfachtund verbessert. Nichtstaatlich oder geschlechtsspezifisch Verfolgte sindals schutzbedürftig anerkannt. Der Integration wird größere Bedeutungbeigemessen, indem staatliche Angebote neu geschaffen und Fort-schritte bei der Integration honoriert werden.

III. Die wesentlichen Neuregelungen im Einzelnen

1. Unionsbürger

Bisher findet das AuslG gem. dessen § 2 Abs. 2 auf Unionsbürger undEWR-Staatsangehörige nur Anwendung, soweit das Gemeinschafts-

recht nichts Abweichendes bestimmt. Damit ist in Wahrheit keineRegelung getroffen, sondern lediglich der europarechtliche Anwen-dungsvorrang formuliert. Künftig bedürfen freizügigkeitsberechtigteUnionsbürger und ihre einem Mitgliedstaat angehörenden Familien-angehörigen für Einreise und Aufenthalt keines Titels mehr, sondernsie erhalten eine Bescheinigung über ihr Aufenthaltsrecht (§§ 2 Abs. 4,5 FreizügG/EU), andere Angehörige eine Aufenthaltserlaubnis-EU.Nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts haben Unionsbürger, ihreEhegatten oder Lebenspartner ein freizügigkeitsunabhängiges Rechtauf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU).

Derzeit in Wissenschaft und Praxis strittig ist vor allem die Anwen-dung der Ausweisungsvorschriften der §§ 45 ff. AuslG auf freizügig-keitsberechtigte Unionsbürger und EWR-Staater.16 Für die Zukunft istjetzt (auch) vom deutschen Gesetzgeber geklärt, dass das EG-Aufent-haltsrecht nur nach Maßgabe von Art. 39 Abs. 3, 46 Abs. 1 EG entzo-gen werden kann; daher gilt das deutsche Ausweisungsrecht nur nochfür andere Ausländer und ist das an den Entzug geknüpfte Einreise-und Aufenthaltsverbot immer zu befristen (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG;§§ 6, 7 Abs. 2, 11 Abs. 1, 12 FreizügG/EU).17

Anwendungsvorrang genießt auch das Assoziationsrecht, soweit esunmittelbar anwendbar ist. Daher gehen auch die Bestimmungen desBeschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei (ARB) demErfordernis eines Aufenthaltstitels vor, sofern danach ein Aufent-haltsrecht besteht; zum Nachweis muss der Berechtigte eine Aufent-haltserlaubnis besitzen, die ihm auf Antrag ausgestellt wird (§ 4 Abs. 1Satz 1, Abs. 5 AufenthG). Die Beendigung des assoziationsrechtlichenAufenthalts- und Beschäftigungsrechts ist weder im AufenthG nochim FreizügG/EU behandelt; insoweit ergibt sich die Anwendbarkeitgemeinschaftsrechtlicher Grundsätze (weiterhin) unmittelbar ausArt. 14 ARB 1/80.

2. Erwerbstätigkeit

Die Voraussetzungen für die Erwerbstätigkeit von Ausländern inDeutschland sind verbessert worden. Der seit Nov. 1973 geltendeAnwerbestopp für Drittstaatsangehörige einschließlich des Systemsvon Ausnahmen für vielerlei Branchen, Tätigkeiten und Qualifika-tionen sowie Herkunftsländer18 wurde aufgegeben. Zugrunde liegt dieErkenntnis, dass international umworbene Hochqualifizierte in Wis-senschaft, Forschung und Wirtschaft trotz oder gerade wegen hoher

Neue Rechtsvorschr i f ten Renner, Zuwanderung und Integrat ion …

7 BT-Drucks. 14/7387, S. 55 f., einerseits und S. 57 f., andererseits.8 Vgl. Zuwanderungsbericht (Fn 1), S. 11, 13. Zum Vergleich zwischen Zuwande-

rungsbericht und dessen Umsetzung im ZuwG näher Davy, ZAR 2002, 171.9 Zum Zuwanderungsgesetz allg. vor allem: Berlinger, AuB 2001, 257; Davy, ZAR

2002, 171; Wollenschläger, ZRP 2001, 459. Krit. vor allem: Schneider, NJW 2001,3465; Witzsch, ZRP 2002, 138.

10 Ges. zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung desAufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwan-derungsgesetz) v. 20.6.2002 – nachfolgend: ZuwG.

11 Art. 1 ZuwG: Ges. über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integrationvon Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG).

12 Vgl. ZAR 2002, 122 u. 162; Erklärung des Bundespräsidenten zur Unterzeichnungin: ZAR 2002, 210.

13 Mit dem vorgezogenen Wirksamwerden der Ermächtigungen und der neuenAufgaben des BAMF ist dafür Sorge getragen, dass im Herbst d.J. die für dieUmsetzung erforderlichen Rechtsverordnungen erlassen und die Vorbereitungenfür die Integrationskurse getroffen werden können. Da die Rechtsverordnungenmeist der Zustimmung des Bundesrats bedürfen und Bund, Länder und Gemein-den sich vor allem über die endgültige Finanzierung einigen müssen, ist mitbaldigen Ergebnissen kaum zu rechnen, jedenfalls nicht vor der Bundestagswahlim Sept. 2002.

14 Dazu und zu Folgendem vgl. Gesetzesbegr., BT-Drucks. 14/7387, S. 57 f.15 So Davy, ZAR 2002, 171. 16 Vgl. z.B. OVG Münster, NJ 2000, 612 (bearb. v. Renner).17 Zur Gleichstellung von Schweizer Bürgern und Unionsbürgern seit 1.6.2002 vgl.

Bericht in ZAR 2002, 212; Kälin, 2002, 123; Fehrenbacher, ZAR 2002, 280.18 Vgl. dazu die Ausländergesetzdurchführungs-, die Arbeitsaufenthalte-, die Arbeits-

genehmigungs- und die AnwerbestoppausnahmeVO sowie die Verordnungenüber die Aufenthalts- und die Arbeitserlaubnis für hoch qualifizierte IT-Spezia-listen; Texte in: Beck-Texte AuslR, 16. Aufl. 2002, u. in: Renner, Ausländerrecht,7. Aufl. 1999, S. 837 ff., 849 ff., 1092 ff., 1101 ff.

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Arbeitslosigkeit benötigt werden, um freie Stellen zu besetzen undneue zu schaffen. Schließlich geht es – so wird man ergänzen können –nicht um eine möglichst gerechte Verteilung von bereits vorhandenenArbeitsplätzen und anderen Erwerbsmöglichkeiten vorrangig unterDeutschen, sondern um die Ausweitung des Arbeitsmarkts und insbe-sondere des Dienstleistungssektors.

In erster Linie sind daher Selbstständige – die das geltende AuslGüberhaupt keiner Erwähnung für wert hält19 – ausdrücklich willkom-men, die mindestens eine Million Euro investieren und mindestens10 Arbeitsplätze schaffen. Sie erhalten eine Aufenthaltserlaubnis,wenn ein übergeordnetes wirtschaftliches Interesse oder ein beson-deres regionales Bedürfnis besteht, positive Auswirkungen auf dieWirtschaft zu erwarten sind und die Finanzierung durch Eigenkapitaloder Kreditzusage gesichert ist (§ 21 AufenthG).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt für andere Ausländer als Unionsbür-ger erfolgt künftig über drei Pfade: – zur Behebung von Engpässen (§ 18 AufenthG), – für Hochqualifizierte (§ 19 AufenthG) oder – in einem Auswahlverfahren (§ 20 AufenthG). Im ersten Fall bedarf es der Zustimmung der Bundesanstalt für Arbeitoder einer Rechtsverordnung (§§ 39, 42 AufenthG), damit eine Auf-enthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit nach Ermessenerteilt werden kann. Die vor einer Zustimmung erforderliche Arbeits-marktprüfung kann regionale Gegebenheiten nur begrenzt berück-sichtigen.20 Hoch qualifizierte Wissenschaftler, Lehrpersonen undSpezialisten können in besonderen Fällen nach Zustimmung derBundesanstalt für Arbeit oder aufgrund einer Rechtsverordnung eineNiederlassungserlaubnis erhalten. Schließlich können qualifizierteErwerbspersonen eine Niederlassungserlaubnis erhalten, wenn sieerfolgreich an einem Auswahlverfahren mit einem Punktesystemunter besonderer Berücksichtigung von Staatsangehörigen der EU-Beitrittskandidaten teilgenommen haben. Zuvor müssen das Bundes-amt für Migration und Flüchtlinge und die Bundesanstalt für Arbeitnach Beteiligung des Zuwanderungsrats21 gemeinsam eine Höchstzahlfür die Zuwanderung im Auswahlverfahren festgestellt haben.

3. Ausbildung

Der vom ZuwG eingeleitete Paradigmenwechsel kommt nicht nur inder erstmaligen gesetzlichen Erwähnung von Integrationsmaßnah-men und von Selbstständigen zum Ausdruck, sondern auch darin,dass der Gesetzgeber Schulbesuch, Sprachkurse und Studium, diebisher in die Verwaltungsvorschriften zu § 28 AuslG verbannt waren,ausdrücklich benennt und als Aufenthaltszweck an erste Stelle setzt(§ 16 AufenthG). Damit begibt sich der Gesetzgeber an der richtigenStelle in den weltweiten »Wettkampf um die besten Köpfe«;22 dennohne eine vermehrte Ausbildung von Ausländern in Deutschland aufallen Qualifikationsstufen23 wird es nicht gelingen, Spitzenkräfte ausWissenschaft und Wirtschaft für eine Tätigkeit in Deutschland zuinteressieren und sie für eine Zuwanderung auf den beiden erstenPfaden zu gewinnen, um der deutschen Wirtschaft den notwendigenAufschwung zu erleichtern. Die Anwerbung von Auszubildenden fürdas duale Bildungssystem sieht das Gesetz nicht vor, obwohl Engpässein der Ausbildung in Handwerk und gewerblicher Wirtschaft allein ausunausweichlichen demografischen Gründen schon in absehbarerZukunft auftreten werden.24

Eine Aufenthaltserlaubnis können vor allem Studenten an staat-lichen oder staatlich anerkannten Hochschulen oder ähnlichen Ein-richtungen erhalten, aber auch Sprachschüler außerhalb der Studien-vorbereitung und in Ausnahmefällen auch Schüler an anderenSchulen. Während des Studiums sind studentische Nebentätigkeitenund bis zu 90 Tagen im Jahr auch andere Beschäftigungen erlaubt.Nach (erfolgreichem) Abschluss des Studiums kann die Aufenthalts-erlaubnis um bis zu einem Jahr zur Stellensuche verlängert werden.

Allerdings ist der Zugang zum Arbeitsmarkt nur für Hochqualifizierte(mit Zustimmung der Bundesanstalt oder aufgrund Verordnung) ohneweiteres offen, im Übrigen nur in den allgemeinen Zulassungs- undAuswahlverfahren.

4. Familiäre Gründe

Aufenthalt aus familiären Gründen kommt wie bisher grundsätzlichfür alle Mitglieder einer Familie oder Partnerschaft in Betracht (§§ 27-36 AufenthG). Erfasst sind nicht nur der Familiennachzug im engerenSinne, sondern auch der Zuzug des Ehepartners, wenn die Ehe erstnach der Einreise des Ausländers geschlossen wurde, und die Geburteines Kindes in Deutschland, wenn ein Elternteil bereits im Inlandlebt. Die allgemeinen Voraussetzungen, die der bereits hier lebendeAusländer und die das nachziehende Familienmitglied erfüllenmüssen, sind im Wesentlichen gleich geblieben, in Einzelheiten abergroßzügiger gestaltet.

Beim Ehegattennachzug wird nicht mehr danach unterschieden, obder Ehegatte als Volljähriger (1. Generation) oder als Minderjähriger(2. Generation) eingereist ist, letztere sind also nicht weiter benach-teiligt. Die Angehörigen eines Deutschen sind sofort zur Ausübungeiner Erwerbstätigkeit berechtigt, der Ehegatte eines Ausländers nurdann, wenn auch dieser eine entsprechende Genehmigung besitzt(§§ 28 Abs. 5, 29 Abs. 5 AufenthG).

Der Kindernachzug ist teilweise günstiger und teilweise ungünstiger,insgesamt aber einfacher geregelt als bisher (§ 32 AufenthG). Währendnach geltendem Recht nur Asylberechtigte ein lediges Kind ohneweiteres bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zu sich ziehen lassenkönnen, ist dies künftig auch allen Eltern(-teilen) gestattet, dieentweder als Konventionsflüchtlinge anerkannt sind oder eineNiederlassungserlaubnis als Hochqualifizierte oder aufgrund einesAuswahlverfahrens besitzen. Außerdem erhält das Kind dann eineAufenthaltserlaubnis, wenn die Eltern oder der allein Personensorge-berechtigte eine Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis besitzenund alle gemeinsam ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschlandverlegen. Das reguläre Nachzugshöchstalter zu Eltern mit Aufenthalts-oder Niederlassungserlaubnis ist von 16 auf 12 Jahre gesenkt. Ist dasKind älter, muss es über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen.Abweichend von diesen Anforderungen kann dem minderjährigenledigen Kind eine Aufenthaltserlaubnis unter Berücksichtigung desKindeswohls, der familiären Situation und berechtigter Integrations-erwartungen erteilt werden. Das Aufenthaltsrecht des Kindes wird inähnlicher Weise verfestigt und verselbstständigt wie bisher (§§ 34, 35AufenthG). Das in Deutschland geborene Kind erhält je nach dem Sta-tus der Mutter nach der Geburt von Amts wegen eine Niederlassungs-oder eine Aufenthaltserlaubnis; besitzt die Mutter ein Visum oder hältsie sich visumfrei im Inland auf, gilt der Aufenthalt des Kindes bis zumAblauf des Visums oder der Visumfreiheit als erlaubt (§ 33 AufenthG).

5. Humanitäre Gründe

Im Bereich der völkerrechtlichen, humanitären und politischenZuzugs- und Aufenthaltsgründe steht politisch der Streit um dieAnerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgungim Vordergrund.25 Hierfür hat der Gesetzgeber – hinsichtlich der

Renner, Zuwanderung und Integrat ion …

19 Vgl. dazu Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, Rn 6/98.20 Die im Ges.Entw. vorgesehenen Berücksichtigung regionaler Gegebenheiten

(dazu BT-Drucks. 14/7387, S. 59) wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrensgestrichen; vgl. Davy, ZAR 2002, 171.

21 Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration (§ 76 AufenthG).22 Zuwanderungsbericht (Fn 1), S. 26.23 Zum Rückgang des Studiums von Ausländern in Deutschland vgl. Renner, ZAR

2000, 195, u. 2001, 51.24 Vgl. Zuwanderungsbericht (Fn 1), S. 109 f.25 Dazu Marx, ZAR 2001, 12.

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nichtstaatlichen Verfolgung erst im Laufe des Gesetzgebungsverfah-rens – Lösungen gefunden, welche die Praxis in Deutschland wiederdem europäischen Standard anzunähern vermögen. Das Geschlechtist nunmehr als für die Flüchtlingsanerkennung relevantes persön-liches Merkmal zusätzlich zu den Merkmalen des Art. 1 A der GenferFlüchtlingskonvention innerstaatlich anerkannt, und Verfolgungs-maßnahmen, gegen die Schutz im Herkunftsland nicht erreichbar ist,sind auch dann rechtserheblich, wenn sie nicht dem Herkunftsstaatzuzurechnen sind (§ 60 Abs. 1 Sätze 1 u. 3 bis 5 AufenthG)

Im humanitären Bereich verändern sich die Aufenthaltsrechte amstärksten. Künftig können nicht nur Asylberechtigte eine Aufenthalts-erlaubnis beanspruchen, sondern auch anerkannte Konventions-flüchtlinge; nach drei Jahren haben sie Anspruch auf eine Niederlas-sungserlaubnis, das Bundesamt muss allerdings zuvor bestätigen, dassdie Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme der Status-entscheidung nicht vorliegen (§§ 25 Abs. 1 u. 2, 26 Abs. 3 AufenthG).Eine Aufenthaltserlaubnis sollen auch diejenigen Ausländer erhalten,deren Abschiebung menschenrechtliche Hindernisse, die Gefahr derTodesstrafe oder konkrete existentielle Gefährdungen von Leib undLeben entgegenstehen; die für den Regelfall obligatorische Erlaubnisist nur ausgeschlossen, wenn die Ausreise in einen Drittstaat möglichund zumutbar ist (§ 25 Abs. 3 AufenthG). Begünstigt sind außerdemPersonen, deren Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründenunmöglich ist oder deren weiterer Aufenthalt aus dringenden huma-nitären Gründen oder wegen erheblicher öffentlicher Interessenvorübergehend erforderlich ist; auch sie können künftig eine Aufent-haltserlaubnis erhalten (§ 25 Abs. 4 u. 5 AufenthG) und sind nichtmehr wie bisher weitgehend auf eine Duldung angewiesen. Schließ-lich ist nunmehr die Möglichkeit geschaffen, einem Ausländer aufErsuchen einer von der Landesregierung durch Rechtsverordnungbestimmten Stelle eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und zu ver-längern, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe dieweitere Anwesenheit des Ausländers in Deutschland rechtfertigen(§ 25 Abs. 4a AufenthG).26

Die einheitlich vorgesehene Aufenthaltserlaubnis wird jeweilslängstens für drei Jahre erteilt oder verlängert und kann dann je nachAufenthaltsgrund in eine Niederlassungserlaubnis übergehen (§§ 22-26 AufenthG). In einigen Fallgruppen tritt die Aufenthaltserlaubnis andie Stelle der bisherigen bloßen Duldung des illegalen Aufenthalts.Die Duldungsbescheinigung ist abgeschafft. Eine Bescheinigung überdie Aussetzung der Abschiebung ist nur noch für bestimmte Fallgrup-pen vorgesehen (§ 60 Abs. 11 AufenthG).

6. Sonstige Aufenthaltszwecke

Das Recht auf Wiederkehr für jüngere Ausländer und für Rentner isterhalten geblieben (§ 37 AufenthG). Als Folge der Reform des Staats-angehörigkeitsrechts neu eingeführt ist ein Aufenthaltstitel für ehem.Deutsche (§ 38 AufenthG). Danach kann eine Niederlassungs- bzw.eine Aufenthaltserlaubnis verlangen, wer bei Verlust der deutschenStaatsangehörigkeit seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit fünf Jahrenbzw. seit mindestens einem Jahr in Deutschland hatte. Wer im Auslandlebt, kann eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn er über aus-reichende deutsche Sprachkenntnisse verfügt. Diese Regelungen sindfür Personen gedacht, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufgrundErwerbs einer fremden Staatsangehörigkeit auf eigenen Antrag (§ 25StAG) oder im Anschluss an den Erwerb durch Geburt im Inland (iussoli nach § 4 Abs. 3 StAG) im Erklärungsverfahren nach Erreichen derVolljährigkeit (§ 29 StAG) verloren haben.

Für vorübergehende, aber auch für längerfristige Aufenthalte ist dasVisum, das bisher nur eine besondere Form der Aufenthaltsgenehmi-gung (meist Aufenthaltsbewilligung) darstellt, als neuer Aufenthalts-titel eingeführt (§§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 6 AufenthG). Es wird für dieDurchreise oder für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten (kurzfristi-

ger Aufenthalt) als Schengen-Visum nach den Vorschriften des Schen-gener Durchführungsübereinkommens erteilt, in Ausnahmefällenauch ohne Einhaltung dieser Voraussetzungen, aber dann räumlichauf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland beschränkt.Für kurzfristige Aufenthalte kann das Schengen-Visum auch für einenGültigkeitszeitraum von bis zu fünf Jahren ausgestellt werden. Für län-gerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationalesVisum) erforderlich, das vor der Einreise nach den Bestimmungen überAufenthalts- und Niederlassungserlaubnis erteilt wird.

Schließlich kann eine Aufenthaltserlaubnis – in begründeten Fällen –auch für einen im Gesetz nicht genannten Aufenthaltszweck erteiltwerden (§ 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).27 Da selbstständige Erwerbstätig-keit, Ausbildung und Studium ausdrücklich im Gesetz genannt undvorübergehende, nicht dem Erwerb dienende Zwecke wie Tourismus,Besuche und Krankenbehandlung durch das Visum abgedeckt sind,kommen hierfür in erster Linie Aufenthalte von Freiberuflern, Künstlernund Wissenschaftlern, aber auch Weltenbummlern, Lebemännern undRuheständlern in Betracht, die längere Zeit in Deutschland zu lebenwünschen, ohne einen der gesetzlich erfassten Zwecke zu verfolgen.

7. Staatsangehörigkeit

Mit dem ZuwG sind die Einbürgerungsbestimmungen der §§ 85 ff.AuslG als §§ 10-12a in das StAG übernommen (Art. 5 Nr. 7) und dortauch die neuen ausländerrechtlichen Begriffe eingearbeitet worden.Im Übrigen hat der Gesetzgeber das StAG entrümpelt, indem erobsolete Teile gestrichen sowie überholte Begriffe und Bezeichnungenaufgehoben oder ersetzt und ansonsten redaktionell angepasst hat.Damit ist freilich der noch ausstehenden Zusammenfassung der aufverschiedene Gesetze verstreuten Vorschriften nicht vorgegriffen.28

Schließlich hat der Gesetzgeber die Gelegenheit ergriffen, dasäußerst unglücklich konstruierte Nebeneinander von Aufnahme-bescheid und Bescheinigung für Spätaussiedler (§§ 15, 29 BVFG)29

dadurch zu vereinfachen, dass nunmehr beide Bescheide vom Bundes-verwaltungsamt erlassen werden (Art. 6 Nr. 4 Buchst. a ZuwG).30 Damitist jedenfalls ein Teil der Zweifelsfragen um die Bedeutung desAufnahmebescheids für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeitdurch Spätaussiedler (§ 7 StAG) geklärt.

8. Integration

Neben der Modernisierung der zuwanderungsrechtlichen Steuerungs-methoden und -mittel im Blick auf die dramatischen demografischenund ökonomischen Mangelsituationen – verkürzt darstellbar als »Endedes Anwerbestopps« – bildet die Integration das Hauptanliegen derZuwanderungsreform. Der Gesetzgeber hat die »Notwendigkeit einersystematischen Förderung der Integration von Ausländern« erkanntund deshalb einen »Mindestrahmen staatlicher Integrationsangebote(Sprachkurse, Einführung in die Lebensverhältnisse) aufenthalts-gesetzlich geregelt.«31 Ob sich Deutschland damit zum »Integrations-land« entwickeln wird, kann nicht nur aus finanziellen Gründenfüglich bezweifelt werden.32

Im Hinblick auf die Kompetenzteilung zwischen Bund und Ländernhat der Bund selbst nur einen Teil der Eingliederungsmaßnahmenselbst übernommen, dabei aber Wert auf die Einbeziehung der

Neue Rechtsvorschr i f ten Renner, Zuwanderung und Integrat ion …

26 Zum »Kirchenkontingent« vgl. Babo, ZAR 2001, 269.27 Diese Möglichkeit kann für das geltende Recht nur im Wege der Auslegung aus

§§ 7, 15 AuslG (mühsam) erschlossen werden; vgl. Renner (Fn 19), Rn 6/98-118,6/119-126, 6/411-413.

28 Vgl. BT-Drucks. 14/7387, S. 107.29 Vgl. BVerwG, EZAR 280 Nr. 8, einerseits u. Hess. VGH, EZAR 280 Nr. 7 = StAZ

2001, 233, andererseits; dazu Kind/Niemeier, ZAR 2002, 188; Silagi, ZAR 2000, 6,u. 2001, 259.

30 So auch die Empfehlung der Zuwanderungskommission (Fn 1), S. 185. 31 BT-Drucks. 14/7387, S. 57, 58. 32 Dazu John, ZAR 2001, 211; Sen/Sauer/Halm, ZAR 2001, 214.

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Spätaussiedler gelegt, um unabhängig von ihrem besonderen Statusauch ihre Sprachkenntnisse verbessern zu helfen. Ein wesentlicher Teilder Integrationsaufgaben auf der Ebene des Bundes obliegt dem ausdem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlingehervorgegangenen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)in Nürnberg, bei dem das Bundesinstitut für Bevölkerungs- undMigrationsforschung und ein unabhängiger Zuwanderungsrat einge-richtet werden (§ 76 AufenthG).33 Das Bundesamt ist dafür zuständig,Grundstruktur und Lerninhalte des Basissprachkurses und des Orien-tierungskurses zu entwickeln und diese Kurse durchzuführen, Integra-tionskurse für Spätaussiedler zu veranstalten sowie der Bundesregie-rung auf dem Gebiete der Integrationsförderung fachlich zuzuarbeitenund Informationsmaterial über staatliche und kommunale Integra-tionsangebote zu erstellen (§ 75 Abs. 1 AufenthG).

Der Gesetzgeber umschreibt Inhalte, Programme und Ziele der Inte-grationskurse sowie Berechtigung und Verpflichtung zur Teilnahme(§§ 43-45 AufenthG; § 9 BVFG). Die Kurse sind nicht für bereits inDeutschland lebende Ausländer vorgesehen, sondern für solche, dieerstmals eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeitoder des Familiennachzugs, ohne Bezug zu einem Aufenthaltszweckoder aus humanitären Gründen erhalten. Die Teilnahmepflicht ist beiAusstellung des Aufenthaltstitels festzustellen. Bei Nichtteilnahme amIntegrationskurs ist der Ausländer auf die negativen Folgen für dasEinbürgerungsverfahren (§§ 8 Abs. 3, 9 Abs. 2 Nr. 7 u. 8, 10 Abs. 3 StAG)hinzuweisen.

IV. Ausblick

Ob das neue Zuwanderungsrecht die mit ihm bisweilen verbundenenErwartungen wird erfüllen können, ist nicht sicher. Schließlich kannes weder die demografischen und ökonomischen Schwierigkeiten, indenen sich Deutschland wie andere europäische Staaten befindet,

noch die Folgen einer mehrere Jahrzehnte vernachlässigten Integra-tion in Schule und Ausbildung allein und kurzfristig lösen. Zudemkann es nicht die Anstrengungen in den Bereichen Bildung undArbeitsmarkt ersetzen, die zugunsten der in Deutschland lebendenMenschen insgesamt geboten sind. Es wird aber dazu beitragen kön-nen, das Bewusstsein der Eingesessenen einschließlich der nichtdeut-schen und nichtdeutschstämmigen Bevölkerung dafür, dass Deutsch-land in den nächsten Jahrzehnten mehr denn je auf Zuwanderungangewiesen ist, zu wecken und die Bereitschaft für eine gemeinsameGestaltung des Zusammenlebens zu fördern. Nur so wird es gelingenkönnen, die Herausforderungen zu bestehen, die allein mit der Erwei-terung der Europäischen Union um nord-, ost- und südeuropäischeStaaten auf Deutschland zukommen.

Die hierfür dringend notwendige Modernisierung ist jetzt begon-nen. Mit der Bestimmung klarer Zuwanderungspfade, der Einführungneuer Steuerungsinstrumente und der Vereinfachung der Aufenthalts-titel sind wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Deutsch-land nicht nur seine eigenen Probleme meistern kann, sondern auchgut vorbereitet ist auf die in den nächsten Jahren zu erwartendeweitere Europäisierung des Aufenthalts- und Flüchtlingsrechts.34

Im Vergleich dazu stellen sich die bei der Umsetzung des neuen Rechtszu erwartenden praktischen Schwierigkeiten eher als gering dar.Allerdings werden nicht nur die neuartigen Integrationsmaßnahmen,sondern z.B. auch die Umstellung der Aufenthaltstitel und die aufallen Ebenen erwartete Effizienzsteigerung nicht unbeträchtlicheadministrative und finanzielle Kapazitäten in Anspruch nehmen.So gesehen kann man zusammenfassen: »Zuwanderung ist schön undmachbar, kostet aber Anstrengung und Geld«.

Renner, Zuwanderung und Integrat ion … Kurzbe i t räge

33 Insoweit ist das Amt bereits seit 1.7.2002 unter dieser Bezeichnung tätig (Art. 15Abs. 2 ZuwG); vgl. ZAR 2002, 258.

34 Dazu zuletzt Hägel/Deubner, ZAR 2001, 154; Hailbronner, ZAR 2002, 7, 83 u. 259;Marx, ZAR 2002, 43; Schmahl, ZAR 2001, 3.

Der Kampf geht weiter: Der Entwurfeines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes Prof. Dr. Roland Hefendehl, Universität Dresden

Mit dem Entwurf eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes strebt der Bundesrateine Erweiterung des Tatbestands der Sachbeschädigung an. Durch Ände-rung der §§ 303 Abs. 1 u. 304 Abs. 1 StGB soll künftig bestraft werdenkönnen, wer rechtswidrig eine (fremde) Sache »zerstört, beschädigt oder dasErscheinungsbild einer Sache gegen den Willen des Eigentümers oder sonstBerechtigten nicht nur unerheblich verändert«. In der öffentlichen Anhörungdes Rechtsausschusses des Bundestags am 3.7.2002 hat dieser Entwurfbei Sachverständigen ein geteiltes Echo erfahren. Eine ablehnende Positionvertrat dort auch der Autor des folgenden Beitrags. Er legt dar, warum derBereich des Strafbaren für Graffiti nicht ausgeweitet werden sollte.

1. Kernaussagen der Gesetzesbegründung

Die in diesem Gesetzentwurf1 zum Ausdruck kommende Intention istälter, Teile seiner Begründungen sind indes neu. Die insoweit wich-tigsten Sequenzen sind die folgenden:– Graffiti sind ein Symbol für den Verfall von Ordnung, ziehen

objektiv kriminelle Problemlagen nach sich und werden subjektiv

als Gefährdung des Sicherheitsgefühls wahrgenommen. Ästhetikschafft Lebensgefühl, das auch strafrechtlich schutzwürdig ist.

– Staatliche Reaktion muss auf der Basis eindeutiger Normen möglichsein, um der mangelnden Akzeptanz der Rechtsnormen durchJugendliche entgegenzuwirken.

– Der Aufwand zum Nachweis eines Schadens de lege lata steht inkeinem Verhältnis zum Schaden, zur Schuld und dem voraussicht-lichen Schadensausgang.

Die Gesetzesbegründung soll den neuen Vorstoß eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes tragen. Sie macht es nicht, weil sie von unzutref-fenden oder unzureichenden kriminologischen Basisdaten ausgehtund die Rechtslage de lege lata nicht präzise wiedergibt.

2. Kritik

a) Scheffler hat schon 1999 in der Anhörung des Rechtsausschusses denBegriff des Bekämpfungsgesetzes im damaligen Entwurf moniert.2 DieserBegriff findet sich auch drei Jahre später in den BT-Drucksachen wie-

1 BT-Drucks. 14/8013. Der Entwurf schließt an den vom Bundesrat im April 1999mit gleicher Intention eingebrachten Gesetzentwurf (BT-Drucks. 14/872) an, dervom Rechtsausschuss des Bundestags zusammen mit ähnlichen Gesetzentwür-fen der CDU/CSU- und FDP-Fraktion am 23.3.2000 abgelehnt worden war.

2 Vgl. auch Hettinger, NJW 1996, 2264.

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Neue Justiz 9/2002460

der. Das ist kein Zufall. Hartnäckig hält sich die Fehlvorstellung unterden Kriminalpolitikern, mit dem Strafrecht könnten unerwünschteVerhaltensweisen bekämpft werden. Nur auf den ersten Blick verbuchtder Gedanke Plausibilität für sich, über das Strafrecht ließe sich dasVerhalten steuern. Selbst für diejenigen Gebiete des Strafrechts, indenen scheinbar ein nüchternes Abwägen von Nutzen und Kostenregiert, ist es der Kriminologie nicht gelungen, Strafnormen bzw. derenVerschärfungen eine derartige negativ generalpräventive Kraft nach-zuweisen. Wie viel mehr muss dies in unserem Problemfeld gelten,in dem es ausweislich der insoweit zutreffenden Gesetzesbegründungbei den in Frage stehenden Handlungen um den »Ausdruck einesanderen Lebensgefühls« geht, und ich ergänze: in aller Regel um denepisodenhaften Ausdruck eines anderen Lebensgefühls.

b) Die Forderung, eine staatliche Reaktion müsse auf der Basis einereindeutigen Norm möglich sein, um die Normakzeptanz zu sichern,ist verkürzt und fehlerhaft. Erstens legitimiert diese Forderung dieNorm als solche nicht, zweitens verkennt sie das Zusammenspiel vonZivil- und Strafrecht, das gerade den Einsatz einer staatlichen Reaktionin Gestalt einer strafrechtlichen Sanktion teilweise entbehrlich macht,und drittens suggeriert sie die Möglichkeit eindeutiger Normen.

Die jetzige Tatbestandsfassung der §§ 303 u. 304 StGB bereitet wiebei jedem anderen Straftatbestand Auslegungsprobleme, die sichfreilich in Grenzen halten. Bei jedem Tatbestandsmerkmal gibt esBegriffskern und -hof. Ein Großteil der Graffiti (hier untechnisch alsOberbegriff für Graffiti, Tags, Pieces und Schmierereien verwandt) fälltin den Begriffskern des Beschädigens, weil die Farben aus Sprühdosenmassiv auf den Untergrund und damit auf die Substanz einwirken.

Erst über die vorgeschlagene Erweiterung von § 303 u. § 304 StGBum die Variante der nicht nur unerheblichen Veränderung des Erschei-nungsbildes einer Sache gegen den Willen des Eigentümers oder sonstBerechtigten würden schwer zu überwindende Auslegungsproblemegeschaffen. Das Handeln gegen den Willen des Berechtigten ist konsti-tutiver Bestandteil der Strafbarkeit. Nur: Wie ist dieser Willen jeweilshinreichend treffsicher ex ante zu bestimmen, wenn der Berechtigtegerade absolut frei bei seinen Gestaltungsvorstellungen ist, wie dieGesetzesbegründung zutreffend hervorhebt?

Die weiteren Straftatbestände, die ein Handeln gegen den Willen desBerechtigten entweder ausdrücklich oder über die Auslegung verlan-gen, weisen keine vergleichbaren Zweifelsfälle auf. Die folgendenbeiden Beispiele mögen dies verdeutlichen: Beim Einsperren einesMenschen (§ 239 StGB) oder beim Benutzen eines Kraftfahrzeugs alsgrundsätzlich Nichtberechtigter (§ 248b StGB) wird das Rechtsgut nurausnahmsweise nicht tangiert. Zwar mag man vorbringen, dass auchSachbeschädigungen in aller Regel nicht im Interesse des Berechtigtenliegen. In der Erweiterung durch den Gesetzentwurf geht es abergerade um Beeinträchtigungen, die sich nicht mehr am geschütztenRechtsgut des Eigentums orientieren und nur noch den Maßstab deserfahrungsgemäß lästigen Verhaltens haben.

Wann nun eine unerhebliche und damit noch nicht strafbareVeränderung des Erscheinungsbildes gegen den Willen des Eigentü-mers oder sonst Berechtigten vorliegt, scheint deutlich unschärfer zubestimmen zu sein als eine ausgebliebene Verletzung der Sachsub-stanz. Das Erheblichkeitserfordernis ist nicht auf die Restituierbarkeit,sondern auf das Erscheinungsbild bezogen, so dass das Plakatieren, dasVerpacken oder auch das Verunreinigen unter den Tatbestand fallenkönnte. Auch das bloße Verbiegen einer Stange, die ohne Problemewieder in den Ausgangszustand zurückgeführt werden kann, wäretatbestandsmäßig. Sollte hier zumindest das Bedürfnis für eine Begren-zung des Strafrechts bestehen, so könnte dies nur gegen den Wortlauterfolgen.

Die Gesetzesbegründung hebt hervor, dass der Eigentümer einerSache in einer Vielzahl von Konstellationen keinen Gestaltungswillenhabe oder ausübe. Als Beispiel wird insoweit eine Verpachtunggenannt. Keine Hinweise erhält man aber, was geschehen soll, wenn

Eigentümer oder Pächter unterschiedliche Auffassungen über miteinem Eimer Wasser wieder entfernbare Graffiti haben. Der Pächterkann den Aufwand scheuen, während der Eigentümer auf ein in sei-nen Augen adäquates Erscheinungsbild drängt. Was soll schließlichgeschehen, wenn weder Eigentümer noch Pächter sich über derartigeGraffiti Gedanken gemacht haben und erst nachzudenken beginnen,nachdem Graffitis eine Hauswand zieren bzw. verunstalten?3

c) Wenn der Aufwand zum Nachweis eines Schadens in keinemVerhältnis zum Schaden und zur Schuld stehen soll, kann der Auf-wand zu hoch oder aber der Schaden zu gering sein. Bei einem erheb-lichen Schaden durch Graffiti ist der Aufwand zu dessen Nachweis inaller Regel aber gerade unerheblich. Ob es wirklich der beschriebenenaufwändigen Gutachten bedarf, die die chemische Tiefenwirkungeiner Farbe bzw. die Oberflächenbeschaffenheit einer Sache unterdie Lupe nehmen, wage ich im Hinblick auf das geschützte Rechtsgutzu bezweifeln. Wenn das Rechtsgut das Eigentum an Sachen ist,das über einen Angriff auf die Äußerlichkeit verletzt wird,4 muss sichdieser Angriff auch dem Rechtsgutträger selbst und nicht erst einemSachverständigen erschließen, es sei denn, es handelt sich um eine ver-steckte, aber für den Eigentümer relevante Beeinträchtigung wie etwaeinen Motorschaden.

d) Dass Graffiti ein »Symbol für den Verfall von Ordnung« seien, istnicht mehr als ein Bild. Es legitimiert eine Ausweitung des Strafrechtsebenso wenig wie die geradezu gefährliche Behauptung, Lebensgefühlsei strafrechtlich schutzwürdig. Was der Topos vom Strafrecht alsRechtsgüterschutz leisten kann, ist in weiten Teilen umstritten.5

Welche bescheidene Leistung dem Denken in Rechtsgütern indes ein-hellig zugebilligt wird, ist die Aussonderung des Gefühlsschutzes ausdem Strafrecht.6 Offensichtlich soll es aber um eine Art allgemeinesLebensgefühl gehen. Auch das ist selbstverständlich nicht schutz-würdig, insbesondere nachdem man sich zu Recht seit jeher daraufgeeinigt hat, dass § 303 StGB ein Verletzungsdelikt zum Schutz einesIndividualrechtsgutes definiert. Symptomatischerweise scheint dieGesetzesbegründung den erweiterten Straftatbestand der Sachbeschä-digung eher als einen solchen zur Bekämpfung allgemeiner Bedro-hungsszenarien zu begreifen und trachtet, diesen damit empirischunangreifbar zu stellen.

e) Wenn Graffiti kriminelle Problemlagen nach sich ziehen sollen, hältman sich sehr bedeckt und verweist vage auf die broken-windows-Theorie und die zero-tolerance-Politik.7 Im Hinblick auf die Kausal-beziehung zwischen den insoweit propagierten Maßnahmen und dembehaupteten Rückgang von Kriminalität fehlt es aber an jeder empi-risch überzeugenden Begleitforschung.8 Schlimmer noch: Die Krimi-nalpolitik der zero tolerance wäre nicht mehr lediglich ein Leitbildpolizeilicher und ordnungsrechtlicher Arbeit, sondern Legitimations-basis für das Strafrecht. In schlichte Worte gefasst: Weil wir befürchten,dass über bestehende Strafbarkeitslücken kriminelle Problemlagenentstehen, dürfen wir diese Lücken schließen.

f) Hassemer hat es ausgeführt: Wir fürchten uns nicht vor derorganisierten Kriminalität oder vor der abstrakten Gefährdung vagerKollektivrechtsgüter, sondern vor einem Raubüberfall auf der Straße.9

Am Rande: Wenn wir noch ehrlicher wären, müssten wir uns wesent-lich mehr vor Straftaten innerhalb unserer eigenen vier Wändefürchten. Der Straftatbestand der Sachbeschädigung schützt ein indi-viduelles Rechtsgut vor Verletzung – wie bspw. auch der des Raubs.Hier soll es aber ausweislich der Gesetzesbegründung nicht um die

Kurzbe i t räge Hefendehl , Der Kampf geht wei ter : Der Entwur f …

3 Der Begriff des Verunstaltens entstammt dem letzten Entwurf (BT-Drucks.14/872).

4 Vgl. NK-StGB-Zaczyk, § 303 Rn 1 (1998).5 Vgl. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002.6 Hefendehl, ebenda, S. 34.7 Hierzu Wilson/Kelling, KrimJ 1996, 121 ff.8 Albrecht, Kriminologie, 1999, S. 368. 9 Hassemer, StV 1995, 488.

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Furcht vor Sachbeschädigungen, sondern um die dadurch angeblichtransponierte Furcht vor weiteren Delikten gehen. Auch hier wirdmit vagen, empirisch nicht evaluierten Vermutungen gearbeitet.Die Furcht vor Kriminalität ist ernst zu nehmen, der Begründung desGesetzentwurfs ist insoweit nichts hinzuzufügen. Selbst wenn dieKriminalität nicht mit der Entwicklung der Kriminalitätsfurcht Schritthalten würde, dürfte sich der Staat nicht selbstzufrieden zurücklehnenund auf die objektiven Zahlen verweisen. Nur: Der unspezifischeVerweis auf die Kriminalitätsfurcht legitimiert keine Ausweitung desSchutzbereichs der Sachbeschädigung.

3. Kontraproduktive Scheinverbesserungen

Ich mutmaße, dass die Protagonisten des Entwurfs eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes das jetzige Anwendungsfeld der §§ 303 u. 304StGB so klein halten, wie sie es nie tun würden, wenn sie als Jugend-richterin oder Jugendrichter vor der Aufgabe stünden, das Verhalteneines Sprayers strafrechtlich zu würdigen. Ich kritisiere, dass überBegriffe wie das Lebens- und Sicherheitsgefühl Strafbarkeitsauswei-tungen legitimiert werden sollen. Ich weise auf die gesicherten krimi-nologischen Erkenntnisse hin, dass nicht das Strafrecht und schon garnicht dessen Verschärfungen, sondern nur in sehr bescheidenemUmfang das Risiko der Entdeckung und Verfolgung abschreckendwirken können.10 Das wäre dann die teilweise vorgeschlagene erhöhtePolizeipräsenz nachts auf den Straßen, die – im Gegensatz zumGesetzentwurf – Mehrkosten verursachen würde. Noch kosteninten-siver wären die von Albrecht in seiner damaligen Stellungnahmebeschriebenen Maßnahmen der primären Prävention, die sich derschwierigen Aufgabe zuwenden würden, die Graffiti-Kultur als Ant-wort auf Ohnmachtserfahrungen junger Menschen gegenüber ihrenLebensbedingungen zu deuten und letztere zu verbessern. Schwierigauch deshalb, weil die Graffitikultur zu einem Teil als natürliche undepisodenhafte Erscheinung gedeutet werden kann, die gerade keinerbesonderen Erklärung und noch weniger einer Reaktion bedarf.

Macht man sich bewusst, dass sich in der Praxis durch die Erweite-rung der Sachbeschädigungsdelikte um die beschriebene Variantekaum etwas ändern dürfte, kann man einerseits aus tatsächlichenGründen gelassener werden. Beschädigungen wie Veränderungen desErscheinungsbildes bleiben zwar nicht im Dunkeln, sondern springenins Auge, deren Verursacher hingegen agieren im Dunkeln. Anderer-seits fielen, wie gezeigt, Verhaltensweisen unter den Tatbestand, diemit dem geschützten Rechtsgut nicht mehr in Beziehung gesetzt wer-den könnten. Die genannten Beispiele sind ad hoc gebildet worden.Zahlreiche Gesetzesänderungen auch aus jüngerer Zeit demonstriereneindrücklich, wie sich in seinem Umfang nicht genau abschätzbareFormulierungen rächen können.11 Schließlich würde ein weiteresBekämpfungsgesetz nicht mehr als symbolische Politik sein. Ihmkönnte nicht einmal die Funktion der positiven Generalpräventionzukommen, nämlich das Vertrauen in die Geltung der Rechtsordnungzu stabilisieren, weil sich dieses nicht durch einen symbolischenAktionismus stärken ließe. Ein derartiges symbolisches Strafrechtbleibt nicht wirkungslos, sondern wirkt, nämlich kontraproduktiv,weil es nicht einlösbare Verbesserungen verspräche.

4. Bedeutung der technischen Prävention bei Sachbeschädigungen

Maßnahmen technischer Prävention haben in der heutigen Zeitneben einer Funktionalisierung des Strafrechts Konjunktur, stehen siedoch für ein angeblich effizientes Bollwerk gegen delinquentes Ver-halten, das keinen langen Atem wie die primäre Prävention benötigt.Ich nenne insoweit nur die zunehmend propagierte Videoüberwa-chung öffentlicher Räume. Erst langsam geraten die Risiken derartigernicht an den Ursachen interessierter Maßnahmen in den Blick.12

Würde der Entwurf Gesetz werden, hätte sich aber ein bislang einzig-

artiges Risiko der technischen Prävention realisiert. Ich zeichne dieSchritte stichpunktartig nach: (1.) Trotz aller Bemühungen der Polizeiund Staatsanwaltschaft können Sachbeschädigungen in Gestalt vonGraffiti häufig nicht aufgeklärt werden. (2.) Erfahrungsgemäß beson-ders attraktive Tatobjekte wie Bahnwaggons und exponierte Häuserfas-saden werden mit einem speziellen Belag versehen, der Beeinträchti-gungen der Sachsubstanz nicht entstehen lässt. (3.) Da das durch § 303StGB geschützte Rechtsgut insoweit nicht beeinträchtigt wird, wirddas Individuum als Träger des Rechtsguts durch die Allgemeinheit undderen Lebensgefühl ersetzt und insoweit eine Gesetzeslücke ausge-macht. (4.) Diese Gesetzeslücke soll durch das Graffiti-Bekämpfungs-gesetz geschlossen werden.

Maßnahmen der technischen Prävention führen häufig zu Ver-drängungseffekten bzw. zu Eingriffen in Persönlichkeitsrechte, wiedas Beispiel der Videoüberwachung zeigt. Diese faktischen Auswir-kungen sind redlicherweise in die jeweilige Gesamtrechnung einzu-beziehen. Die technische Prävention wäre aber von vornhereinschlicht zu verwerfen, wenn die Verhinderung von Kriminalität eineAusweitung der Pönalisierung zur Folge hätte.

Erkennt man aber mit guten Gründen eine entsprechende Beschich-tung von Oberflächen als eine den Tatbestand ausschließende Maß-nahme technischer Prävention an, sind zwei mögliche Bedenken zuantizipieren: Auch wenn Flächen leicht zu reinigen seien, müsse dieseben erst geschehen; bis dahin liege der tatbestandliche Verletzungs-erfolg vor. Und: Maßnahmen technischer Prävention wie etwa eineWegfahrsperre in Kraftfahrzeugen verhinderten delinquentes Verhal-ten, leicht zu reinigende Flächen würden hingegen die jugendlichenTäter geradezu anziehen.

Beide Bedenken können m.E. entkräftet werden.Wenn ein Schaden beseitigt wird, muss zwar tatsächlich ein solcher

vorher bestanden haben. Der Schaden ist aber im Hinblick auf dasRechtsgut zu bestimmen. Bleibt eine Sache aufgrund einer Maßnahmetechnischer Prävention körperlich unversehrt, liegt gerade kein Scha-den vor.

Das Argument, leicht zu reinigende Flächen würden das besondereInteresse von Sprayern auf sich ziehen, schreckt nicht. Denn nach demsoeben Gesagten wäre das Verhalten insoweit tatbestandslos. Manhätte die Jugendlichen listig einem Betätigungsfeld zugeführt, das inGestalt von Freewalls meiner Überzeugung nach gerade nicht derenbesonderes Interesse wecken dürfte. Tatsächlich greift das Argumentaber vermutlich schon deshalb nicht, weil die Prognose der Verdrän-gung auf nicht behandelte Flächen weitaus realistischer ist. Auch die-ser kann man gelassener als etwa im Bereich der Videoüberwachungbegegnen: Täter ziehen Befriedigung (Fame) aus ihrem Verhalten ins-besondere dann, wenn ihre Tags und Graffiti erstens möglichst langeerhalten und zweitens zur Kenntnis genommen werden. Versieht mandie insoweit begrenzten attraktiven Flächen mit den beschriebenenbesonderen Belägen oder Folien, bleibt nur ein Ausweichen aufFlächen minderer Attraktivität.

5. Fazit

Den in der Gesetzesbegründung beschriebenen berechtigten Interes-sen kann schon nach derzeitiger Rechtslage Sorge getragen werden.Wir können eine Mehrzahl der Graffiti-Sprayer strafrechtlich ver-folgen,13 das JGG stellt ein ausreichendes Arsenal an staatlichenReaktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Das Zivilrecht sieht Schadens-ersatz- und Restitutionsmöglichkeiten vor. Dass Graffiti-Sprayer i.d.R.

Hefendehl , Der Kampf geht wei ter : Der Entwur f …

10 Albrecht (Fn 8), S. 62 f.11 So etwa die Beispiele der §§ 239a u. 239b StGB; hierzu nur Lackner/Kühl, StGB,

24. Aufl. 2001, § 239a Rn 4a).12 Vgl. Hefendehl, StV 2000, 271 ff.13 Vgl. nur OLG Düsseldorf, NJW 1999, 1199 m. Rspr.nachw.

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einkommenslos sind, verschärft nicht den Druck auf das Strafrecht.Empirische Untersuchungen haben insoweit ergeben, dass die vonReemtsma wieder in Erinnerung gebrachte Genugtuungsfunktion14

einen besonderen Schweregrad der Tat voraussetzt und ansonsten dasInteresse der Geschädigten in aller Regel auf einen schlichten Aus-gleich des Schadens geht.15 Insoweit haben das Zivilrecht und dasStrafrecht also identisch schlechte Karten.

Die teilweise in der Gesetzesbegründung beschriebenen Befürch-tungen sind unbegründet oder kein Feld des Strafrechts. Sie vermögenden Gesetzentwurf eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes nicht zu tragen.Es sollte daher bei der derzeitigen Rechtslage bleiben. Die Gesetze sindhinreichend wirkungsmächtig. Die geäußerte Befürchtung, es wäre einverheerendes Signal an die Bevölkerung, würde man an dem Graffiti-Bekämpfungsgesetz nicht festhalten, beschreibt ein grundlegendesMissverständnis: Die Allgemeinheit sollte man auch insoweit ernstnehmen, als man Fehlvorstellungen nicht über Symbolik, sondernüber Aufklärung begegnet.

Textsystem Justiz [TSJ], bajTech 2000), mit denen eine Client-Server-Applikation verwirklicht wird, sind grundsätzlich bereits entwickeltund befinden sich in der Einführung.

Die Justiz hat mit diesen Maßnahmen zunächst den Vorteil derinternen Rationalisierung verwirklicht, insbesondere im Zusammen-spiel mit der Einführung von Serviceeinheiten (Geschäftsstellen- undKanzleiaufgaben in einer Hand). Direkte Außenwirkungen standendagegen zunächst nicht im Vordergrund, sieht man von der Herstel-lung von Veröffentlichungstexten und Mitteilungen im Register-bereich und vom Automatisierten Mahnverfahren ab.

Im Zuge der Öffnung der öffentlichen Verwaltung in Richtung einer»Bürgergesellschaft« begann Mitte der 90er Jahre auch die Justiz in denBereichen, in denen sie Dienstleistungsfunktionen wahrnimmt, nachMöglichkeiten zu suchen, für bestimmte Verfahren die Informations-technik verstärkt im Sinne einer Nutzung »von außen« einzusetzen.Der Gesetzgeber hatte zunächst für das Mahnverfahren eine Automa-tionsunterstützung zugelassen,1 mit der Externe automationsgestütztMahnbescheidanträge bei Gericht einreichen konnten. Später hat dasRegisterverfahrensbeschleunigungsG2 die Möglichkeiten geschaffen,die Grundbücher und die übrigen Register (Handelsregister etc.)maschinell zu führen.

Aber auch dann noch wurde bei der Realisierung eher nach internenRationalisierungszielen verfahren, nämlich danach, wo der höchsteNutzen erwartet wurde. Daher haben sich einige Länder in Zusam-menarbeit mit Firmen zunächst gemeinsam des maschinellenGrundbuchs angenommen, das derzeit in drei verschiedenen EDV-Lösungen realisiert wird (SOLUM-STAR, FOLIA-EGB und ARGUS-EGB).3

In allen Verfahren werden die intern gespeicherten Daten durchexterne Abrufe (Notare, Banken etc.) elektronisch verfügbar gemacht.Das Regelwerk ist wegen des besonderen Schutzbedürfnisses nochrelativ starr, die technischen Konzepte basierten bisher eher auf Pro-dukten, die noch nicht der Internet-Technologie zuzurechnen sind.Erst mit der dynamischen Entwicklung der Informationstechnik inRichtung auf eine Internet-Technologie wurden die Technikkonzepteauf sog. WEB-basierte Abruftechniken umgestellt und nach und nachbereitgestellt. Damit entfällt für den externen Nutzer der Zwang, mitdem Gericht, dem Land oder den Herstellern Vereinbarungen überlizensierte Produkte treffen zu müssen. Lediglich der Zugang mussbeantragt werden; als Einsatztechnik dient dann der normale PC mitzunehmend ohnehin verfügbaren Standard-Anschlusstechniken.

Da der Gesetzgeber seinerzeit nicht den Mut hatte, die Register- undGrundbuchverfahren sogleich zu »entrümpeln« und ländereinheit-liche, technikverträgliche rechtliche Strukturen für die Darstellung derGegenstände und Rechte zu schaffen, muss jedes Land seine bisherigenFormen von Grundbüchern mühsam umschreiben bzw. scannen undin die elektronischen Formen übernehmen, die den Formvorschriftenentsprechen. Daraus ergab sich, dass keine einheitliche Bildstrukturangeboten wird, sondern bei Grundbuchabrufen in den Ländern unter-schiedliche Mechanismen beachtet werden müssen. Leider gilt – imGegensatz zu Österreich mit seinem fortschrittlichen Einsatz von Infor-mationstechnik in der Justiz – in der deutschen Gesetzgebung nochnicht der Grundsatz: Informationstechnik schafft einfaches Recht.

Zu wünschen wäre mehr Offenheit im BMJ für gesetzliche Regelun-gen, die stärker die informationstechnischen Erfordernisse und Not-wendigkeiten bereits im Vorfeld berücksichtigen. Denn häufig gelingtes erst im Bundesrat, Änderungen an zuvor im Bundestag beschlosse-nen gesetzlichen Regelungen zu bewirken. Das ließe sich durch eine

Kurzbe i t räge Hefendehl , Der Kampf geht wei ter : Der Entwur f …

14 Vgl. insoweit Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters alsProblem, 1999.

15 Hefendehl, JZ 2000, 607 mwN.

Neue Entwicklungen derInformationstechnik in der JustizMinisterialrat Hans-Ulrich Borchert, Potsdam

Die Nutzung von EDV-Verfahren im Rahmen der Anpassung staatlicherHandlungsformen an die Erfordernisse einer modernen Informationsgesell-schaft ist eines der zentralen Anliegen aller Justizverwaltungen auf Bundes-und Landesebene. Am Beispiel des elektronischen Handelsregisters und imHinblick auf die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs zeigt derAutor den derzeitigen Entwicklungsstand auf und benennt noch vorhandeneSchwachstellen.

1. Stand der Automationsverfahren in den Bundesländern undaktuelle Entwicklungslinien

Die Landesjustizverwaltungen haben bereits Mitte der 80er Jahre, dieneuen Länder ab 1991, begonnen, EDV-Verfahren bei den Gerichtenund Staatsanwaltschaften einzuführen. Im Mittelpunkt stand dabeidie Erleichterung der Geschäftsstellen- und Kanzleiarbeit bei Textver-arbeitung, Aktenverwaltung und Registerführung. Die EDV-Verfahrenunterstützen die Mitarbeiter in unterschiedlicher Weise, aber immernoch bestimmt das Papier die Arbeit: Es müssen Verfahrensdatenentnommen, z.T. neu eingetippt und später wieder gedruckt werden.In einigen Ländern befinden sich neben den jeweiligen Standard-Textverarbeitungs-Ergänzungen inzwischen neue komplexe generelleTextverarbeitungsverfahren in der Entwicklung, mit denen die in denjeweiligen Fachprogrammen erfassten Daten unmittelbar textlichverarbeitet werden können.

Etwa seit Mitte der 90er Jahre wurden die justizbezogenen EDV-Verfahren durch Ergänzung der Fachfunktionen komfortabler, durchVereinbarung von länderübergreifenden Projekten genereller unddurch Umstellung auf neue Systemplattformen an den neuen Standder Informationstechnik angepasst (zunehmend überwiegend Intel,Microsoft, Standard-Datenbanken wie SQL, Oracle, INFORMIX, Stan-dard-Entwicklungssprachen usw.). Neue Lösungskonzepte (JUDICA,

1 Vgl. §§ 689 Abs. 2 Satz 2, 703b, 703c ZPO.2 Ges. zur Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer

Verfahren v. 20.12.1993 (BGBl. I S. 2182); hier: §§ 8a, 9 Abs. 2 Satz 2 u. 4, 9a HGB.3 SolumStar: Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Nieder-

sachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Saar-land, Thüringen; FOLIA-EGB: Baden-Würtemberg, Schleswig-Holstein; ARGUS-EGB: Mecklenburg-Vorpommern.

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stärkere Beteiligung der Praxis vermeiden. Es sollten daher nicht nurdie Fachreferate einbezogen werden, sondern auch die IT-Referate derLänderjustizministerien und das IT-Referat des BMJ, das durch seineEinbindung in die Arbeit der Bund-Länder-Kommission für Daten-verarbeitung und Rationalisierung in der Justiz über die aktuellenDiskussionen und strategischen Linien genau informiert ist.

Insgesamt ist der Bereich der »Unternehmensdaten in Deutschland«– auch durch Aktivitäten der Europäischen Union und der Bundes-regierung sowie aufgrund der Forderungen der deutschen Wirtschaft –in eine neue Dimension vorgedrungen. Derzeit werden staatenüber-greifende Überlegungen angestellt, Deutschland über ein einheitlichesJustizportal datenbezogen einheitlich im EU-Raum darzustellen unddabei über Registerdaten hinaus ein breites Spektrum von Wirtschafts-daten bereitzustellen (einschl. Bilanzen und Geschäftsabschlüsse,Informationen über Unternehmensstrukturen, Umsatz usw.). Daranwird seitens des BMJ in Abstimmung mit den Ländern gearbeitet.

2. Registerwesen

Anders als beim Grundbuchverfahren war das Registerwesen durchsehr früh getroffene justizinterne Vereinbarungen der Länder auf derBasis der bundeseinheitlichen Handelsregisterverfügung schon fürdie Gestaltung und Ausführung der papiergestützten Registerblätterweitgehend einheitlich geprägt. Selbst im Bereich der Texte war manbemüht, Textfassungen möglichst einheitlich zu gestalten, soweit diesrechtlich und fachlich möglich war. Dies führte zu gemeinsam genutz-ten Textbausteinen in den früheren EDV-Verfahren (z.B. HAREG).Bei der Überführung von Registerdaten in die neuen EDV-Lösungenkönnen diese Datenbestände heute teilweise arbeitsentlastend zu Hilfegenommen werden.

In den Jahren1997/98 haben die Länder begonnen, ebenso wie beimGrundbuch auch für das maschinelle Registerverfahren eine elektro-nische Bearbeitung mit elektronisch dauerhafter Speicherung undBeauskunftung zu planen. Leider gelang es auch hier nicht, ein ein-heitliches Verfahren zu schaffen. Allerdings sind seit 1999/2000 nurzwei sog. Entwicklerverbünde entstanden. Dies sind AUREG (zzt. Bran-denburg, Berlin, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein) undREGIS-STAR (zzt. Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-West-falen, Sachsen und Sachsen-Anhalt).

Diese beiden Entwicklerverbünde haben vereinbart, in »organisato-risch-technischen Leitlinien (OT-Leit)« so viel Einheitlichkeit wie fürdie Kommunikation mit Dritten erforderlich sicherzustellen. Diesbezieht sich insbesondere auf das Abrufverfahren, aber auch auf dieDarstellung des eigentlichen elektronischen Registerblatts und dieForm des neu geschaffenen »aktuellen Auszugs« sowie die Abruflogik.

Die Registereintragungen werden nach dem In-Kraft-Treten ent-sprechender Landesrechtsverordnungen nur noch elektronisch erfol-gen und im maschinellen Register so gespeichert, dass die Eintragun-gen »jederzeit unverändert wieder hergestellt werden können«.

Diese hohen gesetzlichen Anforderungen erfordern einen großenAufwand im Bereich Datensicherheit und eine Verfügbarkeit derSysteme, die insbesondere im Interesse externer Nutzer benötigtwerden. Daher hat der Gesetzgeber für das Abrufverfahren auch einebesondere Abrufgebühr vorgesehen. Das Ges. über elektronischeRegister und Justizkosten für Telekommunikation v. 10.12.20014 siehtdazu in der Anlage zur JustizverwaltungskostenO eine dezidierteRegelung vor. Sobald die einzelnen Länder online-Abfragen aus demelektronischen Handelsregister in geregelter Form ermöglichen, habenPapierausdrucke daraus nur noch in beglaubigter Form eine Rechts-wirkung. Ansonsten stellt die Einsicht in das maschinelle Registerüber gerichtsinterne Bildschirme oder durch Abrufe von externen PC´sdie Funktion der Registerblätter her.

Sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Brandenburg laufen zurErprobung des Abrufverfahrens bereits Pilotversuche mit Notaren,

um Akzeptanz und Rahmenbedingungen untersuchen zu können.In Brandenburg ist die Aufnahme des Pilotbetriebs des elektronischenHandelsregisters noch im Jahre 2002 voraussichtlich beim AG Neu-ruppin geplant.

Die Daten aus den Papierregistern oder aus halbautomatischenVorverfahren müssen aufgrund der Vorgabe des Gesetzgebers zurelektronischen Speicherung unter Beifügung einer elektronischenUnterschrift vor Aufnahme in den endgültigen Registerspeicherfachlich so umgestellt/umgeschrieben werden, dass daraus und in derZukunft jeweils ein »aktueller Auszug« weitgehend automatisierterzeugt und zugleich die im Interesse besserer Lesbarkeit gesetzlichvorgeschriebene »geänderte Spaltendarstellung« eingetragen werdenkann. Dies hat – je nach landesinterner Organisation und dem Gradder anlässlich der Einführung des elektronischen Handelsregisters oftzeitgleich beabsichtigten Konzentration der Registerabteilungen aufnur noch wenige Gerichte – einen erheblichen Organisationsvorlaufzur Folge. Daran arbeiten derzeit alle Länder in den Entwicklerver-bünden.

Eine gute Entwicklung für die »Justizkunden« ist jedoch erkennbar:Alle Beteiligten in Bund und Ländern sind daran interessiert, dass dieRegister möglichst überall im Inland und auch vom Ausland her beielektronischem Abruf einheitlich aussehen und möglichst einheitlichabrufbar sein sollen. Allerdings ist der Gesetzgeber aufgefordert, nochweitere Korrekturen vorzunehmen. Bspw. ist derzeit noch in jedemBundesland ein eigenes Anmeldeverfahren erforderlich, um dem iden-tifizierten Abrufer eine Kostenrechnung für Mehrfachabrufe zustellenund die Kosten auch beitreiben zu können. So sind Protokollierungenvorgeschrieben, die den Missbrauch der amtlichen Registerdatenverhindern sollen. Authentisch und aktuell sind nur die amtlichengerichtlichen Register, nicht jedoch privatwirtschaftlich geführteInformationsdatenbanken im Internet. Auch amtliche Veröffent-lichungsdaten im Internet von einzelnen Registergerichten könnennicht die Registerdaten der Firma als Ganzes dokumentieren, weil sieimmer auf die jeweilige Einzeleintragung ausgerichtet sein dürften.Vermutlich werden Ende 2002/Anfang 2003 in einigen Ländern dieRegister bereits im Internet zur Einsicht per Abruf bereitstehen.

Mit der Neufassung von § 8a HGB haben die Länder jetzt die Mög-lichkeit erhalten, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass dieEinreichung von Jahres- und Konzernabschlüssen, von Lageberichtensowie sonstigen Schriftstücken in einer maschinell lesbaren Form zuerfolgen hat. Auch diese Bestandteile der Registerakte sollen abrufbargespeichert werden können. Derzeit wird seitens der von der Justiz-ministerkonferenz eingerichteten Arbeitsgruppen der Bund-Länder-Kommission für Datenverarbeitung und Rationalisierung in der Justizan technisch-organisatorischen Konzepten gearbeitet, um auch dieseDienste ländereinheitlich anbieten zu können. Hierzu bestehenKontakte zu den Beauftragten der Bundes- und Landesnotarkammern,um die Fragen der elektronischen Urkundsform und deren elektroni-sche Bereitstellung gemeinsam zu bearbeiten. Ziel sollte es sein,Urkunden und andere wichtige Unterlagen möglichst nur einmalvollständig zu speichern und im Übrigen durch Link-Zugriffe anderenStellen online zugänglich zu machen, soweit dies sicher und schnellgenug möglich ist. Den Beteiligten ist dabei sehr wohl bewusst, dassdas Kriterium der Rechts- und Verfahrenssicherheit Vorrang habenmuss vor schnell verfügbaren, kostengünstigen und komfortablenLösungen.

3. Fazit

Der Bundesgesetzgeber hat mit dem Ges. zur Anpassung der Form-vorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den moder-

Borchert , Neue Entwick lungen der In format ionstechnik in der Just iz

4 BGBl. I S. 3422.

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nen Rechtsgeschäftsverkehr v. 13.7.2001 und dem ZustellungsreformGv. 25.6.2001 erste Schritte zur Ermöglichung des elektronischenRechtsverkehrs im Zivilprozess unternommen.5 Allerdings sind dierechtlichen Grundlagen eine Sache, die technische Umsetzung deselektronischen Rechtsverkehrs eine ganz andere. Hier liegen noch diegrößten Probleme, insbesondere im Hinblick auf die Interoperabilität.Die Bund-Länder-Kommission für Datenverarbeitung und Rationa-lisierung in der Justiz hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die zzt.organisatorisch-technische Leitlinien erarbeitet, die Grundlage füreine bundeseinheitliche Umsetzung werden sollen.

Wie weit die Landesjustizverwaltung Brandenburg ist, konnte aufdem Kongress der Brandenburger Informationsstrategie 2006 am21. u. 22.5.2002 besichtigt werden. Das Ministerium der Justiz und fürEuropaangelegenheiten hat dort seine drei Großprojekte elektroni-sches Grundbuch, elektronisches Handelsregister und elektronischerRechtsverkehr präsentiert.6

Dabei ist zu bemerken, dass in Bund, Ländern und Kommunen anProjekten des sog. e-Government ebenso aktiv gearbeitet wird, wie inder Wirtschaft am e-Commerce. Verfassungsrechtlich wird von denLandesjustizverwaltungen allerdings die Sonderstellung von e-Justicein Form des »elektronischen Rechtsverkehrs« gegenüber dem e-Govern-ment herausgestellt, auch weil hier besondere Rechtsvorschriften zubeachten sind.

entfaltet hat. Dabei kam eine eindrucksvoll lange Liste zustande, dienicht Standard in allen Bundesländern ist.

Die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz Renate Künast wies in ihrem Vortrag »Der kleine Unter-schied – was macht Rot-Grün anders?« auf die Gesetzgebung derderzeitigen Regierungskoalition hin und machte deutlich, dass der djbmit seiner Forderung nach effektiveren Gleichstellungsgesetzen nichtallein steht. Sie sprach zutreffend von einem Paradigmenwechsel unddabei den meisten Zuhörern und Zuhörerinnen aus dem Herzen, dieFrauen nicht mehr allein über die Familie definiert sehen wollen.Vielmehr wird von der neuen Bundesregierung neben familienpoliti-schen Maßnahmen eine eigenständige Frauenpolitik erwartet, die dieGleichstellung im Erwerbsleben und eine eigene soziale Absicherungvon Frauen gesetzlich garantiert.

Auf dem Podium diskutierten unter der Moderation von KristinaBöker (ARD-Hauptstadtstudio) die Mitglieder des Deutschen Bundes-tags Hildegard Wester (SPD), Maria Eichhorn (CDU/CSU), IrmingardSchewe-Gerigk (Bündnis 90/Die Grünen), Gabriele Heise (FDP) und derFraktionsvorsitzende der PDS Roland Claus.

Frau Heise schloss für die FDP jede gesetzliche Regelung zur Durch-setzung der Gleichstellung der Geschlechter oder zur Umsetzung derAntidiskriminierungsverbote aus Gründen des Geschlechts, der Rasse,der Religion und anderer Diskriminierungsmerkmale z.B. beimAbschluss von Mietverträgen unter Berufung auf die Privatautonomieaus; sie hielt gesetzliche Regelungen sogar für kontraproduktiv.Die Ankündigung dieses schlicht EU-rechtswidrigen Vorgehens riefdeutlichen Unmut im Publikum hervor, wie schon zuvor das State-ment der CDU-Politikerin Eichhorn. Sie erachtete familienpolitischeMaßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit mitFamilienarbeit zwar für notwendig, damit jedoch das Repertoire desGesetzgebers auf der frauenpolitischen Ebene offenbar auch fürerschöpft. Das Gleichsetzen von Familienpolitik mit Frauenpolitik indem Sinne, dass es nur darum gehe, den Frauen eine Wahl für dieEntscheidung Beruf oder Familie unter günstigeren Bedingungen zuermöglichen – nach den Vorstellungen der CDU durch Zahlung einesFamiliengeldes für Familien mit Kindern –, während die realen Gleich-stellungsdefizite von Frauen im Erwerbsleben allein dadurch behobenwerden könnten, dass genügend Kinderbetreuungseinrichtungen undGanztagsschulen geschaffen werden, klang auch bei Frau Wester vonder SPD an. Der Umsetzungsbedarf aufgrund der neuen Gleichbehand-lungsrichtlinie, so Frau Wester, müsse erst genau geprüft werden.

Anders stellte sich der Handlungsbedarf für Herrn Claus von der PDSdar. Er sah durchaus Defizite im frauenpolitischen und nicht nurfamilienpolitischen Bereich und verwies auf positive Erfahrungen derFrauen in der DDR bei der Vereinbarung von Berufstätigkeit und Kin-derbetreuung, die man sich zumindest genauer ansehen sollte.

Die nahezu ungeteilte Zustimmung des Publikums erhielt FrauSchewe-Gerigk von den Grünen, die die Diskriminierungsverbote undGleichstellungsdefizite präzise benannte und im Lichte der neuenEU-Richtlinien die Verpflichtungen des Gesetzgebers zur Umsetzungim Einzelnen aufführte. Das bedeutet nach ihrer Auffassung dieSchaffung eines Gleichstellungsgesetzes für die Privatwirtschaft, einesAntidiskriminierungsgesetzes, das Benachteiligungen von Personenwegen aller in den Antidiskriminierungsrichtlinien genannten Merk-male bekämpft und sanktioniert, ausreichende und bezahlbare Kinder-betreuungseinrichtungen, in denen der Bildungsauftrag des Staatesverwirklicht wird, keine Ausweitung der geringfügigen Beschäftigungund Reformen im Steuerrecht, um letztlich – im Gegensatz zur heuti-gen steuerlichen Bevorzugung der Ehe durch das Ehegattensplitting –die Familie mit Kindern zu fördern.

Die Veranstaltung hat sehr deutlich gemacht, was die Frauen voneiner neuen Bundesregierung – in welcher Konstellation auch immer –zu erwarten haben. Insofern war die Podiumsdiskussion durchausgelungen; zufrieden stellen konnte sie hingegen nicht.

Kurzbe i t räge Borchert , Neue Entwick lungen der In format ionstechnik in der Just iz

5 Vgl. dazu und zu weiteren Regelungen zur Einführung elektronischer Formen desRechtsverkehrs in das Privatrecht: Fritsche, NJ 2002, 169 ff.

6 Einzelheiten im Internet unter www.bis2006.de.

Gleichstellung von Frauen undMännern – ein Wunschtraum?VorsRinLAG Ingrid Weber, Berlin

Am 13.6.2002 hat der Deutsche Juristinnenbund (djb) in Berlin einePodiumsdiskussion zu dem Thema »Gleichstellung von Frauen undMännern in Arbeit und Wirtschaft: Was haben wir von einer neuenBundesregierung zu erwarten?« mit Vertretern der Fraktionen desDeutschen Bundestags und einem zahlreich erschienenen, sehr inter-essierten Publikum in der Landesvertretung von Schleswig-Holsteindurchgeführt.

Der djb als überparteilicher Zusammenschluss von Juristinnen,Volkswirtinnen und Betriebswirtinnen hat insbesondere die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien 2000/43/EG und 2000/78/EG sowiedie aktuell am 13.6.2002 verabschiedete neue Gleichbehandlungs-richtlinie 76/207/EG auf den Prüfstand der Bereitschaft der Bundes-tagsfraktionen zur Umsetzung in deutsches Recht gestellt. Die Präsi-dentin des djb Margret Diwell hob in ihrer Begrüßung den erheblichenHandlungsbedarf des Gesetzgebers hervor, Diskriminierungen vonFrauen und anderen typischerweise benachteiligten Gruppen wir-kungsvoller als bisher zu bekämpfen und Regelungen für eine tatsäch-liche Gleichstellung der Geschlechter im Erwerbsleben zu schaffen.Die eingeladenen Politikerinnen und Politiker sollten daher befragtwerden, wie die Parteien die europäischen Vorgaben in der nächstenLegislaturperiode umzusetzen gedenken.

Die stellvertretende Ministerpräsidentin von Schleswig-Holsteinund Ministerin für Justiz, Frauen und Familie Anne Lütkes hob inihrem Grußwort als Hausherrin die gesetzlichen Aktivitäten hervor,die ihr Land zur Durchsetzung der Geschlechtergerechtigkeit bisher

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BUNDESGESETZGEBUNG

Auswertung der BGBl. 2002 I Nr. 44 bis 53Die Neufassung der VO über Verwertungs- undBeseitigungsnachweise (NachweisVO – NachwV)in der seit dem 1.5.2002 geltenden Fassung istam 17.6.2002 bekannt gemacht worden. (BGBl. I Nr. 44 S. 2374)

Mit 7. ÄndVO v. 2.7.2002 ist die Bundeslauf-bahnVO idF der Bkm. v. 8.3.1990 (BGBl. IS. 449, 863), zuletzt geändert durch Art. 304der VO v. 29.10.2001 (BGBl. I S. 2785),umfänglich geändert worden.(BGBl. I Nr. 45 S. 2447)

Aufgrund von Art. 5 des Ges. zur Änderungdes SchuldRAnpG v. 17.5.2002 (BGBl. I S. 1580)wurde die Neufassung der NutzungsentgeltVO(NutzEV) in der seit dem 1.6.2002 geltendenFassung am 24.6.2002 bekannt gemacht. (BGBl. I Nr. 47 S. 2562)Zur Änderung des SchuldRAnpG siehe den Erläute-rungsbeitrag von H. Matthiessen, NJ 2002, 228 ff.

Das Gesetz zur Änderung des Pflichtversiche-rungsG und anderer versicherungsrechtlicherVorschriften v. 10.7.2002 dient der Umsetzungder 4. Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie derEU v. 16.5.2000 in deutsches Recht und trittam 1.1.2003 in Kraft. Damit sollen bei einemVerkehrsunfall im Ausland die Schwierigkei-ten durch Einrichtung von Auskunftsstellenin den Mitgliedstaaten, Benennung vonSchadensregulierungsbeauftragten der Versi-cherungen und Fristsetzung für die Schadens-regulierung minimiert werden. (BGBl. I Nr. 48 S. 2586)

Das Gesetz zur Reform der Juristenausbildungv. 11.7.2002 tritt am 1.7.2003 in Kraft undändert das DRiG und die BRAO. Nach derNeuregelung verbleibt es bei der Zweistufig-keit der Ausbildung zum »Einheitsjuristen«;die Studenten sollen jedoch besser auf denjeweiligen juristischen Beruf, insbes. den desAnwalts, vorbereitet werden. Das ArtikelGsieht vor, die Studieninhalte um die Vermitt-lung sog. Schlüsselqualifikationen wie Ver-handlungsmanagement, Gesprächsführung,Rhetorik, Streitschlichtung, Mediation, Verneh-mungslehre und Kommunikationsfähigkeitsowie obligatorische fachspezifische Fremd-sprachenveranstaltungen zu erweitern. DasGewicht der Wahlfächer wird erhöht und dieSchwerpunktbereichsprüfung vollständig aufdie Universitäten verlagert; sie fließt mit einemAnteil von 30% in die Gesamtnote der erstenPrüfung ein. Einen Schwerpunkt im insges.zweijährigen Vorbereitungsdienst bildet dieneunmonatige Pflichtausbildung beim Rechts-anwalt. Hierzu kann das Landesrecht bestim-men, dass drei Monate von dieser Zeit beieinem Notar oder einer anderen rechtsbera-

tenden Ausbildungsstelle stattfinden können.Daneben sind jeweils mind. dreimonatigePflichtstationen bei einem Zivilgericht, einerStaatsanwaltschaft und einer Verwaltungs-behörde vorgeschrieben. In angemessenemUmfang kann die Ausbildung auch bei Statio-nen mit internationalem Bezug erfolgen.Durch Änderung des § 9 DRiG wird ausdrück-lich die sog. soziale Kompetenz als Ein-stellungsvoraussetzung für den Richterdiensteingeführt. Art. 3 enthält Übergangsvorschrif-ten für Studierende und Referendare.(BGBl. I Nr. 48 S. 2592)

Das Gesetz zur Modernisierung des Stiftungsrechtsv. 15.7.2002 dient der Förderung des Stiftungs-wesens. Durch Änderung der §§ 80 ff. BGBwerden bundeseinheitlich die Voraussetzun-gen bestimmt, unter denen einer StiftungRechtsfähigkeit zuzuerkennen ist. Dem Stifterwird ein Rechtsanspruch auf Anerkennungder Rechtsfähigkeit der Stiftung zuerkannt.Stiftungen können zu jedem gemeinwohl-konformen Zweck errichtet werden. Das Ges.tritt zum 1.9.2002 in Kraft.(BGBl. I Nr. 49 S. 2634)

Das Gesetz zur Änderung schadensersatzrecht-licher Vorschriften v. 19.7.2002 ist am 1.8.2002in Kraft getreten. Es entwickelt das Schadens-ersatzrecht durch Änderung entsprechenderVorschriften im ArzneimittelG, BGB, SVG,BBergG, HaftpflichtG und LuftverkehrsG fort.(BGBl. I Nr. 50 S. 2674)Siehe dazu den Erläuterungsbeitrag von H. Trim-bach, NJ 2002, 393 ff.

Das Transparenz- und PublizitätsG v. 19.7.2002,im Wesentlichen am 26.7.2002 in Kraft getre-ten, dient der weiteren Reform des Aktien-und Bilanzrechts und ändert u.a. zahlreicheParagraphen des AktG und des HGB.(BGBl. I Nr. 50 S. 2681)

Das Gesetz zur Änderung wohnungsrechtlicherVorschriften v. 19.7.2002 ergänzt mit Wirkungv. 1.1.2003 den Einkommenskatalog in § 10Abs. 2 WohngeldG und § 21 Abs. 2 des Ges.über die soziale Wohnraumförderung. Damitwerden die wesentlichen Leistungen derGrundsicherung gem. § 3 Abs. 1 des Ges. übereine bedarfsorientierte Grundsicherung imAlter und bei Erwerbsminderung (Art. 12 desAltersvermögensG, BGBl. I 2001 S. 1310) in dieBerechnung des wohngeld- bzw. wohnraum-förderungsrechtlich zu berücksichtigendenEinkommens einbezogen.(BGBl. I Nr. 50 S. 2690)

Mit dem am 27.7.2002 in Kraft getretenenGesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebungnationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Straf-rechtspflege (NS-AufhGÄndG) v. 23.7.2002 istdie Anlage zu § 2 Abs. 3 geändert und damit

auf eine Einzelfallprüfung bei der Aufhebungvon Urteilen wegen Homosexualität, Deser-tion, Feigheit oder unerlaubter Entfernungvon der Truppe verzichtet worden.(BGBl. I Nr. 51 S. 2714)

Mit 5. Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-AusbildungsG und zur Änderung von Steuergeset-zen v. 23.7.2002 ist durch Art. 7 des ÄndGauch § 370a AO geändert worden. Danachwird die gewerbsmäßige oder bandenmäßigeSteuerhinterziehung nur noch dann als Ver-brechen mit einem Strafrahmen von einemJahr bis zu zehn Jahren verfolgt, wenn Steuern»in großem Ausmaß« verkürzt wurden. Einminder schwerer Fall liegt vor, wenn dieVoraussetzungen des § 371 AO erfüllt sind,unter denen eine Selbstanzeige möglich ist.§ 261 Abs. 1 Satz 3 StGB wurde neu gefasst.Das ÄndG ist am 1.7. bzw. 27.7.2002 in Kraftgetreten. (BGBl. I Nr. 51 S. 2715)

Das JugendschutzG (JuSchG) v. 23.7.2002führt das Ges. zum Schutze der Jugend in derÖffentlichkeit v. 25.2.1985 und das Ges. überdie Verbreitung jugendgefährdender Schrif-ten und Medieninhalte idF der Bkm. v.12.7.1985 zu einem einheitlichen Gesetzzusammen. Es enthält umfassende Neurege-lungen des Jugendmedienschutzes u.a. durchErweiterung des Katalogs der schwer jugend-gefährdenden Trägermedien im Hinblick aufGewaltdarstellungen. Errichtet wird eine»Bundesprüfstelle für jugendgefährdendeMedien«, die über eine Aufnahme in die Listejugendgefährdender Medien und über ent-sprechende Streichungen entscheidet. DerSchutz junger Menschen vor Gefährdungendurch Nikotin und Alkohol wurde verbessert.Die bisher auf 10.000 € begrenzten Bußgelderfür Verstöße gegen das JuSchG wurden auf50.000 € erhöht. Das JuSchG tritt gleichzei-tig mit dem StaatsV der Länder über denJugendschutz in Rundfunk und Telemedienin Kraft; das Datum des In-Kraft-Tretens wirdim BGBl. bekannt gegeben.(BGBl. I Nr. 51 S. 2730)

Das Gesetz zur Erleichterung der Bekämpfungvon illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeitv. 23.7.2002 ist seit 1.8.2002 in Kraft undändert insges. 15 Gesetze und VO. Die Zusam-menarbeit von Behörden soll effektiviert unddie Bundesanstalt für Arbeit mit weiterenBefugnissen ausgestattet werden. GewerblicheAuftraggeber im Baugewerbe haften künftigfür SV-Beiträge der Auftragnehmer als selbst-schuldnerische Bürgen (§ 28e Abs. 3a bis 3fSGB IV). (BGBl. I Nr. 52 S. 2787)

Das OLG-VertretungsänderungsG (OLGVertr-ÄndG) v. 23.7.2002 ist im Wesentlichen am1.8.2002 in Kraft getreten. Nachdem für die

465Neue Justiz 9/2002

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anwaltliche Vertretung vor den LG die Loka-lisation bereits entfallen ist, hebt das ÄndGdurch Neufassung des § 78 ZPO nunmehrauch das bisher für die OLG verankerte Loka-lisationsprinzip auf. Rechtsuchende könnensich jetzt in der ersten und in der zweitenInstanz eines Zivilprozesses vom Anwalt ihresVertrauens vertreten lassen, auch wenn des-sen Kanzlei ihren Sitz nicht im Bezirk des OLGhat, bei dem der Rechtsstreit anhängig ist. Von den weiteren 30 Gesetzesänderungensind die Änderungen von verbraucherrechtlichenVorschriften im BGB und anderen Gesetzen(Art. 25 ÄndGG) insbes. zum Widerrufsrechtbei Verbraucherverträgen von Bedeutung.Sie stehen im Zusammenhang mit den Urtei-len des EuGH v. 13.12.2001 (Rs. C-481/99,siehe Inform. in NJ 2002, 190) und des BGHv. 9.4.2002 (XI ZR 91/99, siehe Inform. inNJ 2002, 242). § 355 Abs. 3 BGB bestimmtnunmehr, dass das Widerrufsrecht spätestenssechs Monate nach Vertragsschluss erlischt,ausgenommen bei nicht ordnungsgemäßerWiderrufsbelehrung. Allerdings wird Kredit-instituten mit § 506 Abs. 3 BGB die Mög-lichkeit eingeräumt, das Widerrufsrecht inImmobiliendarlehensverträgen, die keineHaustürgeschäfte sind, auszuschließen. Präzi-siert wurden auch die Verbraucherschutzvor-schriften bei notariellen Beurkundungen durchÄnderung von § 17 Abs. 2a BeurkG.(BGBl. I Nr. 53 S. 2850)

Durch ÄndG v. 26.7.2002 ist mit Wirkungv. 1.8.2002 Art. 20a GG geändert und der Tier-schutz als Staatsziel im GG verankert worden.(BGBl. I Nr. 53 S. 2862)

Mit ÄndG v. 26.7.2002 ist Art. 96 Abs. 5 GGgeändert worden. Für Strafverfahren wegenVölkermordes, Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit, Kriegsverbrechen oder Staatsschutz-delikten können nunmehr ab 1.8.2002 dieGerichte der Länder die Gerichtsbarkeit desBundes ausüben. (BGBl. I Nr. 53 S. 2863)

Das Gesetz zur Änderung des Ordnungswidrig-keitenverfahrensrechts v. 26.7.2002 stellt dieUmsetzung der Vorgaben des Volkszählungs-urteils des BVerfG (E 65, 1) auch im Bußgeld-verfahren sicher. Durch Änderung des OWiG,der StPO und des SGB X mit Wirkung zum1.11.2002 wurden die Maßgaben bestimmt,mit denen die durch das StVÄndG 1999 ein-geführten Regelungen u.a. zur Erteilung vonAuskünften und Akteneinsicht im Bußgeld-verfahren anwendbar sind. (BGBl. I Nr. 53 S. 2864)

Die Bkm. der Neufassung des BGB v. 2.1.2002(BGBl. I S. 42) ist am 18.7.2002 zu insges. 14Paragraphen berichtigt worden.(BGBl. I Nr. 53 S. 2909)

GESETZESINITIATIVEN

ForderungssicherungsgesetzDer Rechtsausschuss des Bundestags hat am4.7.2002 die Beratungen über den von derCDU/CSU-Fraktion vorgelegten Entwurfeines ForderungssicherungsG (BT-Drucks.14/8783) vertagt. Einen vergleichbaren Ent-wurf zur Verbesserung der Zahlungsbedin-gungen der Handwerker hatten auch die Län-der Sachsen und Thüringen in den Bundesrateingebracht (siehe Inform. in NJ 2002, 408).(aus: Pressemitt. des Thür. Justizmin. Nr. 112/02)

Einsatzerweiterung der DNA-AnalyseDer Bundesrat hat am 12.7.2002 den Entwurfeines Gesetzes zur Erweiterung des Einsatzesder DNA-Analyse bei Straftaten mit sexuellemHintergrund (BR-Drucks. 517/02 [Beschluss])beim Bundestag eingebracht. Mit dem Ziel,den Schutz der Bevölkerung vor Sexual-straftätern zu verbessern, soll der Katalog desAnwendungsbereichs für eine DNA-Analysefür Zwecke künftiger Strafverfahren in § 81gStPO auf alle Straftaten mit sexuellem Hin-tergrund erweitert werden, da die bisherigeBeschränkung der Anlasstaten auf solche vonerheblicher Bedeutung zu eng sei.

(aus: BR-Pressemitt. Nr. 186/02)

UrheberrechtDie Bundesregierung hat Ende Juli 2002einen Gesetzentwurf zur Regelung des Urhe-berrechts in der Informationsgesellschaftbeschlossen. Damit sollen weite Teile derEU-Richtlinie 2001/29/EG umgesetzt werden,die neben der Harmonisierung von Teilen desUrheberrechts auch die EG-weite gemein-same Ratifizierung der beiden WIPO-Verträgebezweckt. Der Entwurf sieht neben derVerstärkung der Rechtsstellung ausübenderKünstler u.a. die Einführung des »Rechtsder öffentlichen Zugänglichmachung« vor.Klargestellt werden soll, dass auch die digitalePrivatkopie zulässig ist; sog. wirksame techni-sche Schutzmaßnahmen sollen vor Umge-hung geschützt werden.

(aus: BMJ-Pressemitt. Nr. 66/02)

EUROPA

Rahmenbeschluss zur TerrorismusbekämpfungDer Rat der EU hat den Rahmenbeschluss2002/475/JI (ABl. Nr. L 164 v. 22.6.2002, S. 3)zur Terrorismusbekämpfung angenommen.Mit ihm erfolgt eine Angleichung der Defini-tion der terroristischen Straftaten, einschl. derStraftaten, die im Zusammenhang mit terro-ristischen Vereinigungen begangen werden.Um eine wirksame Verfolgung terroristischerStraftaten sicherzustellen, sollen gerichtlicheZuständigkeiten festgelegt werden.

(aus: www.elextra.de 21/047-2002)

BUNDESGERICHTE

BVerfG: Eilantrag zu LER abgewiesenMit Beschl. v. 28.7.2002 (1 BvQ 25/02) hat dasBVerfG einen Eilantrag auf Erlass einer einstw.Anordnung abgelehnt, mit dem evangelischeEltern und Schüler aus Brandenburg errei-chen wollten, dass das Gesetz zur Änderungdes brandenburgischen SchulG vorläufig nichtin Kraft tritt (siehe dazu S. 467 unter »Branden-burg«, in diesem Heft). Die Ast., z.T. auchBeschwerdef. im sog. LER-Verfahren, hättennicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar-gelegt, inwieweit sie durch das Gesetz in ihrenGrundrechten beeinträchtigt würden. Erst rechtfehlten Angaben zu den angeblich schwerenNachteilen, die den Erlass einer einstw.Anordnung als dringend geboten erscheinenließen. Zudem sei in erster Linie das LVerfGberufen, ein Landesgesetz zu überprüfen.

(aus: Pressemitt. des BVerfG Nr. 70/02)

BVerfG: Unzulässige Richtervorlage zur Heilungfehlerhafter Zweckverbände in Sachsen-Anhalt

Nach der deutschen Einheit hatten sich vieleder kleinen Gemeinden in den neuen Ländernzu Abwasserzweckverbänden zusammenge-schlossen. Aufgrund von Gründungsfehlernwurde in Sachsen-Anhalt die Mehrzahl derZweckverbände als rechtlich unwirksamangesehen. Nachdem ein sog. 1. HeilungsGdiesen Zustand nur begrenzt beheben konnte,erließ der Landesgesetzgeber 1997 ein 2. Hei-lungsG, wonach auch vor dem 16.10.1992fehlerhaft gegründete Zweckverbände alswirksam gegründet gelten. Das VG Halle/Saale hält dieses Gesetz u.a. deshalb fürverfassungswidrig, weil die rückwirkendeHeilung das schutzwürdige Vertrauen derGemeinden in die Unwirksamkeit der Ver-bandsgründung verletze.Mit Beschl. v. 23.7.2002 (2 BvL 14/98) hat dasBVerfG den Vorlagebeschluss für unzulässigerklärt. Das VG habe weder in der gebotenenWeise dargetan, dass es auf die Gültigkeitdes 2. HeilungsG für die Entscheidung desAusgangsverfahrens ankomme, noch habees die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzeshinreichend geprüft. Die anfänglich einver-nehmliche Verbandsgründung spreche entge-gen der Auffassung des VG für ein Vertrauender Gemeinden in deren Rechtswirksamkeit.Nach Bekanntwerden der Gründungsfehlerhabe sich ein schutzwürdiges Vertrauen indie Beständigkeit eines bestimmten Rechts-zustands kaum entwickeln können.

(aus: Pressemitt. des BVerfG Nr. 74/02)

BGH: Keine Vollstreckungsabwehr des finanziellüberforderten Bürgen gegen rechtskräftiges Urteil

Erstmals hatte sich der BGH mit der Klageeiner finanziell überforderten Bürgin zu befas-sen, die auf der Grundlage der früheren Rspr.zur Zahlung verurteilt worden war und die

Neue Justiz 9/2002466

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Folgen des gegen sie ergangenen Urteils unterBerufung auf die seither ergangene Rspr. desBVerfG zu beseitigen sucht. Die Kl. war 1992zur Zahlung von ca. 70.000 DM aus einerBürgschaft für Geschäftsverbindlichkeitenihres früheren Ehemanns verurteilt worden.Das Urteil stand damals in Einklang mit derhöchstrichterlichen Rspr. zum Bürgschafts-recht. Mit Beschl. v. 19.10.1993 (BVerfGE 89,214 = NJ 1994, 46 [Leits.] ) hatte das BVerfGdann jedoch ein BGH-Urteil als grundgesetz-widrig aufgehoben, das der Bürgschaftsklagegegen die finanziell überforderte Tochter desHauptschuldners stattgegeben hatte. Mit Urt. v. 11.7.2002 (IX ZR 326/99) entschiedder BGH, dass sich die Kl. nicht auf diese Ent-scheidung des BVerfG stützen könne. Zwarsei die Vollstreckung aus einer unanfecht-baren Entscheidung, die auf einer vom BVerfGfür nichtig erklärten Norm beruht, unzulässig.Der Beschluss des BVerfG habe sich aber ledig-lich auf die fehlende Auseinandersetzung mitden Einwendungen der damaligen Kl. bezo-gen und keine Vorgaben enthalten, unterwelchen Voraussetzungen Bürgschaften finan-ziell überforderter Personen als sittenwidriganzusehen seien. Ihm fehle daher eine norm-einschränkende Aussage als Voraussetzungfür die Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG.Eine Unterlassung der Vollstreckung undHerausgabe des Titels gem. § 826 BGB kommtnach Ansicht des BGH ebenfalls nicht inBetracht. Die Kl. sei im ursprünglichen Pro-zess durch einen Rechtsanwalt vertreten gewe-sen, habe alle zu ihren Gunsten sprechendenArgumente vorbringen können und sich nachZurückweisung ihres PKH-Antrags entschlos-sen, der Klage des Kreditinstituts nicht mehrentgegenzutreten.

(aus: Pressemitt. des BGH Nr. 74/02)

BGH: Einschränkung der Gläubigeransprücheaus Höchstbetragsbürgschaften

Mit Urt. v. 18.7.2002 (IX ZR 294/00) hat derBGH seine Rspr. in BGHZ 77, 256, geändertund damit die Position von Bürgen gestärkt,die sich für Kredite eines Dritten verpflichten.Würden diese eine sog. Höchstbürgschaftübernehmen, dürfe, so der BGH, diese Grenzenicht durch Vertragsklauseln zu ihren Lastenverschoben werden. Im vorliegenden Fallwurde daher eine Formularklausel, nach derdie bekl. GmbH als Bürge nicht nur für dievereinbarte Höchstsumme, sondern zusätz-lich auch für aus den verbürgten Ansprüchenentstehende Zinsen, Provisionen und Kostenaufkommen sollte, gem. § 9 AGBGB (jetzt:§ 307 BGB) für unwirksam erklärt. Der durchFestlegung eines Höchstbetrags vertrags-wesentliche Schutz des Bürgen werde durcheine Erweiterungsklausel weitgehend besei-tigt und begründe für ihn ein nicht mehr kal-kulierbares Haftungsrisiko.

(aus: Pressemitt. des BGH Nr. 78/02)

LANDESGERICHTE

VG Berlin: Sanierungsrechtliche Genehmigungund Mietobergrenzen

Mit Urt. v. 18.7.2002 (13 A 424/01) hat dasVG auf die Klage einer Grundstückseigen-tümerin gegen das Land Berlin entschieden,dass in Sanierungsgebieten behördliche Miet-obergrenzen zum Schutz der angestammtenWohnbevölkerung vor Verdrängung unzuläs-sig sind. Die Kl. hatte sich dagegen gewandt,dass die ihr erteilte sanierungsrechtlicheGenehmigung zur Verbesserung des Woh-nungsstandards auf ihrem Grundstück ineinem Sanierungsgebiet mit der Auflage ver-bunden worden war, bestimmte Mietober-grenzen einzuhalten. Das bekl. Land war derMeinung, in Sanierungsgebieten könne alsrechtmäßiges Sanierungsziel auch der Schutzder Wohnbevölkerung vor Verdrängung ver-folgt werden. Das VG gelangte zu dem Ergeb-nis, dass die §§ 136 ff. BauGB keine Grundlagefür die Formulierung eines solchen Zielsbilden und die Genehmigung von Baumaß-nahmen nicht wegen Verstoßes gegen diesesZiel versagt werden bzw. durch Beifügung einerAuflage »Mietobergrenze« erteilt werden könne.Allerdings könne vom Eigentümer für dieDurchführung von Sanierungsmaßnahmenverlangt werden, dem Sozialplan entspre-chende Vereinbarungen mit den Mietern zutreffen. Wegen grundsätzlicher Bedeutung derSache wurde die Berufung zum OVG, alterna-tiv die Sprungrevision zum BVerwG zugelassen.

(aus: Pressemitt. des VG Berlin Nr. 22/02)

NEUE BUNDESLÄNDER

Berlin und BrandenburgDas erste gemeinsame Kriminallagebild vonBerlin und Brandenburg haben der BerlinerInnensenator Ehrhart Körting und der Bran-denburger Innenminister Jörg Schönbohm imJuli 2002 vorgestellt. Danach wurden im Jahr2001 in Berlin und Brandenburg insges.818.811 Straftaten (ohne Verkehrs- undStaatsschutzdelikte) registriert; davon entfal-len auf Berlin ca. 572.000 und auf Branden-burg rd. 247.000 Straftaten. In beiden Regio-nen wurden damit 13% aller in Deutschlandregistrierten Delikte begangen. Seit einemJahr besteht eine gemeinsame Ermittlungs-gruppe beider Länder, die sich mit der Auf-klärung von Einbrüchen in Einfamilienhäu-ser in Berlin und im Umland befasst undbisher 43 Tatverdächtige ermitteln konnte.

(aus: Berliner Zeitung v. 19.7.2002)

Berlin Mit Gesetz v. 10.7.2002 sind das Landesbeam-tenG idF v. 20.2.1979 (GVBl. S. 368) in den§§ 35, 44, 76 u. 106 sowie das Einkommens-angleichungsG v. 7.7.1994 (GVBl. S. 225) durch

Einfügung eines neuen § 2 geändert worden.Das Gesetz ist im Wesentlichen am 1.7.2002in Kraft getreten. (GVBl. Nr. 25 S. 192)

Das HaushaltsentlastungsG 2002 (HEntG 2002)v. 19.7.2002, im Wesentlichen seit 26.7.2002in Kraft, schafft das gesetzliche Fundamentfür die weitere Umsetzung notwendig gewor-dener Konsolidierungsmaßnahmen. Es ändertzahlreiche Rechtsvorschriften und bestimmtu.a. die Verminderung des Stellenbestands inder Ministerialverwaltung um mind. 20%, dieAngleichung der wöchentl. Arbeitszeit derLandesbeamten (ohne Lehrer) auf einheitlich40 Std. in Berlin und Reduzierungen im Poli-zeibereich außerhalb des Vollzugsdienstes.(GVBl. Nr. 26 S. 199)

BrandenburgDer bisherige Justiz- und Europaminister Prof.Dr. Kurt Schelter ist am 23.7.2002 im Zusam-menhang mit einer Immobilienaffäre vonseinem Amt zurückgetreten. Zur Nachfolgerinwurde am 2.8.2002 die 36-jährige Rechts-anwältin Barbara Richstein ernannt. Sie ist seit1997 Landtagsabgeordnete in Brandenburgund dort Vorsitzende des Rechtsausschusses.

(aus: Berliner Zeitung v. 24.7.2002 u. Pressemitt. des Min. d. Justiz Bbg. v. 14.8.2002)

Mit 3. Gesetz v. 10.7.2002 ist das BbgSchulGv. 12.4.1996 (GVBl. I S. 102) mit Wirkung zum1.8.2002 geändert worden. Die Neuregelungenstehen im Zusammenhang mit dem beimBVerfG anhängigen LER-Verfahren und einemKompromissvorschlag des Gerichts (sieheInform. in NJ 2002, 20), dem die Änderungenim SchulG entsprechen. Danach bleibt LER(Lebensgestaltung–Ethik–Religionskunde)staatliches Pflichtfach. Die Schüler könnensich jedoch zugunsten des Religionsunter-richts von LER abmelden. Am konfessionellenUnterricht sollen i.d.R. mind. 12 Schüler teil-nehmen. Er wird in die regelmäßige Unter-richtszeit integriert und es wird gesichert,dass Schüler daneben den Unterricht im FachLER besuchen können. Religionsnoten wer-den künftig auf Antrag der Kirchen in dasZeugnis aufgenommen; durch Rechtsverord-nung kann bestimmt werden, welche Bedeu-tung diese Note für den Schulabschluss undfür die Versetzung des Schülers hat. (GVBl. INr. 6 S. 55)

Mit Gesetz zur Umsetzung der UVP-Richtlinieund der IVU-Richtlinie im Land Brandenburg undzur Änderung wasserrechtlicher Vorschriften v.10.7.2002, in Kraft seit 16.7.2002, sind u.a.folgende Landesgesetze geändert worden:UmweltverträglichkeitsG, WasserG, Natur-schutzG, StraßenG. (GVBl. I Nr. 7 S. 62)

Durch Bkm. des MdI v. 2., 16., 18. u. 22.7.2002sind die Bildung der neuen Stadt Rheinsberg und

467Neue Justiz 9/2002

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der neuen Gemeinden Gollenberg, Kleßen-Görne,Lenzerwische u. Schenkendöbern mit Wirkungv. 31.12.2002 bzw. der nächsten landesweitenKommunalwahl 2003 genehmigt worden.(ABl. 2002 Nr. 31 u. 33)

Mecklenburg-VorpommernDas LandeshochschulG (LHG M-V) v. 17.7.2002ist am 18.7.2002 in Kraft getreten. Gleichzei-tig trat das LHG M-V v. 9.2.1994 (GVOBl.M-V S. 293) außer Kraft. (GVOBl. M-V Nr. 12S. 398)

Mit 3. ÄndG v. 5.7.2002 wurde § 26 des Ges. zurAusführung des GerichtsstrukturG v. 10.6.1992(GVOBl. M-V S. 314) mit Wirkung v. 1.7.2002aufgehoben. (GVOBl. M-V Nr. 13 S. 439)

Das Untersuchungsausschuss- und Enquete-Kom-missions-Gesetz (UAG/EKG) v. 9.7.2002 löst mitWirkung v. 20.7.2002 das vorläufige Unter-suchungsausschussG v. 10.7.1991 ab. (GVOBl.M-V Nr. 13 S. 440)

Das 1. LVerfGG-ÄndG M-V v. 9.7.2002 ist am20.7.2002 in Kraft getreten. Es ändert die §§ 5,7, 20, 26 u. 29 LVerfGG. Der neu eingefügte§ 29 Abs. 3 bestimmt, das dann, wenn dasLVerfG nicht beschlussfähig ist, eine einst-weilige Anordnung bei besonderer Dringlich-keit erlassen werden kann, wenn mindestensdrei Richter anwesend sind und der Beschlusseinstimmig gefasst wird. (GVOBl. M-V Nr. 13S. 450)

Mit 2. GleichstellungsänderungsG (2. GlÄndGM-V) v. 15.7.2002 sind zum 1.8.2002 die§§ 2a, 4, 11, 12, 13 u. 15 GlG M-V idF der Bkm.v. 27.7.1998 geändert bzw. neu gefasst worden.(GVOBl. Nr. 14 M-V S. 474)

SachsenDie SPD-Fraktion im sächsischen Landtag hateinen Gesetzentwurf zum Gewaltschutz in Fami-lien vorgestellt, der im Herbst in den Landtageingebracht werden und das GewaltschutzGdes Bundes in Sachsen umsetzen soll. Nachdem Entwurf soll die Polizei Gewalttäter fürmaximal 20 Tage aus der Wohnung des Opfersverweisen können. In dieser Zeit könntendie Opfer dann zivilrechtlichen Schutz bean-tragen. Vorgesehen ist auch die Festschrei-bung eines Anspruchs auf Hilfe und Beratungfür die Opfer. Bislang, so die familienpoli-tische Sprecherin Gisela Schwarz, tue sichSachsen schwer mit der Umsetzung von Maß-nahmen gegen häusliche Gewalt.

(aus: Leipziger Volkszeitung v. 17.7.2002)

Mit ÄndG v. 8.7.2002, in Kraft seit 27.7.2002,ist in das SächsPresseG v. 3.4.1992 (SächsGVBl.S. 125) ein neuer § 11a zur Anwendbarkeitdes BundesdatenschutzG eingefügt worden.(SächsGVBl. Nr. 10 S. 204)

Mit dem Sächsischen VergabeG v. 8.7.2002 wirddie Vergabe öffentlicher Aufträge durch kom-munale Auftraggeber geregelt. § 2 bestimmtdie losweise Vergabe; durch die Streuung vonAufträgen sollen Unternehmen der mittel-ständischen Wirtschaft in angemessenemUmfang berücksichtigt werden. Nach § 3 sinddie vom Auftragnehmer angebotenen Leis-tungen grundsätzlich im eigenen Betrieb aus-zuführen. Die Weitergabe von Leistungen anNachunternehmer ist grundsätzlich nur biszu einer Höhe von 50 v.H. des Auftragswertsund nur mit Zustimmung des Auftraggeberszulässig. Das Gesetz tritt am 1.1.2003 in Kraft.(SächsGVBl. Nr. 10 S. 218)

Sachsen-AnhaltDie Justiz hat im 1. Halbj. 2002 in insges. 514Fällen den Versuch einer Einigung über denTäter-Opfer-Ausgleich unternommen. Dabeikonnte in 290 Fällen, die hauptsächlichDelikte von Nötigung, Hausfriedensbruchund Verleumdung betrafen, eine Schlichtungzwischen Täter und Opfer erreicht werden.In 78 Fällen hatten die Opfer, in 34 Fällen dieTäter eine Schlichtung abgelehnt.

(aus: Magdeburger Volksstimme v. 23.7.2002)

Mit 7. Gesetz zur Änderung des SchulG des Lan-des Sachsen-Anhalt v. 26.7.2002 wurde insbes.§ 4 (Grundschule) neu gefasst. Nach Abs. 2 derVorschrift wird die Grundschule mit verläss-lichen Öffnungszeiten geführt. Die Dauer derÖffnung beträgt i.d.R. 5 1/2 Zeitstunden;der Besuch der Eingangs- und Ausgangsphaseist freiwillig. Das Gesetz ist am 1.8.2002 inKraft getreten. Art. 4 des Ges. zur Einführungder Grundschule mit festen Öffnungszeitenv. 24.11.2000 (GVBl. LSA S. 656) bleibtunberührt und gilt entsprechend. (GVBl. LSANr. 40 S. 320)

Die VO über die Zuständigkeiten auf verschiede-nen Gebieten der Gefahrenabwehr (ZustVO SOG)v. 31.7.2002 bestimmt aufgrund § 89 Abs. 3u. 4 Satz 1 SOG idF der Bkm. v. 16.11.2000(GVBl. LSA S. 594) u.a. in § 1 die Zuständig-keiten für die Aufgaben nach dem Versamm-lungsrecht, Vereinswesen und der polizei-lichen Soforthilfe. Die VO ist am 1.8.2002 inKraft getreten; gleichzeitig trat die entspre-chende VO v. 22.3.1995 außer Kraft. (GVBl.LSA Nr. 41 S. 328)

ThüringenDie Landesregierung hat am 23.7.2002 denGesetzentwurf zur Änderung des Juristenausbil-dungsG beschlossen. Damit sollen die durchdas (Bundes-)Gesetz zur Reform der Juristen-ausbildung (siehe dazu S. 465, in diesem Heft)veränderten Vorgaben zügig in Landesrechtumgesetzt werden.

(aus: Pressemitt. des Thür. JustizministeriumsNr. 115/02)

UNIVERSITÄTEN

Universität JenaDie Juristische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität in Jena hat am 4.7.2002 dem Rich-ter des BVerfG Dr. Hans-Joachim Jentsch dieEhrendoktorwürde verliehen. Mit der Verlei-hung ehre die Fakultät nicht nur den ehem.Thüringer Justizminister, sondern zeichneauch in besonderem Maße die Aufbauleistungin der Justiz in Thüringen aus. Als Justiz-minister von 1990-1994 habe Dr. Jentsch zügigdie wesentlichen Schwerpunkte für einemoderne Justizpolitik umgesetzt.(aus: Pressemitt. des Thür. Justizmin. Nr. 111/02)

BERUFSORGANISATIONEN

BundesrechtsanwaltskammerNach einer Analyse der BRAK haben im Jahre2001 von den 8.339 Neuzulassungen 1.117Anwälte im Alter zwischen 27 bis 39 Jahrenihre Zulassung freiwillig wieder zurückgegeben.Dazu der BRAK-Präsident Dr. Dombek: »Wennjunge Anwälte als selbständige Einzelanwältenur über ein monatliches Nettoeinkommenzwischen 1.800 bis 2.000 € verfügen, dannkann dies nicht motivieren. Die durch dieBundesregierung versprochene Gebühren-anpassung ist deshalb dringlicher denn je«.

(aus: BRAK-Pressemitt. Nr. 28/02)

Deutscher AnwaltvereinDie DAV-Landesverbände in den neuen Län-dern haben in einem Schreiben v. 6.8.2002den Bundeskanzler aufgefordert, den Gebühren-abschlag Ost abzuschaffen. In den neuen Län-dern seien zahlreiche Anwaltskanzleien inihrer Existenz gefährdet, was sich auch aufdie damit zusammenhängenden Arbeits- undAusbildungsplätze auswirke. 12 Jahre nach derWiedervereinigung sei es unakzeptabel, diedortige Anwaltschaft weiterhin zu benach-teiligen. Weiter heißt es: »Für die Berufsgruppeder Steuerberater und Wirtschaftsprüfer verzich-tet der Gesetzgeber bereits seit dem 3.10.1990darauf, irgendeine Gebührenreduzierung vor-zusehen. Der Berufsgruppe der Architektenund Ingenieure wurde der Gebührenabschlagnur bis zum 31.12.1992 zugemutet.«

(aus: DAV-Pressemitt. Nr. 25/02)

VERANSTALTUNGEN

75 Jahre Berliner ArbeitsgerichtsbarkeitAm 1.7.1927 trat das ArbGG in Kraft. Das warder Beginn der eigenständigen Arbeitsge-richtsbarkeit in Deutschland, die eng mitder wechselvollen deutschen Geschichte ver-bunden war und ist. 1987 hatte die BerlinerArbeitsgerichtsbarkeit anlässlich ihres 60-jäh-rigen Bestehens eine Festschrift vorgelegt, die

Neue Justiz 9/2002468

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der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozia-lismus diente und den Wiederbeginn nachKriegsende und die besondere Problematiknach Teilung der Stadt dokumentierte.Das 75-jährige Jubiläum der Berliner Arbeits-gerichtsbarkeit wurde am 1.7.2002 mit einemFestakt im Roten Rathaus begangen. NachGrußworten des Regierenden Bürgermeistersund des Senators für Arbeit, Wirtschaft undFrauen war der mit viel Beifall bedachteFestvortrag der ehem. Präsidentin des BVerfGProf. Dr. Limbach »Die deutsche Einheit alsHerausforderung der Justiz« (abgedruckt aufS. 453 ff., in diesem Heft) der Zeit der Wendegewidmet. Als Berliner Justizsenatorin hattesie die »Sonderlösung« für die zum 3.10.1990aufgelösten Ostberliner Gerichte mitgetragenund umgesetzt. Dem schloss sich eine Podiumsdiskussion zurZukunft des Arbeitsrechts im Spannungsfeldzwischen Flexibilisierung der Arbeitsbedin-gungen und sozialer Sicherung an. Bundes-arbeitsminister Riester vertrat die Ansicht, dieGesetzgebung habe in jüngerer Zeit einenentscheidenden Beitrag zur Flexibilisierunggeleistet, die Wirtschaft greife nur nicht allesauf. Als Beispiel nannte er die durch das Teil-zeit- und BefristungsG geschaffene stark erleich-terte Möglichkeit zur befristeten Einstellungälterer Arbeitnehmer, die sich nicht entspre-chend ausgewirkt habe. Abstriche beim Kün-digungsschutz lehnte er ab. Herr Dr. Fischervom Verband der Metall- und Elektroindustrie

in Berlin und Brandenburg beklagte dagegendas zu starre Arbeitsrecht mit dem Beispiel,dass Unternehmen ihre Kunden nicht zu denvon ihnen vorgegebenen Zeiten bedienenkönnten, weil die gesetzlichen Arbeitszeit-regelungen nicht flexibel genug seien. MehrArbeitsplätze könnten nur durch größereFlexibilisierung geschaffen werden. Die Vor-sitzende des Landesbezirks Berlin/Branden-burg der Vereinigten Dienstleistungsgewerk-schaft ver.di Frau Stumpenhusen ging ganzaktuell auf die Vorstellungen der sog. Hartz-Kommission ein, die zu weniger sozialerSicherung und nicht zu mehr Arbeitsplätzenführen würden. Der Präsident des BAG Prof.Dr. Wißmann wies eindringlich auf die Bedeu-tung von Tarifverträgen als Selbstregulie-rungsinstrument hin und betonte die Gren-zen der Arbeitsgerichte, die nicht Recht zuschaffen, sondern zu sprechen hätten.Für das Fachpublikum, das keine Gelegenheitzum Mitdiskutieren hatte, ergaben sich keinewesentlich neuen Einsichten. Insbes. die Rich-ter und Richterinnen der Arbeitsgerichtsbarkeitwerden täglich mit den unterschiedlichenVorstellungen und Ansprüchen konfrontiert,die die Prozessparteien und ihre Vertreter an dasmaterielle Arbeitsrecht und seine Anwendungdurch die Gerichte haben. Dabei wird nichtimmer bedacht, dass Gesetze in diesem Bereichstets einen gerechten Ausgleich zwischen denberechtigten Interessen der Wirtschaft und denschützenswerten Belangen der Arbeitnehmer

suchen müssen und der Korrektur gesetzlicher,nicht als geglückt angesehener Vorschriftenbei der Anwendung durch die Gerichte ver-fassungsrechtliche Grenzen gesetzt sind.Auch zu diesem Jubiläum wurde eine Fest-schrift herausgegeben. In zahlreichen Auf-sätzen von Richtern und Richterinnen ausOst und West und von mit der Gerichtsbarkeitverbundenen Personen werden die Situationvor der politischen Wende, die Zeit in derDDR vom Nov. 1989 bis zum 3.10.1990, dieEntwicklung danach, die Auswirkungen aufdas Arbeitsrecht und die Arbeitsgerichts-barkeit dargestellt. Gleichzeitig mit dem Fest-akt ist eine Ausstellung im Gerichtsgebäudeam Magdeburger Platz eröffnet worden.(mitgeteilt von VorsRinLAG Ingrid Weber, Berlin)

PERSONALNACHRICHTEN

BundesgerichtshofAm 29.7. und 5.8.2002 sind am BGH vierneue Richter ernannt worden. Rechtsanwaltam BGH Dr. Alfred Bergmann und der VorsRiam LG Lübeck Wolfgang Neskovic wurden demIX. Zivilsenat, der Vizepräsident des LGZwickau Erwin Hubert dem 3. Strafsenat undder Ministerialrat im BMJ Dr. Jürgen Schmidt-Räntsch dem V. Zivilsenat zugewiesen. DenVorsitz im I. Zivilsenat hat RiBGH Dr. Wolf-Dieter Dressler übernommen.

(aus: Pressemitt. des BGH Nr. 79, 81 u. 82/02)

469Neue Justiz 9/2002

Petitionsbericht 2001

Der Petitionsausschuss des Bundestags hat im Juni 2002 den Bericht über seineTätigkeit im Jahre 2001 (BT-Drucks. 14/9146) vorgelegt. Im Folgenden werdendaraus insbesondere die Passagen abgedruckt, die Anliegen zu Rechtsproblemenin den neuen Bundesländern betreffen.

1. Allgemeine Bemerkungen über die Ausschussarbeit1.1 Anzahl und Schwerpunkte der Eingaben

15.765 Eingaben gingen im Jahr 2001 beim Petitionsausschuss ein. Durch-schnittlich 63 Eingaben erreichten den Petitionsausschuss mithin proArbeitstag (250) in Berlin. Gegenüber 20.666 Eingaben im Vorjahr ist eineAbnahme der Neueingänge um 4.901 (23,7%) zu verzeichnen.

Die Gesamtzahl der abschließend behandelten Petitionen betrug imJahr 2001 17.550 gegenüber 13.344 im Jahr 2000, was einer Zunahme um31% entspricht. …

Betrachtet man die Verteilung der Petitionen auf die einzelnen Bundes-ministerien, so ist nach wie vor das Bundesministerium für Arbeit undSozialordnung (BMA) mit 5.029 Petitionen das Ressort mit den bei weitemmeisten Eingaben. Gemessen am Gesamtvolumen der eingegangenenPetitionen entfallen nahezu 32% der Eingaben, im Vorjahr immerhin nochüber 44%, auf das BMA. Über das zweithöchste Aufkommen verfügt dasBundesministerium der Justiz (BMJ) mit 2.443 Eingaben, gefolgt vomBundesministerium für Gesundheit (BMG) mit 1.452 und dem Bundes-ministerium der Finanzen (BMF) mit 1.447 Eingaben …

Bei Massen- und Sammelpetitionen dominierten die Themenbereicherentenrechtliche Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR, Forde-rung nach dem Atomausstieg, Forderung nach Herabsetzung des im

OzonG festgelegten Grenzwerts und verfassungsmäßige Sonderstellungdes Sonntags.

Die Anzahl der Bitten zur Gesetzgebung beläuft sich auf 6.466 gegenüber11.251 im Jahr 2000. Im Verhältnis zu den Beschwerden, also den Ein-gaben, die sich gegen das konkrete Handeln einer Behörde richten, derenZahl im Jahr 2001 9.299 betrug, hat wieder eine Umkehrung des im Jahr2000 festgestellten Trends stattgefunden, als die Legislativpetitionen über-wogen. Die Bitten zur Gesetzgebung machen im Berichtszeitraum 41% derNeueingänge aus, die Beschwerden 59%. …

Das Land mit den wenigsten Eingaben, nämlich mit 101, ist im Jahr2001 der Freistaat Bayern. Am eingabefreudigsten haben sich auf Bundes-ebene die Berliner mit 532 Eingaben pro eine Million der Bevölkerunggezeigt. …

Eine große Anzahl der sonstigen Eingaben stand im Berichtsjahr imZusammenhang mit den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten vonAmerika in New York und Washington am 11.9.2001. Viele besorgte Bür-gerinnen und Bürger beanstandeten die vom Deutschen Bundestagbeschlossene politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützungder USA zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Sie befürchte-ten eine Eskalation der Gewalt, der viele unschuldige Menschen zum Opferfallen könnten. Der Deutsche Bundestag wurde deshalb aufgefordert, sichbei seinen weiteren Entscheidungen über konkrete Maßnahmen des Bei-stands künftig vom Willen der Bürgerinnen und Bürger leiten zu lassen.

Das Sekretariat des Petitionsausschusses verwies in seiner Antwort aufdie gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben erfolgten Beschlüsse desDeutschen Bundestags, mithin dem von den gewählten Volksvertreterngeäußerten Willen des Volkes im Anti-Terror-Kampf.

Im Jahr 2001 erreichten den Petitionsausschuss auch zunehmendEingaben per E-Mail. Nach der geltenden Rechtslage genießen Petitionenden Schutz des Art. 17 GG nur, wenn sie schriftlich eingereicht werden,

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Neue Justiz 9/2002470

worunter die eigenhändige Namensunterschrift oder Unterzeichnungmittels notariell beglaubigten Handzeichens zu verstehen ist. Eingabenohne Unterschrift sind nach ganz herrschender Meinung vom Grund-rechtsschutz ausgespart. Dementsprechend hat der Petitionsausschuss aufder Grundlage des § 110 Abs. 1 der GeschäftsO des Deutschen Bundestagsin seinen Verfahrensgrundsätzen auch vorgesehen, dass Petitionen schrift-lich einzureichen sind und die Schriftform nur bei Namensunterschriftgewahrt ist. Die Einsender von E-Mails wurden daher, sofern es sich umneue Eingaben handelte, gebeten, die Eingabe unter vollständiger Angabeihrer Anschrift unterschrieben erneut an den Petitionsausschuss zu senden.Um sich dem Trend der stärkeren Nutzung der neuen Kommunikations-technologien nicht zu verschließen, hat der Petitionsausschuss allerdingsim Dez. 2001 eine Änderung des Internetangebots des Deutschen Bundes-tags dahingehend veranlasst, dass auf der Startseite www.bundestag.deunter der Rubrik »Kontakt« eine Hilfestellung zur Einreichung einerPetition gegeben und ein Formular zum Herunterladen aus dem Netz zurVerfügung gestellt wird. Dieses Formular soll dem potenziellen Petentendie Einreichung einer Petition erleichtern. Deshalb sieht das Formular einGrundgerüst an strukturierten Angaben zur Person und zu dem Anliegenvor. Die den Petitionsausschuss seit Aufnahme dieses Angebots erreichen-den Eingaben lassen eine positive Resonanz erkennen.

2. Anliegen der Bürger2.3 Bundesministerium der JustizIm Berichtszeitraum blieb die Zahl der Eingaben zum Geschäftsbereich desBMJ mit 2.443 konstant hoch. Wie im Vorjahr betraf ein großer Teil derEingaben den Bereich des Versorgungsausgleichs. Davon wandten sicheinerseits viele gegen die entsprechenden geltenden Regelungen. Anderer-seits forderten zahlreiche nach dem Recht der DDR geschiedene Fraueneine rückwirkende Anwendung des Versorgungsausgleichs. Wiederumbildeten Petitionen zu den offenen Vermögensfragen mit der Kritik amSchuldrechtsanpassungsG und der NutzungsentgeltVO einen weiterenSchwerpunkt der Eingaben. Auch führte die im Jan. 2001 in Kraft getreteneAnpassung der unterhaltsrechtlichen Regelbeträge für Kinder an dasExistenzminimum zu einer Vielzahl von Beschwerden von Unterhalts-verpflichteten. Auf das Reformvorhaben zur gleichgeschlechtlichen Part-nerschaft reagierten Petentinnen und Petenten sowohl positiv als auchnegativ.

2.3.1 Forderung nach weiterer Anrechnung des Kindergelds auf den BarunterhaltSeit In-Kraft-Treten der Änderung des § 1612b Abs. 5 BGB am 1.1.2001 darfdas Kindergeld nicht mehr auf den Barunterhalt angerechnet werden,wenn der Unterhaltsverpflichtete außerstande ist, Unterhalt i.H.v. 135%des Regelbetrags nach der Regelbetrag-VO zu leisten.

Gegen diese Neuregelung wurde von einer Vielzahl von Barunterhalts-pflichtigen eingewandt, je niedriger ihre Einkommensgruppen seien, destoweniger komme ihnen das Kindergeld zugute. Die sozial schwächerenwürden gegenüber den besser verdienenden Unterhaltszahlenden benach-teiligt. Der Selbstbehalt sei seit Jahren nicht mehr gestiegen und dessenunterschiedliche Höhe im Osten (1.370 DM) und Westen (1.500 DM) nichtgerechtfertigt. (Siehe dazu auch den Beitrag von F. Böttner, NJ 2001, 169 ff.)

Der Petitionsausschuss kam nach umfassender Prüfung zu dem Ergebnis,dass die Gesetzesänderung notwendig war, da die unterhaltsrechtlichenRegelbeträge für Kinder erheblich unter dem Existenzminimum lagen.Das Kindergeld, das zur Sicherung des Existenzminimums beitragen soll,dürfe nicht durch das Unterhaltsrecht konterkariert werden. Von demUnterhaltspflichtigen war deshalb zu verlangen, das hälftige Kindergeld fürden Unterhalt einzusetzen.

Zur Höhe des Selbstbehalts wies der Petitionsausschuss auf die von denOLG in ihren Leitlinien pauschal gewählten Beiträge hin, welche die Höhedes durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs maßvollübersteigen. Die unterschiedliche Höhe des Selbstbehalts in den neuenund alten Bundesländern beruht auf den noch bestehenden unterschied-lichen durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen.

Der Petitionsausschuss empfahl deshalb, das Petitionsverfahren abzu-schließen, weil er das Anliegen nicht unterstützen konnte.

2.3.3 Ehrenamtliche Rechtsberatung für Flüchtlinge nach dem RechtsberatungsgesetzMit der Bitte um Abschaffung des RBerG wandten sich u.a. Flüchtlingshilfe-organisationen an den Petitionsausschuss, weil sich ihre in der Beratungtätigen ehrenamtlichen Mitarbeiter der strafrechtlichen Verfolgung wegen

Verstoßes gegen das RBerG ausgesetzt sahen. Sie hatten ohne die nachdiesem Gesetz erforderliche Zulassung zur Rechtsberatung rechtlichen Ratund Hilfe gegeben. Die Petenten trugen vor, Flüchtlingen oder im Auslandeinsitzenden Inhaftierten sei es finanziell häufig unmöglich, Rechts-beistand durch zugelassene Anwälte zu erlangen. Zudem verfügten in derjeweiligen Rechtsmaterie eingearbeitete »Laien« häufig über bessere Bera-tungskompetenzen als zugelassene Rechtsanwälte.

Mit der Thematik der generellen Abschaffung des RBerG hatte sich derPetitionsausschuss bereits mehrfach befasst und die Petitionsverfahrenjeweils abgeschlossen. Im Hinblick auf eine im Ausschuss für Menschen-rechte und humanitäre Hilfe vorgesehene Anhörung, in der auch Fragendes Rechtsschutzes von Flüchtlingen zu erörtern waren, hat der Petitions-ausschuss dort um Stellungnahme zum Anliegen des Petenten gebeten.Ferner wurde die Enquete-Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichenEngagements« des Deutschen Bundestags um Stellungnahme gebeten.

Danach sah der Petitionsausschuss hinsichtlich der Forderung nacheiner Abschaffung des RBerG keine Gesichtspunkte, von seiner bisherigenEntscheidung abzuweichen. Nach Auffassung des Petitionsausschusses istdas Recht eine sehr umfangreiche und komplizierte Materie. Eine verläss-liche Beratung kann deshalb nur von ausgebildeten Fachleuten vorge-nommen werden. Ohne das RBerG hätte der Rechtsuchende keine Gewähr,von einem juristisch qualifizierten und unabhängigen Rechtsexperten zuseinen Gunsten beraten zu werden. Eine Abschaffung des RBerG hielt derPetitionsausschuss deshalb für nicht angezeigt. Zugleich zeigte die Petitionjedoch auch, dass sich das Anwaltsmonopol nach seiner derzeitigen Aus-gestaltung im RBerG und seiner Anwendung durch Behörden und Gerichtehemmend und nachteilig auf bürgerschaftliches Engagement auswirkenkann. …

2.3.4 Anhaltende Kritik am Schuldrechtsanpassungsgesetz und an der NutzungsentgeltverordnungIn mehr als 350 Petitionen haben einzelne Betroffene, aber auch Bürger-initiativen, Interessenvertreter von Wochenendsiedlungen, Bungalow-gemeinschaften oder Garagengemeinschaften die nach der derzeitigenRechtslage aus ihrer Sicht bestehende Benachteiligung der Inhaber vonNutzungsrechten auf Freizeit- und Erholungsgrundstücken sowie Garagen-grundstücken gegenüber den Grundstückseigentümern in den neuenLändern beklagt. Sie trugen vor, es fehle an einer gesetzlichen Konkreti-sierung zur Ermittlung der Nutzungsentgelte insbes. zur Ortsüblichkeit.Eine eindeutige gesetzliche Regelung sei hier zwingend, zumal es sichhäufig um große Waldgrundstücke handele, die nur in einem Teilbereich,der von den Nutzern erschlossen worden sei, nutzbar wären, Entgelte aberauf die gesamte Grundstücksfläche erhoben würden. In diesen Fällen müsseden Nutzern ein Kündigungsrecht für abtrennbare Teilflächen des Gesamt-grundstücks eingeräumt werden. Ferner bedürfe es folgender Neuregelung:– Entschädigungspflicht der Grundstückseigentümer für vom Nutzer

erstellte Gebäude- und Grundstückswert erhöhende sonstige Maßnah-men (Erschließung/Zuwegung etc.) auch im Falle der Kündigung desNutzungsvertrags durch den Nutzer,

– Befreiung von der Übernahme der Abbruchkosten bei Kündigung desNutzungsvertrags,

– Übertragbarkeit der Nutzungsrechte bzw. des Eigentums an Gebäudenauf Dritte durch Verkauf oder Erbfall.

Die Verwerfungen würden deutlich, wenn man sich vor Augen hielte, dassnach Schätzungen der Petenten mit Ablauf der befristeten Entschädi-gungspflicht für Garagengrundstücke zum 1.1.2007 ein Vermögen alleinan Garagen im Wert von ca. 375 Mio. Euro, bei Erholungs- und Freizeit-grundstücken im Jahr 2022 gar Milliardenwerte entschädigungslos an dieBodeneigentümer fallen würden, wenn nicht der Gesetzgeber noch ein-schreitet. …

Im Hinblick auf das zum Zeitpunkt der Beratung im Petitionsausschussnoch laufende Gesetzgebungsverfahren nahm er die Petition zum Anlass,sie dem BMJ als Material zu überweisen und den Fraktionen zur Kenntniszuzuleiten, um sie in die parlamentarischen Erörterungen zum Gesetzent-wurf einzubeziehen. (Zum zwischenzeitlich am 1.6.2002 in Kraft getretenenGes. zur Änderung des SchuldrechtsanpassungsG siehe H. Matthiessen, NJ 2002,228 ff.)

2.3.6 Forderung nach Versorgungsausgleich für Ehen, die vor 1992 in den neuen Bundesländern geschieden wurdenDas Recht des Versorgungsausgleichs ist im Beitrittsgebiet am 1.1.1992wirksam geworden. Zahlreiche geschiedene Ehefrauen in den neuenBundesländern fühlten sich dadurch benachteiligt. Während der Zeit der

Dokumentat ion Pet i t ionsber icht 2001

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471Neue Justiz 9/2002

Kindererziehung hätten sie nur Teilzeit oder mangels Krippenplatz über-haupt nicht arbeiten können oder seien wegen der Betreuung der Kindernur Hausfrauen gewesen. Zugunsten der Familie hätten sie auf eine eigeneKarriere verzichtet. Ihre Ehemänner seien durch Studium und Weiterbil-dung zu qualifizierten Berufen gelangt und erhielten ansehnliche Rentenbzw. Rentenansprüche.

Mit dieser Thematik war der Petitionsausschuss bereits wiederholtbefasst. Er hatte jeweils empfohlen, das Petitionsverfahren abzuschließen,weil er eine rückwirkende Einführung des Versorgungsausgleichs fürverfassungsrechtlich bedenklich erachtete. Die erneute parlamentarischePrüfung führte zu keinem anderen Ergebnis.

Der Versorgungsausgleich bewirkt eine eheinterne Versorgungsum-verteilung. Der Versorgungserhöhung des einen früheren Ehegatten stehtimmer die Versorgungsminderung des anderen früheren Ehepartnersgegenüber. Die Anwendung des Versorgungsausgleichs auf Ehen, die vor1992 in den neuen Bundesländern geschieden wurden, würde Recht rück-wirkend in Kraft setzen. Dies ist nach st.Rspr. des BVerfG mit dem Gebotder Rechtsstaatlichkeit, zu deren besonderen Bestandteilen die Rechts-sicherheit gehört, die ihrerseits für den Bürger Vertrauensschutz bedeutet,nicht vereinbar.

Eine Anwendung des Versorgungsausgleichs auf Ehescheidungen vordem 1.7.1977 würde zudem eine Ungleichbehandlung gegenüber dennach westdeutschem Recht Geschiedenen zur Folge haben, da erst seitdiesem Zeitpunkt die Regelungen des Versorgungsausgleichs in den altenBundesländern in Kraft sind.

Aus diesen Erwägungen empfahl der Petitionsausschuss, das Petitions-verfahren abzuschließen. Die Beschlussempfehlung wurde vom DeutschenBundestag angenommen. (Siehe dazu die Beiträge von Heinke/Fuchsloch,Eichenhofer und Eberhardt, NJ 2002, 113 ff., 225 ff. u. 342 ff.)

2.7 Bundesministerium für Arbeit- und Sozialordnung Wie in den Vorjahren entfiel der überwiegende Teil der Eingaben zurSozialversicherung auf den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung.Hierzu lagen dem Petitionsausschuss ca. 3.300 Eingaben vor. …

Bei den Eingaben aus den neuen Bundesländern bildeten weiterhin dieEingaben einen wesentlichen Schwerpunkt, mit denen die Überführungder Rentenansprüche der ehem. Beschäftigten der Deutschen Reichsbahnund der Deutschen Post in die gesetzliche Rentenversicherung kritisiertsowie die Umsetzung der Urteile des BSG v. 10.11.1998 (NJ 1999, 389 ff.)und die Anerkennung des erhöhten Steigerungssatzes von 1,5 v.H. – auchfür Beschäftigte im Gesundheitswesen der ehem. DDR – gefordert wurde. …

Da das Anliegen der ehem. Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn undder Deutschen Post den von der Bundesregierung zwischenzeitlich einge-brachten Entwurf eines 2. AAÜG-ÄndG (BT-Drucks. 14/5640) betraf, derdem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestagsebenfalls … überwiesen worden war, hat der Petitionsausschuss diesenAusschuss auch insoweit um Stellungnahme gebeten.

Das 2. AAÜG-ÄndG ist am 2.8.2001 verkündet worden. (Siehe dazu denErläuterungsbeitrag von B. Heller, NJ 2001, 350 ff.) Zumindest hinsichtlichder rentenrechtlichen Berücksichtigung von Arbeitsverdiensten für dieZeit vom 1.3.1971 bis 30.6.1990 hat dieses Gesetz Verbesserungen für vieleBetroffene gebracht. Eine abschließende Beratung der Eingaben im Peti-tionsausschuss – auch hinsichtlich des Steigerungssatzes von 1,5 v.H. fürBeschäftigte der Bahn, der Post und im Gesundheitswesen – war bis zumAblauf des Berichtsjahres nicht mehr möglich.

Nach wie vor erreichten den Petitionsausschuss zahlreiche Eingaben ausden neuen Bundesländern, in denen – weitgehend unter Berufung auf dieEntscheidungen des BVerfG v. 28.4.1999 (NJ 1999, 356 ff.) – verschiedenerentenrechtliche Begrenzungsregelungen des AAÜG für ehem. Angehörigeder Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR, darunter auch desSonderversorgungssystems des MfS/AfNS, kritisiert wurden. Da die Umset-zung der genannten Entscheidungen des BVerfG im 2. AAÜG-ÄndG vor-gesehen war, hat der Petitionsausschuss den federführenden Ausschuss fürArbeit und Sozialordnung auch insoweit um Stellungnahme gebeten. Dasam 2.8.2001 verkündete 2. AAÜG-ÄndG hat einige Regelungen getroffen,die den verschiedenen Forderungen der Petenten weitgehend entspre-chen, wobei der Gesetzgeber hinsichtlich der Entgeltbegrenzungen fürehem. Mitarbeiter des MfS/AfNS nicht über die Mindestvorgaben desBVerfG hinausgegangen ist. Zu einer Beratung der Petitionen im Petitions-ausschuss ist es im Jahre 2001 nicht mehr gekommen.

Wie in den Vorjahren war der Petitionsausschuss auch im BerichtsjahrAdressat zahlreicher Eingaben aus den neuen Bundesländern, mit deneneine Angleichung der unterschiedlichen aktuellen Rentenwerte in den

neuen und alten Bundesländern gefordert wurde. Die Petenten konntennur auf die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses aus dem Jahre2000 verwiesen werden, wonach sich der Ausschuss nicht in der Lage sehe,das Anliegen der Petenten zu unterstützen. Der Petitionsausschuss hatte inseiner Beschlussempfehlung in den Vordergrund gestellt, dass eine solcheAngleichung untrennbar an die tatsächliche Angleichung der Einkommender aktiv Beschäftigten gekoppelt sei. Eine Angleichung der aktuellen Renten-werte unabhängig von der Entgeltentwicklung würde insbes. eine Besser-stellung gegenüber den Rentnern in den alten Bundesländern bedeutenund sei daher rechtlich und sozialpolitisch problematisch.

Ferner wandten sich wiederum mehrere Petenten aus den neuen Bun-desländern mit der Forderung an den Petitionsausschuss, Bergmannsren-ten nach dem Recht der ehem. DDR auch für Fälle mit Rentenbeginn nachdem 31.12.1996 zu gewähren. Der Ausschuss für Wirtschaft und Techno-logie hat den Antrag der Fraktion der PDS »Gleichstellung der von Struk-turkrisen betroffenen Bergleute in Ost und West« (BT-Drucks. 14/2385)bereits in seiner Sitzung am 21.11.2000 abschließend beraten und abge-lehnt. Das Anliegen der Petenten hat somit im Zuge der Beratungen diesesAusschusses keine Berücksichtigung gefunden. Da aufgrund neuer Anlie-gen weiterer Petenten entsprechende Ermittlungen beim zuständigenRessort einzuleiten waren, die sich nicht kurzfristig abschließen ließen, wareine Beratung im Petitionsausschuss bis zum Ablauf des Berichtsjahresnicht mehr möglich.

Zunehmend wurden die Regelungen zur Anhebung der Altersgrenzenbei den vorgezogenen Altersrenten und die damit verbundenen Renten-abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme kritisiert. Der Petitionsaus-schuss hat auch in diesen Fällen eine Stellungnahme des mit der Renten-reform befassten Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung angefordert.Zu einer Beratung der Petitionen im Petitionsausschuss ist es im Jahre 2001nicht mehr gekommen.

Mehrere Petenten aus den neuen Bundesländern traten an den Peti-tionsausschuss mit der Bitte heran, nachträglich so gestellt zu werden, alsob ihnen in der ehem. DDR eine Versorgungszusage für das Zusatzversor-gungssystem nach Nr. 1 der Anl. 1 zum AAÜG (technische Intelligenz)erteilt worden sei. Hier wird nach der Rspr. des BSG im Einzelfall entschei-dend darauf abzustellen sein, ob die Petenten aufgrund ihres Ausbil-dungsabschlusses, der Art ihrer Tätigkeit und ihrer Betriebszugehörigkeitdamit rechnen durften, eine Versorgungszusage zu erhalten. Dieser Kom-plex bedarf einer eingehenden Überprüfung durch den Petitionsausschuss;die hierzu erforderlichen Ermittlungen hat er im Jahre 2001 eingeleitet.(Siehe dazu die Urteile des BSG v. 12.6.2001, NJ 2001, 612 ff.)

Neben diesen und anderen Eingaben mit gesetzgeberischen Anliegenwurde in mehr als 560 Petitionen Beschwerde über die Arbeitsweise derRentenversicherungsträger und die Rentenberechnung im Einzelfallgeführt.

Den Petitionsausschuss erreichten im Berichtsjahr etwa 130 Eingabenzur gesetzlichen Unfallversicherung. Dabei betraf die Mehrzahl der Einga-ben Fälle der Anerkennung von Berufskrankheiten oder von Unfallfolgen.

Aufgliederung der Petitionen nach Herkunftsländern

Herkunftsländer auf in v.H. auf in v.H.2001 1 Mill. 2000 1 Mill.

der Bevölkerung der Bevölkerungdes Landes des Landes

Bayern 1.235 101 7,83 1.459 120 7,06Berlin 1.801 532 11,42 2.054 606 9,94Brandenburg 1.097 422 6,96 2.073 797 10,03Bremen 83 126 0,53 85 128 0,41Baden-Württemb. 1.148 109 7,28 1.373 131 6,64Hamburg 242 141 1,54 251 147 1,21Hessen 812 134 5,15 1.080 178 5,23Meckl.-Vorp. 744 419 4,72 1.019 569 4,93Niedersachsen 1.113 140 7,06 1.285 163 6,22Nordrhein-Westf. 2.366 131 15,01 2.749 153 13,30Rheinland-Pfalz 545 135 3,46 534 132 2,58Sachsen-Anhalt 931 356 5,91 2.107 795 10,20Sachsen 1.755 397 11,13 1.807 405 8,74Saarland 117 109 0,74 109 102 0,53Schleswig-Holstein 387 139 2,45 394 142 1,91Thüringen 685 282 4,35 1.513 618 7,32Ausland 704 4,47 774 3,75insgesamt 15.765 100,00 20.666 100,00

Pet i t ionsber icht 2001

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Neue Justiz 9/2002472

Gunther Geserick/Klaus Vendura/Ingo WirthZeitzeuge TodSpektakuläre Fälle der Berliner GerichtsmedizinMilitzke Verlag, 3. Aufl., Leipzig 2002224 Seiten, geb., 19 €

Die Autoren dieses Buchs bringen zusammen ein DreivierteljahrhundertBerufsjahre in der Gerichtsmedizin ein und es gelingt ihnen, die Toten zumReden zu bringen. Die Publikation basiert auf den Aufzeichnungen in denArchivbüchern des Instituts für Rechtsmedizin der Humboldt-Universitiätzu Berlin, das bis Anfang der 90er Jahre den Namen »Institut für Gericht-liche Medizin« trug und das älteste gerichtsmedizinische Institut Deutsch-lands ist. Der zeitliche Bogen ist weit gespannt und reicht von der Kaiser-zeit bis hin zu der Zeit nach der Wiedervereinigung.

Da die Fallschilderungen nicht nur die Erläuterung gerichtsmedizinischerBegriffe, sondern auch die Darstellung historischer Hintergründe umfassen,spiegeln sie zugleich die Geschichte Deutschlands seit der Kaiserzeit wider.So wird im Fall des im Jahre 1904 aus einem Proletarierviertel in Berlinverschwundenen 9-jährigen Mädchens Lucie zum einen dargelegt, wie dieAnwendung des kurz vorher entwickelten Uhlenhuth-Verfahrens zumNachweis von Menschenblut bei gleichzeitiger Abgrenzung vom Tierblutzur Täteridentifizierung beitrug. Zum anderen lassen die über die Zeit desGerichtsverfahrens gegen den Mörder wiedergegebenen sozialkritischenTöne die Bilder von Heinrich Zille zum Hinterhofmilieu in Berlin lebendigwerden, in dem ein solches Verbrechen gedeihen konnte. Serienmörder fin-den sich in jeder historischen Epoche. Insbesondere bei der gerichtsmedi-zinischen Bewertung dieser Obduktionsergebnisse wird deutlich, dass sichdurch die am Tatopfer festgestellten Verletzungen das Tatmotiv (z.B. sexuell-sadistisch) ableiten lässt. In diesem Zusammenhang wird auch auf dieNotwendigkeit der gerichtspsychiatrischen Begutachtung zwecks Rekon-struktion der psychischen Verfassung des Täters zur Tatzeit hingewiesen.

Die Zeit der Weimarer Republik stellt sich aus Sicht der Autoren keines-wegs als demokratisches Musterverhältnis dar, da Straßenkampftote,Fememorde, Attentatsopfer u.a.m. den Gerichtsmedizinern mehr Beschäf-tigung gaben als zuvor und danach, ausgenommen die Nazizeit. DurchObduktionen war bspw. die Heimtücke der von Anhängern des Freikorpsan Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg 1919 begangenen Morde nach-weisbar, da beide durch Kopfschüsse regelrecht hingerichtet wurden.Ähnlich auch der Fall Walther Rathenau: Am 24.6.1922 verübte die rechts-gerichtete Terrorgruppe »Consul« das Attentat auf den Außenminister;von den fünf aus einem fahrenden Auto abgegebenen Schüssen auf den ineinem offenen Wagen fahrenden Rathenau war nach dem Obduktions-ergebnis bereits der erste Schuss tödlich. Die politischen Wirrnisse derWeimarer Republik schlagen sich in den Archivunterlagen u.a. auch überdie dort erfassten 28, am 11.3.1918 vom Freikorps durch Hinterhaltschüsseumgebrachten Matrosen, die beim Kapp-Putsch 1920 in Berlin durch Brust-und Kopfdurchschüsse getöteten politischen Gegner und die zwei Poli-zisten nieder, die am 9.3.1938 am Bülowplatz von Erich Mielke erschossenwurden (LG Berlin, Urt. v. 26.10.1993).

Während der NS-Zeit war das Institut entweder Durchgangsstation oderObduktionsort für Berge von Leichen. Dokumentiert sind u.a. Opfer derKöpenicker Blutwoche 1933, in der etwa 500 Bewohner aus ihren Woh-nungen geholt und in den Folterhöhlen der SA teils bestialisch ums Lebengebracht wurden. Durch die Röhm-Affäre 1934 wurde deutlich, dass sich derMordterror dann auch gegen die eigenen Reihen richtete, wenn es darumging, missliebige Personen und Mitwisser aus der Zeit vor 1933 aus demWeg zu räumen. Hierfür finden sich in den dokumentierten Archiv-unterlagen auch die Namen von Gregor Strasser, Reichspropagandaleiter derNSDAP, und Rechtsanwalt Dr. Edgar Jung aus München. Im Obduktions-protokoll unter der Nr. 1097 des Jahres 1933 ist der Schauspieler Hans Ottoerfasst, der als politischer Gegner festgenommen und dessen Leiche am24.11.1933 mit entsetzlichen Folterverletzungen im Institut eingeliefertworden war.

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs schlägt sich nach Ansicht der Autorendurch eine neue Kategorie von Leichen in den Archivbüchern nieder.Es sind dies Bombenopfer, an Misshandlungen verstorbene KZ-Häftlinge,in Plötzensee (Berlin) hingerichtete Nazigegner und im Freitod aus demLeben geschiedene Bürger. Zu den Letztgenannten gehörten u.a. die Ehe-frau des Malers Max Liebermann und der am 5.11.1941 mit seiner jüdischenEhefrau und seinem Sohn durch Freitod aus dem Leben geschiedeneSchauspieler Joachim Gottschalk. Für die Unmenschlichkeit dieses Systemszeugte es, dass noch wenige Tage vor Kriegsende 15 Personen – darunterKlaus Bonhoeffer, Sohn des weltberühmten Direktors der Nervenklinik derBerliner Charite Prof. Dr. Karl Bonhoeffer – in der Haftanstalt Lehrter Straßedurch Genickschuss hingerichtet und am 24.4.1945 in das Leichenschau-haus gebracht wurden.

Für die Zeit des Kalten Kriegs nach 1945 war dann – wie die Schilderungder Mordfälle der »Todesschwester« Kusian belegen – bezeichnend, dassbspw. bei einer im Ostsektor Berlins aufgefundenen Westberliner Leichemit der Tatverdächtigen aus dem Westsektor zwar noch die Zusam-

menarbeit »auf dem Sektionstisch«, nicht aber die zwischen den einzelnenPolizeipräsidien funktionierte.

Unter dem 17.6.1953 tauchen mit dem Vermerk »Ausnahmezustand«drei Namen mit angegebener Todesursache »Erschießen« auf. Bei den Mauer-opfern findet sich auch der Name des am 17.8.1962 von Grenzsoldatenerschossenen Peter Fechter ebenso wie der des Grenzsoldaten Rolf Henniger,der aus dem Hinterhalt von einem Grenzflüchtling erschossen wurde.

Für den in der DDR tabuisierten Suicid stehen die Namen von General-leutnant a.D. Vincens Müller (Todestag 13.5.1961) und des US-amerikani-schen Schauspielers und Sängers Dean Reed, der 13 Jahre in der DDR lebteund dessen Leichnam nach Bergung aus einem See am 17.6.1986 in dasInstitut gebracht worden war. Obwohl das Obduktionsergebnis bei Reed»Ertrinken unter toxischer medikamentöser Beeinflussung« lautete undauch ein Abschiedsbrief vorlag, hatte man von höchster politischer Stellehier die Unfallversion ausgegeben.

Mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis belegen die internatio-nal anerkannten Autoren, dass sie sich auf zahlreiche gerichtsmedizinischeund historische Veröffentlichungen stützen konnten. Ihnen ist ein Zeit-dokument gelungen, das Kriminalisten, Richter, Staatsanwälte und Rechts-anwälte ebenso anspricht wie Historiker.

Rechtsanwalt Dr. Gerhard Baatz, Torgau

Gesellschaftsrecht für die PraxisAlle Gesellschaftsformen mit steuerlichen Auswirkungen plus Handels- und AktienrechtMemento Verlag, 3. Aufl., Freiburg 20021.340 Seiten, geb., inkl. CD-ROM und Aktualisierungs-Service, 78 €

Mittlerweile liegt bereits in 3. Auflage das Memento-Rechtshandbuch»Gesellschaftsrecht für die Praxis« vor, das sich nach dem Anspruch desVerlags insbesondere an die Berater sowie die Geschäftsführer, Vorständeund Gesellschafter der verschiedenen Arten von Gesellschaften richtet.Der konzeptionelle Aufbau ist diesem Anspruch verpflichtet. Entsprechendweniger geeignet ist das Handbuch zur Lösung von forensischen Frage-stellungen, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Autoren mitVerweisen auf Rechtsprechung und weiterführende Literatur sparsamumgehen. Dadurch gewinnt das Handbuch zwar in punkto Lesbarkeit, ver-langt dem Nutzer jedoch die Fähigkeit ab, selbstständig bei speziellen Fall-gestaltungen ergänzende Literatur und Rechtsprechung hinzuzuziehen.

Weiterhin beschränken sich die Autoren darauf, den gesellschaftsrecht-lich umfassenden Überblick mit steuerrechtlichen Darstellungen zu ergän-zen. Für die Beratungspraxis sinnvoll wäre eine Anreicherung um arbeits-und sozialversicherungsrechtliche Aspekte, soweit sie eng mit dem Gesell-schaftsrecht zusammenhängen, z.B. Ausführungen zur Sozialversiche-rungspflicht von GmbH-Geschäftsführern.

Lobenswert ist, dass auch der mit dem Gesellschaftsrecht nicht jeden Tagbefasste Nutzer einen guten Überblick hinsichtlich der wirtschaftlichenBelange des Unternehmens erhält. Die Autoren machen sich die Mühe, dieverschiedenen gesellschaftsrechtlichen Formen im Hinblick auf die prak-tische Handhabung zu vergleichen. Die detaillierte, über die verschiedenenKapitel reichende Vergleichstechnik bringt differenzierte Ergebnisse zuTage, die Entscheidungshilfen sind.

Deutlich wird, dass gesellschaftsrechtliche Entscheidungen häufig engmit steuerrechtlichen Fragestellungen zusammenhängen und mehrereAlternativen zulassen. Die behutsame Berücksichtigung steuerrechtlicherProbleme gelingt sehr gut, da auf zu spezielle Begriffe verzichtet wird unddie Darstellung eines Überblicks im Vordergrund steht. An dieser Stellewirkt der Verzicht auf umfangreiche Fundstellen als Gewinn.

Im Anhang und zugleich auf der beiliegenden CD-Rom sind verschie-dene Formulare, insbesondere Vertragsentwürfe, enthalten. Auch hierfindet eine Beschränkung auf das Wesentliche statt. Dies dürfte sich jedochnicht als Hindernis herausstellen, da diese Verträge um spezielle Verein-barungen durch den jeweiligen Nutzer ergänzt werden können.

Zwischenzeitlich ist für Handbücher, soweit sie über Formularteileverfügen, die Beilage einer CD-ROM unverzichtbar geworden. Das vorlie-gende Handbuch geht einen Schritt weiter. Die CD-ROM bietet eine Ver-knüpfung zwischen den im Buchformat befindlichen Informationen undhilf- und umfangreichen Zusätzen. Neben einschlägigen Gesetzestextenfindet sich eine Vielzahl von Urteilen. Weiterhin kann der Nutzer über dieCD-ROM in einer geschlossenen Benutzergruppe im Internet recherchieren.Der Nutzer erhält dann mittels eines e-mail-Service die Aktualisierungen.

Eine Vernetzung mit den anderen Memento-Rechtshandbüchern »Per-sonalrecht« und »Steuerrecht« ist vorhanden. Für Leser wie dem Rezen-senten, die dem Papier den Vorzug geben, stellt die Hinwendung zum PCeine Herauforderung dar, der man nicht ausweichen kann. Das Handbuchleistet dabei auch dem PC-Skeptiker durchaus wertvolle Hilfe.

Rechtsanwalt Benjanim Ehlers, Calau

Rezens ionen

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473Neue Justiz 9/2002

01 VERFASSUNGSRECHT

� 01.1 – 9/02

PKH-Verfahren/Schadenersatz nach ZGB/Arzthaftung/Gesundheits-schaden in DDR/Verjährung/Rechtsstaatsprinzip/GleichbehandlungBVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 7. Mai 2002 – 1 BvR 1699/01

GG Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 3, 103 Abs. 1; EGBGB Art. 231 § 6;ZGB § 475 Nr. 2 u. 3

Ob § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB auf vertragliche Schadenersatzansprüchewegen Gesundheitsschäden analog anzuwenden ist, ist in der höchst-richterlichen Rechtsprechung noch nicht geklärt. Die Beantwortungdieser schwierigen Rechtsfrage muss einem Verfahren in der Haupt-sache vorbehalten bleiben und darf nicht im PKH-Verfahren entschie-den werden. (Leitsatz der Redaktion)

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein PKH-Verfahren. Die Beschwerdef. will im Klageverfahren Schadenersatz wegen einer

ärztlichen Behandlung in der DDR vom 25.11.1985 bis zum 20.2.1986geltend machen. Sie sei während dieser Zeit ohne ihr Wissen undgegen ihren Willen mit Psychopharmaka behandelt worden, was zubleibenden Schäden geführt habe.

Das LG Berlin wies ihren PKH-Antrag mangels ausreichender Erfolgs-aussichten zurück und führte zur Begründung u.a. aus: Ein Zahlungs-anspruch sei jedenfalls verjährt. Nach dem einschlägigen Recht derDDR seien im Falle ärztlicher Fehlbehandlung ausschließlich ver-tragliche Ansprüche in Betracht gekommen. Gem. § 475 Nr. 3 ZGB seifür den Beginn der für vertragliche Ansprüche geltenden vierjährigenVerjährungsfrist derjenige Zeitpunkt maßgeblich gewesen, zu dem derAnspruch objektiv hätte geltend gemacht werden können. Demgegen-über habe nach § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB die Verjährungsfrist außer-vertraglicher Ansprüche erst dann zu laufen begonnen, wenn derGeschädigte positive Kenntnis vom Schaden und von der Persondes Schädigers erlangt habe. Der BGH habe offen gelassen, ob die inder Rechtsliteratur der DDR erwogene analoge Anwendung dieserVorschrift auf vertragliche Schadenersatzansprüche wegen Gesund-heitsschäden in Betracht komme. Nach Auffassung der Kammer seimaßgeblich auf die Rechtspraxis in der ehem. DDR abzustellen. Dieselasse indes eine analoge Anwendung des § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB aufFälle der vorliegenden Art nicht erkennen. Somit sei ein vertraglicherSchadenersatzanspruch verjährt; die vierjährige Verjährungsfrist habeunmittelbar nach Abschluss der ärztlichen Behandlung im Febr. 1986zu laufen begonnen und daher noch vor dem Wirksamwerden desBeitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland geendet (Art. 231§ 6 Abs. 1 Satz 1 EGBGB).

Das KG wies am 30.8.2001 die Beschwerde gegen den LG-Beschlusszurück: Das LG sei zu Recht von einem vertraglichen Anspruch aus-gegangen. Der Senat schließe sich auch der Auffassung des LG an,dass allein die Verjährungsvorschrift des § 475 Nr. 3 ZGB einschlägigsei. Demnach sei ein vertraglicher Schadenersatzanspruch verjährt.Verjährung wäre aber auch eingetreten, wenn sich die Beschwerdef.auf einen außervertraglichen Anspruch berufen könnte.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdef. die Verlet-zung von Art. 3 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 3 und 103 Abs. 1 GG.

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen: II. … Der Beschluss des KG … verletzt die Beschwerdef. in ihremGrundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip. Diefür die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragenhat das BVerfG bereits entschieden (…).

1. a) Aus Art. 3 Abs. 1 GG iVm dem in Art. 20 Abs. 3 GG allgemeinverankerten Rechtsstaatsprinzip folgt das Gebot einer weitgehenden

Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei derVerwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 [117 f.] …).So darf die »hinreichende Aussicht auf Erfolg« des Rechtsschutz-begehrens iSd § 114 ZPO nicht unter Beantwortung schwieriger,bislang nicht geklärter Rechtsfragen verneint werden. Dadurch würdeder unbemittelten Partei im Gegensatz zur bemittelten die Möglich-keit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahrendarzustellen und ggf. von dort aus in die höhere Instanz zu bringen(vgl. BVerfGE 81, 347 [357 ff.]).

b) Diese Grundsätze werden durch den angegriffenen Beschlussdes KG verletzt. Die von der Beschwerdef. beabsichtigte Klage aufSchadenersatz wirft schwierige, bislang nicht geklärte Rechtsfragenauf. Nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des KG wäre ein ver-traglicher Schadenersatzanspruch nicht verjährt, wenn der Fristlaufnicht gem. § 475 Nr. 3 ZGB bereits mit der objektiv bestehendenMöglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs begonnen hätte,sondern in analoger Anwendung des § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB erst mitErlangung der Kenntnis von Schaden und Schädiger durch dieBeschwerdef. Der BGH hat in einem Urt. v. 3.5.1994 offen gelassen,ob § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB auf vertragliche Schadenersatzansprüchewegen Gesundheitsschäden analog anzuwenden ist, wie dies in derRechtsliteratur der ehem. DDR erwogen wurde (vgl. BGHZ 126, 87[96] = NJ 1994, 463). Diese schwierige Rechtsfrage ist danach in derhöchstrichterlichen Rspr. noch nicht geklärt. Wie sie zu entscheidenist, muss dem Verfahren in der Hauptsache vorbehalten bleiben.Daher durfte das KG diese Rechtsfrage nicht im PKH-Verfahrenentscheiden.

� 01.2 – 9/02

Eingetragene Lebenspartnerschaft/Zustandekommen eines Gesetzes/Eheschließungsfreiheit/Institutsgarantie/Diskriminierungsverbot/GleichheitssatzBVerfG, Urteil vom 17. Juli 2002 – 1 BvF 1/01

Ges. zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften v. 16.2.2001; GG Art. 3 Abs. 1 u. 3, 6 Abs. 1

1. Voraussetzung für die ausnahmsweise Zulässigkeit der Berichtigungeines Gesetzesbeschlusses ist dessen offensichtliche Unrichtigkeit.Diese kann sich nicht allein aus dem Normtext, sondern insbesondereauch unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs und der Mate-rialien des Gesetzes ergeben.2. Teilt die Bundesregierung oder der Bundestag eine Materie inverschiedene Gesetze auf, um auszuschließen, dass der BundesratRegelungen verhindert, die für sich genommen nicht unter demVorbehalt seiner Zustimmung stehen, ist dies verfassungsrechtlichnicht zu beanstanden.3. Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspart-nerschaft für gleichgeschlechtliche Paare verletzt Art. 6 Abs. 1 GGnicht. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindert denGesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche LebenspartnerschaftRechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahekommen. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußen durch einInstitut, das sich an Personen wendet, die miteinander keine Eheeingehen können.4. Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass nichtehelichenLebensgemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Personen undverwandtschaftlichen Einstandsgemeinschaften der Zugang zurRechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft verwehrt ist.

Anm. d. Redaktion: Siehe dazu die Inform. in NJ 2002, 409, und denErläuterungsbeitrag zum LebenspartnerschaftsG von H. Trimbach, NJ 2001,399 ff.

Rechtsprechung

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Neue Justiz 9/2002474

02 BÜRGERLICHES RECHT

� 02.1 – 9/02

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand/Anfechtung eines Verwaltungs-akts/Umlegungsbeschluss/Absehen von AnhörungBGH, Urteil vom 10. Januar 2002 – III ZR 212/01 (OLG Dresden)

VwVfG §§ 20 Abs. 1 Nr. 5, 28 Abs. 1 Nr. 4, 45 Abs. 3

a) Zur Frage der Rechtswidrigkeit des Absehens von einer Anhörungvor dem Erlass eines Umlegungsbeschlusses, durch den einzelneGrundeigentümer besonders (nachteilig) betroffen werden.b) Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumungder Frist für die Anfechtung eines Verwaltungsakts (hier: Umlegungs-beschluss), wenn die erforderliche Anhörung vor dem Erlass desVerwaltungsakts unterblieben ist (Anschluss an BVerfG, Beschl. v.31.7.2001, DVBl 2001, 1747 = NJ 2002, 85; gegen BGHZ 144, 210 = NJ2000, 599 [bearb. v. Flint]). c) Der Verbotstatbestand des § 20 Abs. 1 Nr. 5 VwVfG betrifft dasAufsichtsratmitglied einer am Verwaltungsverfahren beteiligten juris-tischen Person (hier: Grundstücksgesellschaft) auch dann, wenn diesezu 100% der das Verwaltungsverfahren betreibenden Körperschaft(hier: Gemeinde als Umlegungsstelle) gehört.

� 02.2 – 9/02

Schadensersatz/Naturalrestitution trotz Veräußerung der Sache/Schadensermittlung bei WertminderungBGH, Urteil vom 17. Januar 2002 – III ZR 315/00 (OLG Dresden)

BGB §§ 249 Satz 2, 251 Abs. 1

Zum Anspruch auf Ersatz des zur Herstellung erforderlichen Geld-betrags und der Wertminderung bei einem beschädigten Hausgrund-stück, das nach Schadenseintritt zu einem über dem Verkehrswert inunbeschädigtem Zustand liegenden Preis veräußert worden ist.

Problemstellung:Die Kl. erwarb 1993 zum Preis von 875.000 DM ein Haus, das einigeZeit zuvor durch Verschulden des Bekl. Frostschäden erlitten hatte.Zum Zeitpunkt des Verkaufs schwebten Verhandlungen zwischenVerkäufer und Schädiger über den Schadensersatz. Im Kaufvertragwurden – unter Ausschluss von Gewährleistungsrechten – die Schädenerwähnt und auf eine spätere interne Regelung zwischen Verkäuferund der nunmehr klagenden Käuferin verwiesen. In dieser weiterenVereinbarung traten die Verkäufer ihre aus dem Schadensereignis fol-genden Ansprüche vor Eintragung der Kl. im Grundbuch an diese ab.

Die Kl. hat vom bekl. Schädiger nach § 249 Satz 2 BGB Reparatur-kosten i.H.v. 114.000 DM verlangt, hilfsweise Ersatz der eingetretenenWertminderung nach § 251 Abs. 1 BGB. Der Bekl. meint, der Anspruchdes Verkäufers auf Naturalrestitution nach § 249 BGB sei durch dieVeräußerung untergegangen. Die Abtretung sei daher ins Leere gegan-gen. Weiterhin habe das Haus unbeschädigt nur einen Wert von850.000 DM gehabt. Wenn der Verkäufer es zu einem höheren Preis– für 875.000 DM – anschließend verkaufe, könne er keinen (Wert-minderungs-)Schaden geltend machen, den er abtreten könne.

Das BerufungsG folgte dieser Argumentation und wies die Berufunggegen das klageabweisende Urteil erster Instanz zurück.

Der BGH hob auf die Revision der Kl. das Berufungsurteil auf undverwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidungan das BerufungsG zurück.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Der den vorliegenden Fall entscheidende III. Zivilsenat des BGHschließt sich ausdrücklich der kürzlich geänderten Rspr. des V. Zivil-senates (BGHZ 147, 320 = NJ 2002, 90 [bearb. v. Winkler]) an, dass

Schadensersatzansprüche, die auf die Reparatur einer beschädigtenSache oder den entsprechenden Geldbetrag zielen (Ansprüche aus§ 249 BGB auf Naturalrestitution) bei Veräußerung der Sache jeden-falls dann nicht untergehen, wenn sie spätestens bei Eigentums-übergang an den Erwerber abgetreten werden. Daher kann noch derErwerber des Hauses vom Schädiger Ersatz der Kosten für die Reparaturder Frostschäden nach § 249 Satz 2 BGB trotz Veräußerung der Sacheverlangen.

Auch ein Anspruch nach § 251 Abs. 1 BGB wird vom BGH vorlie-gend für möglich gehalten. Für einen solchen Anspruch sei die Diffe-renz zwischen dem Wert des Vermögens, wie es sich ohne das schädi-gende Ereignis darstellen würde, und dem durch das schädigendeEreignis verminderten Wert zu ersetzen. »Bezogen auf den Zeitpunktder Schädigung wird regelmäßig davon auszugehen sein …, dass dasVermögen durch die am Grundstück eingetretenen Frost- und Durch-feuchtungsschäden eine Wertminderung erfahren hat … Die – mehroder minder zufällige – anschließende Veräußerung der beschädigtenSache bedarf wegen ihrer schadensrechtlichen Auswirkungen einerwertenden Betrachtung, die über den bloßen Vergleich des Kaufprei-ses mit dem Verkehrswert des unbeschädigten Vermögensgegenstandshinausgeht. Für die rechtliche Beurteilung macht es z.B. keinenmaßgeblichen Unterschied, ob die Parteien eines Kaufvertrags wegender eingetretenen Wertminderung einen Abschlag auf den Kaufpreisvornehmen, den der Veräußerer sodann nach § 251 Abs. 1 BGB ersetztverlangt, oder ob der Kaufpreis gegen Abtretung der Schadensersatz-ansprüche so bemessen wird, als sei der Kaufgegenstand unbeschä-digt.« Dann sei »die Betrachtung des Vermögens des Veräußerersunvollständig, wenn ohne Berücksichtigung der Abtretung lediglichder Kaufpreis mit dem Verkehrswert des unbeschädigten Hausgrund-stücks verglichen wird. Ferner ist zu bedenken, dass ein über denVerkehrswert des Grundstücks hinausgehender Erlös darauf beruhenkann, dass der Veräußerer von vornherein nicht bereit ist, sich miteinem dem Verkehrswert entsprechenden Kaufpreis zu begnügen,oder dass der Käufer ein den Verkehrswert übersteigendes Erwerbs-interesse hat. Diese Gesichtspunkte, die legitimerweise Grundlageeiner vertraglichen Regelung sein können, stehen in keinem Zusam-menhang zum Schädigungstatbestand und rechtfertigen eine Ent-lastung des Schädigers nicht (zum Einfluß dieser Gesichtspunkteauf die Anrechnung von Vorteilen vgl. BGHZ 136, 52, 56 = NJ 1997,669 [Leits.] )«.

Kommentar:Das Urteil ist von zweifacher Bedeutung. Erstens schließt sich derIII. Zivilsenat des BGH der jüngst geänderten Rspr. des V. Zivilsenatsan, dass ein Schadensersatzanspruch auf Naturalrestitution gem. § 249BGB bei Abtretung an den Erwerber nicht mit Veräußerung der unre-parierten Sache untergeht. Allerdings führt dies noch immer nichtzu einer einheitlichen Auffassung innerhalb des BGH, denn nach wievor besteht eine Divergenz zum VI. Zivilsenat, der in st.Rspr. davonausgeht, dass der Anspruch selbst dann bestehen bleibt, wenn er nichtmit der veräußerten Sache abgetreten wird.

Zweitens nimmt der BGH mit dem vorliegenden Urteil eine sehrbegrüßenswerte Klarstellung zum Verhältnis von Verkehrswert undWertminderung bei der Schadensermittlung vor. Er betont zu Recht,dass der Schaden subjektiv ermittelt werden muss. Ein Schaden istnämlich durch einen Vergleich der Vermögenslage des Geschädigtenmit und ohne schädigendes Ereignis zu ermitteln. Im vorliegendenFall war der Schaden möglicherweise in die Preisfindung eingeflossen,denn die Verkäufer hatten behauptet, sie hätten ursprünglich einenhöheren Preis verlangt, konnten diesen jedoch gegenüber den Käufernnicht durchsetzen, so dass diese aufgrund ihres ursprünglichen Gebotsdas Objekt erwarben. Für das unbeschädigte Haus hätten die Verkäuferdemzufolge mehr erhalten können, was nun aufgrund der Beschä-digungen nicht glückte. Der Vergleich der Vermögenslagen ergibt

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475Neue Justiz 9/2002

somit einen Schaden, obgleich die Verkäufer das beschädigte Objektüber dem Verkehrswert veräußerten.

Der BGH weist völlig richtig darauf hin, dass die Frage, ob ein Scha-den vorliegt, wertend zu betrachten ist. Den Schaden »ausgleichende«Vermögenszuflüsse, die mit dem Schadensereignis nichts zu tunhaben, sondern aufgrund anderer Einflüsse erfolgen (Versicherungs-leistung, Geschäftstüchtigkeit des Geschädigten usw.), dürfen bei derSchadensermittlung nicht berücksichtigt werden. Dieser normativeSchadensbegriff führt dazu, dass sich der Schädiger nicht auf Kostendes schutzbedürftigen Geschädigten entlasten kann und dass diesemdessen eigene schadensbedingten oder sonstigen Anstrengungenzugute kommen. Die Instanzgerichte neigen – wie hier – häufig dazu, diesnicht als »gerecht« anzusehen. Sie verkennen dabei, dass es Sache desSchädigers und nicht des Geschädigten ist, den Schaden zu ersetzen.

Rechtsanwalt Matthias Winkler, Berlin

� 02.3 – 9/02

Unternehmenskaufvertrag/Zahlungsunfähigkeit/Substantiierung desKlägervorbringens/BeweiswürdigungBGH, Urteil vom 6. Februar 2002 – VIII ZR 185/00 (OLG Dresden)

ZPO § 286

Zu den Anforderungen an eine Substantiierung des Vorbringens einesUnternehmenskäufers, der erworbene Betrieb sei schon im Zeitpunktdes Vertragsschlusses zahlungsunfähig gewesen.

Problemstellung:Der Kl. erwarb durch notariellen Kaufvertrag v. 13.2.1998 sämtlicheGeschäftsanteile an der V. GmbH, die seit Sept. 1997 ein Fitness-Studiobetrieb. Es wurde ein Kaufpreis von 242.000 DM vereinbart, der nachersten Teilzahlungen von 30.000 DM und 50.000 DM anschließend inmonatl. Raten von 1.500 DM, später i.H.v. 3.000 DM gezahlt werdensollte. Die Gewährleistung wurde ausgeschlossen; jedoch übernahmdie Bekl. als Verkäufer die Gewähr dafür, dass ihr »von einer Über-schuldung der GmbH … nichts bekannt« sei. In Bezug auf die Kauf-preisforderung unterwarf sich der Kl. unter die sofortige Vollstreckungaus der notariellen Urkunde.

Am 29.3.1998 wurden dem Sohn des Kl., der den Kl. auch beimAbschluss des notariellen Kaufvertrags vertrat, die Geschäftsräumeeinschließlich Geschäftsunterlagen übergeben. Er fand dort zahlreichean die GmbH gerichtete und nicht bezahlte Rechnungen vor, die ermit ca. 90.000 DM bezifferte. Mit Schreiben v. 21.4.1998 erklärte derKl. die Anfechtung des Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung.Am 24.10.1998 wurde die V. GmbH unter vorläufige Gesamtvoll-streckungsverwaltung gestellt.

Das LG hat die gegen die Zwangsvollstreckung aus der notariellenUrkunde und auf Rückzahlung der Kaufpreisanzahlung von 30.000 DMgerichtete Klage abgewiesen. Das OLG wies die Berufung zurück, dader Kl. seinen Klageanspruch nicht substantiiert dargelegt hätte:Weder Überschuldung noch Zahlungsunfähigkeit zum Zeitpunkt desAbschlusses des notariellen Kaufvertrags am 13.2.1998 habe er darge-legt, es könne auch lediglich eine vorübergehende Zahlungsstockungvorgelegen haben.

Der BGH gab der Revision des Kl. statt und verwies den Rechtsstreitan das OLG zurück.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Das BerufungsG hat – so der BGH – die Anforderungen an § 286 ZPOnicht richtig erkannt.

Der BGH erachtet es für ausreichend, dass der Kl. mit erstinstanz-lichem Schriftsatz eine Auflistung von 31 Forderungen, die gegen dieV. GmbH gerichtet waren, mit einem Umfang von 59.889,38 DMvorgelegt habe. Diese 31 Forderungen sollen am 13.2.1998 bestanden

haben. Für 29 dieser Forderungen legte der Kl. Rechnungskopien vor,die an die V. GmbH unter der Anschrift des Fitness-Studios gerichtetwaren. Aus den Rechnungen ergaben sich die an die V. GmbHerbrachten Lieferungen und Leistungen. Dieser Sachvortrag genügtnach Ansicht des BGH zur Substantiierung des Klagevortrags im Hin-blick auf eine mögliche Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit derV. GmbH, da der Kl. weiterhin vortrug, dass die V. GmbH am 13.2.1998nur über liquide Mittel i.H.v. 2.235,90 DM verfügte.

Ausreichend sei der Vortrag des Kl. auch deshalb, weil er bilanzielleAuswertungen zum 31.12.1997 und zum 13.2.1998 vorlegte, ausdenen sich ergab, dass die V. GmbH dauerhaft weniger Einnahmen alsAusgaben hatte sowie seit Nov. 1997 ihren Zahlungsverpflichtungengegenüber den Krankenkassen nicht nachkam. Insbes. letzteres Argu-ment ist nach st.Rspr. des BGH ausreichendes Indiz für die Insolvenz-reife eines Unternehmens.

Das BerufungsG hat aufgrund der überspannten Anforderungen andie Darlegung der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit nichtüber die Einwendungen der Bekl. entschieden, so dass eine Rück-verweisung zur Aufklärung notwendig war, da die Bekl. behauptete,am 13.2.1998 hätte u.a. ein Guthaben bei einer Bank i.H.v. 24.670 DMbestanden und es wären einige der 31 genannten Forderungen schonausgeglichen gewesen.

Zweiter Begründungsschwerpunkt war, dass die Bekl. vor Abschlussdes notariellen Kaufvertrags v. 13.2.1998 verpflichtet gewesen wäre, denKl. über die finanzielle Situation aufzuklären. In Anknüpfung an seinUrteil v. 4.4.2001 (NJ 2001, 484 [bearb. von Ehlers] ) hat der VIII. Zivil-senat ausgeführt: »Ein Verkäufer braucht den Käufer zwar grundsätz-lich nicht über alle für den Kauf erheblichen Umstände aufzuklären.Eine Mitteilung kann vom Verkäufer nach Treu und Glauben unterBerücksichtigung der Verkehrsauffassung jedoch für solche Umständeerwartet werden, die nur dem Verkäufer bekannt sind und von denener weiß oder wissen muss, dass sie für den Käufer von wesentlicherBedeutung für den Vertragsschluss sind, etwa deshalb, weil sie denVertragszweck vereiteln können … Bei einem Unternehmenskauf,wie er hier bei der Abtretung sämtlicher Geschäftsanteile anzunehmenist, hat darum der Verkäufer dem Käufer ungefragt sämtliche Verbind-lichkeiten des Unternehmens zu offenbaren, wenn diese dazu führenkönnen, dass die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft gefährdet ist,weil ihr Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung droht«.

Auch wenn die Gewährleistung an sich ausgeschlossen sein sollte,so hatte die Bekl. mit dem notariellen Kaufvertrag zudem ausdrücklichdie Gewähr dafür übernommen, dass nach seinem Wissen die V. GmbHnicht überschuldet oder zahlungsunfähig ist. Da sie unstreitig den Kl.über das Zahlenwerk nicht unterrichtet hat, ergibt sich hieraus einFehlverhalten der Bekl., das bei Vorliegen der Zahlungsunfähigkeit, dievom BerufungsG im Hinblick auf die Bewertung aller vorliegendenTatsachen festgestellt werden muss, zur Anfechtung wegen arglistigerTäuschung berechtigt.

Kommentar:Zentraler Streitpunkt ist die Anforderung an den klägerischer Vortrag,dass die V. GmbH zum 13.2.1998 zahlungsunfähig und überschuldetgewesen sein soll. Abzugrenzen ist die Zahlungsunfähigkeit dabeivon der sog. Zahlungsstockung. Die Grenzziehung ist gesetzlich nichtgeregelt, so dass eine Auslegung des § 63 Abs. 1 GmbHG erfolgenmuss. Rowedder führt in seiner Kommentierung (GmbHG, 1990, § 63Rn 5) dazu aus, dass eine Spannbreite von zehn Tagen bis sechsWochen besteht, in der die fällige Forderung nicht beglichen wird.Er geht dabei von einem Mittel von einem Monat aus. Der Kl. musstealso darlegen, dass die nicht ausgeglichenen Forderungen, die am13.2.1998 vorgelegen haben, im Mittel länger als einen Monat fälligwaren. Da er am 29.3.1998 erst die Geschäftsunterlagen erhaltenhatte, wurde nicht nur die Mittelfrist, sondern sogar die äußere Fristvon sechs Wochen überschritten. Insofern ist dem BGH in seinen

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Neue Justiz 9/2002476

Entscheidungsgründen im ersten Schritt zuzustimmen, bei dem esum die Darlegung der Unterscheidung zwischen Zahlungsstockungund -unfähigkeit geht.

Weiterhin ist dem BGH auch darin zu folgen, dass die Einführungeiner Liste von 31 Forderungen, darunter 29 Forderungen mit Rech-nungskopien, die die erbrachten Lieferungen und Leistungenbezeichneten, ein substantiierter Sachvortrag ist. In Bezug auf denUmfang der Darlegung eines Insolvenzantrags verweist Rowedder(aaO, § 63 Rn 24) auf die entsprechenden Vorschriften der InsO – dasaktuelle Insolvenzrecht war für den hier zu entscheidenden Fall nochnicht in Kraft getreten – , und zwar auf § 14 Abs. 1 InsO. Fraglich ist,ob die Bestimmungen der InsO, die auf ein Glaubhaftmachen derInsolvenzreife abstellen, hier anzuwenden sind. Dagegen spricht, dassin einem Erkenntnisverfahren der Kl. seine Rechte gegenüber der Bekl.als bisherigen Gesellschafter durchsetzen möchte. Diese Verfahrenbetrifft das Vermögen der V. GmbH direkt nicht, so dass eine Parallelenur bedingt zu ziehen ist. Schließlich geht es hier nicht um den Schutzdritter Gläubiger.

Dafür spricht im konkreten Fall, dass hier eine Vollstreckungs-gegenklage vorliegt und der Kl. sich in einem Zwangsvollstreckungs-verfahren, das auf die Vollstreckung der Kaufpreisforderung gerichtetist, befindet. Das Insolvenzverfahren gehört grundsätzlich zu denVollstreckungsverfahren, so dass ein gewisses Näheverhältnis nichtverleugnet werden kann. Weiterhin spricht dafür, dass die Rechts-pflege einheitlich erfolgen soll. Insofern ist es nicht einzusehen, dassein Gläubiger in einem Insolvenzverfahren geringere Hürden zur Dar-legung seiner Ansprüche haben soll als in einem Erkenntnisverfahren.Auch spricht die Prozessökonomie dafür. Es wäre nicht einsehbar,dass der Kl. insofern einen Umweg einschlagen könnte, indem er überdas Vermögen der V. GmbH das Insolvenzverfahren beantragt, auf-grund dessen Ergebnisses er schließlich das hier vorliegende Verfah-ren führen könnte. Wimmer (InsO, 1999, § 14 Rn 53) führt dazu aus,dass die Glaubhaftmachung im Insolvenzverfahren durch die Vorlagevon Urteilen, Wechseln und auch Rechnungen erfolgen kann, was derKl. hier getan hat.

Letztendlich wird für die Hinzuziehung von § 63 Abs. 1 GmbHGund § 14 Abs. 1 InsO bei der Bemessung der Darlegungspflichten desKl. plädiert, da die Bekl. den Sachvortrag des Kl. in Bezug auf die Listeder 31 Forderungen nicht bestritten, sondern möglicherweise erheb-liche Einwendungen erhoben hat.

Rechtsanwalt Benjamin Ehlers, Calau

� 02.4 – 9/02

Anwaltshaftung/SachverhaltsaufklärungspflichtenBGH, Urteil vom 7. Februar 2002 – IX ZR 209/00 (Kammergericht)

BGB § 675

Zu den Grenzen der Sachverhaltsaufklärung, die dem Rechtsanwaltim Zusammenhang mit der Führung eines Rechtsstreits obliegt.

Problemstellung:Der R. GmbH & Co. KG (nachfolgend R.) war die Erstellung einerWohnanlage zu einem unveränderlichen Pauschalpreis übertragenworden. Mit schriftlichem Bauvertrag v. 2.8.1991 beauftragte die R. dieKl. als Subunternehmerin mit der Ausführung von Straßenbauarbei-ten u.ä. zu einem Preis von 2.384.200 DM. Für erforderlich werdendezusätzliche Arbeiten sollte ein Nachtragsangebot eingereicht werden.Ohne einen entsprechenden schriftlichen Auftrag des Auftraggebersdurfte mit den Arbeiten nicht begonnen werden und sollte eine Ver-gütung nicht erfolgen.

Im Laufe der Durchführung der Arbeiten entfielen einige verein-barte Leistungen; aber auf Weisung eines auf der Baustelle tätigenArchitekten führte die Kl. auch zusätzliche Arbeiten aus. Als die R. den

entsprechenden Nachtragsangeboten widersprach, wurde im Ergebniseiner Besprechung am 6.5.1992 festgelegt, dass der Architekt eineGesamtaufstellung der Mehr- und Minderleistungen fertigen solle, dieeine leichte Reduzierung des ursprünglichen Gesamtpreises ergebenmüsse. Im Juni und Aug. 1992 erstellte die Kl. zwei weitere Nachtrags-angebote betreffend weitere Leistungen. Auf die mit zwei Schluss-rechnungen der Kl. insges. geforderten 2.452.130,82 DM hat die R. nur2.294.472,12 DM bezahlt. Sie hat die Vergütung verschiedener Posi-tionen aus den Nachtragsangeboten gekürzt.

Die nunmehr bekl. Rechtsanwälte machten für die Kl. den Restbe-trag von 158.248,34 DM erfolglos geltend. Das BerufungsG begründetedie Klageabweisung damit, dass für den auf die beiden letzten Nach-tragsangebote entfallenden Vergütungsanteil von 170.320,12 DMkeine Anspruchsgrundlage ersichtlich sei, denn aus dem Vortragder Kl. ergebe sich nicht, dass der Architekt den Auftrag in Vollmachtder R. erteilt habe. Die Voraussetzungen für einen Anspruch ausGeschäftsführung ohne Auftrag oder ungerechtfertigter Bereicherungseien ebenfalls nicht dargetan.

Die Kl. fordert von den Bekl. Schadensersatz i.H.v. 157.658,70 DMwegen schuldhafter Verletzung ihrer Pflichten aus dem Anwaltsver-trag. Sie hätten verkannt, dass der Auftrag betreffend die in den bei-den letzten Nachtragsangeboten enthaltenen Leistungen von einemArchitekten ohne Vertretungsmacht erteilt worden sei, und deshalbversäumt, die Voraussetzung eines Anspruchs aus Geschäftsführungohne Auftrag oder ungerechtfertigter Bereicherung vorzutragen.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das BerufungsG hat die Bekl. zurZahlung von 68.715,54 DM Schadensersatz verurteilt. Es war der Mei-nung, dass die Bekl. ihre Pflichten insofern verletzt hatten, als sie nichtdie Voraussetzungen für alle in Betracht kommenden Anspruchs-grundlagen dargelegt hätten. Die Klage wäre auf der Grundlage desSachverhalts, wie ihn die Bekl. hätten vortragen müssen, gem. § 684Satz 1 BGB oder § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB jeweils iVm § 818 Abs. 2 BGBi.H.v. 68.715,54 DM begründet gewesen. Aus dem ursprünglich verein-barten Angebot der Kl. seien nur Leistungen von insges. 44.587,28 DMentfallen, sodass der Kl. noch eine Forderung von 45.140,60 DMzugestanden habe zzgl. einer Forderung wegen der Beseitigung vonStörungen durch einen Wasserrohrbruch.

Die Revision der Bekl. hatte Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Der BGH sah in Bezug auf den durch das BerufungsG festgestelltenAnspruch keine Pflichtverletzung der Bekl. Er beruft sich zunächst aufseine st.Rspr. in Anwaltshaftungsfragen und weist u.a. darauf hin, dassder Anwalt sich über die Informationen, die der Mandant liefert,hinaus um zusätzliche Aufklärung bemühen muss insbes. in Bezug aufsolche Tatsachen, deren Bedeutung für den Mandanten nicht ohneweiteres ersichtlich ist. Der Sachvortrag muss so gestaltet werden, dassalle für eine Entscheidung in Betracht kommenden Gründe konkretdargelegt werden.

Der Rechtsanwalt braucht sich aber nur mit den tatsächlichenAngaben zu befassen, die zur pflichtgemäßen Erledigung seines Auf-trags zu beachten sind. Deswegen waren nach Auffassung des BGH dieBekl. nicht verpflichtet, den Sachverhalt in dem Bereich zu erforschen,aus dem der Kl. nach Auffassung des BerufungsG Restansprüchezustanden. Die Kl. hat in den Tatsacheninstanzen ihren Anspruchdarauf gestützt, dass die Bekl. versäumt hätten, die auf die beiden letz-ten Nachtragsangebote gestützten Forderungen mit Geschäftsführungohne Auftrag oder ungerechtfertigter Bereicherung zu begründen.Das BerufungsG hat jedoch zu Recht festgestellt, dass solche Ansprüchenicht bestanden haben.

Bei den 45.140,60 DM, die die Kl. nach Auffassung des BerufungsGverlangen kann, handelt es sich um eine vertragliche Restforderung.Der den Bekl. erteilte Auftrag bezog sich dagegen ausschließlichdarauf, Forderungen aus Nachtragsarbeiten geltend zu machen. Die

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477Neue Justiz 9/2002

Angaben, auf die das BerufungsG seine Entscheidung stützt, stammeneinzig und allein vom Geschäftsführer der R. als Zeugen. Die Kl. hatsie weder den Bekl. noch ihrem jetzigen Bevollmächtigten im Regress-prozess mitgeteilt und auch keinerlei Umstände aufgezeigt, aus denendiese darauf hätten schließen müssen. Auch die übermittelten Unter-lagen ergeben dafür keine Anhaltspunkte. Daher kann gegen die Bekl.der Vorwurf ungenügender Tatsachenermittlung oder unzureichenderrechtlicher Prüfung nicht erhoben werden.

Dasselbe betrifft im Ergebnis die Rechnungen bzgl. des Wasser-rohrbruchs. Diese Positionen erscheinen in den Schlussrechnungennicht. Die Kl. hat den dieser Forderung zugrunde liegenden Sach-verhalt auch nicht anderweitig in den Rechtsstreit eingeführt, sondernsie wurden vom Tatrichter lediglich einer Aufstellung des Geschäfts-führers der R. entnommen.

Auch aus dem eigenen Vortrag der Kl. ergibt sich kein Ansatz dafür,dass die Ansprüche gegen die R., die das BerufungsG für begründethält, im Vorprozess wegen einer den Bekl. zuzurechnenden Vertrags-verletzung nicht zugesprochen worden sind.

Kommentar:Aus anwaltlicher Sicht ist es nur zu begrüßen, dass der BGH einerweiteren Ausuferung der anwaltlichen Haftung eine Absage erteilt,indem er dem Anwalt nicht aufbürdet, nach Sachverhalten zu for-schen, für deren Vorliegen weder der Auftrag des Mandanten noch dervon diesem mitgeteilte Sachverhalt einen Anhaltspunkt ergeben.Gerade bei Bauverträgen mit ihren oft überbordenden und unüber-sichtlichen Dokumentationen kann vom Anwalt nicht verlangtwerden, dass er über die Angaben des Mandanten hinausgehendüberprüft, welche Forderungen evtl. noch offen sein könnten. Dasbetrifft vorliegend zweifelsfrei die Forderungen wegen der Beseitigungder Schäden aus dem Wasserrohrbruch, die offensichtlich vor derMitteilung des Geschäftsführers der R. keine Rolle gespielt hatten.

Weniger eindeutig ist das allerdings hinsichtlich der vertraglichenRestforderung. Die Preisreduzierung wird damit begründet, dass dieVergütung verschiedener Positionen aus den Nachtragsangebotengekürzt worden sei. Dann hätte allerdings wenigstens der vollevereinbarte Preis gezahlt werden müssen. Da das nicht der Fall war,sind offensichtlich weitere Kürzungen erfolgt, die die ursprünglichvereinbarten Leistungen betroffen haben. Insofern hätte evtl. durch-aus Grund zum Nachfragen bestanden. Das kann aber aufgrund desmitgeteilten Sachverhalts nicht abschließend bewertet werden(auch Chab, der diese Entscheidung für die BRAK-Mitt. (2002, 116)kommentierte, findet die Begründung »beachtenswert« und fühlt sichvorsichtshalber bemüßigt, sie zu ergänzen; allerdings wird in dersel-ben Ausgabe der BRAK-Mitt. [S. 117] eine Entscheidung v. 12.3.2002desselben BGH-Senats referiert, die die Anforderungen an den Anwaltdeutlich überzieht).

Wichtig ist auch, dass vom BGH noch einmal festgestellt wird,dass der Sachvortrag so beschaffen sein muss, dass er dem Gericht dieMöglichkeit gibt, alle in Frage kommenden rechtlichen Gesichts-punkten zu bewerten. Allerdings kann der Sachvortrag i.d.R. nurdann derartig umfassend dargeboten werden, wenn auch der Rechts-anwalt sämtliche in Frage kommenden rechtlichen Wertungen inBetracht zieht.

Der BGH stützt seine Entscheidung auf § 675 BGB, der aber in derEntscheidung selbst gar nicht zitiert wird. Jedenfalls ergeben sichdurch das SchuldRModG insoweit keine Änderungen. Auch eine Ver-änderung der Bewertungen der anderen Modifikationen, denen § 675BGB in den letzten Jahren unterlag, werden im Urteil nicht problema-tisiert und dürften auch unerheblich für die Beurteilung gewesen sein.In diesem Fall sind Bewertungsmaßstäbe ausschlaggebend. Es ist nichtersichtlich, dass das SchuldRModG insofern zu einer anderen Ent-scheidung führen würde.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Dietrich Maskow, Berlin

� 02.5 – 9/02

Energieversorgung/Beitrittsgebiet/Kostentragung für straßenbau-bedingte LeitungssicherungBGH, Urteil vom 14. März 2002 – III ZR 147/01 (OLG Naumburg)

FStrG § 8; GBBerG § 9; BGB §§ 1090 Abs. 2, 1023 Abs. 1 Satz 1

Muss infolge der Verbreiterung einer im Beitrittsgebiet gelegenenStraße an einem Teil einer die Straße kreuzenden Erdgasleitung eineSchutzrohrverlängerung vorgenommen werden, der sich bisheraußerhalb des öffentlichen Straßenraums befunden hat und durcheine beschränkte persönliche Dienstbarkeit nach § 9 Abs. 1 GBBerGdinglich gesichert ist, so hat grundsätzlich der Träger der Straßen-baulast die Kosten der Sicherung dieses Leitungsteils zu tragen.

Problemstellung:Einmal mehr ging es um die gerichtliche Entscheidung über die Ver-teilung der aus Sicherungsarbeiten an einer Energieversorgungslei-tung resultierenden Folgekosten, die aufgrund des Ausbaus einer Bun-desstraße im Beitrittsgebiet notwendig wurden. Diese Streitigkeiten,die aus den im Rahmen des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit vor-genommenen Baumaßnahmen resultieren, scheinen sich zwölf Jahrenach der Wiedervereinigung als Dauerbrenner zu etablieren. Obwohlder BGH auch in der vorliegenden Entscheidung an den Grundsätzenseiner in den letzten Jahren entwickelten Rspr. (BGHZ 138, 266 = NJ1998, 536; BGHZ 144, 29 = NJ 2000; 489 [jew. bearb. v. Willingmann/Hirse]) festhält, hatte dieses Mal das bekl. Versorgungsunternehmendas bessere Ende für sich.

Die Folgekosten, um deren Verteilung es im vorliegenden Fall ging,ergaben sich aus einer an der Erdgasleitung vorgenommenen Schutz-rohrverlängerung und dem Versetzen einer Messsäule. Beides wurdenotwendig, als 1998 der Ausbau eines aus einer Bundesstraße undeiner untergeordneten Straße bestehenden Verkehrsknotenpunktesinnerhalb einer Ortslage vorgenommen wurde, in dessen unmittel-barer Nähe die Trasse verlief. Die Besonderheit lag hier allerdingsdarin, dass die Maßnahmen an Teilen der Energieversorgungsleitungvorgenommen werden mussten, die sich vor Ausbau und Verbreite-rung des Kreuzungsbereichs nicht im öffentlichen Straßenkörper, son-dern in dem anliegenden in Privateigentum stehenden Grundstückbefanden. Um die Baumaßnahmen durch die Meinungsverschieden-heit über die Kostentragungspflicht zwischen der klagenden Bundes-republik und dem bekl. Versorgungsunternehmen nicht unnötig zuverzögern, übernahm die Kl. – wie auch in den vorangegangenenFällen üblich – in einer Vorfinanzierungsvereinbarung vorläufig dieentstehenden Kosten. Im Gegenzug gab die Bekl. die Anlagenände-rung unverzüglich in Auftrag. Über die endgültige Klärung der Kos-tentragung sollte nachfolgend gerichtlich entschieden werden.

Während das LG der Klage statt gab, wies das OLG auf Berufung derBekl. die Klage ab (NJ 2001, 489 [Leits.]).

Die Revision der Kl. hatte keinen Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Ausgangspunkt der Entscheidungsbegründung des III. Zivilsenats desBGH ist dessen mittlerweile gefestigte – dadurch jedoch nicht wenigerproblematische – Rspr., dass die Kosten einer straßenbaubedingtenVerlegung und Absicherung von Versorgungsleitungen im Beitrittsge-biet, die allein durch eine straßenrechtliche Sondernutzungsgenehmi-gung nach § 13 Abs. 1 Satz 1 StrVO/DDR 1974 (GBl. I S. 515) gesichertsind, grundsätzlich vom Versorgungsunternehmen zu tragen seien.Dies ergebe sich aus einem im Wege der Gesamtschau den Regelungenin § 8 Abs. 2a, 8 u. 10 FStrG zu entnehmenden Grundsatz (BGHZ 138,266, 274 f.; 144, 29, 45; 148, 129, 135 = NJ 2001, 487 [Leits.]).

Diese Rspr. sei jedoch für die vorliegende Fallgestaltung nicht ein-schlägig, da der durch die Schutzrohrverlängerung abzusicherndeLeitungsteil und die Messsäule keine durch eine Sondernutzungs-

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Neue Justiz 9/2002478

genehmigung nach DDR-Straßenrecht abgesicherte Nutzung eineröffentlichen Straße seien. Die Teile der Energieversorgungsleitung, andenen die Sicherungsmaßnahmen vorzunehmen waren, hätten sichauf im Privateigentum stehendem Grund und Boden befunden, derauch nach dem Straßenbegriff in § 4 Abs. 1, 4 u. 5 der 1. DVO zurStrVO/ DDR 1974 nicht zur öffentlichen Straße gehört habe; folglichhabe die Nutzung keiner straßenrechtlichen Genehmigung bedurft.

Die weitere Folgekostenregelung in § 16 Abs. 3 StrVO/DDR 1974 fürdie Kostentragung bei Verlegungsarbeiten an Versorgungsleitungen insog. Schutzzonen nach § 16 Abs. 1 Buchst. c StrVO/DDR 1974 finde vonvornherein keine Anwendung, da diese nur außerhalb von Ortslagengelte, was vorliegend nicht gegeben sei. Erwägungen zu einer even-tuellen Überleitung dieser Regelung wurden daher nicht angestellt.

Erst durch die Verbreiterung der Straße um 5m seien die Leitungs-teile in den öffentlichen Straßenraum gelangt, der sich nunmehr nachdem mit den Bestimmungen der 1. DVO zur StrVO/DDR 1974inhaltlich deckungsgleichen § 1 Abs. 4 Nr. 1 FStrG bestimmt. ZumZeitpunkt des Ausbaus sei jedoch bereits nach § 9 Abs. 1 GBBerG einebeschränkte persönliche Dienstbarkeit zugunsten der Leitungsteileim anliegenden Privatgrundstück begründet gewesen. Maßgeblich seihierfür allein die tatsächliche Mitnutzung des Grundstücks durchdie Erdgastrasse am 3.10.1990 bzw. 25.12.1993 (In-Kraft-Treten desGBBerG) und nicht der Nachweis einer Vereinbarung eines energie-rechtlichen Mitbenutzungsrechts. Die Entstehung der Dienstbarkeitsei auch nicht durch § 9 Abs. 2 GBBerG gehindert gewesen, da zumhierfür maßgeblichen Zeitpunkt die Versorgungsleitung noch nicht imöffentlichen Straßenraum belegen war.

Aufgrund dieses Nutzungsrechts habe die Kl. daher, mangelsabweichender Vereinbarung zwischen den Parteien, nach § 1090Abs. 2 iVm § 1023 Abs. 1 Satz 1 BGB die Kosten der Sicherungs-maßnahme zu tragen. Der Aspekt, dass es sich dabei um eine vomGrundstückseigentümer genehmigte Drittveranlassung durch die Kl.handele, ändere wegen der dinglichen Wirkung des Nutzungsrechtsnichts. Wären die Kosten allerdings allein aufgrund von Folgemaß-nahmen der Verlegung von einzig durch eine straßenrechtlicheSondernutzungsgenehmigung nach StrVO/DDR 1974 gesichertenLeitungsteilen entstanden, so hätte das Versorgungsunternehmentrotz dieser dinglichen Sicherung die Kosten zu tragen. In einersolchen Fallgestaltung – die hier jedoch nicht gegeben war – würde essich bei den Änderungen nur um die tatsächlichen Auswirkungen derVerpflichtung des Versorgungsunternehmens zur Anpassung der imStraßenkörper befindlichen Leitungen – ohne Kostenerstattungsan-spruch – an die geänderten Straßenverhältnisse handeln.

Kommentar:Die vorliegende Entscheidung kann in ihrem Ergebnis überzeugen,nicht jedoch in ihrem Ausgang bei der Begründung. Das Obsiegen desVersorgungsunternehmens ist lediglich die Konsequenz aus der bereitsin ihren Ansätzen verfehlten Rspr. des BGH zur Folgekostentragung beider straßenbaubedingten Verlegung von Energieversorgungsleitun-gen im Beitrittsgebiet. Indem das Gericht mit seinen unrichtigenAnnahmen über die Rechts- und Verwaltungspraxis in der DDR über-leitungsfähige Rechtspositionen der Versorgungsunternehmen völligablehnt, liegt nicht zuletzt ein Verstoß gegen Art. 14, 3 Abs. 1 GG nahe.Daher verwundert es nicht, dass sich in naher Zukunft auch dasBVerfG mit der Rspr. des Senats zu dieser Streitfrage beschäftigen wird.(Nach Angaben des am häufigsten verklagten Versorgungsunter-nehmens sind bislang über 20 Verfassungsbeschwerden gegen letzt-instanzliche Urteile in diesen Rechtssachen eingereicht.)

Ohne sämtliche Kritikpunkte noch einmal zu wiederholen, sei hiergleichwohl auf die wichtigsten hingewiesen. Bereits die Grundlage,aus der der BGH den Rückforderungsanspruch der klagenden Bundes-republik ableitet (zunächst die Vorfinanzierungsvereinbarung iVm§ 1004 BGB; jetzt wohl Rechtsgedanke aus einer Gesamtschau von

§ 8 Abs. 2a, 8 u. 10 FStrG) bleibt völlig unklar; die hierzu gemachtenAusführungen können nicht überzeugen.

Des Weiteren lehnt das Gericht mangels vertraglicher Vereinbarungdas Bestehen eines energierechtlichen Mitbenutzungsrechts ab, dasnach Anl. II, Kap. V, Sachg. D, Abschn. III, Nr. 4b Satz 1 zum Eini-gungsV samt Folgekostenregelung in § 31 EnVO/DDR 1988 (GBl. IS. 89 idF v. 1990, GBl. I S. 509) übergeleitet worden wäre. Ein vomSenat zur Begründung dieser These herangezogenes Vertragsprinzipexistierte in der DDR, zumindest im staatlichen Bereich, tatsächlichnicht. (hierzu U. Geberding, RdE 2002, 1 ff.) Aber selbst wenn mandem Gericht hinsichtlich des Nichtbestehens eines energierechtlichenMitbenutzungsrechts folgen wollte und die Mitnutzung durch einestraßenrechtliche Sondernutzungsgenehmigung rechtfertigte, müsstekonsequenter Weise auch die Folgekostenregelung in § 13 Abs. 3StrVO/DDR 1974 mit übergeleitet werden. Auch der Entzug dieser mitden Worten des Senats »nur sehr schwachen Position« stellt einenenteignungsrechtlich relevanten Eingriff dar.

Um so mehr erstaunt, dass in der vorliegenden Entscheidung dieÜberleitung der straßenrechtlichen Folgekostenregelung in § 16 Abs. 1Buchst. c StrVO/DDR 1974 erwogen wird. Eingehendere Ausführun-gen hierzu konnte sich das Gericht – man mag fast sagen »zum Glück« –sparen, da es bereits an den Voraussetzungen für die Anwendungdieser Regelung fehlte. Sollte diese jedoch in einem anderen Fallgegeben sein und eine Überleitung angenommen werden, so würdendie Inkonsequenzen des BGH bei der Entscheidung der Folgekosten-fälle im Beitrittsgebiet erneut offen zu Tage treten. Aber selbst dafürhat das Gericht durch seine Entscheidung in der Rechtswegfrage imvergangenen Jahr bereits mit einer letzten Absicherung vorgesorgt (NJ2001, 481 [Leits.], mit Besprechungsaufsatz von Th. Hirse, 459 ff.).

Es bleibt also abzuwarten, wie das BVerfG die Verfassungsbeschwer-den insbes. gegen die Rspr. des III. Zivilsenats des BGH bescheidenwird. Sollte es zu Recht einen Verstoß gegen das GG annehmen, so darfman gespannt sein, welche Wege der BGH dann beschreitet.

Literaturhinweis:Th. v. Danwitz, DVBl 2000, 1562 ff.; H. Nicolaus, RdE 2000, 132 ff.;ders., RdE 2001, 213 ff.

Thomas Hirse, wiss. Assistent, Universität Rostock

� 02.6 – 9/02

Grundstückskauf/Rückabwicklung/ungerechtfertigte Bereicherung/Ablösung der Grundschuld/Darlehen/Wertersatz/Ersatz für Verwen-dungenBGH, Urteil vom 15. März 2002 – V ZR 396/00 (OLG Brandenburg)

BGB §§ 812, 818 Abs. 2 u. 3

a) Haftet der Käufer wegen ungerechtfertigter Bereicherung, kann derVerkäufer, der zugunsten des Darlehensgebers des Käufers das Grund-stück vor Eigentumsübertragung mit einer Grundschuld belastet hat,die Aufhebung oder Übertragung der Grundschuld verlangen, wennder Gläubiger zu deren Ablösung bereit ist; ein Anspruch auf Wert-ersatz besteht (jedenfalls) dann nicht (Abgrenzung zu BGHZ 112, 376).b) Reicht die Bereicherung des Käufers (Darlehensvaluta, Zinserspar-nis gegenüber anderen Kreditformen, Grundstücksnutzungen, Ersatzfür Verwendungen u.a.) zur Ablösung der Grundschuld nicht hin,steht der Anspruch des Verkäufers auf deren Aufhebung oder Über-tragung unter dem Vorbehalt der Zahlung des Restes Zug um Zug.

Problemstellung:Die Kl., ein Unternehmen der Treuhandanstalt, war seit dem 18.1.1993im Grundbuch als Eigentümerin eines ehem. volkseigenen Grund-stücks eingetragen. Mit Vertrag v. 27.8.1992 – handelnd durch voll-machtlose Vertreter – verkaufte sie das Grundstück für 875.000 DM

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479Neue Justiz 9/2002

an die Bekl. Die verkaufte Fläche wurde in einem der Urkunde bei-gefügten Lageplan schraffiert gekennzeichnet.

Mit Zusatzvereinbarung v. 17.12.1992 wurde dieser Vertrag unterMitwirkung des Liquidators der Kl. bzgl. der Fälligkeits- und Zahlungs-bedingungen geändert. Die Bekl. wurden bevollmächtigt, das Grund-stück schon vor Eigentumsübergang bis zur Höhe von 1,5 Mio. DMmit Grundpfandrechten zur Finanzierung der Kaufpreisforderungund ggf. für Investitionen zu belasten. Der Kaufpreis wurde zum31.12.1992 fällig gestellt zur Einzahlung auf ein Anderkonto desNotars. Der Besitzübergang sollte mit Eingang der Zahlung auf dasKonto erfolgen. Die Auszahlung an die Kl. war für den Zeitpunkt derlastenfreien Umschreibung des Grundstücks auf die Bekl. vereinbart.Am 17.12.1992 bestellten die Bekl. zugunsten der Kreissparkasse eineerstrangige Grundschuld i.H.v. 1,5 Mio. DM; die Eintragung des Grund-pfandrechts erfolgte am 23.1.1993. Die Sparkasse hinterlegte denKaufpreis beim Notar und die Bekl. nahmen das Grundstück in Besitz.

Am 22.7.1995 erteilte die BvS die Grundstücksverkehrsgenehmi-gung für den Vertrag v. 27.8.1992. Im Herbst 1995 stellte sich heraus,dass die im Lageplan ausgewiesene und verkaufte Fläche nichtidentisch mit dem grundbuchlich ausgewiesenen Grundstück war,sondern ein weiteres – kleines – Grundstück umfasste, das als Zufahrts-grundstück zu der öffentlichen Straße diente. Die Bekl. trat daraufhinam 4.10.1995 von den Verträgen zurück. Die Kl. bemühte sich in derFolge um den Ankauf des Zufahrtsgrundstücks; ihr gelang jedoch nurder Abschluss eines befristeten Pachtvertrags und der Zukauf derTeilfläche eines weiteren Grundstücks, dass das verkaufte Grundstückmit der Straße verbindet.

Am 29.2.1996 schlossen die Parteien eine weitere Vereinbarung, inder der Kaufpreis auf 650.000 DM herabgesetzt wurde. Ferner wurdenden Bekl. die Pächterstellung und die hinzuerworbene Teilfläche über-tragen. Dieser Vertrag wurde ebenfalls von vollmachtlosen Vertreternabgeschlossen und am 30.5.1996 notariell beurkundet, aber von derBvS nicht genehmigt.

Das Begehren der Kl. richtete sich auf die Zustimmung der Bekl. zurAuszahlung des hinterlegten Kaufpreises. Als Anspruchsgrundlageberief sie sich auf die Wirksamkeit des Kaufvertrags, ergänzend aufeinen Ausgleichsanspruch für die Belastung des Grundstücks. Hilfs-weise beantragte die Kl., die Wirksamkeit des Kaufvertrags v. 27.8.1992festzustellen.

Das LG wies die Klage ab. Das OLG gab dem Hauptantrag der Kl.durch Versäumnisurteil statt und wies den Einspruch der Rechts-nachfolgerin der Sparkasse, die als Nebenintervenientin den Bekl.beigetreten war, zurück.

Die Revision der Nebenintervenientin führte zur Wiederherstellungdes klageabweisenden Urteils des LG durch den BGH.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Der BGH befasst sich zunächst mit Problemen der prozessualenBefugnisse der Nebenintervenientin, die hier nicht referiert werden.

In der Sache selbst trifft das Gericht folgende Feststellungen zurWirksamkeit der vertraglichen Vereinbarungen:

a) Der Kaufvertrag v. 27.8.1992 bildet keine Anspruchsgrundlage fürdas Begehren der Kl., da er von vollmachtlosen Vertretern geschlossenund vom Liquidator nur unter erheblichen Abweichungen genehmigtwurde (§ 177 Abs. 1 BGB).

b) Der Vertrag v. 17.12.1992 greift als Anspruchsgrundlage nicht,da die Bekl. mit ihrer Erklärung v. 4.10.1995 wirksam zurückgetretensind. Wegen der Abweichung des Verkaufsgegenstands von dem(grundbuchlich) veräußerbaren Grundstück hatte die Kl. ihre Eigen-tumsverschaffungspflicht nicht erfüllt. Es fehlte die rechtlich gesi-cherte Anbindung an den öffentlichen Straßenraum. Die Rücktritts-befugnis der Bekl. erstreckte sich auf den ganzen Vertrag, weil es sichum ein einheitliches, unteilbares, nur insgesamt rückabwickelbaresGeschäft handelte (§§ 440 Abs. 1, 325 Abs. 1 BGB aF).

c) Die Vereinbarung v. 30.5.1996 war schließlich unwirksam, weildie BvS die Genehmigung hierfür versagt hatte.

Im Hinblick auf die Frage des Wertersatzes befasst sich der BGH mitder Konstruktion der Rückabwicklungspflichten der Parteien. Er gehtdavon aus, dass die Bekl. den Rücktritt nicht zu vertreten haben unddaher nach § 327 Satz 2 BGB aF für die Rückgewähr nach denGrundsätzen der ungerechtfertigten Bereicherung haften. Auf Grund-lage der §§ 346 ff. BGB aF haben sie Zug um Zug gegen die Rückgabe-pflicht der Kl. den Besitz und die Grundschuld herauszugeben. Berei-cherungsgegenstand sei nicht das vom Käufer unbelastet erlangteGrundeigentum, sondern die erlangte Kreditsicherung, die sie vordem Eigentumsübergang bestellt hätten. Insofern handele es sich umeine andere Ausgangssituation als bei den bereits entschiedenen Fällen(BGHZ 112, 376; 140, 275, 277 = NJ 1999, 426 [Leits.]), bei denen es umdie Herausgabe eines Gegenstands in Natur zzgl. des Wertersatzes inHöhe des Nominalbetrags des Grundpfandrechts Zug um Zug gegenBefreiung von der gesicherten Verbindlichkeit ging. Hier sei im Gegen-satz dazu das Eigentum noch nicht übergegangen, jedoch wurde esdurch Handlungen der Bekl. in Ausübung der Vollmacht der Kl. belas-tet. Das erfordere eine Rückabwicklung nach folgenden Grundsätzen: – die Herausgabe des Besitzes an die Kl.,– die Erfüllung des Anspruchs der Kl. auf Löschung der Grundschuld.

Soweit den Bekl. hierzu die finanziellen Mittel fehlten, löse dies keinenAnspruch auf Wertersatz unter Befreiung von der primären Leis-tungspflicht nach § 818 Abs. 2 BGB aus. Denn der Wertersatz erfor-dere wiederum Geldmittel, die den Bekl. nicht zur Verfügung stünden.Es verbleibe daher – trotz der finanziellen Hindernisse – bei demAnspruch der Kl. auf Löschung des Grundpfandrechts, allerdingsunter Berücksichtigung der Begrenzungen aus § 818 Abs. 3 BGB.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze entwickelt der BGH dasModell der Rückabwicklung für den konkreten Fall. Danach haben dieBekl. durch die rechtsgrundlos hingegebene Sicherheit in Form desDarlehenskapitals einen ungerechtfertigten Vermögensvorteil erlangt.Dieses Kapital müsse eingesetzt werden, um den Darlehensrück-zahlungsanspruch zu tilgen und damit den Löschungsanspruch ausdem Sicherungsvertrag mit dem Kreditgeber auszulösen. Soweit dasKapital anderweitig als für die Erfüllung der Kaufpreisforderung ver-wendet worden sei, stelle sich die Frage, ob sich die Bereicherung indem eingetauschten Vermögenswert fortgesetzt hat.

Zur Abwicklung des Rücktritts (Löschung der Grundschuld) könnendie Bekl. von der Kl. die Freigabe des auf dem Notaranderkonto befind-lichen Geldbetrags verlangen (§ 346 BGB). Wurden von den Bekl. ausdem gesicherten Darlehen Verwendungen auf das Grundstück getä-tigt, so ist ihre Bereicherung in Höhe dieser Verwendungen gemindert.Soweit der verbleibende Betrag für die Löschung nicht ausreicht, kön-nen die Bekl. die Ablösung des Grundpfandrechts von der Erstattungihrer Verwendungen abhängig machen (§§ 327 Satz 1, 347 Satz 2 BGBaF, §§ 994 ff. BGB). Falls dann auf ihrer Seite noch eine Bereicherungexistiert, ihnen aber die finanziellen Mittel zur Ablösung fehlen, sindsie verpflichtet, hierfür einen Ersatzkredit zu beschaffen und die dabeianfallenden zusätzlichen Kosten (höhere Zinsen) bis zu ihrer Bereiche-rung selbst zu tragen. Bei Überschreitung der Bereicherungsgrenze kanndie Kl. die Ablösung nur gegen Erstattung des Mehrbetrags verlangen.

Allein der Risikosphäre der Bekl. zuzurechnen sind hingegen dieAufwendungen, die aus Ansprüchen der Darlehensgeberin wegenVerzögerungs- oder Erfüllungsschäden resultieren. Sie sind nicht nach§ 818 Abs. 3 BGB abzugsfähig.

Kommentar:Bei gescheiterten bzw. rückabzuwickelnden Grundstücksverträgenstellt sich die Frage nach dem Modell der Rückabwicklung unterBerücksichtigung bereits erbrachter Leistungen der Parteien und ggf.schon getätigter Verwendungen auf das Grundstück. Nach der vor derSchuldrechtsreform geltenden Fassung des BGB, die gem. Art. 229 § 5

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Neue Justiz 9/2002480

EGBGB auf die vor dem 1.1.2002 entstandenen Schuldverhältnisseanzuwenden ist, führt der Rücktritt gem. § 346 BGB aF zu einem Rück-abwicklungsverhältnis zwischen den Parteien. Diese sind verpflichtet,einander die empfangenen Leistungen zurückzugewähren. Dabei ist eszunächst unerheblich, ob der Rücktritt aufgrund einer vertraglichenVereinbarung (Rücktrittsvorbehalt) oder auf gesetzlicher Grundlage(§§ 325, 326 BGB aF) erfolgte, weil die für den vertraglich vorbe-haltenen Rücktritt geltenden Vorschriften der §§ 346-356 BGB aFgem. § 327 BGB aF entsprechend für den Rücktritt auf gesetzlicherGrundlage anwendbar sind (zu Modifikationen vgl. Heinrichs, in:Palandt, 60. Aufl., Rn 6 Einf. vor § 346 BGB).

Welche Vorschriften für die dadurch ausgelösten Rückgabepflichtengelten, bestimmt sich wiederum nach der Frage, wer den Rücktrittverursacht hat. Den »Normalfall« bildet der Rücktritt als Reaktion aufPflichtverletzungen des Partners, z.B. die Nichterfüllung. In diesemFalle haftet der den Rücktritt Verursachende (Rücktrittsgegner) nach§ 347 Satz 1 BGB aF wie ein zur Herausgabe fremden EigentumsVerpflichteter nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Eigentums-herausgabeanspruchs, also nach den Maßstäben der §§ 985, 987, 989BGB (vgl. Heinrichs, aaO, Rn 6 ff. zu § 347 BGB mwN).

Für die Haftung des Rücktrittsberechtigten gilt hingegen § 347 Satz 1BGB aF nur ab Kenntnis von den Voraussetzungen des Rücktritts-rechts, weil er sich erst ab diesem Zeitpunkt auf die Folgen des Rück-tritts einstellen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt haftet er in entspre-chender Anwendung des § 327 Satz 2 BGB aF nach den Vorschriftendes Bereicherungsrechts, also mit der Begrenzung aus § 818 Abs. 3BGB. Hieraus können sich asymetrische Haftungsmaßstäbe für dieRückabwicklungspflichten ergeben.

Die bish.Rspr. des BGH zur Rückabwicklung von Grundstücksge-schäften ergibt sich aus der Entscheidung v. 26.10.1990 (BGHZ 112,376 = NJW 1991, 917). In diesem Falle handelte es sich um eine bereitsvollzogene Grundstücksübertragung, bei der die Käufer zunächst dasGrundstück belasteten und dann durch den Widerruf eines mit demGrundstücksvertrag verbundenen Bierlieferungsvertrags auch dasGrundstücksgeschäft nach § 139 BGB zu Fall brachten. Der BGH hattein dieser Entscheidung den Grundsatz aufgestellt, dass die Belastungeiner rechtsgrundlos erlangten Sache die Rückgabepflicht nichtberührt. In der Diskussion um die Frage, ob der zur Herausgabe Ver-pflichtete die Belastung vor der Herausgabe beseitigen muss, hatte ersich auf den Standpunkt gestellt, dass der Bereicherungsgläubigerneben der Herausgabe des (belasteten) Gegenstands nur Herausgabeder Vorteile verlangen kann, die der Bereicherungsschuldner für dieBelastungen erhalten hat. Dieser Standpunkt wurde damit begründet,dass § 812 BGB sich auf die Herausgabe der Sache in Natur richte.Bei einer belasteten Sache könne der Bereicherungsschuldner aberdie Sache nicht (mehr) so herausgeben, wie er sie empfangen habe.Daher greife dann § 818 Abs. 2 BGB ein, der den Bereicherungs-schuldner zum Wertersatz verpflichte. Der BGH verwies aber auch aufdie Alternative, dass der Bereicherungsschuldner die Belastungenlöschen lässt und dann die Sache unbelastet zurückgibt.

Von diesem Modell weicht die hier referierte Entscheidung des BGHnun unter Verweis auf die Besonderheiten des Falls ab und statuierteine Pflicht des Bereicherungsschuldners, die Belastung des Grund-stücks zu beseitigen. Ob die von der o.g. Entscheidung abweichendeFalllage dies rechtfertigt, ist zu bezweifeln und zwar sowohl aus rechts-systematischer wie auch aus praktischer Sicht.

Zunächst ist festzustellen, dass in diesen Fällen eine Rücküber-tragung des Grundstücks nicht in Betracht kommt, weil das Eigentumnoch nicht übergegangen ist. Weitere grundlegende Unterschiede zuder Rechtslage, wie sie der Entscheidung v. 26.10.1990 (aaO) zugrundelagen, sind aber nicht zu erkennen. Die Bereicherung des Käufers liegteinmal in der Einräumung des Besitzes und zum anderen in derErlangung von Darlehenskapital. Der BGH stellt selbst fest, dass daserlangte Kapital ein ungerechtfertigter Vermögensvorteil ist, weil es

auf der rechtsgrundlos hingegebenen Sicherheit des Verkäufers beruhte.Der Bereicherungsschuldner hat nun mit der Belastung des Grundstücksdieses in einer Weise verändert, die eine Herausgabe »in Natur« (alsounbelastet) nicht mehr ermöglicht, und damit die Voraussetzungen des§ 818 Abs. 2 BGB erfüllt. Denn es liegt nicht in der Hand des Bereiche-rungsschuldners, die Belastung rückgängig zu machen, weil Inhaberder Grundschuld der Darlehensgläubiger ist. Ob dieser sich auf eine(vorzeitige) Ablösung der Grundschuld einlässt, liegt allein in seinemErmessen. Insoweit kann die Lösung im Einzelfall eine einverständlicheAblösung der Grundschuld durch den Bereicherungsschuldner sein(dies hat ja auch der BGH in seiner Entscheidung v. 26.10.1990 nichtausgeschlossen); ein Modell für die Lösung des entstandenen Konfliktslässt sich aber daraus nicht herleiten. Die bisher vertretene Auffassung,wonach dem Bereicherungsgläubiger Wertersatz – also das erlangteKapital bis zur Bereicherungsgrenze des § 818 Abs. 3 BGB – zusteht,überzeugt daher aus rechtssystematischer Sicht auch für diese Fälle.

Die vom BGH hier entwickelte Konstruktion ist daneben auch wenigpraktikabel. Nach Auffassung des BGH trifft den Bereicherungsgläubi-ger die Pflicht, der Freigabe des auf dem Notaranderkonto befindlichenKapitals zugunsten des Bereicherungsschuldners zuzustimmen, damitdieser den Darlehensgeber befriedigen und die Löschung veranlassenkann. Im Gegenzug hat aber der Bereicherungsgläubiger keinerechtlichen Möglichkeiten, die Pflicht des Bereicherungsschuldnerszur Löschung der Grundschuld durchzusetzen. Er ist auf den gutenWillen des Bereicherungsschuldners und des Darlehensgebers ange-wiesen, falls keine diesbezüglichen vertraglichen Vereinbarungenvorliegen. Wie aber soll er auf die Erfüllung einer solchen Verpflich-tung klagen? Wie ist zu verfahren, wenn der Darlehensgläubiger dieAblösung der Belastung verweigert? Wenn dagegen der Bereiche-rungsgläubiger einen Anspruch aus § 818 Abs. 2 BGB auf das Dar-lehenskapital hat, kann er damit die Vollstreckung in das Grundstücku.U. verhindern und den Darlehensgeber befriedigen.

Prof. Dr. Ingo Fritsche, Fachhochschule für Rechtspflege NRW

� 02.7 – 9/02

Vermögensbewertung einer Vor-GmbH/Kapitalerhöhung/Bareinlage/freie Verfügung der GeschäftsführungBGH, Urteil vom 18. März 2002 – II ZR 11/01 (OLG Naumburg)

GmbHG §§ 7, 8 Abs. 2, 11, 55, 56, 57

a) Zur Frage der Bewertung des Vermögens einer Vor-GmbH, derenIngangsetzung in der Zeit zwischen Aufnahme der Geschäftstätigkeitund Eintragung in das Handelsregister bereits zu einer als Unter-nehmen anzusehenden Organisationseinheit geführt hat. b) Die Leistung einer Bareinlage aus einer Kapitalerhöhung, durch dieder Debetsaldo eines Bankkontos zurückgeführt wird, kann auch dannzur freien Verfügung erfolgt sein, wenn das Kreditinstitut der Gesell-schaft mit Rücksicht auf die Kapitalerhöhung auf einem anderenKonto einen Kredit zur Verfügung stellt, der den Einlagebetragerreicht oder übersteigt. c) Bei einer Kapitalerhöhung ist die Bareinlage schon dann zur (end-gültig) freien Verfügung der Geschäftsführung geleistet worden,wenn sie nach dem Kapitalerhöhungsbeschluss in ihren uneinge-schränkten Verfügungsbereich gelangt ist und nicht an den Einlegerzurückfließt (Aufgabe von BGHZ 119, 177 – Leits. b + c). d) Bei der Anmeldung der Kapitalerhöhung zur Eintragung in dasHandelsregister hat die Geschäftsführung zu versichern, dass derEinlagebetrag für die Zwecke der Gesellschaft zur (endgültig) freienVerfügung der Geschäftsführung eingezahlt und auch in der Folgenicht an den Einleger zurückgezahlt worden ist.

Anm. der Redaktion: Eine gleichlautende Entscheidung hat der BGH amselben Tag unter dem Az. II ZR 369/00 getroffen.

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481Neue Justiz 9/2002

� 02.8 – 9/02

Leistung einer Bareinlage aus Kapitalerhöhung/Verfügungsbereichder Geschäftsführung einer GesellschaftBGH, Urteil vom 18. März 2002 – II ZR 363/00 u. II ZR 364/00 (OLG Naumburg)

GmbHG §§ 7, 8 Abs. 2, 55, 56, 57

a) Die Leistung einer Bareinlage aus einer Kapitalerhöhung, durch dieder Debetsaldo eines Bankkontos zurückgeführt wird, kann auch dannzur freien Verfügung erfolgt sein, wenn das Kreditinstitut der Gesell-schaft mit Rücksicht auf die Kapitalerhöhung auf einem anderenKonto einen Kredit zur Verfügung stellt, der den Einlagebetragerreicht oder übersteigt. b) Bei einer Kapitalerhöhung ist die Bareinlage schon dann zur (end-gültig) freien Verfügung der Geschäftsführung geleistet worden,wenn sie nach dem Kapitalerhöhungsbeschluss in ihren uneinge-schränkten Verfügungsbereich gelangt ist und nicht an den Einlegerzurückfließt (Aufgabe von BGHZ 119, 177 – Leits. a + b). c) Bei der Anmeldung der Kapitalerhöhung zur Eintragung in dasHandelsregister hat die Geschäftsführung zu versichern, dass derEinlagebetrag für die Zwecke der Gesellschaft zur (endgültig) freienVerfügung der Geschäftsführung eingezahlt und auch in der Folgenicht an den Einleger zurückgezahlt worden ist.

� 02.9 – 9/02

Amtshaftung der Gemeinde/Sicherungsmaßnahmen gegen Über-schwemmungsschäden/Erschließung eines BaugebietsBGH, Urteil vom 4. April 2002 – III ZR 70/01 (OLG Dresden)

BGB § 839 Abs. 1

Zu den Amtspflichten einer Gemeinde, bei der Erschließung einesBaugebiets vorläufige Sicherungsmaßnahmen gegen die Überschwem-mung angrenzender Grundstücke durch Niederschlagswasser zutreffen.

Problemstellung:Die Kl. verlangen von einer Gemeinde in Sachsen den Ersatz des Scha-dens i.H.v. 97.752,85 DM, der nach ungewöhnlich heftigen Nieder-schlägen in den Nacht- und Morgenstunden des 23.8.1994 entstand.Sie sind Eigentümer eines mit einem Einfamilienhaus bebautenHanggrundstücks, welches oberhalb an ein Gelände grenzt, das bis1992 landwirtschaftlich genutzt wurde und im Eigentum der bekl.Gemeinde stand. Ein 1992 von der Bekl. beschlossener Bebauungsplansah u.a. für dieses Gelände ein Baugebiet vor. Das Grundstück der Kl.grenzte ursprünglich an den Seiten sowie bergseits an einen Erdwallund kleinen Graben, welche das Niederschlagswasser auch vomklägerischen Grundstück abhalten sollten. Im Zuge der Bebauung ließdie Bekl. den Erdwall und den Graben beseitigen sowie Mutterbodenabtragen; Arbeiten an der Kanalisation waren zum Schadenszeitpunktnicht abgeschlossen. Die infolge der hohen Niederschläge am Scha-denstag entstandenen Wassermassen flossen über das Grundstück derKl. und überschwemmten den Keller des Wohnhauses.

LG und OLG haben die Klage abgewiesen. Das OLG schloss Amts-haftungsansprüche gegen die Bekl. wegen einer fehlerhaften Überpla-nung des Baugebiets mit der Begründung aus, dass die Kl. – anders alsin den sog. Altlastenfällen – jedenfalls nicht geschützte »Dritte« iSd§ 839 BGB seien. Pflichtverletzungen könnten auch bei der Sammlungund Beseitigung der Abwässer im Gemeindegebiet nicht angenommenwerden, weil das abfließende Niederschlagswasser kein AbwasseriSd § 62 Abs. 1 des Sächs. WasserG (SächsWG) darstelle. Auch ausGesichtspunkten des Hochwasserschutzes oder der Verkehrssicherungstehe den Kl. kein Schadensersatzanspruch zu, weil die Bekl. grund-sätzlich nicht solche Entwässerungssysteme zu schaffen brauche, die

derart große Niederschlagsmengen wie die angefallenen abführenkönnten. Ebenso keinen Erfolg brachten die Ausführungen der Kl.,wonach der bisherige Graben mit dem Erdwall für den Schutz vor demHochwasser ausreichend gewesen und deswegen die Bekl. verpflichtetgewesen sei, diese Einrichtungen vor Errichtung einer funktionsfähi-gen Kanalisation aufrechtzuerhalten. Ein Sachverständigengutachtenhabe ergeben, dass selbst die Aufrechterhaltung des Wassergrabensund des Erdwalls die Überschwemmung nicht verhindert hätte.Ebenfalls unbegründet sei ein Schadensersatzanspruch aus § 823Abs. 2 BGB iVm § 93 Abs. 3 SächsWG, wonach der natürliche Ablaufwild abfließenden Wassers nicht zum Nachteil eines tiefer liegendenGrundstücks verstärkt oder verändert werden dürfe. Gegen diesesVerbot habe die Beseitigung des Erdwalls nicht verstoßen, weil dieBekl. keine Verpflichtung besitze, künstliche Abflusshindernissedieser Art zu errichten. Der Auffassung, wonach eine Verstärkung desWasserablaufs durch Abtragen des Mutterbodens und Flächenver-siegelung entstanden sei, wurde durch das OLG entgegengehalten,dass die Kl. die Kausalität für die Überschwemmung nicht nach-gewiesen hätten. Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff seiendurch das in Sachsen damals noch geltende StaatshaftungsG ausge-schlossen. Außerdem fehle es an einer Darlegung oder an sonstigenAnhaltspunkten für eine hoheitliche Tätigkeit der Bekl. bei Durch-führung der Bauarbeiten.

Die Revision der Kl. führte zur Aufhebung des OLG-Urteils und zurZurückverweisung der Sache an das BerufungsG.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:1. Der BGH hebt hervor, dass für Fehler bei der Planung oder derErrichtung von Erschließungsanlagen die Gemeinde nach Amtshaf-tungsgrundsätzen (§ 839 BGB, Art. 34 GG) einzustehen hat (vgl. fürden Straßenbau: Senatsurt. v. 13.5.1982, VersR 1982, 772, 773 = NVwZ1982, 700, 701, und v. 13.6.1996, NJW 1996, 3208, 3209; für Entwäs-serungsanlagen: BGHZ 140, 380, 384). Ihr oblag gem. § 123 BauGBnach Maßgabe der Vorschriften des Landesrechts die Erschließung desBaugebiets, was u.a. die Herstellung von Einrichtungen zur Sammlungund Beseitigung des Abwassers zum Inhalt hat.

2. Der bekl. Gemeinde lässt sich grundsätzlich nicht zum Vorwurfmachen, dass zum Schadenszeitpunkt die Straßen- und Grundstücks-entwässerung im Erschließungsgebiet noch nicht vorhanden bzw.nicht funktionstüchtig war. Allerdings entsteht die vom BerufungsGnicht ausdrücklich beantwortete Frage, ob für das unmittelbar an dasBaugebiet angrenzende Grundstück der Kl. vorläufige Sicherungs-maßnahmen gegen Überschwemmungen geboten waren (s. auchSenatsurt. v. 13.5.1982, aaO). Dabei hätte es sich aufgedrängt, dieschon existierenden Schutzvorkehrungen (Damm und Graben) voreinem Anschluss der höher gelegenen Flächen an die Kanalisation derBekl. nicht zu beseitigen.

Der BGH bejaht die Frage nach vorläufigen Sicherungsmaßnahmen.Zum einen war wegen der steilen Hanglage das Hausgrundstück derKl. ohnehin bei stärkeren Niederschlägen von Überflutungen bedroht.Zum anderen hatte die Bekl. durch ihre Erschließungsmaßnahmendiese Gefahr deutlich vergrößert, wodurch eine besondere, nicht an denGrenzen des Erschließungsgebiets endende Verantwortung entstand.Mit der Abtragung von Mutterboden, der einen Teil des Niederschlags-wassers gebunden hätte, und der Versiegelung weiterer Flächen hattedie Gemeinde, wie das BerufungsG mit Blick auf § 93 Abs. 3 SächsWGbindend feststellte, den natürlichen Ablauf des wild abfließendenWassers verstärkt. Unter Hinweis auf die eigene Rspr. (BGHZ 140, 380,388) betont der BGH die allgemeine Amtspflicht der Gemeinde auchgegenüber den betroffenen Grundstückseigentümern, die Wohn-grundstücke eines Baugebiets im Rahmen des Zumutbaren auch vorden Gefahren zu schützen, die durch Überschwemmungen auftretenkönnen. Diese Amtspflicht gilt entsprechend für daran angrenzendeBereiche. Eine Unzumutbarkeit, insbes. zwingende tatsächliche oder

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Neue Justiz 9/2002482

rechtliche Gründe für eine Beseitigung der das Grundstück der Kl.schützenden Einrichtungen, hat die Bekl. nicht geltend gemacht.Vielmehr hat sie sogar behauptet, vor dem Schadensereignis wiedereinen Erdwall in zumindest der ursprünglichen Höhe aufgeschüttet zuhaben, nachdem es bereits zwei Monate zuvor zu einer Überflutungdieser Parzelle gekommen war.

3. Die Feststellungen des BerufungsG, wonach die Kausalität zwi-schen den Maßnahmen der Bekl. für den von den Kl. geltend gemach-ten Schaden nicht nachgewiesen sei, sind verfahrensfehlerhaft getrof-fen. Wenn man mit dem OLG von den im Sachverständigengutachtenberechneten Wassermengen ausgeht, durfte das BerufungsG nichtohne weitere Sachaufklärung annehmen, die Schäden wären ingleichem Umfang auch bei noch vorhandenem Wall und Grabenentstanden. Der Sachverständige ist unter der Voraussetzung einesgeringsten anzunehmenden Niederschlags im Einzugsbereich undeines maximalen Retentionsvolumens durch Damm und Graben zudem Ergebnis gelangt, dass das Grundstück auch bei den für die Kl.günstigsten Werten noch mit Wassermassen überflutet worden wäre.Diese hypothetische Menge beläuft sich indes auf weniger als einSiebtel des hiernach tatsächlich auf das Grundstück geflossenenNiederschlags. Angesichts dieses Missverhältnisses liegt es nahe undlässt sich zumindest nicht ausschließen, dass der Schaden bei Existenzvon Wall und Graben trotz des ungewöhnlichen Starkregens jedenfallserheblich geringer ausgefallen wäre, zumal nach dem Klagevortragdas Wasser im Keller des Wohnhauses lediglich 20 cm hoch gestandenhat.

Kommentar:Wiederholt hatte sich die Rspr. mit öffentlich-rechtlichen Ersatz-leistungspflichten der Gemeinden bzw. Gemeindezweckverbändein den neuen Ländern infolge von Überschwemmungsschäden zubeschäftigen (z.B. OLG Jena zu Überschwemmungsschäden bei imBau befindlichem Abwasserkanal, OLG-NL 2002, 38; LG Leipzigzu Planungsmängeln und Verletzung von Kontrollpflichten beiAbwasserbeseitigung, LKV 2001, 85). Bei Schäden infolge einesungewöhnlich hohen Niederschlags hatten aber amtshaftungsrecht-liche Ansprüche oft keinen Erfolg. Hinter diesem Ergebnis steht dieÜberlegung, dass gemeindliche Ausbau- und Abhilfemaßnahmen anobjektive Grenzen der Finanzierbarkeit stoßen und dementsprechenddie Amtspflichten nicht uferlos ausgedehnt werden können. Einsolcher Grund kann jedoch nicht in einem solchen Falle vorliegen, inwelchem bereits bestehende Vorsorgeeinrichtungen den Schadenhätten verhindern oder vermindern können.

Die vorgestellte Entscheidung festigt deshalb die amtshaftungs-rechtliche Stellung eines infolge von Überschwemmungen Geschä-digten zumindest in den Fällen, in denen während der Realisierungvon Bauvorhaben Veränderungen an den Anlagen zur Vorsorge vonÜberschwemmungen in Folge starken Niederschlags vorgenommenwurden. Es müssen auch vorläufige Sicherungsmaßnahmen im Sinneder Nichtveränderung bestehender Einrichtungen getroffen werden,bis die Kanalisationsarbeiten abgeschlossen sind.

Literaturhinweis:W. Spannowsky, »Entwässerung der Baugebiete – Aufgabe und Ver-antwortung«, ZfBR 2000, 449; H. Schmid, »Haftung für Überschwem-mungsschäden«, VersR 1995, 1269.

Dr. Hans Lühmann, Humboldt-Universität Berlin

� 02.10 – 9/02

Schadensersatz/Verfahren zur Abgabe eines Angebots für Fassaden-sanierung/Arbeitserlaubnisse ausländischer Arbeitnehmer/Ausschlussder Bietergemeinschaft BGH, Urteil vom 16. April 2002 – X ZR 67/00 (OLG Brandenburg)

BGB § 276; VOB/A § 25 Nr. 1 Abs. 1

Hätte der klagende Bieter mit seinem Angebot nach § 25 Nr. 1 Abs. 1VOB/A ausgeschlossen werden müssen, besteht ein auf das positiveInteresse gerichteter Schadensersatzanspruch auch dann nicht, wennder beklagte Auftraggeber die Nichtberücksichtigung des Angebotsnicht auf diesen Ausschlusstatbestand gestützt hat.

� 02.11 – 9/02

Vermögensrecht/Erstattung gewöhnlicher Betriebs- und Erhaltungs-kosten/Aufrechnung gegen Ansprüche auf NutzungsherausgabeBGH, Urteil vom 19. April 2002 – V ZR 439/00 (LG Erfurt)

VermG §§ 3 Abs. 3, 7 Abs. 7

Der Verfügungsberechtigte kann mit dem Anspruch auf Erstattunggewöhnlicher Betriebs- und Erhaltungskosten nur insoweit gegen-über dem Anspruch des Berechtigten auf Herausgabe von Nutzungenaufrechnen, als die Aufwendungen auf die Zeit entfallen, für die derBerechtigte Entgelte herausverlangt; diese Begrenzung gilt fürGegenansprüche wegen außergewöhnlicher Erhaltungsmaßnahmennicht.

Der bekl. Freistaat war Eigentümer eines Grundstücks, das er bis31.5.1995 selbst nutzte. Ab 1.6.1995 verpachtete er das Objekt andie I. GmbH & Co. KG und erzielte bis 28.2.1996 einen Pachtzinsvon 109.026,63 DM. Mit bestandskräftig gewordenem Restitutions-bescheid v. 13.10.1994 wurde das Eigentum auf die Berechtigten, dieVermögensverwaltungs- und Treuhandgesellschaft des D. mbH (V. D.)und die Vermögensverwaltung der D. (D.), übertragen. Der Bekl.kehrte einen Teilbetrag des Pachtzinses von 46.022,16 DM an dieBerechtigten aus.

Wegen des Rests von 63.004,77 DM hat die Kl. unter Berufung aufbestimmte Vereinbarungen mit der V. D. und der D. den Bekl. inAnspruch genommen. Dieser hat mit Ansprüchen auf Erstattungvon Instandhaltungskosten (Rechnungen, ausgestellt zwischen dem4.7.1994 und dem 30.5.1995) i.H.v. 60.833,10 DM und von Betriebs-kosten (Stromlieferungen vom 1.7.1994 bis 30.6.1995; Gaslieferungenvom 27.1.1992 bis 21.8.1995; Wasserlieferungen aus den Jahren 1993bis Anfang 1995; zeitlich nicht näher bestimmte Müllkosten) i.H.v.69.762,34 DM die Aufrechnung erklärt.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Sprungrevision des Kl. hatder BGH das LG-Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitenVerhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Aus den Entscheidungsgründen: I. Das LG meint, der Anspruch des Bekl. auf Erstattung der ihmunstreitig entstandenen Aufwendungen (§§ 7 Abs. 7 Satz 4, 41 Abs. 1VermG) sei nicht auf die Zeitspanne beschränkt, für die die Kl.nach § 7 Abs. 7 Satz 2 VermG die Herausgabe des Pachtzinses verlangt.Die Klageforderung sei deshalb durch die Aufrechnung mit denErstattungsansprüchen für Instandsetzungsaufwand und Betriebs-kosten (jeweils in der von dem Bekl. bezeichneten Reihenfolge)erloschen.

Dies hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. II. Die Revision nimmt die Auffassung des LG, die Kl. sei kraft

Abtretung Inhaberin der Ansprüche der Berechtigten auf Herausgabevon Pachtzinsen geworden, als ihr günstig hin. Die nach § 559 Abs. 2Satz 1 ZPO aF gleichwohl gebotene rechtliche Überprüfung führtzu keinem anderen Ergebnis. Hierbei kann es der Senat offen lassen,ob die notarielle Abtretung des Rückübertragungsanspruchs der V. D.v. 12.12.1995 deshalb ins Leere ging, weil bei Zustellung des Rück-übertragungsbescheids v. 13.10.1994 noch die Zedentin Inhaberin desRückübertragungsanspruchs war (vgl. Redeker/Hirtschulz/Tank, in:

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483Neue Justiz 9/2002

Fieberg/Reichenbach/Messerschmidt/Neuhaus, VermG, § 3 Rn 40 ff.);ihr kann jedenfalls der Wille der Beteiligten entnommen werden, derKl. die Rechtsinhaberschaft an den Herausgabeansprüchen des § 7Abs. 7 Satz 2 VermG, die mit der Bestandskraft des Restitutions-bescheids entstanden sind (§ 7 Abs. 7 Satz 3 VermG), zu verschaffen.Im Ergebnis Gleiches gilt für die privatschriftliche Vereinbarung derKl. mit der D. vom gleichen Tage, auf die sich das LG ebenfalls stützt.Sie schafft zwar nur einen Rahmen für das abgestimmte Verhaltenmit der D., die Abtretung des streitigen Anspruchs fügt sich aber indiesen ein.

III. Das Urteil des LG, das (neben einem Hinweis auf den Gesetzes-text) darauf abhebt, die Erstattungsansprüche könne der Verfügungs-berechtigte – ohnehin – nach § 3 Abs. 3 Satz 4 VermG selbständig gel-tend machen, verkennt das bei seinem Erlass bereits umrissene (BGHZ136, 57 = NJ 1997, 644; 137, 183 = NJ 1998, 206 [bearb. v. Schmidt]),durch die Entscheidung des Senats v. 14.7.2000 (WM 2000, 2055 = NJ2001, 97) abschließend geklärte, Verhältnis der Erstattungsansprüchenach § 3 Abs. 3 und § 7 Abs. 7 VermG.

1. Aus der vom Gesetz für die Vermögensrestitution gewählten»Anspruchslösung« (§§ 3, 34 VermG) folgt, dass dem Verfügungsbe-rechtigten bis zur Bestandskraft des Rückübertragungsbescheids unddem Eintritt der weiter in § 34 VermG genannten Voraussetzungen dasEigentum verbleibt. Als Eigentümer stehen ihm grundsätzlich die ausdem Vermögenswert gezogenen Nutzungen zu (§ 7 Abs. 7 Satz 1VermG), die Kosten der Erhaltung der Sache trägt er selbst (Senat,BGHZ 128, 210, 211 ff. = NJ 1995, 419). Außergewöhnliche Erhal-tungskosten, die durch Maßnahmen verursacht sind, die der Verfü-gungsberechtigte nach § 3 Abs. 3 VermG auch nach Stellung desRestitutionsantrags (§ 30 VermG) vornehmen darf, treffen in den in§ 3 Abs. 3 Satz 4, mittelbar Satz 5 VermG, geregelten Fällen (zurweitergehenden Auslegung: BGHZ, aaO) den Berechtigten, soweit derVerfügungsberechtigte nicht anderweit Ausgleich erhalten hat. DasGesetz geht davon aus, dass der danach zu erstattende Aufwand sichnach der Rückübertragung im Wert des vom Berechtigten erlangtenEigentums niederschlägt (für Aufwendungen vor dem Beitritt vgl. denWertausgleich des § 7 Abs. 1 bis 5 VermG). Dies leuchtet in den vomGesetz genannten Fällen, insbes. den Modernisierungs- und Instand-setzungsgeboten und den zur Anhebung des Mietzinses berechtigen-den Maßnahmen, unmittelbar ein.

2. Gewöhnliche Erhaltungskosten und Kosten des laufendenBetriebs sind dagegen nur in dem besonderen Fall zu erstatten, dassder Berechtigte Anspruch auf die dem Verfügungsberechtigten ab1.7.1994 zustehenden Entgelte iSd § 7 Abs. 7 Satz 2 VermG erhebt(dazu zuletzt Senat, Urt. v. 14.12.2001, WM 2002, 613 = NJ 2002, 208).Wie der Senat in der Entscheidung v. 14.7.2000 im Anschluss an denUmstand, dass der Erstattungsanspruch nur aufrechnungsweise geltendgemacht werden kann (§ 7 Abs. 7 Satz 4 VermG), deutlich gemacht hat,erklärt sich das Recht, Ausgleich für gewöhnliche Aufwendungen zuerhalten, aus der Zuweisung der Nutzungsentgelte an den Berechtig-ten. Für den Zeitraum, in dem die Nutzungen dem Verfügungsbe-rechtigten verbleiben, steht ihm ein Anspruch auf Erstattung dessen,was zum gewöhnlichen Unterhalt rechnet, nicht zu (BGHZ 136, 57,65; 137, 183, 188). Ähnlich wie im Verhältnis der außergewöhnlichenAufwendungen zur Sachsubstanz besteht – aus der Sicht des Gesetz-gebers – zwischen den laufenden Nutzungen und den gewöhnlichenErhaltungskosten ein den Erstattungsanspruch bestimmender Zusam-menhang.

3. Das LG wird nach Zurückverweisung der Sache … zu prüfenhaben, inwieweit der Instandsetzungsaufwand und, soweit dies über-haupt in Frage kommt, die Betriebskosten außergewöhnlichen Auf-wand darstellen. Soweit dies zu verneinen ist, scheidet ein Ersatz desInstandsetzungsaufwands gänzlich aus, denn die zuletzt berechnetenLeistungen (Rechnungen v. 30.5.1995) liegen vor dem Zeitpunkt, abdem die Kl. Nutzungsherausgabe verlangt.

� 02.12 – 9/02

Schadensersatz/Verkehrsunfall/BegutachtungBGH, Urteil vom 23. April 2002 – VI ZR 180/01 (OLG Naumburg)

StVO § 3 Abs. 1, Abs. 2a; ZPO §§ 286, 402

a) Beim Zusammenstoß zwischen einem Pkw und einem Fußgängerist die Vermeidbarkeit eines Unfalls auch dann gegeben, wenn derFußgänger bei Einhalten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit desPkw den Gefahrenbereich vor Eintreffen des Fahrzeugs verlassengehabt hätte (»zeitliche Vermeidbarkeit«). b) Reicht das urkundenbeweislich verwertete Gutachten aus einemErmittlungsverfahren nicht aus, um die von einer Partei zum Beweis-thema angestellten Überlegungen und die in ihrem Vortrag ange-sprochenen aufklärungsbedürftigen Fragen zu beantworten, so mussder Tatrichter auf Antrag der Partei einen Sachverständigen hinzu-ziehen und eine schriftliche oder mündliche Begutachtung anordnen.

� 02.13 – 9/02

Sachenrechtsbereinigung/Anspruchsberechtigung beim Kauf einesEigenheims mit zwei WohnungenBGH, Urteil vom 17. Mai 2002 – V ZR 193/01 (OLG Naumburg)

SachenRBerG §§ 120 Abs. 2, 121 Abs. 2

Ein Anspruch auf Ankauf des Grundstücks steht dem Käufer einesehedem volkseigenen Eigenheims auch dann zu, wenn er nur eine vonzwei vorhandenen Wohnungen vertraglich genutzt hat.

Problemstellung:Gegenstand des Rechtsstreits ist die Anspruchsberechtigung der Kl.nach dem SachenRBerG bezogen auf ein mit einem Wohnhaus bebau-tes Grundstück, welches dem Bekl. mit einem am 2.9.1999 bestands-kräftig gewordenen Restitutionsbescheid rückübertragen wurde.Die Kl. bewohnten in diesem Wohnhaus auf der Grundlage einesam 11.7.1988 mit dem VEB Gebäudewirtschaft abgeschlossenenschriftlichen Mietvertrags eine 2 1/2-Zimmerwohnung; eine zweiteim Wohnhaus vorhandene Wohnung war anderweitig vermietet.

Mit notariellem Vertrag v. 5.2.1990 mit dem Rat der Stadt I. alsRechtsträger des volkseigenen Grundstücks kauften die Kl. »das in I.,G.-Str., gelegene Eigenheim (Einfamilienhaus)« und beantragten,ihnen ein Nutzungsrecht an dem Grundstück zu verleihen. ZurVerleihung des Nutzungsrechts kam es nicht mehr. Der Kaufvertragwurde in Anbetracht des inzwischen gestellten Restitutionsantragsnicht vollzogen.

Das LG hat der auf Feststellung ihrer Anspruchsberechtigung nachdem SachenRBerG gerichteten positiven Feststellungsklage der Kl.stattgegeben. Das OLG hat sie mit der Begründung abgewiesen, dassein Anspruch der Kl. auf Ankauf des Grundstücks nach § 121 Abs. 2SachenRBerG deshalb nicht bestehe, weil das Mietverhältnis der Kl.nur eine von mindestens zwei in dem Gebäude befindlichen Woh-nungen zum Gegenstand gehabt habe.

Der BGH hat das Berufungsurteil aus Rechtsgründen aufgehobenund die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung andas BerufungsG zurückverwiesen.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Nach § 121 Abs. 2 SachenRBerG steht dem Nutzer ein Anspruch aufAnkauf des Grundstücks zu, wenn er a) aufgrund eines bis zum18.10.1989 abgeschlossenen Miet-, Pacht- oder sonstigen Nutzungs-vertrags ein Eigenheim am 18.10.1989 genutzt, b) bis zum Ablauf des14.6.1990 einen wirksamen Kaufvertrag mit einer staatlichen Stelle derDDR über dieses Eigenheim geschlossen hat und c) dieses Eigenheimam 1.10.1994 zu eigenen Wohnzwecken nutzte. Im vorliegendenFall sind dann, wenn es sich bei dem auf dem Grundstück befindlichen

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Neue Justiz 9/2002484

Gebäude um ein Eigenheim iSv § 5 Abs. 2 Satz 1 SachenRBerG han-delt, die Voraussetzungen des § 121 Abs. 2 Buchst. a und c SachenR-BerG (die Voraussetzungen zu b stehen außer Streit) entgegen derAuffassung des BerufungsG erfüllt. Zwar lässt der Wortlaut desGesetzes auch die Auslegung zu, dass sich das Mietverhältnis auf dasEigenheim insgesamt bezogen haben muss, jedoch begründen Sinnund Zweck der Vorschrift des § 121 Abs. 2 Buchst. a SachenRBerG undihre Entstehungsgeschichte den Bereinigungsanspruch des früherenMieters/Käufers, obwohl dieser nur eine von zwei Wohnungengenutzt hat.

Der Gebäudekauf der Kl. erfolgte im vorliegenden Fall auf derGrundlage des Ges. über den Verkauf volkseigener Eigenheime, Mit-eigentumsanteile und Gebäude für Erholungszwecke v. 19.12.1973(GBl. I S. 578), das erst nach dem Vertragsschluss am 19.3.1990 durchdas VerkaufsG v. 7.3.1990 (GBl. I S. 157) abgelöst wurde. Beide Gesetzebildeten die rechtliche Grundlage des Vertrauens, welches § 121 Abs. 2SachenRBerG schützt. Diese Norm schließt an einen Teilbereich desVerkaufsG 1990 an, nämlich den Verkauf volkseigener Ein- undZweifamilienhäuser (§§ 2, 4 VerkaufsG) und Miteigentumsanteile (§ 5VerkaufsG – vgl. BGH-Urt. v. 22.6.2001, NJ 2002, 37 [bearb. v. Zank]),und an den Regelungsgegenstand des VerkaufsG 1973 an, soweit diesesgemäß der Präambel auf die Verbesserung der Wohnbedingungengerichtet war. Das Vertrauen des Käufers, der vor Vollzug des Kauf-vertrags mit dem Untergang der DDR den Vertragspartner verlorenhatte, wird in diesen Fällen dadurch geschützt, dass ihm gegen denjetzigen Eigentümer ein gesetzliches Ankaufsrecht bzw. ein gesetz-liches Recht zum Erwerb eines Erbbaurechts zu den besonderen Bedin-gungen des SachenRBerG eingeräumt wird. § 1 Abs. 1 der DB zumVerkaufsG 1973 (GBl. I S. 590) bezeichnete als Eigenheim auch einWohngebäude, welches eine zweite Wohnung enthält. Nach der DDR-Rechtspraxis war es im Falle des Erwerbs eines Zweifamilienhausesnicht erforderlich, dass der Erwerber beide Wohnungen zu eigenenWohnzwecken nutzte; gemäß einer im Urteil erwähnten Richtlinie desMinisteriums der Finanzen der DDR v. 14.8.1985 war der Erwerb auchzum Zwecke der Vermietung der weiteren Einheit im Haus zulässig.Das VerkaufsG 1990 nahm hieran keine Einschränkungen vor; § 4 derDVO v. 15.3.1990 (GBl. I S. 158) bestimmte lediglich, dass u.a. auchvolkseigene Zweifamilienhäuser an Bürger verkauft werden durften,die das Gebäude zum Zeitpunkt des Verkaufs bewohnen oder durch diedie künftige persönliche Nutzung dieses Wohnraums gewährleistet ist.Nirgends war geregelt, dass der Verkauf volkseigener Zweifamilien-häuser nur an den gegenwärtigen oder künftigen Nutzer beider Woh-nungen zulässig war. »Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die– pauschale – Nachzeichnung dieser Rechtslage durch § 121 Abs. 2SachenRBerG hieran Abstriche machen wollte.« Zwar hat der Senat zu§ 121 Abs. 2 SachenRBerG bereits entschieden, durch diese Regelunghabe vermieden werden sollen, dass ein Nutzer ein Ankaufsrecht alleinzum Zwecke der Vermietung, Verpachtung oder Weiterveräußerungausübt (Urt. v. 14.9.2001, NJ 2002, 154 [bearb. v. Zank]). »Für denErwerb eines Eigenheims mit zwei Wohnungen, teils zur Eigennut-zung, teils zur Vermietung, bleibt indessen Raum.«

In einem zweiten Teil setzt sich das Urteil mit der offenbar von derBeklagtenseite favorisierten Rechtsansicht auseinander, dass bei dervorliegenden Konstellation § 120 Abs. 2 SachenRBerG iVm §§ 65Abs. 2, 66 Abs. 2, 67 SachenRBerG bzw. für den Fall des Erbbaurechts§ 40 SachenRBerG einschlägig sein müsste. Das Urteil verwirft dieseRechtsansicht, da im vorliegenden Fall Voraussetzungen für dieBegründung und Veräußerung von Wohnungseigentum nicht gege-ben sind, so dass dieses »besondere Instrument der Bereinigung« hierausscheidet.

Die Zurückverweisung an das BerufungsG erfolgte, da bisher nichtgeklärt ist, ob es sich bei dem auf dem Grundstück existierendenWohnhaus um ein Eigenheim handelt oder ob dieses mehr als zweiWohnungen aufwies.

Kommentar:Die Entscheidung ist außerordentlich begrüßenswert. Nachdem dasBVerfG mit Beschl. v. 16.5.2001 (NJ 2001, 529) die Verfassungsmäßig-keit auch des § 121 Abs. 2 SachenRBerG bestätigt hat, erstrecken sichdie nach wie vor oft heftigen Auseinandersetzungen zwischen demNutzer und dem Eigentümer bei Streitigkeiten über die Anspruchs-berechtigung des Nutzers nach dem SachenRBerG i.d.R. auf dieAuslegung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen. Mit dieserEntscheidung ist auf einem weiteren, in der Praxis oft heftig umstrit-tenen Teilgebiet Klarheit geschaffen worden. Wie die Praxis zeigt,kam es zu DDR-Zeiten gar nicht so selten vor, dass volkseigene Ein-oder Zweifamilienhäuser mit zwei Wohnungen von lediglich einemMieter käuflich erworben oder gekauft wurden, während die zweiteMietpartei i.d.R. weiter in ihrer Wohnung als Mieter wohnen blieb.Bei solchen Konstellationen wurde bisher von Eigentümerseite eineAnspruchsberechtigung des Nutzers nach dem SachenRBerG regel-mäßig mit dem Argument bestritten, dass § 121 Abs. 2 Buchst. aSachenRBerG einen Miet-, Pacht- oder sonstigen Nutzungsvertrag»über ein Eigenheim« voraussetze und diese Voraussetzung bei einemMietvertrag über lediglich eine von zwei im Wohnhaus befindlichenWohnungen nicht gegeben sei. Nachdem der V. Zivilsenat in dem imUrteil zitierten vorangegangenen Entscheidungen v. 22.6.2001 (aaO)und v. 14.9.2001 (aaO) bereits zu ähnlich gravierenden Einzelfragender Auslegung des Gesetzes – Veräußerungsmöglichkeit eines volks-eigenen Miteigentumsanteil bzw. Bejahung der Anspruchsvoraus-setzung des § 121 Abs. 2 Buchst. a SachenRBerG auch ohne Nachweiseines schriftlichen Vertrags, wenn die Wohnnutzung des Käufersnachgewiesen ist – höchstrichterlich Klarheit geschaffen hat, ist nun-mehr auch zu dieser Frage das von der Praxis erwartete Machtwortgesprochen worden. Das Urteil sorgt in dieser wichtigen Detailfrageder Anspruchsberechtigung eines Mieterkäufers eines Zweifamilien-hauses für Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.

Was die Argumentation auch dieser Entscheidung anbelangt, halteich es zum wiederholten Male für hervorhebenswert, dass der V. Zivil-senat des BGH hier erneut konsequent von der DDR-Rechtslage undvon dem rechtspolitischen Anliegen des SachenRBerG ausgeht,welches im Urteil bezogen auf § 121 Abs. 2 SachenRBerG ausdrücklichmit dem Schutz des durch die DDR-Vorschriften begründeten Ver-trauens des Nutzers/Käufers definiert wird. Nachdem dem Käufer vorVollzug des Kaufvertrags durch den Untergang der DDR der Vertrags-partner abhanden gekommen ist, hat es Aufgabe der an der Umset-zung der gesetzlichen Vorgaben des SachenRBerG Beteiligten zu sein,diesem rechtspolitischen Anliegen des gesamtdeutschen Gesetzgeberszu entsprechen. Das Urteil leistet dazu nach meiner Ansicht auf demTeilgebiet der Anspruchsberechtigung bei Zweifamilienhäusern einenwesentlichen Beitrag.

Rechtsanwalt Dr. Horst Zank, Potsdam

� 02.14 – 9/02

Rechtsbeschwerde/Statthaftigkeit/grundsätzliche Bedeutung/Sicherung einheitlicher RechtsprechungBGH, Beschluss vom 29. Mai 2002 – V ZB 11/02 (LG Chemnitz)

ZPO § 574 Abs. 2

a) Die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 ZPO kannnicht damit begründet werden, dass die Frage der Statthaftigkeitnach § 574 Abs. 1 ZPO von grundsätzlicher Bedeutung sei. b) Die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Recht-sprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) ist im Falle einer Divergenz zuläs-sig, setzt dann aber voraus, dass der Beschwerdef. eine Abweichungdarlegt. Eine Abweichung liegt nur vor, wenn die angefochtene Ent-scheidung dieselbe Rechtsfrage anders beantwortet als die Entschei-dung eines höherrangigen oder eines anderen gleichgeordneten

Rechtsprechung Bürger l i ches Recht

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485Neue Justiz 9/2002

Gerichts oder eines anderen Spruchkörpers desselben Gerichts (Fort-führung von BGHZ 89, 149, 151). c) Wird die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichenRechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) darauf gestützt, dass dieangefochtene Entscheidung verfahrens- oder materiell-rechtlich feh-lerhaft sei, so sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, wenn derRechtsfehler dazu führen kann, dass schwer erträgliche Unterschiedein der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen.

� 02.15 – 9/02

Rechtsanwalt als Arbeitnehmer/Herausgabe von Mandantenakten/Rechtsweg/Hauptsacheerledigung/VerfahrenskostenOLG Brandenburg, Beschluss vom 7. Februar 2002 – 14 W 10/01 (LG Frank-furt [Oder])

ZPO § 91a; ArbGG § 2 Abs. 1 Nr. 3a, § 5

1. Macht eine Rechtsanwaltskanzlei aus einem bestehenden Dienst-verhältnis gegen einen dort tätigen Rechtsanwalt im Rahmen eineseinstweiligen Verfügungsverfahrens Ansprüche auf Herausgabe vonMandantenakten geltend, ist der Rechtsweg zu den Gerichten fürArbeitssachen gegeben.2. Wird ein unzuständiges Gericht angerufen, sind dem Antragstellerdie Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen. (Leitsätze der Redaktion)

Der Ag. war von Okt. 1997 bis Ende Juli 2000 als Rechtsanwalt in derKanzlei des Ast. tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurden dem Ag.Mandatsakten sowie neue Mandate zur Bearbeitung zugeteilt. VorBeginn der Tätigkeit des Ag. trafen die Parteien eine Vereinbarung, dassder Ag. 25% der tatsächlich eingehenden Honorarzahlungen erhaltensollte. Ihm wurde in der Kanzlei ein Arbeitszimmer zur Verfügunggestellt.

Im Juli 2000 kündigte der Ag. seine »freie Mitarbeitertätigkeit« zumAblauf des 31.8.2000 auf, blieb jedoch noch im Besitz einer Vielzahlvon Mandatsakten. Daraufhin stellte der Ast. beim LG den Antrag aufErlass einer einstweiligen Verfügung. Dem Antrag wurde entsprochenund dem Ag. aufgegeben, die im Eigentum des Ast. stehendenMandatsakten herauszugeben. Nach Herausgabe erklärte der Ast. daseinstweilige Verfügungsverfahren in der Hauptsache für erledigt undbeantragte, dem Ag. die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Der Ag.legte gegen die einstweilige Verfügung zwar Widerspruch ein, schlosssich aber der Erledigungserklärung bei gleichzeitiger Stellung eineswiderstreitenden Kostenantrags an.

Das LG hat die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehobenund zur Begründung ausgeführt, dass der Verfahrensausgang zumZeitpunkt des Eingangs der letzten Erledigungserklärung ungewissgewesen sei.

Auf die sofortige Beschwerde des Ag. hat das OLG die Kosten desVerfahrens dem Ast. auferlegt.

Aus den Entscheidungsgründen:Zu Unrecht ist das LG im Rahmen einer Prognoseentscheidung zu derAnnahme gelangt, dass der Ausgang des Verfahrens ungewiss gewesensei. Für diese im Rahmen des § 91a ZPO gestellte Prognose bestand vonvornherein kein Raum. Denn der Antrag auf Erlass einer einstweiligenVerfügung hätte zurückgewiesen werden müssen, weil der Ast. einenfalschen Rechtsweg beschritten hatte.

Der beim LG angebrachte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Ver-fügung war von vornherein aussichtslos, da nicht nach § 13 GVG derZivilrechtsweg, sondern gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG der Rechtswegzu den Arbeitsgerichten eröffnet war. Denn vorliegend hatte der Ast.im Rahmen des Verfügungsverfahrens gegen den Ag. aus einem zwi-schen den Parteien bis zum 31.8.2000 bestehenden Dienstverhältnisresultierende Ansprüche auf Herausgabe dieser Mandatsakten geltend

gemacht. Dieses Dienstverhältnis ist als Arbeitsverhältnis einzustufen;der Ag. erbrachte seine Dienstleistung im Rahmen einer von dem Ast.vorgegebenen Arbeitsorganisation, innerhalb derer er hinsichtlich derZeit, der Dauer und des Orts der zu erbringenden Dienstleistung derWeisungsbefugnis des Ast. unterworfen war. Der Ag. war deshalbArbeitnehmer, auf jeden Fall aber eine arbeitnehmerähnliche Person,weil er gegenüber dem Ast. Dienstleistungen auf Grund eines Vertragserbrachte und wegen seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von demAst. wie ein Arbeitnehmer sozial schutzwürdig war. Der Umstand, dasser sich als »freier Mitarbeiter« bezeichnete, stand dieser arbeitneh-merähnlichen Stellung nicht entgegen, weil allein entscheidend ist,dass er tatsächlich weitgehend von dem Ast. abhängig und in seinemsozialen Status nach dem Gesamtbild der vertraglichen Gestaltungeinem Arbeitnehmer vergleichbar war (vgl. OLG München, MDR1999, 1412; LAG Frankfurt, ArbuR 1996, 415; Germelmann, ArbGG,3. Aufl., § 5 Rn 20). Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat des-halb auch das ArbG Frankfurt (Oder), vor dem der Ag. seinen Anspruchauf rückständige Vergütung geltend gemacht hat, den Rechtsweg zuden Arbeitsgerichten für zulässig erklärt.

Ausgehend von dieser Sach- und Rechtslage erklärten vorliegend dieParteien die Hauptsache vor einem unzuständigen Gericht überein-stimmend für erledigt, so dass dieses über die Kosten des Verfahrensunter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nachbilligem Ermessen zu entscheiden hatte (§ 91a Abs. 1 ZPO).

Die Frage, ob bei der hierfür ausschlaggebenden Beurteilung derErfolgsaussicht des Verfügungsverfahrens allein auf die fehlendeZuständigkeit des angerufenen Gerichts abzustellen ist oder auf denvoraussichtlichen Ausgang des Verfahrens nach Verweisung an daszuständige Gericht, wird in der Lit. u. Rspr. kontrovers diskutiert.So stellen Lindacher (MünchKomm-ZPO, § 91a Rn 51) und das OLGStuttgart (MDR 1989, 1000) auf den voraussichtlichen Ausgang desVerfahrens nach Verweisung an das zuständige Gericht ab, wobei dieBerücksichtigung einer nur hypothetischen Verweisung im Wesent-lichen damit begründet wird, dass in nahezu allen Fällen nach einementsprechenden Hinweis Verweisung beantragt werde. Die überwie-gende Auffassung in Lit. u. Rspr. (OLG Frankfurt, MDR 1981, 676; OLGMünchen, OLGZ 1986, 67, 69; OLG Hamm, NJW-RR 1994, 828; Becht,MDR 1990, 121; Schellhammer, Zivilprozessrecht, 5. Aufl., Rn 1706;Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 91a Rn 139) stelltdagegen allein auf die Unzuständigkeit des Gerichts ab. Ist ein solchesangerufen worden, sollen dem Ast. (bzw. Kläger) die Kosten desRechtsstreits auferlegt werden.

Der Senat schließt sich der zuletzt genannten Ansicht an, nach derdie Erfolgsaussicht einer Klage schon deshalb zu verneinen ist, weil sievor einem unzuständigen Gericht erhoben wurde (ebenso OLG Bran-denburg, NJW-RR 1996, 955). Für diese Ansicht spricht entscheidendder Gesetzeswortlaut, wonach Grundlage der zu treffenden Kosten-entscheidung der bisherige Sach- und Streitstand im Zeitpunkt derErledigungserklärung ist. Dieser Umstand schließt es aus, in dieBeurteilung auch den hypothetischen Verlauf eines Prozesses nachErteilung eines gerichtlichen Hinweises auf die Unzuständigkeit undentsprechendem Verhalten des Klägers einzubeziehen. Wenn das OLGStuttgart (in MDR 1989, 1000) darauf verweist, dass im Rahmen derzu treffenden Entscheidung auch eine Prognose über das voraussicht-liche Ergebnis zu stellen ist, und daraus die Schlussfolgerung zieht,dass auch das unzuständige Gericht zu bewerten habe, welche Parteiverloren hätte, wenn der Prozess nach Verweisung an das zuständigeGericht fortgesetzt worden wäre, verkennt es den Zweck des § 91aZPO. Danach ist eine Kostenentscheidung auf der Grundlage des bis-herigen Sach- und Streitstands durch das angerufene Gericht zu treffen,das aber wegen der Unzulässigkeit des Rechtswegs weder bei einer Fort-setzung des Verfahrens vor ihm noch in einer Prognoseentscheidungfür den Fall der Verweisung über Rechtsfragen entscheiden darf, dienicht in seine Zuständigkeitskompetenz fallen.

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Neue Justiz 9/2002486

� 02.16 – 9/02

Schadensersatz/Grundstücksnachbarn/Abfluss von RegenwasserOLG Naumburg, Urteil vom 27. Februar 2002 – 1 U 85/01 (LG Magdeburg)(rechtskräftig)

WasserG/DDR 1982 § 38 Abs. 2; ZGB § 316; BGB § 906 Abs. 2

1. Weder aus § 38 Abs. 2 WasserG/DDR 1982 bzw. § 316 ZGB, jeweilsiVm Art. 9 EV, noch aus § 906 Abs. 2 BGB ergibt sich eine rechtliche Pflichteines Grundstückseigentümers, den oberirdischen Abfluss von wildabfließendem Regenwasser auf das Nachbargrundstück generell zuverhindern. Hieran hat sich im Übrigen auch durch das In-Kraft-Tretendes NachbarrechtsG des Landes Sachsen-Anhalt nichts geändert. 2. Dies gilt auch dann, wenn der Grundstückseigentümer den Abflussvon Regenwasser innerhalb seines Grundstücks durch die Errichtungeiner bauordnungsrechtswidrigen Garage verändert. 3. Rechtswidrig verhält sich ein Grundstückseigentümer allenfallsdann, wenn er den Zufluss von Niederschlagswasser auf das Nach-bargrundstück verstärkt. 4. Nimmt ein Grundstücksnachbar das Privileg einer Grenzbebauungin Anspruch, so hat er grundsätzlich dieses Bauwerk selbst vor demRisiko einer Einwirkung von wild abfließendem Regenwasser desangrenzenden Grundstücks zu sichern. Im Schadensfall kann er sichnicht mit Erfolg darauf berufen, dass zur Zeit der Errichtung desGrenzbauwerkes Sicherungsmaßnahmen gegen aufsteigende Feuch-tigkeit noch unüblich waren.

� 02.17 – 9/02

Betriebskostenabrechnung/Prüffähigkeit/Heizungskosten/Erhöhungder BetriebskostenvorauszahlungenOLG Dresden, Urteil vom 12. März 2002 – 5/23 U 2557/01 (LG Dresden)(rechtskräftig)

BGB §§ 259 Abs. 1, 315 Abs. 1

1. Eine Betriebskostenabrechnung ist nach Maßgabe der Rspr. desBGH (NJW 1982, 572) nicht prüffähig, wenn die unter der Bezeich-nung »Heizungskosten« ausgewiesenen Aufwendungen neben deneigentlichen Heizkosten noch weitere nicht unbeträchtliche Kostenfür Klimaanlage und Wasser enthalten und dies nicht unmittelbar ausder Abrechnung ersichtlich ist. 2. Der Vermieter kann die zunächst nicht nachvollziehbare Betriebs-kostenabrechnung während des Rechtsstreits durch die notwendigeAufschlüsselung prüffähig machen, und zwar auch noch im Verlaufeder Berufung. Das Rechtsmittel ist nicht deshalb unzulässig, weil derVermieter Berufung nur mit dem Ziel einlegt, die als nicht prüffähigzurückgewiesene Abrechnung aufzuschlüsseln. Allerdings kann dasKostennachteile für den Vermieter (§ 97 Abs. 2 ZPO) haben. 3. Die in einem gewerblichen Mietvertrag enthaltene Klausel, wonachder Vermieter die laufenden Betriebskostenvorauszahlungen nach»Kostenanfall des Vorjahres« anpassen darf, ist wirksam. Fordert er dieAnhebung der Vorauszahlungen jedoch auf der Grundlage einer nichtprüffähigen Abrechnung, kann der Mieter die Leistung der verlang-ten erhöhten Vorauszahlungen verweigern.

� 02.18 – 9/02

Nachlasspfleger/Vergütung/BeitrittsgebietOLG Dresden, Beschluss vom 19. März 2002 – 7 W 1944/01 (LG Dresden)

BVormVG § 1 Abs. 1; BGB §§ 1836, 1836a, 1908i Abs. 1, 1915 Abs. 1

1. Die Stundensätze des § 1 Abs. 1 BVormVG haben den Charakter einerOrientierungshilfe und einer Mindestvergütung auch für die Vergütungdes Nachlasspflegers bei vermögendem Nachlass (Anschluss an BGH,Beschl. v. 31.8.2000, NJW 2000, 3709).

2. Sie sind jedoch als Mindestvergütung nicht im Regelfall ange-messen, sondern nur im Falle der einfachen Nachlassabwicklung(Abgrenzung zu BGH, aaO). 3. Im Falle eines nach § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BVormVG qualifiziertenNachlasspflegers eines vermögenden Nachlasses sind im Beitritts-gebiet Stundensätze von 54 DM (ab 1.1.2002 27,90 Euro) für die ein-fache, von 67,50 DM (ab 1.1.2002 34,20 Euro) für die mittelschwereund von 81 DM (ab 1.1.2002 41,40 Euro) für die schwierige Nachlass-abwicklung regelmäßig angemessen.

� 02.19 – 9/02

Schadensersatz/Grundwasserabsenkung/HausschädenOLG Naumburg, Urteil vom 18. April 2002 – 4 U 12/02 (LG Magdeburg)(Revision nicht zugelassen)

BGB §§ 249 Satz 2, 286 Abs. 1, 291, 432, 823; WHG §§ 7, 8;WasserG LSA § 14

1. Wird durch eine erlaubnis- (§ 7 WHG) oder bewilligungspflichtige(§ 8 WGH) Gewässerbenutzung der Grundwasserstand verändert, soist derjenige, der hierdurch Nachteile erleidet, gegen einen solchenEingriff in die Privatsphäre auch privatrechtlich geschützt. 2. Unerheblich ist bei der Frage der Verletzung des genannten Schutz-gesetzes, ob bei der gebotenen Einleitung eines Bewilligungsverfah-rens die Absenkung unterblieben oder nur unter Durchführungschadensverhindernder Maßnahmen erlaubt worden wäre. Vielmehrgehört zum subjektiven Tatbestand die mindestens fahrlässigeUnkenntnis, dass die Grundwasserabsenkung den Grundwasserspie-gel des betroffenen Grundstückseigentümers beeinträchtigt.

� 02.20 – 9/02

Kindesunterhalt für die Vergangenheit/nichteheliche Lebens-gemeinschaft der Eltern/Verjährung/VerwirkungOLG Jena, Urteil vom 23. Mai 2002 – 1 UF 21/02 (AG Hildburghausen)

BGB § 1613 Abs. 2 Ziff. 2a, Abs. 3, § 1615i Abs. 2 Satz 1 aF

1. Der Anspruch eines nichtehelichen Kindes, das gem. § 1613 Abs. 2Ziff. 2a BGB für die Zeit der Vergangenheit, in der es aus rechtlichenGründen an der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs gehindertwar, Unterhalt verlangen kann, kann gemäß den allgemeinen Grund-sätzen verwirken.2. Soweit der Unterhaltsanspruch nicht verwirkt ist, ist der zu leistendeBarunterhalt um anteilig erbrachte Naturalleistungen zu kürzen.

Problemstellung:Die Parteien streiten um Unterhalt für die Vergangenheit. Der Kl. for-dert Unterhalt vom Zeitpunkt seiner Geburt (5.9.1995) an. Die Mut-ter des Kl. lebte mit dem Bekl. von 1992 bis Febr. 2001 in nichtehe-licher Lebensgemeinschaft zusammen. Der Kl. lebte bis zum Bruch derBeziehung der Eltern mit diesen gemeinsam im Haus des Bekl.

Nach erstmaliger Aufforderung des Bekl. v. 14.2.2001, Auskunftüber sein Einkommen zu erteilen und die Vaterschaft zum Kl. anzuer-kennen, erfolgte die Anerkennung am 22.2.2001. Ab 1.3.2001 zahlteder Kl., der keine weiteren Unterhaltpflichten hat, zunächst monatl.330 und dann 360 DM Unterhalt.

Entsprechend der Auskunftserteilung im erstinstanzlichen Verfah-ren bezifferte der Kl. das Nettoeinkommen des Bekl. unstreitig mit6.039 DM und forderte ab Sept. 2001 einen monatl. Unterhalt von665 DM sowie für den Zeitraum von Sept. 1995 bis Sept. 2001Unterhalt i.H.v. 25.432 DM. Dabei wurden für den Zeitraum bis Dez.1997 der Regelunterhalt von insges. 5.136 DM und für die Zeit vonJan. 1998 bis Jan. 2001 ausgehend vom ermittelten Nettoeinkommenmonatl. 524 DM gefordert. Der Bekl. hat die Klageforderung ab Sept.

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487Neue Justiz 9/2002

2001 im Termin anerkannt und im Übrigen Klageabweisung ange-strebt.

Das AG hat der Klage auch im Übrigen stattgegeben.Die dagegen gerichtete Berufung stützte der Bekl. darauf, dass er mit

der Kindesmutter eine gemeinsame Haushaltsführung betrieben undgemeinsam gewirtschaftet habe. Er habe ebenfalls Zahlungen in dieHaushaltskasse geleistet und damit auch Unterhaltszahlungen für denKl. erbracht. Die Kindesmutter habe dagegen keine Einwände erho-ben. Hilfsweise wurde angeführt, dass die teleologische Auslegung des§ 1613 BGB es verbiete, die Norm auf den vorliegenden Fall anzu-wenden, da die Vaterschaft von Anfang an unstreitig gewesen sei. Reinvorsorglich berufe er sich auch auf Verwirkung. Die Kindesmutterhabe es über einen Zeitraum von fünf Jahren nicht für erforderlichgehalten, ihn als Vater feststellen zu lassen, da er Unterhalt geleistethabe. Er habe damit darauf vertrauen dürfen, dass während der Dauerder nichtehelichen Lebensgemeinschaft keine Barunterhaltsansprü-che ihm gegenüber erhoben werden. Rein vorsorglich und hilfsweiseberufe er sich auch auf Verjährung.

Der Kl. führte aus, dass für die Reinigung und Haushaltsführungallein die Kindesmutter zuständig gewesen sei. Diese habe im Betriebdes Bekl. mitgearbeitet und ausschließlich von ihrem Lohn die Haus-haltsführung bestritten.

Das OLG hat das Urteil des AG geändert und den Bekl. verurteilt,rückständigen Unterhalt für den Zeitraum vom 1.2.2000 bis 31.8.2001i.H.v. insges. 3.473,20 € zu zahlen. Im Übrigen wurde die Klage abge-wiesen.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Grundsätzlich könne der Berechtigte nach § 1613 Abs. 2 Ziff. 2a BGBUnterhalt für die Vergangenheit verlangen, solange die Vaterschaftnicht festgestellt wurde. Der Anspruch und die Fälligkeit des Unter-halts entstehe gleichwohl mit der Geburt des Kindes, auch wenn dieAbstammung erst Jahre später festgestellt wird. Daran ändere sichdurch das Zusammenleben des Bekl. mit der Kindesmutter nichts.

Nach der Rspr. des BGH (BGH, FamRZ 1985, 466) sei in der intaktenEhe von der Gewährung von Betreuungs-und Barunterhalt auszuge-hen, was erst recht für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft gelte.Der Bekl. sei barunterhaltspflichtig, da er sich an der Betreuung desKindes nicht beteiligt habe.

Der Anspruch sei auch nicht ganz oder teilweise verjährt. Erst mitder rechtskräftigen Feststellung der Vaterschaft habe die Verjährungs-frist begonnen (BGH, FamRZ 1981, 763), also erst im Jahr 2001. ImÜbrigen würde auch § 204 BGB aF greifen, wonach die Verjährung vonAnsprüchen zwischen Eltern und Kindern während der Minder-jährigkeit der Kinder gehemmt ist (OLG München, FamRZ 1986, 505).

Auch habe der Kl. auf seine Ansprüche nicht verzichtet. In derNichtgeltendmachung des Anspruchs auf Unterhalt während desZusammenlebens allein liege noch kein Verzicht. Für einen Verzichts-vertrag, der auch durch schlüssiges Verhalten zustande kommenkönne, bedürfe es eines rechtsgeschäftlichen Aufgabewillens und einesVerhaltens, dass vom Erklärungsgegner als Aufgabe des Rechts ver-standen werden kann. Vorliegend seien keine Anhaltspunkte für einensolchen Verzichtswillen nachgewiesen. Es sei durchaus möglich,dass der Kl. die Verwirklichung des Anspruchs aus anderen Gründengescheut habe (vgl. BGH, aaO).

Der Anspruch des Kl. sei dagegen für den Zeitraum seit seiner Geburtbis zum Jan. 2000 verwirkt (§ 242 BGB).

Allgemein komme eine Verwirkung in Betracht, wenn der Berech-tigte ein Recht längere Zeit nicht geltend macht, obwohl er dazu in derLage wäre, und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamteVerhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und eingerichtethat, dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machenwerde (BGHZ 25, 47, 51 f.). Bemüht sich ein Unterhaltsgläubiger nichtum die zeitnahe Durchsetzung seines Anspruchs, so erwecke sein

Verhalten i.d.R. den Eindruck, er sei in dem fraglichen Zeitraum nichtbedürftig (vgl. Knorn, FamRZ 1964, 283, 285).

Nach § 1615i Abs. 2 Satz 1 BGB aF konnten rückständige Unter-haltsbeträge für ein nichteheliches Kind, die länger als ein Jahr vorAnerkennung der Vaterschaft fällig geworden waren, zur Vermeidungunbilliger Härten auf Antrag erlassen werden. Der BGH (FamRZ 1988,370, 372) habe diesem Rechtsgedanken im Rahmen der Bestimmungdes »Zeitmoments« für die Verwirkung von rückständigem Unterhaltin der Weise Rechnung getragen, dass bereits ein Verstreichenlasseneiner Frist von mehr als einem Jahr ausreichen kann. Vorliegend habesich der Kl. erstmals mit Schreiben v. 14.2.2001 wegen der Unter-haltsrückstände an den Bekl. gewandt und sei damit über den Zeit-raum von 5 1/2 Jahren untätig geblieben, so dass Unterhaltsansprüchebis einschl. Jan. 2000 als verwirkt anzusehen seien.

Der Kl. sei an der zeitnahen Geltendmachung seines Rechts nichtgehindert gewesen. Zwar setze die Geltendmachung von Unterhalts-ansprüchen eine Feststellung der Vaterschaft voraus. Jedoch könnesich der Unterhaltsberechtigte nicht darauf berufen, wenn er – wiehier – in der zurückliegenden Zeit keinerlei Anstrengungen unter-nommen habe, diese feststellen zu lassen. Bei einer Weigerung desBekl., die Vaterschaft freiwillig urkundlich anzuerkennen, wäre der Kl.gehalten gewesen, diese gerichtlich feststellen zu lassen, was miteinem Antrag auf Zahlung von Unterhalt i.H.d. Regelbetrags hätteverbunden werden können (§ 653 ZPO).

Neben dem »Zeitmoment« komme es für die Verwirkung auf dassog. Umstandsmoment an. Danach müssten besondere Umständehinzutreten, aufgrund derer der Unterhaltsverpflichtete sich nach Treuund Glauben darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass derUnterhaltsberechtigte sein Recht nicht mehr geltend macht (BGHZ 84,280, 281 = FamRZ 1982, 898; OLG München, OLGZ 1976, 216, 219 f.).

Auch dies sei hier der Fall. Der Bekl. sei während der gesamten Dauerdes Zusammenlebens bis Jan. 2001 zu keinem Zeitpunkt aufgefordertworden, die Vaterschaft anzuerkennen und Unterhalt für den Kl. zuzahlen. Da sich der Kl. wie die Kindesmutter im Haushalt des Bekl.befanden und dieser durch die gemeinsame Haushaltsführung davonausging, seiner Unterhaltspflicht insoweit zu genügen, hätte er daraufvertrauen dürfen, nicht rückwirkend auf Unterhalt in Anspruchgenommen zu werden. Dies entspreche ebenfalls der allgemeinenLebensauffassung. Denn während der Dauer einer ehelichen odereheähnlichen Gemeinschaft werde der Lebensunterhalt aller Mit-glieder der Gemeinschaft durch beide Partner entsprechend ihrenMöglichkeiten mehr oder weniger gemeinsam bestritten, ohne dassseparat Kindesunterhalt nach Tabelle gezahlt würde. Es hätten somitfür den Bekl. keinerlei Anhaltspunkte dafür bestanden, dass sein Anteilan der Deckung des Bedarfs nicht ausgereicht habe. Jedenfalls habe derKl. zu keinem Zeitpunkt vorgetragen, dass der Bekl. diesbezüglich vordem 14.2.2001 angesprochen worden sei.

Die Annahme der Verwirkung werde auch nicht durch die Vor-schrift des § 1613 Abs. 3 BGB ausgeschlossen, welche die Härte undwirtschaftliche Belastung aus rückwirkender Geltendmachung desAnspruchs zu erleichtern geeignet ist (BGH, FamRZ 1981, 763). Sieführe jedoch im Ergebnis dazu, dass der Rechtsbehelf der Verwirkunghier besonderer Zurückhaltung unterliege und im Wesentlichen nurinsoweit zur Anwendung gelange, als die in Frage kommenden Belas-tungen und Beeinträchtigungen des Unterhaltsschuldners außerhalbdes Regelungsbereichs des § 1613 Abs. 3 BGB liegen.

Dies sei vorliegend der Fall, da § 1613 Abs. 3 BGB vorwiegend aufdie wirtschaftliche Belastung des Unterhaltsschuldners abstelle undfür den Erlass der Unterhaltsrückstände notwendig sei, dass durch dieZahlungspflicht seine eigene, von Sozialhilfe unabhängige Lebens-führung gefährdet sein würde (MünchKomm/Köhler, § 1615i aF Rn 8;Göppinger/Wax/Kodal, Unterhaltsrecht, Rn 267).

Die Regelung werde jedoch nicht der vorliegenden Konstellationgerecht, in der der leistungsfähige Schuldner seit der Geburt des Kin-

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Neue Justiz 9/2002488

des über mehrere Jahre mit der Kindesmutter in einer eheähnlichenGemeinschaft zusammenlebt, in dieser – in welcher Art auch immer –zum Lebensunterhalt beiträgt und dann bei Bruch der Beziehungsowie der erst danach betriebenen Vaterschaftsfeststellung aufUnterhalt ab Geburt des Kindes in Anspruch genommen wird. Denneinerseits wäre bei einem solventen Schuldner keine unbillige Härtegegeben und andererseits sei nach Jahren eine Erfüllung seiner Bar-unterhaltspflicht kaum noch nachzuweisen. Unter diesen Umständenkönne die Geltendmachung rückständigen Unterhalts eine illoyaleVerspätung der Rechtsausübung (§ 242 BGB) darstellen.

Der zu leistende Unterhalt von Febr. 2000 bis Jan. 2001 sei umanteilig erbrachte Naturalleistungen zu kürzen (Wendl/Staudig/Scholz, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis, 5. Aufl.,§ 2 Rn 8 mwN). Hier habe der Bekl. dem Kl. das mietfreie Wohnen inseinem Hause ermöglicht.

Der Barunterhalt umfasse alles, was das Kind zum Lebensunterhaltbenötigt (BGH, FamRZ 1984, 769, 772). Werde – wie hier – der Bar-bedarf nach den Thüringer Tabellensätzen bemessen, so decke der zuzahlende Unterhalt alle Aufwendungen, auch die Wohnkosten.

Welcher Anteil der tatsächlichen Wohnkosten auf das im Haushaltdes Bekl. lebende Kind entfalle, werde in der höchstrichterlichen Rspr.nicht einheitlich beurteilt. Das BVerwG lege bei der Berechnung desSozialhilfebedarfs die Wohnkosten auf sämtliche Familienmitgliedernach Köpfen um (NJW 1989, 313; ebenso OVG Hamburg, DAVorm1989, 107). Dieser Berechnung folge der VI. Senat des BGH nur imAusnahmefall und hält im Regelfall gem. § 287 ZPO eine Verteilungvon 2:1:1 bei einem Elternteil mit zwei Kindern für angemessen (BGH,FamRZ 1988, 921, 925). Nach einer die Entstehung der Regelbedarfs-sätze berücksichtigenden Auskunft des BMJ v. 17.11.1981 (mitgeteiltin DAVorm 1989, 39) betrage der Wohnanteil am Warenkorb 11,4%und an dem der Preisindexberechnung zugrunde gelegten Waren-schema 11,568% (vgl. auch OLG Hamburg, FamRZ 1995, 385).

Bei einem Nettoeinkommen des Bekl. von 6.039 DM und nur einerUnterhaltsverpflichtung sei nach der Thüringer Tabelle (Stand 1.7.1999)ein Betrag von monatl. 675 DM vorgesehen. Der Wohnbedarf von101,25 DM (15%) sei im Zeitraum von Febr. 2000 bis Jan. 2001 bereitsgeleistet worden, sodass ein ungedeckter Bedarf von monatl. 573,75verbleibe. Abzüglich des hälftigen Kindergeldes vermindere sich derAnspruch auf 438,75 DM, mithin auf insges. 5.265 DM (2.691,95 €).

Für eine weitergehende Erfüllung der Unterhaltsansprüche des Kl.sei der Bekl. darlegungs- und beweispflichtig geblieben. Es fehle inso-weit bereits ein substantiierter Vortrag.

Für die Zeit nach der Beendigung der Lebensgemeinschaft im Febr.2001 ergebe sich ein noch zu zahlender Unterhaltsrückstand von1.528 DM (781,25 €).

Kommentar:Soweit das OLG für die Zeit des Zusammenlebens einen Anspruchbejaht, vermag die Entscheidung m.E. nicht zu überzeugen. Nach dengegebenen Informationen hat der Kl. in einer vollständigen Familie,d.h.mit beiden Eltern zusammengelebt und ist innerhalb ihrer Lebens-und Wirtschaftsgemeinschaft, ohne Ehe und ohne Feststellung derVaterschaft, ordnungsgemäß versorgt worden. Dem wird die Ent-scheidung jedoch nicht gerecht.

Natürlich war das Gericht gehalten, hier von der mit § 1613 Abs. 2Ziff. 2a BGB eröffneten Möglichkeit auszugehen und dafür denBestand des Anspruchs zu prüfen. Das geschieht auch, jedoch wird derHaupteinwand des Bekl. und das Naheliegendste, nämlich die Erfül-lung, nicht wirklich geprüft, nur bzgl. des Wohnens beachtet undansonsten mit einer Bemerkung abgetan. Weshalb ein neunjährigesZusammenleben der Partner, gut fünf Jahre davon als Eltern einesgemeinsamen Kindes, gemeinsames Wohnen im Haus des Bekl.,gemeinsames Wirtschaften und Mitarbeit der Kindesmutter im Betriebdes Vaters bei Fehlen jedweder Auseinandersetzung zwischen den

Eltern dazu bis zur Trennung als Verwirkung und nicht als Erfüllunggewertet und das auch gar nicht erörtert wird, ist nicht erkennbar.

Dennoch wäre das Ergebnis annehmbar. Doch will das Gericht dieVerwirkung für das letzte Jahr des Zusammenlebens nicht geltenlassen, obgleich die Gründe, die – nach Meinung des Gerichts – für dieVerwirkung gesprochen haben, in dieser Zeit genau so vorlagen wie inden früheren Jahren nach der Geburt des Kindes. Die reale Lage istjedoch für das Gericht ohne Bedeutung. Es argumentiert in Anleh-nung an den BGH (1988) mit dem Rechtsgedanken einer Rechtsnorm,die nicht nur außer Kraft getreten, sondern durch eine neue, andereBestimmung ersetzt worden ist. § 1615i BGB aF – der übrigens ganzsicher nicht für das in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft seinerEltern lebende Kind konzipiert worden war – ist durch § 1613 Abs. 3BGB ersetzt worden. Dieser kennt entsprechend der Motivation desneuen Unterhaltsrechts keine Besonderheiten mehr für nichtehelicheKinder und enthält auch keine Bestimmung und keinen »Rechts-gedanken« mehr, nach dem das letzte Jahr vor der Feststellung derVaterschaft unterhaltsrechtlich einer besonderen Bewertung zuunterziehen wäre. Dadurch fehlt der Konstruktion des Gerichts, nachder die Verwirkung zwar eingetreten sei, sie aber nicht für Ansprüchegelte, die im letzten Jahr vor Feststellung der Vaterschaft entstandenwaren, die Rechtsgrundlage.

Die Entscheidung steht insoweit im Widerspruch zum Gesetz undden Intentionen der Reform des Kindschafts- und Unterhaltsrechtsund wird der Lebenspraxis in Familien unverheirateter Eltern letztlichnicht gerecht.

Prof. Dr. Anita Grandke, Berlin

� 02.21 – 9/02

Wohnungsmiete/Mietspiegel/2-Familien-HäuserLG Berlin, Urteil vom 22. Februar 2002 – 64 S 159/01 (AG Berlin-Köpenick)(Revision nicht zugelassen)

MHG § 2 aF

Der Berliner Mietspiegel findet zur Begründung der ortsüblichenVergleichsmiete für Wohnungen in 2-Familien-Häusern keine Anwen-dung. (Leitsatz des Einsenders)

Zwischen den Parteien besteht ein Mietvertragsverhältnis über eine ineinem 2-Familien-Haus belegene Wohnung.

Der Kl. begründete sein Erhöhungsverlangen gem. § 2 MHG aF mitdem Vergleichsmietzins ortsüblicher Vergleichswohnungen nach demBerliner Mietspiegel. Die Bekl. stimmten der Mieterhöhung nicht zu.

Die auf Zustimmung zur Mieterhöhung gerichtete Klage hat das LGals unzulässig abgewiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:Die Klage der Kl. auf Zustimmung zur Mieterhöhung ist unzulässig,denn sie beruht auf einer formell unwirksamen Mieterhöhungs-erklärung. … Für die in einem 2-Familien-Haus belegene Wohnungfindet … der Berliner Mietspiegel keine Anwendung, da dieser ent-sprechend seiner erfassten und ausgewerteten Daten nur für Mehr-familienhäuser anwendbar ist.

Die Kl. hätten daher als Begründung für die ortsübliche Miete einSachverständigengutachten oder Vergleichsobjekte darlegen müssen.Dem steht auch nicht entgegen, dass Wohnungen in 2-Familien-Häu-sern i.d.R. teurer sind als in Mehrfamilienhäusern, da dieser Grund-satz nicht absolut ist und von den einzelnen Wohnungen abhängt.Entgegen der Ansicht der Kl. wird ihnen hierdurch auch nicht dietatsächliche Möglichkeit einer Mieterhöhung genommen, denn esverbleiben ihnen jedenfalls die Begründungsmittel der Benennungvon Vergleichswohnungen und des Sachverständigengutachtens.

(mitgeteilt von Rechtsanwalt Klaus D. Woisnitza, Berlin)

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489Neue Justiz 9/2002

03 STRAFRECHT

� 03.1 – 9/02

Strafrechtliche Rehabilitierung/Anordnung der Arbeitserziehung/EinzelfallprüfungOLG Dresden, Beschluss vom 16. Januar 2002 – 4 Ws 44/01 (LG Dresden)

StrRehaG §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 13; VO über Aufenthaltsbeschränkungv. 24.8.1961 § 3 Abs. 2

Eine auf § 3 Abs. 2 der VO über Aufenthaltsbeschränkung v. 24.8.1961(GBl. II S. 343) gestützte Verurteilung zur Arbeitserziehung ist nichtgenerell rechtsstaatswidrig.

Anm. d. Redaktion: Der Betroffene war 1965 vom KrG Freital gem. § 3 Abs. 2der VO über Aufenthaltsbeschränkung zur Arbeitserziehung verurteilt worden.Die Verfahrensakten sind nicht mehr auffindbar. Auf seinen Antrag wurde derzwischenzeitlich an Alzheimer Demenz erkrankte Betroffene durch das LGDresden mit Beschl. v. 12.10.2001 rehabilitiert. Auf die Beschwerde der Staats-anwaltschaft hat das OLG diesen Beschluss aufgehoben und den Antrag aufRehabilitierung zurückgewiesen. Unter Hinweis auf die Entscheidung des BGHv. 2.11.2000 (NJ 2001, 211) zum Vorlagebeschluss des OLG Naumburg(NJ 2000, 102) gelangte das OLG Dresden zu dem Ergebnis, dass die Anord-nung von Arbeitserziehung auf der Grundlage des § 3 Abs. 2 der VO überAufenthaltsbeschränkung nicht per se als rechtsstaatswidrig einzuordnen ist.Vielmehr bedürfe es einer Einzelfallprüfung. Diese sei im vorliegenden Fallmangels Aufklärung des Sachverhalts ausgeschlossen, was sich zu Lasten desBetroffenen auswirke.

� 03.2 – 9/02

Strafrechtliche Rehabilitierung/zusätzliche Kapitalentschädigung/GleichheitssatzOLG Jena, Beschluss vom 19. März 2002 – 1 Ws-Reha 2/02 (LG Gera)

StrRehaG § 17 Abs. 1 u. 5; GG Art. 3 Abs. 1

Die Regelung des § 17 Abs. 1 u. 5 StrRehaG idF v. 17.12.1999 ist mitArt. 3 GG vereinbar.

In einem Rehabilitierungsverfahren wurde zugunsten des Betroffeneneine strafrechtliche Entscheidung eines DDR-Gerichts aufgehoben.Für die zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung wurde der Betroffenevor dem 1.1.2000 nach § 17 Abs. 1 Satz 1 u. 2 StrRehaG entschädigt.

§ 17 Abs. 1 StrRehaG idF v. 15.12.1995 (BGBl. I S. 1782) lautete:»Die Kapitalentschädigung beträgt 300 Deutsche Mark für jeden angefan-genen Kalendermonat einer mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheit-lichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Freiheitsentziehung.Berechtigte, die bis zum 9. November 1989 ihren Wohnsitz oder stän-digen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatten, erhalten für jeden angefan-genen Kalendermonat eine zusätzliche Kapitalentschädigung von 250Deutsche Mark.«

Mit 2. Ges. zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriftenfür Opfer der politischen Verfolgung in der ehem. DDR v. 17.12.1999(BGBl. I S. 2662) wurde in § 17 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG der Betrag»300 Deutsche Mark« durch den Betrag »600 Deutsche Mark« ersetzt;Satz 2 wurde aufgehoben. Zugleich wurde in § 17 StrRehaG ein neuerAbs. 5 mit folgendem Wortlaut eingefügt:

»Berechtigte, denen bereits eine Kapitalentschädigung nach § 17 Abs. 1iVm Abs. 2 in der bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Fassung gewährtworden ist, erhalten auf Antrag eine Nachzahlung. Soweit die zusätzlicheKapitalentschädigung nach § 17 Abs. 1 Satz 2 in der bis zum 31. Dezem-ber 1999 geltenden Fassung bewilligt worden ist, beträgt die Nachzah-lung 50 Deutsche Mark, in den übrigen Fällen 300 Deutsche Mark fürjeden angefangenen Kalendermonat …«

Nach In-Kraft-Treten der Neuregelung (1.1.2000) beantragte der Betrof-fene bei der zuständigen Gewährungsbehörde, ihm für die zu Unrechterlittene Freiheitsentziehung eine zusätzliche Entschädigung i.H.v.

300 DM für jeden angefangenen Kalendermonat zu gewähren. Dies seiaus Gründen der Gleichbehandlung geboten. Die Aufhebung des § 17Abs. 1 Satz 2 StrRehaG verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz.

Das zuständige Landesamt hat eine zusätzliche Kapitalentschädi-gung i.H.v. 50 DM für jeden angefangenen Kalendermonat der zuUnrecht erlittenen Freiheitsentziehung festgesetzt und den weiter-gehenden Antrag zurückgewiesen. Den dagegen gerichteten Antraghat das LG unter Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut des § 17StrRehaG in der seit dem 1.1.2000 geltenden Fassung verworfen.

Dagegen richtete sich die sofortige Beschwerde des Betroffenen, mitder er hilfsweise die Vorlage der Sache an das BVerfG zur Entscheidungder Frage, ob § 17 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG idF der Bkm. v. 17.12.1999mit Art. 3 GG vereinbar ist, beantragte.

Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:1. Die Beschwerde wird aus den zutreffenden Gründen der angefoch-tenen Entscheidung zurückgewiesen.

Ergänzend bemerkt der Senat:Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 17 Abs. 5 StrRehaG idF der

Bkm. v. 17.12.1999 steht dem Betroffenen ein weitergehender Anspruchauf Kapitalentschädigung nicht zu.

Der Senat teilt auch nicht die vom Beschwerdef. erhobenenBedenken, dass § 17 Abs. 5 StrRehaG idF v. 17.12.1999 verfassungs-widrig, weil nicht mit Art. 3 GG vereinbar, sei.

Der vom Gesetzgeber zu beachtende allgemeine Gleichheitssatz desArt. 3 Abs. 1 GG verbietet, wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln.Er ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sacheergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für diegesetzliche Differenzierung nicht finden lässt – wenn die gesetzlicheBestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss.

Hier vermag der Senat zureichende Anhaltspunkte für eine Willkürdes Gesetzgebers nicht zu erkennen.

Zunächst sei erwähnt, dass die bis zum 31.12.1999 geltende Regelungin der Lit. z.T. in verfassungsrechtlicher Hinsicht für nicht unbedenklichgehalten wurde (vgl. Pfister/Mütze, Rehabilitierungsrecht, § 17 StrRehaG,Rn 19). Die Rspr. – so BVerwG, VIZ 1997, 255, und VG Berlin, VIZ 1995,735 = NJ 1996, 161, hat diese Auffassung allerdings nicht geteilt.

Aus der Begründung des Gesetzentwurfs zum 2. Ges. zur Verbesse-rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischenVerfolgung in der ehem. DDR, der in diesem Punkt auch so verab-schiedet worden ist – BT-Drucks. 14/1805 v. 15.10.1999 – ergibt sichals Motiv für die Gesetzesänderung, dass seit Geltung des StrRehaGvon Anfang an im Mittelpunkt der Kritik die Höhe der Entschädigungfür rechtsstaatswidrige politische Haft und die unterschiedlichen Ent-schädigungssätze gestanden hätten. Dazu wird konkret ausgeführt:

»Als ungerecht ist zudem die Aufspaltung der Kapitalentschädigung (ineinen Grundbetrag für alle und einen Zuschlag für die bis zum Fall derMauer in der DDR Verbliebenen) empfunden worden, denn der Entzugder Freiheit war ein für jeden politischen Häftling gleich schweresSchicksal, und die Haftbedingungen in der SBZ/DDR waren zur gleichenZeit für jeden dieser Betroffenen gleich. …Die Aufspaltung der Kapitalentschädigung in einen Grundbetrag für alleund einen Zuschlag, der nur dann gezahlt wird, wenn der ehem. politi-sche Häftling nach der Haftentlassung weiter – bis zum 9.11.1989 – inder DDR gelebt hat, muss entfallen: Der Entzug der Freiheit kann nichtunterschiedlich gewogen werden, und die Haftbedingungen waren zurgleichen Zeit für jeden politischen Häftling gleich. Aus diesen Gründenwird die Kapitalentschädigung für jeden Berechtigten auf einheitlich600 Deutsche Mark pro angefangenen Haftmonat angehoben.«

Dieses Motiv des Gesetzgebers lässt aber in keiner Weise sachfremde,erst recht keine willkürlichen Erwägungen erkennen. Es orientiert sicham Gesetz, dass nämlich die Kapitalentschädigung für die Dauer einermit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnungunvereinbaren Freiheitsentziehung den Opfern zu gewähren ist. Hinzukommt, dass nach der Rspr. des BVerfG (vgl. BVerfGE 29, 337) dem

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Neue Justiz 9/2002490

Gesetzgeber weitgehende Freiheit in der Abgrenzung von Personen-kreisen im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit stets dann einge-räumt wird, wenn vernünftige Gründe dafür bestehen und der Gesetz-geber willkürliche Privilegierungen und Diskriminierungen vermeidet.Dass der Gesetzgeber die Kapitalentschädigung für zu Unrecht erlitte-nen Freiheitsentzug nunmehr einheitlich ausschließlich an die Dauerder Freiheitsentziehung knüpft und die Differenzierung nach § 17Abs. 1 Satz 2 StrRehaG in der bis zum 31.12.1999 geltenden Fassungaufgehoben hat, ist keinesfalls willkürlich. Dem steht nicht entgegen,dass die frühere Regelung in der aufgeführten Rspr. der Verwaltungs-gerichte aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht beanstandet worden ist.

Nach alledem liegen die Voraussetzungen für die hilfsweise vomBetroffenen beantragte Vorlage der Sache gem. Art. 100 Abs. 1 GG andas BVerfG … nicht vor.

(mitgeteilt vom Senat für Rehabilitierungssachen des OLG Jena)

� 03.3 – 9/02

Nachträgliche Sicherungsverwahrung/UnterbringungsG LSA/Verfassungsmäßigkeit/GesetzgebungskompetenzOLG Naumburg, Beschluss vom 23. April 2002 – 1 Ws 120/02 (LG Halle)

UnterbringungsG LSA § 1 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2, 70 Abs. 1, 103;StGB § 66; StPO § 453c

1. Durchgreifende Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit desUBG v. 6.3.2002 (GVBl. LSA S. 80) bestehen nicht.2. Im Rahmen des § 1 Abs. 1 UBG kommt es nur auf die formalenVoraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 u. 2, Abs. 2-4 StGB an; die mate-rielle Voraussetzung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Nr. 3StGB ist nicht zu prüfen.3. Hat die Strafvollstreckungskammer die Unterbringung des Betrof-fenen gem. § 1 UBG angeordnet, kommt es für die Entscheidung desBeschwerdegerichts nicht darauf an, ob der Betroffene auch zumZeitpunkt der Beschwerdeentscheidung noch Strafhaft verbüßt.

Problemstellung:Der Beschwerdef. verbüßte bis zum 19.3.2002 eine Freiheitsstrafe vonacht Jahren wegen versuchten Totschlags. Zuvor hatte er eine zehnjäh-rige Jugendstrafe wegen Mordes aufgrund eines Urteils des BezirksGHalle abgesessen.

Mit Beschl. v. 18.3.2002 ordnete eine Strafvollstreckungskammerdes LG Halle die Unterbringung des Beschwerdef. nach dem sachsen-anhaltinischen Ges. über die Unterbringung besonders rückfallge-fährdeter Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffent-liche Sicherheit und Ordnung (UnterbringungsG – UBG) v. 6.3.2002an und erließ zur Sicherung des weiteren Verfahrens Haftbefehl nach§ 453c StPO analog.

Die gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung gerichtete,nicht näher begründete sofortige Beschwerde des Betroffenen hattekeinen Erfolg.

Es handelt sich um den ersten bekannt gewordenen Fall der Anord-nung nachträglicher Sicherungsverwahrung auf der Grundlage einerlandesrechtlichen Regelung. In einem zweiten in den Medien bekanntgewordenen Fall lehnte das LG Mannheim einen Antrag auf Anord-nung nachträglicher Sicherungsverwahrung ab (Stuttgarter Zeitungv. 24.5.2002).

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Das OLG sieht die Gesetzgebungskompetenz des Landes nach Art. 70Abs. 1 GG gegeben. Es verneint eine ausschließliche oder konkurrie-rende Gesetzgebungskompetenz des Bundes, da das UBG allein an dieaktuelle Gefährlichkeit des vor der Entlassung aus dem Strafvollzugstehenden Strafgefangenen anknüpfe und nicht etwa an die straf-rechtlich bereits abgeurteilte Anlasstat. Es handele sich bei der Unter-

bringung daher um eine präventive Sicherungsmaßnahme zur Abwehreiner Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Für dieGefahrenabwehr stehe die Gesetzgebungskompetenz allein den Bundes-ländern zu. Mangels Anknüpfung der Unterbringung an die Anlasstatliege auch kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG (Doppelbestra-fungsverbot) vor. Auch ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot(Art. 103 Abs. 2) sei nicht gegeben. Zwar werde zur Beurteilung deraktuellen Gefährlichkeit des betroffenen Strafgefangenen auch auf inder Vergangenheit liegende Umstände abgestellt. Entscheidend für dieAnordnung der Unterbringung sei allerdings die zum Zeitpunkt dergerichtlichen Entscheidung gegebene gegenwärtige Gefährlichkeit.

Ein mit unechter Rückwirkung – wie hier – verbundenes Gesetz seiverfassungsgemäß, soweit das Interesse der Allgemeinheit das Ver-trauen des Betroffenen auf den Fortbestand der ihm bis dahin günsti-gen Rechtslage überwiege. So verhalte es sich beim UBG. Ein Eingriffin Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG liege zwar vor, dieser sei jedoch auf derGrundlage eines formellen Gesetzes möglich, soweit dieses materiellgeeignet, erforderlich und angemessen sei, den verfolgten Gesetzes-zweck – hier den Schutz der Allgemeinheit vor schwersten Straftatenvon Rückfalltätern – zu erreichen. Diese Voraussetzung sei beim UBGgegeben. Das Gesetz verlange eine »hohe Wahrscheinlichkeit« zukünf-tiger Straftatbegehung (vgl. amtl. Begr., LT-Drucks. 3/5167, S. 11). Aufder Basis zweier Sachverständigengutachten sei jedoch eine fundierteBeurteilungsgrundlage gegeben.

Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 UBG hat das OLG im vorlie-genden Fall bejaht. Die formalen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 StGBsah es als gegeben. Auf die materiellen Voraussetzungen der Siche-rungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB kam es nach Auffassungdes OLG nicht an. Das leitete das Gericht aus dem Zweck der Norm ab.

Auch der Umstand, dass der Betroffene nach der angegriffenen Ent-scheidung der Strafvollstreckungskammer aus der Strafhaft entlassenund in entsprechender Anwendung des § 453 c StPO zur Sicherung desweiteren Verfahrens in Haft genommen worden war, stand nach Auf-fassung des OLG der Anordnung der Unterbringung nicht entgegen.Eine andere Gesetzesauslegung, so das OLG, hätte zur Konsequenz,dass rechtsfehlerhafte Ablehnungen beantragter Unterbringungen aufdie sofortige Beschwerde der Justizvollzugsverwaltung in den Fällennicht mehr korrigiert werden könnten, in denen das Ende der Strafhaftvor Entscheidung des BeschwerdeG eintritt und der Betroffeneentlassen wird. Eine solche Gesetzesauslegung entspräche nicht demWillen des Gesetzgebers.

Dass eine erhebliche gegenwärtige Gefahr für das Leben, die per-sönliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelleSelbstbestimmung anderer von dem betroffenen Strafgefangenen aus-geht, entnahm das OLG seiner nach Auffassung eines Sachverständi-gen fehlenden »Therapiemotivation« sowie seiner Weigerung, sichdurch einen (weiteren) Sachverständigen im Rahmen des Unterbrin-gungsverfahrens begutachten zu lassen. Auch die vom Betroffenen– nach anfänglicher Bereitschaft – erklärte Ablehnung der Verlegungin eine sozialtherapeutische Anstalt und der Wiederaufnahme vonTherapiegesprächen mit einem Psychologen belege seine »beharrlicheVerweigerung der Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels«,die die Annahme einer erheblichen Rückfallgefahr rechtfertige.Schließlich werde die durch die Persönlichkeitsstörung des Gefange-nen begründete Gefährlichkeit durch die sachverständigen Stellung-nahmen zweier Gutachter und die Aussagen zweier zeugenschaftlichvernommener Psychologen belegt, die – u.a. auch aufgrund der Vor-begutachtung durch einen Psychologen im Jahr 2000 – zu der Über-zeugung gelangt seien, dass von dem Betroffenen eine erheblicheGefährlichkeit ausgehe.

Kommentar:Die Ausführungen des OLG zur Verfassungsmäßigkeit des UBG über-zeugen nicht.

Rechtsprechung Strafrecht

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491Neue Justiz 9/2002

Es fehlt bereits an einer Kompetenz des Landesgesetzgebers für einegesetzliche Regelung der Anordnung nachträglicher Sicherungsver-wahrung (vgl. hierzu auch Kinzig, NJW 2001, 1455; Ullenbruch, NStZ2001, 292 ff. [294]). Das OLG beruft sich auf die ausschließlicheGesetzgebungskompetenz der Länder für die Gefahrenabwehr. Freilichhaben die Länder selbst, und zwar auch solche, die entsprechendeLandesgesetze verabschiedet haben (Baden-Württemberg und Bayern),hieran Bedenken geäußert. So heißt es noch in der Begründung desGesetzesantrags der Länder Baden-Württemberg und Thüringen zuderen »Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vor schweren Wieder-holungstaten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung inder Sicherungsverwahrung« v. 11.4.2002 (BR-Drucks. 304/02), dieauf die allgemeine Kompetenz für die Gefahrenabwehr gestütztenRegelungen zur landesrechtlichen Unterbringung könnten wegen derdurch den Bund abschließend in Anspruch genommenen Kompetenzfür eine strafrechtliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrungnicht auf die Straftaten des Täters als maßgeblichen Anknüpfungs-punkt für die Gefährlichkeit zurückgreifen. Wegen dieser einge-schänkten Beurteilungsgrundlage bestehe die Gefahr, dass gewichtigePrognosegesichtspunkte ausgeblendet werden müssten mit der Folge,dass Täter trotz erkennbarer Gefährlichkeit in Freiheit zu entlassenseien (ebenda, S. 3). Bekanntlich hat der Bundesgesetzgeber von seinerGesetzgebungskompetenz zur Regelung der nachträglichen (»vorbehal-tenen«) Sicherungsverwahrung mittlerweile durch das vom Bundestagam 7.6.2002 beschlossene Ges. zur Einführung der vorbehaltenenSicherungsverwahrung (Entw.: BT-Drucks. 14/8586) Gebrauch gemacht,dem der Bundesrat am 12.7.2002 zugestimmt hat.

Das OLG versucht dem Dilemma zu entgehen, indem es die mate-riellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1Nr. 3 StGB für unbeachtlich hält und allein auf die formellen Voraus-setzungen in § 66 StGB abstellt. Das ist freilich bereits nach demWortlaut des § 1 Abs. 1 UBG zweifelhaft, der auf § 66 Abs. 1 Nr. 1 u. 2,Abs. 2-4 StGB verweist. § 66 Abs. 3 StGB enthält wiederum einenVerweis auf Abs. 1 Nr. 2 u. 3 und damit auf die Voraussetzung des»Hanges zu erheblichen Straftaten«. Selbst wenn der Auffassung desOLG – das insoweit ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers inBetracht zieht, aber dahingestellt lassen möchte – zu folgen wäre, bliebedoch immer noch die formelle Anknüpfung an die Voraussetzungendes § 66 StGB. Hanack hat jüngst (in: FS für Rieß, 2002, S. 709 ff.[715 f.]) auf den simplen Umstand hingewiesen, dass von der Regelungja nur Täter erfasst werden sollten, die wegen einer Anlasstat verurteiltsind und sich deswegen im Strafvollzug befinden. Eine von der straf-rechtlichen Biografie des Betroffenen völlig losgelöste Gefährlichkeits-prüfung soll – gottlob! – gerade nicht stattfinden.

Aus eben diesen Gründen sind auch die Ausführungen zur Verein-barkeit des UBG mit Art. 103 Abs. 3 GG nicht überzeugend.

Das OLG sieht in der Anordnung nachträglicher Sicherungsver-wahrung nach dem UBG einen Fall unechter Rückwirkung. Es hälteine solche unechte Rückwirkung dann für zulässig, wenn – wie hier –das Interesse der Allgemeinheit an dem Schutz vor schweren Rückfall-taten das Interesse besonders gefährlicher Straftäter an ihrer Entlas-sung nach Strafverbüßung überwiege.

Diese Überlegung berührt den Kernpunkt der Problematik. Diebesondere Gefährlichkeit des Betroffenen wird im entschiedenen Fallund auch im normierten Regelfall in § 1 Abs. 1 UBG (»insbesondere…, namentlich …) – abgesehen von den Anlasstaten, die außer Betrachtbleiben sollen, geht es doch (angeblich) um die »aktuelle Gefährlich-keit« – in dessen Therapieunwilligkeit gesehen. Nach der Sachver-haltsdarstellung, die den Entscheidungsgründen zu entnehmen ist,scheint der Hintergrund dieser Renitenz des Betroffenen ein Konfliktmit den Therapeuten und Sachverständigen gewesen zu sein. Ob hier-aus auf eine die Allgemeinheit bedrohende Gefährlichkeit geschlossenwerden kann, ist zweifelhaft. Daran kann auch der Hinweis auf zwei»überzeugende sachverständige Stellungnahmen« und die Zeugen-

aussagen zweier Therapeuten nichts ändern. Kinzig (NJW 2001, 1458)hat dargelegt, dass die zur Anordnung der nachträglichen Sicherungs-verwahrung erforderliche Kriminalprognose seriös kaum zu leisten sei.Auf der »schmalen Basis« eines festgestellten Therapiewiderwillenskönne eine zuverlässige Prognose nicht getroffen werden.

Gänzlich unerörtert lässt der Beschluss des OLG das Problem der(Un-)Vereinbarkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung nachdem UBG mit Art. 5 Abs. 1 EMRK, der die Gründe normiert, die esgestatten, einem Menschen die Freiheit zu entziehen. Als Ermächti-gung für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nachdem UBG käme allein Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e EMRK in Betracht.Er setzt voraus, dass begründeter Anlass zu der Annahme bestehe, dasses notwendig ist, den Betroffenen an der Begehung einer Straftat zuhindern. Für das Vorliegen der engen Voraussetzungen, die die Rspr.des EGMR hierfür aufgestellt hat (vgl. dazu Kinzig, aaO) gibt der refe-rierte Sachverhalt nichts her (zur Unvereinbarkeit einer § 1 Abs. 1 UBGentsprechenden Regelung vgl. auch Stellungnahme des Strafrechtsaus-schusses des DAV Nr. 10/2001 sowie Presserklärung des DAV Nr. 3/01v. 17.1.2001, NJW 2001, Heft 6, S. XXII, u. Ullenbruch, NStZ 2001, 296).

Nur am Rande sei bemerkt (diese Rechtsfrage hatte das OLG nichtzu entscheiden), dass der von der Strafvollstreckungskammer erlasseneHaftbefehl in analoger Anwendung von § 453c StPO schlechterdingsverfassungswidrig sein dürfte. Eine Freiheitsentziehung auf der Grund-lage einer Gesetzesanalogie sieht Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG nicht vor.

Es bleibt bei allem das ungute Gefühl, dass mit dem Instrument dernachträglichen Sicherungsverwahrung (und für die vorbehaltene giltnichts anderes) ein Bauernopfer zur Befriedigung eines diffusen»Sicherheitsinteresses der Bevölkerung« gebracht wird. Zu befürchtenist, dass die Regelungen, die durch Drohung mit nachträglicher odervorbehaltener Sicherungsverwahrung einen »Anreiz« für Therapie-bereitschaft schaffen wollen, in Wahrheit nur Mimikry befördern oderjedenfalls diejenigen begünstigen, die hierzu fähig und gerade des-wegen möglicherweise besonders gefährlich sind. Zutreffend ist daherdie Kritik des Bremer Instituts für Kriminalpolitik (BRIK) in ihrem»Memorandum wider die nachträgliche Sicherungsverwahrung« v.11.4.2002, wo es heißt: »Scheinanpassung infolge von Hoffnungs-losigkeit und Prisonierung fördert Scheinprognosen und produziertdamit letztlich Scheinsicherheit« (vgl. BRIK zit. n. www.institute.uni-bremen.de/˜jura/brikmemo.pdf).

Dr. Stefan König, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Berlin

� 03.4 – 9/02

Strafrechtliche Rehabilitierung/Rechtsnatur der Einziehung von Ver-mögenswerten der Kriegsverbrecher und NaziaktivistenLG Berlin, Beschluss vom 26. März 2002 – (551 Rh) 3 Js 83/02 (3/02)(rechtskräftig)

StrRehaG § 1 Abs. 5; Ges. zur Einziehung von Vermögenswerten derKriegsverbrecher und Naziaktivisten v. 8.2.1949 §§ 1 Abs. 1, 8

1. Als strafrechtliche Maßnahme iSd § 1 Abs. 5 StrRehaG gelten nurall diejenigen staatlichen Zwangsmaßnahmen, die mit dem Vorwurfeiner nach dem Recht der ehem. DDR oder der Rechtspraxis derehem. DDR strafbaren Handlung im Zusammenhang stehen.2. Bei einer Vermögenseinziehung nach Maßgabe der §§ 1 Abs. 1, 8des Gesetzes zur Einziehung von Vermögenswerten der Kriegsver-brecher und Naziaktivisten des Magistrats von Groß-Berlin v. 8.2.1949handelt es sich nicht um eine strafrechtliche Maßnahme iSd § 1 Abs. 5StrRehaG, sondern um eine verwaltungsrechtliche Maßnahme.3. Das Gesetz zur Einziehung von Vermögenswerten der Kriegsver-brecher und Naziaktivisten des Magistrats von Groß-Berlin v. 8.2.1949beruhte auf dem SMAD-Befehl Nr. 124 v. 30.10.1945 und damit aufeiner besatzungsrechtlichen Grundlage (vgl. BVerwG, NJ 1995, 328).

(mitgeteilt von RiLG Michael Heinatz, Berlin)

Straf recht

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Neue Justiz 9/2002492

04 VERWALTUNGSRECHT

� 04.1 – 9/02

Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen/Verwal-tungshoheit der Bundesländer/Territorialitätsprinzip/luftverkehrs-rechtliches PlanfeststellungsverfahrenBVerwG, Urteil vom 30. Januar 2002 – 9 A 20/01

VwGO §§ 44a, 113 Abs. 1 Satz 4; VwVfGBbg §§ 68 Abs. 3, 73 Abs. 6;GG Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 1; LuftVG § 10 Abs. 1, 2, 8

1. Eine ursprünglich vollstreckbare, dann jedoch erledigte Verfah-renshandlung kann gem. § 44a Satz 1 VwGO i.d.R. nicht selbständigmit einer Klage angegriffen werden. Die Ausnahme nach § 44a Satz 2VwGO findet insoweit keine Anwendung.2. Der im Bundesstaatsprinzip begründete Grundsatz, dass einBundesland in seiner Verwaltungshoheit auf sein eigenes Gebietbeschränkt ist, ist durch § 10 Abs. 1 Satz 2 LuftVG für das luftver-kehrsrechtliche Planfeststellungsverfahren bundesrechtlich durch-brochen. Unter den in § 10 Abs. 1 Satz 2 LuftVG genannten Voraus-setzungen ist die Anhörungsbehörde befugt, den Erörterungsterminauch auf dem Gebiet des benachbarten Landes abzuhalten und dortsitzungspolizeiliche Maßnahmen zu ergreifen.

Problemstellung:Das BVerwG hatte in erster Instanz (§ 5 Abs. 1 iVm § 1 Abs. 1 Nr. 3VerkPBG) über eine Klage gegen Maßnahmen der brandenburgischenAnhörungsbehörde im Rahmen des Planfeststellungsverfahrenszum Flughafenprojekt Berlin-Brandenburg International (Ausbau desFlughafens Berlin-Schönefeld) zu entscheiden. Der Kl. wurde vomVerhandlungsleiter bei dem auf dem Gebiet des Landes Berlin durch-geführten Erörterungstermin wegen fortgesetzter Störungen nach derErteilung eines Verweises und einer entsprechenden Androhung am28.6.2001 von der weiteren Erörterung ausgeschlossen und des Saalesverwiesen. Am darauf folgenden Tag wurde ihm der Zugang zumErörterungsraum verwehrt. Mit Bescheid der Anhörungsbehörde v.3.7.2001 wurde der Kl. mit Wirkung v. 5.7.2001 wieder zur Erörterungzugelassen. In der weiteren Erörterung ergriff der Kl. dann am 9.7. undam 24.9.2001 zu dem Thema »Lärmimmissionen« das Wort; diesesThema war vom 28.6. bis 9.7. sowie am 24. u. 25.9.2001 Gegenstandder Erörterung.

Der Kl. begehrte vor dem BVerwG mit seiner Klage v. 3.8.2001 dieAufhebung des dauerhaften Ausschlusses von der Erörterung sowie dieFeststellung der Nichtigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der übrigen Maß-nahmen; hilfsweise beantragte er auch die Feststellung der Nichtigkeitbzw. Rechtswidrigkeit des Ausschlusses von der Erörterung.

Das BVerwG wies die Klage in vollem Umfang ab.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Das BVerwG hält die Klage zunächst wegen der Regelung des § 44aVwGO für unzulässig. Die Voraussetzungen des § 44a Satz 1 seiengegeben, weil es sich bei den Klageanträgen um Rechtsbehelfe gegenbehördliche Verfahrenshandlungen handle. Nach § 44a Satz 1 VwGOkönnten diese Rechtsbehelfe nur gleichzeitig mit den gegen dieSachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemachtwerden. Es liege auch keine Ausnahme nach § 44a Satz 2 VwGO vor.Zwar sei der Ausschluss von der Erörterung – als einzige der ange-griffenen Verfahrenshandlungen – zunächst vollstreckbar gewesen,womit die Voraussetzungen des § 44a Satz 2 VwGO für diese Maß-nahme zunächst erfüllt gewesen seien. Mit der Wiederzulassung zurErörterung am 3.7. (mit Wirkung zum 5.7.) habe sich der Ausschlussvon der Erörterung v. 28.6.2001 aber erledigt. Der Kl. sei nach derWiederzulassung zur Erörterung nicht mehr an der Teilnahme gehin-dert gewesen und habe von der Möglichkeit, sich zu dem Thema»Lärmimmissionen«, das an den Tagen, an denen er ausgeschlossen

war, behandelt wurde, zu äußern, am 9.7. und am 24.9.2001 Gebrauchgemacht. Damit sei der Ausschluss von der Erörterung gegenstandslosgeworden und konnte zum Zeitpunkt der Klageerhebung nicht mehrvollstreckt werden. Die Voraussetzungen einer Ausnahme nach § 44aSatz 2 VwGO für diese Maßnahme hätten daher bei Klageerhebungnicht mehr vorgelegen. Zweck dieser Ausnahmeregelung sei nämlichzu verhindern, dass durch eine vollstreckbare Verfahrenshandlung biszur Sachentscheidung ein irreparabler Zustand geschaffen werde, unddiese Gefahr bestehe für den Kl. nicht mehr.

Darüber hinaus gebiete auch Art. 19 Abs. 4 GG nicht, eine Klagegegen eine ursprünglich vollstreckbare, dann aber erledigte Ver-fahrenshandlung nach § 44a Satz 2 VwGO als zulässig anzusehen.Das sei nur dann erforderlich, wenn die Maßnahme wegen Wieder-holungsgefahr, nachwirkender Diskriminierung bzw. erheblicherBeeinträchtigung fortwährenden Klärungsbedarf auslöse. Diese imZusammenhang mit der Fortsetzungsfeststellungsklage entwickeltenVoraussetzungen seien hier nicht erfüllt.

Aus den gleichen Gründen sei die Klage auch – ungeachtet der Aus-schlusswirkung des § 44a VwGO – als Fortsetzungsfeststellungsklageunzulässig.

Im Übrigen sei die Klage auch unbegründet. Der Ausschluss vomErörterungstermin sei rechtmäßig gewesen. Er stütze sich zu Recht auf§ 68 Abs. 3 Satz 2 VwVfGBbg, der hier nach § 10 Abs. 1 Satz 2 undAbs. 2 Satz 2 LuftVG iVm § 73 Abs. 6 Satz 6 VwVfGBbg anzuwendensei. Die tatbestandlichen Voraussetzungen seien erfüllt: der Kl. habeden Anordnungen des Verhandlungsleiters keine Folge geleistet. DieMaßnahme sei auch nicht unverhältnismäßig gewesen.

Auch das im Verhältnis der Bundesländer zueinander geltende Terri-torialitätsprinzip führe nicht zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme.Zwar habe hier die brandenburgische Anhörungsbehörde auf demGebiet des Landes Berlin gehandelt; aber diese Durchbrechung des Ter-ritorialitätsprinzips sei durch das bundesrechtliche LuftVG gerecht-fertigt. § 10 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 LuftVG ordneten die Durch-führung des Planfeststellungsverfahrens durch das Land Brandenburgan. Damit sei die Kompetenz auf das Land Brandenburg übertragen,einen Planfeststellungsbeschluss zu erlassen, der auch im Land Berlin,in dem ein Teil des Flughafengeländes liegt, hoheitliche Wirkungenund sogar enteignungsrechtliche Vorwirkungen entfaltet. Die bran-denburgische Anhörungsbehörde sei damit erst recht befugt, auf demWeg zu diesem Planfeststellungsbeschluss den Anhörungstermin aufdem Gebiet des Landes Berlin abzuhalten.

Kommentar:Das BVerwG kommt zu Recht zu dem Ergebnis, dass die Klageunzulässig und unbegründet ist; aber seine Argumentation verdienteinige Anmerkungen.

Auf den ersten Blick erscheint diese Argumentation unnötig kom-pliziert und teilweise ungenau. Wenn das BVerwG die Wiederzu-lassung zum Erörterungstermin als »Erledigung« des vorherigenAusschlusses einstuft (was durchaus nahe liegt), so bietet es sicheigentlich an, die Klage, soweit sie auf Aufhebung gerichtet ist, wegenfehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abzuweisen undden hilfsweise gestellten Feststellungsantrag als Fortsetzungsfeststel-lungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog) zu prüfen. Statt dessenlässt das BVerwG offen, welche Klageart es überhaupt prüft, undwendet die Kriterien, die das Feststellungsinteresse im Rahmen derFortsetzungsfeststellungsklage begründen, unter einigen argumen-tativen Anstrengungen im Rahmen der Prüfung des § 44a VwGO an.Damit kommt das BVerwG zu dem Ergebnis, dass eine Klage, diesich gegen den Ausschluss richtet, gem. § 44a VwGO unzulässig ist –ungeachtet der Einordnung als Aufhebungs- oder Feststellungsklage.

Hier drängt sich die Frage nach dem Grund für diese merkwürdigeArgumentation auf. Es spricht einiges dafür, dass sich mit diesemUrteil eine Änderung der Rspr. des BVerwG zur Fortsetzungsfeststel-

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493Neue Justiz 9/2002

lungsklage gegen solche Verwaltungsakte andeutet, deren Erledigungvor Klageerhebung eingetreten ist.

Schon in einer Entscheidung v. 14.7.1999 hatte der 6. Senat»bezweifelt ..., ob bei einer nicht von vornherein als Anfechtungs- undVerpflichtungsklage erhobenen Klage auf Feststellung der Rechtswid-rigkeit eines Verwaltungsakts überhaupt entsprechend auf § 113 Abs. 1Satz 4 VwGO zurückzugreifen ist« (BVerwGE 109, 203, 209), undangedeutet, dass hier in Abkehr von der bish.Rspr. die Feststellungs-klage nach § 43 VwGO vorzugswürdig sein könnte (vgl. dazu auchLange, SächsVBl. 2002, 53; Wehr, DVBl 2001, 785). Vor diesemHintergrund wird verständlich, warum das BVerwG im vorliegendenUrteil die Fortsetzungsfeststellungsklage mit sehr spitzen Fingernanfasst und lediglich darauf hinweist, dass man bei Prüfung ihrerVoraussetzungen zu keinem anderen Ergebnis gelangen würde als mitdem Begründungsweg, den das BVerwG nun eingeschlagen hat.

Für den Abschied von der analogen Anwendung des § 113 Abs. 1Satz 4 VwGO in den Fällen des vor Klageerhebung erledigten Verwal-tungsakts (und in anderen Fällen) mag es gute Gründe geben (siehedazu die o.a. Lit.). Allerdings sollte es das BVerwG nicht bei Andeu-tungen belassen, sondern sich entscheiden und ggf. diesen Abschiedmöglichst schnell vollziehen.

Assessor Tobias Herbst, Humboldt-Universität zu Berlin

� 04.2 – 9/02

Vermögensrecht/Ausschluss der Rückübertragung/Widmung zumGemeingebrauch/maßgeblicher Zeitpunkt/Einrichtung der GemeindeBVerwG, Urteil vom 27. Februar 2002 – 8 C 1/01 (VG Dessau)

VermG § 3 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 3, § 4 Abs. 1 Satz 1, § 5 Abs. 1 Buchst. a Abs. 2

1. Die Nutzung eines Flurstücks durch die Freiwillige Feuerwehr, diePost und die Gemeinde, die dort eine Bücherei und eine Dienstleis-tungsstelle betrieben hat, schließt die Rückübertragung des Eigentumsan dem Grundstück nicht aus.2. Die Nutzung eines Grundstücks als öffentliche Einrichtung derGemeinde für die wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Betreuungihrer Einwohner ist kein Indiz für eine Widmung zum Gemeingebrauch.3. Maßgeblicher Zeitpunkt für eine Widmung zum Gemeingebrauch,welche die Rückübertragung von Eigentumsrechten an Grundstückenausschließt, ist der 29.9.1990.

Problemstellung:Der Vater der Kl. wurde 1953 wegen Republikflucht enteignet. Die Kl.begehren die Rückübertragung der enteigneten Grundstücke. DasARoV bejahte die Berechtigung der Kl. iSd VermG, verneinte jedocheine Rückübertragung des Anwesens, da es von der Gemeinde für denGemeingebrauch als öffentlicher Park-, aber auch als Dorfplatz undkulturelles Zentrum genutzt werde. Der Widerspruch der Kl. blieberfolglos. Im anschließenden Klageverfahren hat die beigeladeneGemeinde angeführt, dass sich auf den strittigen Flurstücken auch einWartehäuschen für eine Bushaltestelle und ein Gebäude der Freiwilli-gen Feuerwehr befinde. Der Parkplatz sei in befestigter Form erst 1993angelegt worden. Bis zum Abriss im Jahre 1991 habe sich dort auch einmassiver Klinkerbau befunden, der als Poststelle, Gemeindebüchereiund Dienstleistungsstelle der Gemeinde genutzt worden sei.

Das VG hat die auf Restitution der Grundstücke gerichtete Klageabgewiesen.

Das BVerwG hob diese Entscheidung auf und verwies die Sache zuranderweitigen Verhandlung an das VG zurück.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Die Berechtigung der Kl. gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 iVm § 1 Abs. 1 Buchst. aVermG wird vom BVerwG nicht in Frage gestellt. Das BVerwG verneint

jedoch einen Restitutionsausschluss aufgrund § 5 Abs. 1 Buchst. bVermG. Danach ist eine Rückübertragung ausgeschlossen, wenn dasGrundstück dem Gemeingebrauch gewidmet wurde. Der Begriff desGemeingebrauchs decke sich – so das BVerwG – mit dem des öffent-lichen Sachenrechts. Er umschreibe die Nutzung einer Sache, die jeder-mann oder zumindest einem nicht individualisierten Personenkreisohne besondere Zulassung eröffnet sei. Dazu gehörten Sachen im sog.Anstaltsgebrauch nicht, weil der Zugang zu ihnen reglementiert sei(BVerwGE 100, 70, 74 f. = Buchholz 428 § 5 VermG Nr. 5 S. 3, 6 f. = NJ1996, 383; BVerwG, Urt. v. 12.12.2001, NJ 2002, 273 [Leits.]). Hierzuseien die Gebäude der Feuerwehr, der Poststelle und der Gemeinde-bücherei zu zählen. Es sei auch nicht zu erkennen, dass das Grundstückdarüber hinaus »der Allgemeinheit … – etwa zu Erholungszweckenoder als öffentliche Verkehrseinrichtung – zugänglich war«. Es fehlefür die »Gemeinwohlfunktion« des Grundstücks an einer Widmung,die eine Erklärung der staatlichen Stellen voraussetze. Da das Recht derDDR den Begriff der Widmung nicht gekannt habe, hätte auch einkonkludentes, d.h. schlüssiges Verhalten ausgereicht. Ein bloßesbehördliches Dulden oder Geschehenlassen reiche hingegen nicht.Die Tatsache, dass das Gelände, weil nicht eingezäunt, frei zugänglichgewesen sei, lasse nicht auf eine konkrete Bestimmung des Gemein-gebrauchs schließen. Maßgeblich sei die Erkennbarkeit des Behörden-willens. Fehle es an einem eindeutigen Erklärungswillen, könnedieser aus Indizien abgleitet werden (OVG Münster, NJW 1976, 820).Auch auch dafür gebe es keine Anhaltspunkte.

Eine Widmung könne auch nicht darin gesehen werden, dass 1993ein Wartehäuschen und ein Parkplatz in befestigter Form angelegtworden seien. Eine restitutionsverdrängende Wirkung komme nur inBetracht, wenn die Umstände am 29.9.1990, dem Tag, an dem dasVermG in Kraft getreten sei, vorgelegen hätten. § 5 Abs. 1 VermG setzeden Eckwert Nr. 3a) der Gemeinsamen Erklärung der beiden deut-schen Regierungen zur Regelung offener Vermögensfragen v. 15.6.1990um: Das öffentliche Interesse an der Beibehaltung der während derExistenz der DDR eingetretenen Änderung der Nutzung oder Zweck-bestimmung des Grundeigentums solle dem privaten Interesse aneiner Rückgabe vorgehen. Es sei auf solche rechtlichen oder tatsäch-lichen Veränderungen der jeweiligen Grundstücks- oder Gebäude-situation abzustellen, die zur Zeit der Herrschaft der Rechtsordnungder DDR eingetreten seien. Diese sei jedoch mit dem In-Kraft-Tretendes VermG und damit unmittelbar vor Wirksamwerden des Beitrittsder DDR so gut wie beendet gewesen.

Auch in systematischer Hinsicht ergebe sich nichts anderes. § 5Abs. 2 VermG, der ausdrücklich für die Fallgruppen des Abs. 1 Buchst. aund d den Stichtag »29. September 1990« in Bezug nimmt, lassekeinen Gegenschluss für die Fälle des Abs. 1 Buchst. b und c zu. DieVorschrift sei erst durch Art. 1 Nr. 1 des HemmnisbeseitigungsG mitWirkung v. 29.3.1991 in das VermG eingefügt worden. Es sei darumgegangen, das Verhältnis der konkurrierenden Ausschlusstatbeständevon § 5 Abs. 1 Buchst. a und d VermG und des § 1 Buchst. c BInvG aFvoneinander abzugrenzen. Auch die Ausschlussfrist des § 4 Abs. 2VermG bestätige dies. Danach sei ein zum Ausschluss der Rück-übertragung führender redlicher Erwerb nach In-Kraft-Treten desVermG nicht mehr möglich (BVerwG, Beschl. v. 20.6.1995 – Buchholz428 § 4 VermG Nr. 19 S. 45 [46 f.]).

§ 3 Abs. 4 Satz 3 VermG stehe dieser Rechtsauffassung nicht entge-gen. Der Berechtigte habe in diesem Fall zwar lediglich einen Anspruchauf Erlösauskehr, wenn über das anmeldebelastete Grundstück verfügtworden sei. Dieser rechtliche Umstand sei jedoch »der besonderenAusgestaltung des als bloß obligatorisch wirkenden Unterlassungsan-spruchs von § 3 Abs. 3 Satz 1 VermG geschuldet«.

Ein anderes Normverständnis sei auch nicht § 4 Abs. 1 Satz 1 VermGzu entnehmen. In diesem Falle würden schwerwiegende nachbar-rechtliche Nutzungskonflikte einer Rückübertragung entgegenstehen(vgl. BVerwG, Urt. v. 29.7.1999 – Buchholz 428 § 4 Abs. 1 VermG Nr. 2

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Neue Justiz 9/2002494

S. 4 [7] = NJ 2000, 51 [bearb. v. Gruber] ). Die Widmung zum Gemein-gebrauch als öffentlich-rechtliche Dienstbarkeit verliere ihre Wirk-samkeit nicht durch eine Restitution. § 6 Abs. 6 StrG LSA bringe »dieseFolgenlosigkeit mit der Regelung zum Ausdruck, dass durch Verfü-gungen oder Enteignungen über die der Straße dienenden Grund-stücke die Widmung nicht berührt wird«.

Das BVerwG wies das Verfahren jedoch an das VG zurück, da nochzu ermitteln sei, ob hinsichtlich des Feuerwehrhauses ein Ausschluss-grund gem. § 5 Abs. 1 Buchst. a bestehe. Dies setze voraus, dass einerheblicher baulicher Aufwand betrieben worden sei, der nicht wegenRückgabe nutzlos werden solle. Dabei könne sich der Ausschlussgrundnach der Rspr. des BVerwG auf einen Teil des betreffenden Grund-stücks beschränken (Urt. v. 28.2.2001 – Buchholz 428 § 5 VermGNr. 27 S. 7 [16 f.], NJ 2001, 496 [bearb. v. Schmidt] ).

Kommentar:Auch wenn es das BVerwG nicht offen ausspricht, so kommt es imErgebnis letztlich zu einer analogen Anwendung des § 5 Abs. 2 VermG.Für den 8. Senat ist maßgeblicher Stichtag für den Fall des § 5 Abs. 1Buchst. b VermG und damit letztlich auch für Buchst. c der 29.9.1990.Weshalb das Gericht den Zeitpunkt des Restitutionsausschlusses soweit vordatiert, ist nicht verständlich, wenn man berücksichtigt, dasseine Manipulationsgefahr, wie sie bei den Fallgruppen von § 5 Abs. 1Buchst. a und d VermG besteht – und deshalb auch Auslöser des mitArt. 1 Nr. 1 des HemmnisbeseitigungsG eingefügten Abs. 2 war –, beiden Fallgruppen b und c gerade nicht droht: Denn eine mögliche Wid-mung ist an der Bestimmung des § 3 Abs. 3 Satz 1 VermG zu messen.Diese Vorschrift besagt, dass der Verfügungsberechtigte verpflichtet ist,den Abschluss dinglicher Rechtsgeschäfte oder die Eingehung langfris-tiger vertraglicher Verpflichtungen ohne Zustimmung des Berechtig-ten zu unterlassen, sobald ein Antrag auf Rückübertragung nach § 30VermG vorliegt.

Sofern die Widmung unter die dort genannte Verfügungsbeschrän-kung fällt – und davon kann i.d.R. ausgegangen werden –, ist siezunächst einmal nicht zulässig. Die staatlichen Stellen, die eine Wid-mung aussprechen wollen, müssen sich deshalb gem. § 3 Abs. 5VermG beim ARoV vergewissern, dass »keine Anmeldung im Sinne desAbsatzes 3 hinsichtlich des Vermögenswertes vorliegt«.

An dem Erfordernis einer derartigen Vergewisserungspflicht vermagauch nichts zu ändern, dass ein beabsichtigter Widmungsakt keinerGenehmigung nach der GVO bedarf. In § 2 Abs. 1 GVO ist abschlie-ßend aufgeführt, welche Rechtsgeschäfte vor deren Abschluss geneh-migt werden müssen. Zwar löst ein Verstoß gegen die Verfügungs-beschränkung lediglich einen Schadensersatzanspruch bzw., da es sichin unserem Fall um einen staatlichen Widmungsakt handelt, einenAmtshaftungsanspruch aus. § 3 Abs. 3 Satz 1 VermG ist nämlich »alsbloß obligatorisch wirkend(er) Unterlassungsanspruch« ausgestaltet,worauf auch das BVerwG ausdrücklich hinweist. Die Vergewisse-rungspflicht muss aber ins Leere gehen, wenn den Vermögensbehör-den noch kein Restitutionsantrag vorliegt. Aus diesem Grunde ist essinnvoll, aber auch völlig ausreichend, eine Widmung dann nichtmehr zuzulassen, sobald ein Antrag auf Rückübertragung gestellt wor-den ist. Zur Frage des Zeitpunkts der Antragsstellung im vorliegendenFall schweigt das BVerwG allerdings.

Noch ein anderer Gesichtspunkt verdeutlicht, dass eine Manipu-lation zu Lasten des Restitutionsberechtigten nicht eintreten wird.Dem früheren Eigentümer als Beteiligtem iSv § 13 VwVfG muss diebeabsichtigte Widmung mitgeteilt und gem. § 41 VwVfG bekanntgegeben werden. Geschieht dies nicht, besteht für den Antragstellersolange die Möglichkeit einer Klage, bis er Kenntnis von der Widmungerlangt hat. Da es im Sinne der Möglichkeits- bzw. der Schutznorm-theorie möglich ist, dass die Vermögensbehörde die Berechtigung desfrüheren Eigentümers feststellen wird, ist der Antragsteller auch ineinem noch laufenden Restitutionsverfahren klagebefugt. Dies bedeu-

tet aber, dass die Vermögensbehörde auch hinsichtlich einer z.B. erst1995 ausgesprochenen Widmung bei der Prüfung eines Restitutions-ausschlussgrunds gem. § 5 Abs. 1 Buchst. b VermG die Vorfrage ihrerwirksamen Bekanntgabe wird prüfen müssen.

RD Udo Michael Schmidt, Sächs. Staatsministerium des Innern, Dresden

� 04.3 – 9/02

Vermögensrecht/US-Pauschalentschädigungsabkommen/Beweiserleichterung für Vorliegen der gesetzlichen Erbfolge/Ermittlung der Rechtstatsachen bei Übergang von RechtstitelnBVerwG, Urteil vom 27. Februar 2002 – 8 C 20/01 (VG Halle)

VermG §§ 1 Abs. 6, 30a Abs. 1 Satz 1 u. 4, 31 Abs. 1c u. 1d;GVO § 1 Abs. 2

1. Im Falle eines Schädigungstatbestands nach § 1 Abs. 6 VermGbegründet die Regelung des § 31 Abs. 1c VermG iVm § 181 Abs. 1 BEGkeinen Beweis des ersten Anscheins für das Vorliegen der gesetzlichenErbfolge.2. Gehen Rechtstitel nach Art. 3 Abs. 9 des US-Pauschalentschä-digungsabkommens über, so erfordert die Regelung über die Ver-mutungswirkung in § 31 Abs. 1d VermG, dass im deutschen Ver-waltungsverfahren ermittelt wird, welche »Rechtstatsachen« denEntscheidungen der inneramerikanischen Stellen gem. dem Bundes-gesetz der Vereinigten Staaten von Amerika 94-542 v. 18.10.1976zugrunde gelegt wurden.

Problemstellung:Die klagende Bundesrepublik Deutschland und die beigeladene JewishMaterial Claims against Germany begehren die Rückübertragung einesGrundstücks. Eigentümerin dieses Grundstücks war ursprünglichEmmy K. Diese verkaufte es im Nov. 1938 und emigrierte als rassischVerfolgte im Dez. 1938 in die USA. Sie soll nach Angaben eines Ver-wandten 1942 in den USA verstorben sein. Über die Erbfolge nachEmmy K. sind in den Akten keine Unterlagen vorhanden.

Emmy K. hatte 1931 Georg K. geheiratet. Dieser verstarb 1975. Esliegt ein gegenständlich beschränkter gemeinschaftlicher Erbscheindes AG Schöneberg vor, wonach er von Bernhard und Alice R. je zurHälfte des Nachlasses beerbt wurde. Diese beiden haben bei derForeign Claims Settlement Commission der Vereinigten Staaten(FCSC) Ansprüche angemeldet, die sich auch auf das streitbefangeneGrundstück bezogen. Bernhard und Alice R. verstarben beide 1979.1981 erging eine Entscheidung der FCSC zu ihren Gunsten. IhrTestamentsvollstrecker meldete 1990 vermögensrechtliche Ansprüchean, die er 1993 jedoch wieder zurückzog, da man sich für die Entschä-digung in den USA entschieden habe. Auch die Beigel. meldeteAnsprüche an. Sie stützt ihren Anspruch auf § 2 Abs. 1 Satz 3 VermG.

Das ARoV lehnte den Anspruch der Beigel. ab, während das LARoVim Widerspruchsverfahren auf Rückübertragung entschied. Die Kl.rief das VG an, welches den Bekl. verpflichtete, die Rückübertra-gungsberechtigung der Kl. und der Beigel. in Erbengemeinschaft fest-zustellen. Der Schädigungstatbestand des § 1 Abs. 6 VermG liege vor.Durch die Wahl der inneramerikanischen Entschädigung seien dieAnsprüche nach Bernhard und Alice R. auf die Kl. als Rechtsnachfol-gerin dieser Erbengemeinschaft übergegangen. Zwar folge dies nichtaus der Vermutung des § 31 Abs. 1d VermG, da der Annex zur Ent-scheidung der FCSC nichts dazu sage, ob Georg K. Erbe der Emmy K.geworden sei. Die Berechtigung der Kl. als Miteigentümerin steheaber, ohne dass es wegen § 31 Abs. 1c VermG iVm § 181 BEG einesErbscheins bedürfe, zur Überzeugung des Gerichts deshalb fest, weil eseinen nicht entkräfteten Beweis des ersten Anscheins gebe, wonachGeorg K. seine vorverstorbene Ehefrau Emmy K. zumindest mit beerbthabe. Zwar sei die Staatsangehörigkeit der Emmy K. ebenso wie Ortund Zeitpunkt ihres Todes unbekannt, jedoch sei nach dem Recht der

Rechtsprechung Verwaltungsrecht

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495Neue Justiz 9/2002

USA für Grundstücke das Erbrecht des Belegenheitsorts maßgeblich.Da es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer letztwilligen Verfü-gung gäbe, sei deshalb von der gesetzlichen Erbfolge des § 1931 BGBauszugehen, wonach der Ehemann zumindest Miterbe sein müsse.

Auf die Revision der Beigel. hat das BVerwG das Urteil aufgehobenund die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung andas VG zurückverwiesen.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Zuerst stellt das BVerwG fest, dass die Kl. die Antragsfrist nach § 30aAbs. 1 Satz 1 VermG gewahrt habe, da ihr als Rechtsnachfolgerin vonBernhard und Alice R. die Antragstellung des Testamentvollstreckerszuzurechnen sei. Dessen Antragsrücknahme sei, wie sich aus dem in§ 161 Abs. 1 BGB zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechts-gedanken ergebe, unwirksam.

Das VG habe aber die Vorschrift des § 31 Abs. 1c VermG iVm § 181BEG verkannt. Zwar sei danach die Vorlage eines Erbscheins entbehr-lich, wenn die Erbberechtigung auch ohne Vorlage eines Erbscheinsnachweisbar sei. Eine solche Nachweisbarkeit habe das VG jedoch zuUnrecht mit Hilfe des Beweises des ersten Anscheins angenommen.Dieser setze einen typischen Geschehensablauf voraus, der nach derLebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache schließen lasse. Ent-gegen der Ansicht des VG stelle es aber keinen typischen Gesche-hensablauf dar, dass unter Ehegatten immer die gesetzliche Erbfolgeeintrete. Vielmehr könne durch ein Testament eine andere Personbedacht werden. Ob ein Erblasser von seiner Testierfreiheit Gebrauchgemacht habe oder nicht, könne daher nicht mit dem Beweis desersten Anscheins nachgewiesen werden.

Bei weit zurückliegenden Geschehnissen seien allerdings Beweis-erleichterungen angebracht. Fänden sich keine Anhaltspunkte für einetestamentarische Erbfolge, so sei zumindest in Wiedergutmachungs-verfahren nach § 1 Abs. 6 VermG von der gesetzlichen Erbfolge gem.§§ 1922 ff. BGB auszugehen, wenn deutsches Recht anzuwenden sei.Dies sei bei jüdischen Verfolgten der Fall, sofern vom Fortbestehen derdeutschen Staatsangehörigkeit auszugehen sei. Die deutsche Staats-angehörigkeit sei bei Personen anzunehmen, die vor dem 8.5.1945verstorben sind und bei denen keine Anhaltspunkte dafür vorliegen,dass sie nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regi-mes nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollten.

Das VG habe ferner § 31 Abs. 1d VermG unzutreffend angewandt,indem es die »Rechtstatsachen«, die der Entscheidung der FCSCzugrunde lagen, nicht hinreichend ermittelt habe. Zu diesen Rechts-tatsachen gehöre auch die in den Entscheidungen der FCSC fest-gestellte Erbfolge. Das VG hätte daher die in den USA entstandenenVerwaltungsvorgänge bzgl. der von Bernhard und Alice R. geltendgemachten Ansprüche beiziehen müssen, da diese möglicherweiseFeststellungen zur Erbfolge enthielten. Verliefen diese Ermittlungenergebnislos, da die Vermutungswirkung der in den FCSC-Aktenenthaltenen Rechtstatsachen widerlegt werde oder weil gar keineRechtstatsachen ermittelt werden können, müsse das VG anderweitigeNachforschungen anstellen.

Kommentar:Die Beweisregel, wonach für die gesetzliche Erbfolge kein Beweis desersten Anscheins möglich sei, die Betroffenen aber von einer Beweis-erleichterung profitieren könnten, weicht in der praktischen Auswir-kung kaum von der Ansicht der Vorinstanz ab. Für die Praxis von großerBedeutung sind dagegen die Ausführungen des BVerwG zum Unter-suchungsgrundsatz nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 31 Abs. 1 VermG.

So verpflichtet das Urteil die Vermögensämter und Verwaltungs-gerichte zum einen, bei unklarem Sachverhalt stets die – allerdingsoftmals wenig aussagekräftigen – Akten der FCSC beizuziehen, umzu ermitteln, welche »Rechtstatsachen« diese ihrer Entscheidungzugrunde gelegt hat. Zum anderen müssen die Gerichte und Behörden

weitergehende Nachforschungen anstellen, wenn die Ermittlungenbei der FCSC nicht ergiebig waren. Das BVerwG nennt exemplarischAnfragen beim AG Schöneberg (Nachlassgericht), das gem. § 73 Abs. 2FGG für Deutsche ohne Wohnsitz im Inland zuständig ist, und bei denLastenausgleichsämtern. Diese arbeitsintensive Recherchetätigkeitwollten die Vermögensämter bisher oft vermeiden. Nach der Klarstel-lung durch das BVerwG lässt sich die ablehnende Haltung der Ämternicht mehr aufrechterhalten.

Literaturhinweis:Gruber, VIZ 1999, 646 ff.; ders., OV spezial 2000, 37 ff.; ders., NJ 2002,103 f.

Prof. Dr. Joachim Gruber, D.E.A. (Paris I),Westsächsische Hochschule, Zwickau

� 04.4 – 9/02

Vermögensrecht/Rückübertragung/Grundstücksbelastung/Bestel-lung einer AufbauhypothekBVerwG, Urteil vom 24. April 2002 – 8 C 21/01 (VG Halle)

VermG §§ 1 Abs. 4, 18 Abs. 1 u. 2

Ein VEB Gebäudewirtschaft, der die privaten und volkseigenen Mit-eigentumsanteile an einem Wohngrundstück verwaltete, hatte eineAufbauhypothek nicht wie ein staatlicher Verwalter bestellt, welcheaufzunehmen ihm vom Rat der Stadt nach der WohnraumlenkungsVOvon 1967 aufgegeben war.

� 04.5 – 9/02

Vermögensrecht/festgestellte Restitutionsberechtigung/Antrag wegeneiner anderen Schädigung desselben Vermögenswerts/EntschädigungBVerwG, Urteil vom 8. Mai 2002 – 7 C 18/01 (VG Dresden)

VermG § 1 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 6, § 2 Abs. 1 Satz 1; EntschG § 4;NS-VEntschG §§ 1 u. 2; VwVfG §§ 48, 49, 51

Hat die Vermögensbehörde eine Restitutionsberechtigung wegen derSchädigung eines Vermögenswerts festgestellt, setzt eine Feststel-lung der Berechtigung wegen einer anderen Schädigung desselbenVermögenswerts auch dann die Aufhebung des früheren Bescheidsvoraus, wenn der jeweilige Berechtigte ein und diesselbe Person ist(im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 21.6.2001 – Buchholz 428 § 30VermG Nr. 26 = NJ 2001, 608 [Leits.]).

� 04.6 – 9/02

Vermögensrecht/»arisiertes« Unternehmen/Höhe der EntschädigungBVerwG, Urteil vom 27. Mai 2002 – 3 C 2/02 (VG Halle)

EntschG § 4 Abs. 2; NS-VEntschG § 2

Eine sog. Privatentnahme von Vermögenswerten aus (jüdischen)Unternehmen nach einer nach 1935 erfolgten Einheitswertfestset-zung gemäß Reichsbewertungsrecht, die aller Erfahrung nach dazugedient hat, die Flucht der (jüdischen) Geschädigten zu ermöglichen,führt aus der Sicht des NS-VEntschG regelmäßig nicht zu einerUnverwertbarkeit des Einheitswerts iSd (gem. § 2 Satz 3 NS-VEntschGentsprechend anwendbaren) § 4 Abs. 2 Satz 1 EntschG.

� 04.7 – 9/02

Versammlungsfreiheit/Uniformverbot/Einsatz als Ordner der NPD/Sondernutzung eines MarktplatzesOVG Bautzen, Beschluss vom 9. November 2001 – 3 BS 257/01 (VG Leipzig)(rechtskräftig)

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Neue Justiz 9/2002496

VersG §§ 3 Abs. 1, 14, 15, 18 Abs. 2 u. 3; GG Art. 8 Abs. 1; StGB § 130 Abs. 1; SächsStrG § 18

1. Durch das in § 3 Abs. 1 VersG ausgesprochene Uniformverbot sollverhindert werden, dass durch derartige Kleidungsstücke Gewaltbe-reitschaft signalisiert wird.2. Bomberjacken und Springerstiefel sind Symbole, durch die eineZurschaustellung von organisierter Gewaltbereitschaft und Herbei-führung von Einschüchterung erfolgt, wenn diese von Versamm-lungsteilnehmern auf einer Versammlung getragen werden, die durcheine rechtsextremistische Partei durchgeführt wird.3. Von der aus §§ 14, 15 VersG folgenden Konzentrationswirkungwerden Erlaubnisverfahren nach sonstigen Regelungen nicht umfasst,durch die der Zugang zu einer in Aussicht genommenen Versamm-lungsfläche erst vermittelt wird.

Problemstellung:Für eine von der NPD angemeldete Versammlung hatte die Versamm-lungsbehörde Auflagen dahingehend gemacht, dass keine Bomber-jacken und Springerstiefel getragen sowie keine Fackeln mitgeführt undverwendet werden dürften. Eine weitere Auflage untersagte den Einsatzeiner bestimmten Person als Ordner oder Leiter des Ordnungsdienstes.Bzgl. des von der NPD im Rahmen des versammlungsbehördlichen Ver-fahrens gestellten Antrags zur Aufstellung eines Zeltes für 500 Personenauf dem Marktplatz der Stadt Grimma verwies die Versammlungs-behörde auf die erforderliche Zustimmung des Grundeigentümers.

Das VG lehnte den Antrag der NPD auf vorläufigen Rechtsschutzgegen den Sofortvollzug der Auflagen ab.

Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde wurde vom OVG zurück-gewiesen.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Das OVG geht von der Rechtmäßigkeit der das Tragen von Bomber-jacken und Springerstiefeln sowie das Mitführen und Verwenden vonFackeln untersagenden Auflagen aus. So werde verhindert, dass eineorganisierte Gewaltbereitschaft zur Schau gestellt werde und von derVersammlung ein Effekt der Einschüchterung ausgehe und damit eineStörung des öffentlichen Friedens nach § 130 Abs. 1 StGB eintrete.Diese Bestimmung, die in erster Linie den öffentlichen Frieden, aberauch die Würde jedes einzelnen Menschen schütze, habe den Zweck,schon im Vorfeld einer Gewaltanwendung vorgenommene Handlun-gen zu bekämpfen, durch die Hassgefühle geweckt und dadurch eingewaltförderndes Klima begünstigt werden könnten.

Würden bei der Versammlung die mit Bomberjacken und Springer-stiefeln bekleideten und Fackeln tragenden Versammlungsteilnehmerauftreten, bestünde eine unmittelbare Gefahr, dass dadurch einsolches gewaltförderndes Klima begünstigt werde. Dabei weist dasGericht auf das Uniformverbot des § 3 Abs. 1 VersG hin. Dieses solleverhindern, dass durch derartige Kleidungsstücke Gewaltbereitschaftsignalisiert werde. Als Symbol für eine Zurschaustellung von Gewalt-bereitschaft und Einschüchterung Andersdenkender seien sie keineder Kommunikation dienenden Elemente, sondern Symbole, durchdie der gewaltsame Abbruch von Kommunikation signalisiert werde.Die Versammlung erhalte durch das Tragen von Bomberjacken undSpringerstiefeln als uniformartige Kleidungsstücke ein paramilitä-risches Gepräge. Wenn darüber hinaus beabsichtigt werde, dass dieTeilnehmer Fackeln mit sich führen, entstehe ersichtlich der Eindruckeines paramilitärischen Aufmarsches, der in seiner Symbolik von derÖffentlichkeit an die von der NSDAP durchgeführten Aufmärscheanknüpfe. Dies rechtfertige die Prognose, dass durch eine solcheZurschaustellung organisierter Gewaltbereitschaft, die jedenfalls inder Öffentlichkeit als Anknüpfung an die nationalsozialistische Dikta-tur in Deutschland wahrgenommen werden dürfte, ein Klima der Volks-verhetzung entstehen könne.

Die Untersagung des Ordnereinsatzes hält das OVG ebenfalls fürrechtmäßig. Es ordnet die von der Versammlungsbehörde als »Auf-lage« bezeichnete Verfügung, wonach der Betroffene nicht als Ordnereingesetzt werden dürfe, in der Sache als Versagung der in § 18 Abs. 2VersG geregelten Genehmigung ein. Voraussetzung der Versagung sei,dass der Ordner als unzuverlässig oder ungeeignet bekannt sei. Gegenden Betroffenen war 1997 ein Ermittlungsverfahren wegen Belei-digung und 1998 eines wegen Sachbeschädigung geführt worden.Mangels öffentlichen Interesses wurde in beiden Fällen auf den Wegder Privatklage verwiesen. Zwischen 1992 und 2001 wurden gegen denBetroffenen weitere polizeiliche Ermittlungen wegen Körperverlet-zung, Bedrohung, Beleidigung und Nötigung geführt; nähere Einzel-heiten wurden dem OVG dazu nicht mitgeteilt. Dies hinderte das OVGtrotz erkennbarer Bedenken nicht, die Unzuverlässigkeit mit derBegründung zu bejahen, dass der Betroffene über eine Reihe vonJahren immer wieder in einer Weise strafrechtlich in Erscheinunggetreten sei, die entsprechende Ermittlungen gegen ihn veranlassten.

Was die Verweisung des Veranstalters an den Grundeigentümerwegen der Aufstellung des Zeltes angeht, so lässt das OVG offen, ob essich nur um einen rechtlichen Hinweis ohne Regelungscharakter oderangesichts des Umstands, dass die Versammlungsbehörde insoweitjedenfalls nach der äußeren Form einen Verwaltungsakt erlassenwollte, um eine widerspruchsfähige Regelung handelte. In beidenFällen hätte der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebendenWirkung auch in einem Beschwerdeverfahren keinen Erfolg habenkönnen. Die mit §§ 14, 15 VersG verbundene Konzentrationswirkungerstrecke sich nicht auf Erlaubnisverfahren, durch die der Zugang zueiner in Aussicht genommenen Versammlungsfläche erst vermitteltwerde. Demzufolge stünden unbewegliche Sachen, die dem Gemein-gebrauch gewidmet seien, im Rahmen des Widmungszwecks auch füreine Versammlung zur Verfügung. Außerhalb des Widmungszwecksbedürfe es dagegen einer Sondernutzungserlaubnis nach § 18 Sächs-StrG. Eine solche hält das OVG für erforderlich, da nicht davon aus-gegangen werden könne, dass Aufbau und Nutzung des 500 Personenfassenden Zeltes funktional für die Durchführung der Versammlungnotwendig sei; insoweit liege keine versammlungsimmanente Nut-zung vor. Zuständig für die Sondernutzungserlaubnis wäre aber dieStadt Grimma und nicht die Versammlungsbehörde gewesen, so dassnicht zu beanstanden war, dass die Versammlungsbehörde die Auf-stellung des Zeltes nicht im Rahmen des versammlungsbehördlichenVerfahrens ermöglicht hatte.

Kommentar:Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auflagen bzgl. des Tragens vonBomberjacken und Springerstiefeln und zum Mitführen und Verwen-den von Fackeln wird nicht deutlich, woran das OVG seine Argumen-tation aufhängt. Im Hinblick auf die unmittelbare Gefährdung deröffentlichen Sicherheit oder Ordnung wird nicht zwischen den beidenSchutzgütern differenziert. Hinzu kommt, dass das Gericht als tragendeBegründung für die Rechtmäßigkeit der Auflagen eine Störung desöffentlichen Friedens iSd § 130 Abs. 1 StGB ins Spiel bringt. Schutz-güter der versammlungsgesetzlichen Generalklausel sind die öffent-liche Sicherheit und die öffentliche Ordnung. Auch wenn man mitdem BVerfG die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnungals Grundlage für Auflagen gegen rechtsextremistische Aufmärscheanerkennt (BVerfG, NJW 2001, 2069 u. 2072) oder gar mit dem OVGMünster als Basis für ein Demonstrationsverbot heranzieht (OVGMünster, NJW 2001, 2986; krit. dazu Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei-und Ordnungsrecht, 2002, § 8 Rz 56), so sind doch beide Schutzgüterdeutlich auseinander zu halten. Die öffentliche Ordnung kann erst insSpiel gebracht werden, wenn das Schutzgut »öffentliche Sicherheit«nicht betroffen ist. Teilschutzgut der öffentlichen Sicherheit ist dieUnverletzlichkeit der Rechtsordnung, wozu § 130 StGB und dasUniformverbot des § 3 Abs. 1 VersG zählen. Das OVG prüft aber im

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497Neue Justiz 9/2002

Hinblick auf § 130 Abs. 1 StGB nicht im Einzelnen die tatbestand-lichen Voraussetzungen, sondern leitet aus der Strafnorm Inhalte ab,die offensichtlich das Schutzgut »öffentliche Ordnung« als Grundlagedes Einschreitens gegen rechtsextremistische Aufmärsche konkreti-sieren sollen. Das mag dahinstehen. Jedenfalls lagen im gegebenen Falldie restriktiven tatbestandlichen Voraussetzungen des § 130 Abs. 1StGB nicht vor (vgl. dazu Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB,26. Aufl. 2001, § 130 Rz 5 ff.).

Ähnlich verfährt das Gericht mit dem Uniformverbot. Es entnimmtihm die Zielsetzung, die Signalisierung von Gewaltbereitschaft zuverhindern, wohl auch in der Intention, so die öffentliche Ordnung zukonkretisieren. Eines solchen Umwegs hätte es indes nicht bedurft,denn die tatbestandlichen Voraussetzungen des Uniformverbots lagenhinsichtlich Bomberjacken und Springerstiefeln als uniformähnlicheBekleidungsstücke vor und damit war die unmittelbare Gefährdung deröffentlichen Sicherheit dargetan. Mit dieser Vorgehensweise wäre aller-dings die das Mitsichführen und Verwenden von Fackeln untersagendeAuflage nicht zu rechtfertigen gewesen. Insoweit hätte subsidiär auf dasSchutzgut »öffentliche Ordnung« zurückgegriffen werden müssen(vgl. BVerfG, NJW 2001, 2069 u. 2072, sowie Hoffmann-Riem, NVwZ2002, 260 ff.). Ob aber das Mitsichführen und Verwenden von Fackelnallein einem Aufmarsch einen paramilitärischen Charakter vermittelnkann (vgl. BVerfG, NJW 2001, 2069), ist wohl kaum zu bejahen.

Was die Auflage der Untersagung des Ordnereinsatzes betrifft, so kanndie Bejahung der Unzuverlässigkeit als Grund der Untersagung nichtüberzeugen. Offen bleiben mag hier, ob § 18 Abs. 2 VersG überhaupteine einen einzelnen Ordner betreffende Zuverlässigkeitsprüfungerlaubt – das ist problematisch, weil damit eine jenseits der Eingriffskrite-rien des § 15 Abs. 1 VersG liegende Eingriffsbefugnis geschaffen würde(vgl. Breitbach, in: Ridder u.a., Versammlungsrecht, § 18 Rz 13) – oderob die Bestimmung nur die Verwendung von Ordnern überhaupt einemGenehmigungsvorbehalt unterwirft. Jedenfalls konnte – die Zulässigkeiteiner Zuverlässigkeitsprüfung unterstellt – die Unzuverlässigkeit desBetroffenen nicht bejaht werden. Ohne Kenntnis der Ergebnisse derErmittlungsverfahren (Einstellung nach § 170 Abs. 2, §§ 153, 153a StPOoder Verurteilung) lässt sich die Zuverlässigkeit im Hinblick auf straf-rechtliche Vorwürfe nicht beurteilen. Die bloße Tatsache stattgefunde-ner Ermittlungen vermag eine Unzuverlässigkeit nicht zu begründen.

Im Hinblick auf die Verweisung des Antrags auf Aufstellung desZeltes ist dem Gericht uneingeschränkt zuzustimmen. Solange dasZelt nicht die Funktion eines unentbehrlichen Hilfsmittels für dieDurchführung der Versammlung hat, liegt eine erlaubnispflichtigeSondernutzung vor (vgl. Kniesel, in: Lisken/Denninger, Handb. desPolizeirechts, H, 3. Aufl. 2001, Rz 62). Da insoweit keinerlei Erkennt-nisse für den instrumentalen Charakter des Zeltes vorlagen, musste dasOVG von einer Sondernutzung ausgehen.

Rechtsanwalt Michael Kniesel, Königswinter

� 04.8 – 9/02

Asylfolgeantrag/Abschiebung/Grenzübertrittsbescheinigung/Rechts-schutzinteresseOVG Bautzen, Beschluss vom 11. Dezember 2001 – 3 BS 222/01 (VG Dresden)(rechtskräftig)

AsylVfG §§ 71 Abs. 5, 71a Abs. 3

1. Aus der Regelung in § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG, wonach die Abschie-bung eines Folgeantragstellers erst zulässig ist, wenn das Bundesamtfür die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mitgeteilt hat, dass dieVoraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfah-rens nicht vorliegen, folgt, dass vor einer solchen Mitteilung eineAbschiebung ausgeschlossen ist.2. Eine Grenzübertrittsbescheinigung ist keine ausländerrechtlicheEntscheidung, aufgrund derer die aufenthaltsrechtliche Stellung eines

Ausländers geregelt wird, sondern ein Dokument, durch das dietatsächliche Ausreise von ausreisepflichtigen Ausländern aus demBundesgebiet kontrolliert wird. Allerdings ist nicht ausgeschlossen,dass durch eine Grenzübertrittsbescheinigung zumindest mittelbarauch Rechtswirkungen ausgelöst werden können und ein Ausländerein rechtlich schützenswertes Interesse an der Gewährung vonRechtsschutz gegenüber diesen Rechtswirkungen haben kann.

Problemstellung:Den Ast., einer ausländischen Mutter und ihren sechs Kindern, drohtdie Abschiebung in ihren Heimatstaat. Die Mutter und drei der Kinderhaben im Anschluss an ein erfolgloses Asylverfahren erneut um Asylnachgesucht; das älteste Kind besitzt eine Duldung. Die Ausländer-behörde hat der Familie Grenzübertrittsbescheinigungen ausgehän-digt, wonach sie Deutschland unverzüglich zu verlassen haben.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Zielder Aussetzung der Abschiebung wurde vom VG abgelehnt. Der Antragauf Zulassung der Beschwerde blieb ohne Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Das OVG sieht keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Ent-scheidung des VG und lehnt deshalb die Zulassung der Beschwerde ab.Hinsichtlich der vier Folgeantragsteller verneint es ein Rechts-schutzinteresse, weil die einstweilige Anordnung weder die Rechts-stellung dieser Ast. verbessern noch ihnen einen sonstigen Vorteilverschaffen würde. Ebenso verhalte es sich bei dem Ast. mit der Dul-dungsbescheinigung und bei den beiden weiteren Kindern, denengegenüber die Ausländerbehörde eine Abschiebung im Hinblick aufden Abschiebungsschutz ihrer Mutter schriftlich ausgeschlossen habe.

Etwas anderes folge auch nicht aus der Erteilung von Grenzüber-trittsbescheinigungen, da mit diesen nur die tatsächliche Ausreisekontrolliert, nicht aber die Ausreisepflicht geregelt werden solle. Aller-dings sei ein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der Unzu-lässigkeit der Abschiebung nicht ausgeschlossen, falls der Inhalt derBescheinigung unklar und missverständlich formuliert sei und denEindruck erwecken könne, der Ausländer müsse mit seiner jederzei-tigen Abschiebung rechnen. Vorliegend wäre ein derartiges Rechts-schutzinteresse aber zumindest mit der schriftlichen Erklärung derAusländerbehörde entfallen, die Abschiebung sei wegen »der Sperr-wirkung des § 71 Abs. 5 AsylVfG zurzeit nicht zulässig«.

Kommentar:Die Entscheidung des OVG äußert sich erfreulich eindeutig zur Frageder Abschiebung von Folgeantragstellern und zur Bedeutung derGrenzübertrittsbescheinigung, obwohl es vordergründig gesehen nurum ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Ablehnung vorläufigenRechtsschutzes wegen Fehlens eines Rechtsschutzbedürfnisses geht.

Die aufenthaltsrechtliche Stellung von Ausländern, die bereits (min-destens) einmal ohne Erfolg um Asyl nachgesucht haben, ist im Gesetznicht klar geregelt und bereitet auch deshalb erhebliche Schwierig-keiten im Verwaltungsvollzug, weil in den letzten Jahren außer 70.000bis 90.000 Asylanträgen jeweils etwa 30.000 bis 40.000 Folgeanträgegestellt worden sind (dazu von Pollern, ZAR 2002, 106; 2001, 76;2000, 77; 1999, 128).

1. Während dem Asylbewerber aufgrund seines (ersten) Asylantragskraft Gesetzes eine Aufenthaltsgestattung zuwächst und ihm hierübereine (deklaratorische) Bescheinigung ausgestellt wird (§§ 55, 63AsylVfG), hat der Gesetzgeber auf eine klare Regelung des Aufenthalts-status des Folgeantragstellers verzichtet. Dies ist umso bedauerlicher,als es an entsprechenden Normen schon seit Jahrzehnten fehlt (zurGeschichte vgl. Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, § 71 AsylVfGRn 1-5, 14-16) und die daraus folgende Rechtsunsicherheit zahlreicheüberflüssige Verwaltungs- und Gerichtsverfahren provoziert. Für denAusländer, der nach einem erfolglosen Asylverfahren in einem ande-

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Neue Justiz 9/2002498

ren sicheren Drittstaat in Deutschland Asyl begehrt (Zweitantrag), gilteine gesetzliche Duldung mit der Folge der Ausstellung einer entspre-chenden Bescheinigung (§ 71a Abs. 3 AsylVfG). Der Erstantragstellerkann sich dagegen auf eine ähnliche sichere Grundlage nicht berufen.Das OVG hat allerdings zutreffend auf das Verbot des Vollzugs derAbschiebung vor der grundsätzlich notwendigen Mitteilung desBundesamts über die Ablehnung eines weiteren Asylverfahrens (§ 71Abs. 5 Satz 2 AsylVfG) abgestellt und daraus die grundsätzliche Unzu-lässigkeit gerichtlichen Rechtsschutzes abgeleitet.

Offen bleibt danach die Frage, ob der Folgeantragsteller ebenso wieder Zweitantragsteller auch eine schriftliche Bestätigung der Ausset-zung der Abschiebung (Duldung) verlangen kann, obwohl der Gesetz-geber eine derartige Regelung nicht wenigstens bei der Einfügung des§ 71a AsylVfG über den Zweitantrag im Jahre 1993 getroffen hat. Eineauch formelle Gleichstellung beider Personengruppen lässt sich übri-gens auch Nr. 55.1.9 Satz 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriftzum AuslG (GMBl. 2000, 618) nicht entnehmen, weil dort nur ange-ordnet ist, Folgeantragsteller »entsprechend § 71a Abs. 3 AsylVfG zubehandeln, wonach der Aufenthalt als geduldet gilt«, die Ausländer-behörden aber gerade nicht angewiesen sind, eine Duldung zu erteilen.

2. Wie schon der zweite Leitsatz der Entscheidung deutlich macht,wird die aufgrund des Wortlauts von Gesetz und Verwaltungs-vorschrift bestehende Unsicherheit in der behördlichen Praxis nochdadurch vergrößert, dass dem Folgeantragsteller meist statt einerDuldung eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgehändigt und erdarin darauf hingewiesen wird, er könne jederzeit, auch während derGeltungsdauer dieser Bescheinigung, abgeschoben werden. Gewisslässt sich der dargestellten Gesetzeslage die rechtliche Unrichtigkeitdieses Hinweises entnehmen, der betroffene Ausländer wird dieseErkenntnis ohne rechtskundigen Beistand aber kaum gewinnen kön-nen. Einigermaßen sicher kann er sich erst dann fühlen, wenn ihm dieAusländerbehörde schriftlich bestätigt, bis zur (Negativ-)Mitteilungdes Bundesamts nach § 71 Abs. 5 AsylVfG dürfe er nicht abgeschobenwerden. Diese im vorliegenden Fall abgegebene Erklärung ist keines-wegs üblich und im Übrigen schon deswegen nicht selbstverständlich,weil sie der Grenzübertrittsbescheinigung widerspricht, deren Inhaltzumindest vorübergehend einschränkt. Unter diesen Umständen ist esdem OVG als Verdienst anzurechnen, dass es die Bedeutung der Grenz-übertrittsbescheinigung näher beschrieben und klargestellt hat, dassdieser keine regelnde Wirkung zukommt. Da dieses seit Jahrzehntenübliche Dokument im Gesetz nicht erwähnt ist, hätte auch insoweitzusätzlich auf die AuslG-VwV verwiesen werden können, die Inhaltund Zweck der Grenzübertrittsbescheinigung in Nr. 42.3.4 Satz 3 u. 4genauer beschreibt.

3. Um Missverständnisse zu vermeiden und unnötigen Aufwand beiBehörden und Gerichten zu ersparen, wäre zu empfehlen, Folge-antragstellern eine Duldung auszustellen und ihnen erst nach derNegativmeldung des Bundesamts eine Grenzübertrittsbescheinigungzu übergeben. Falls es hierzu wegen des zwischenzeitlichen »Unter-tauchens« des nunmehr unverzüglich abzuschiebenden Ausländersnicht kommt, tritt kein Schaden ein. Die erhoffte Kontrolle über dieAusreise lässt sich meist schon deswegen nicht erzielen, weil dieGrenzübertrittsbescheinigung auch bei einem legalen Grenzübertrittzumindest nach dem Scheitern mehrerer Asylanträge nur selten ander Grenze abgegeben wird.

Leider wird das aufgezeigte Problem auch nach dem neuenZuwanderungsrecht fortbestehen (vgl. Art. 1 u. 3 ZuwanderungsG).Danach wird die Duldung abgeschafft und (nur) teilweise durch eineBescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung ersetzt. DerUnterschied zwischen Folge- und Zweitantragsteller bleibt bestehen:Nur für Letzteren ist ausdrücklich eine Bescheinigung über die Aus-setzung vorgesehen (siehe auch Renner, NJ 2002, 455 ff., 458, in diesemHeft).

VorsRiVGH Dr. Günter Renner, Melsungen

� 04.9 – 9/02

Straßen- und Wegerecht/Öffentlichkeit einer Straße nach DDR-Recht/GrenzgebietOVG Greifswald, Beschluss vom 13. Februar 2002 – 1 L 151/00 (VG Schwerin)

StrWG MV §§ 25 Abs. 1 Satz 1, 62 Abs. 1 Satz 1; StrVO/DDR 1957§ 3 Abs. 2 Satz 1; StrVO/DDR 1974 §§ 4 Abs. 1, 10 Abs. 3 Satz 2

1. Bei der Prüfung, ob eine Straße gem. § 62 Abs. 1 Satz 1 StrWG MVnach bisherigem Recht die Eigenschaft einer öffentlichen Straßebesitzt, ist jeweils für den maßgebenden historischen Zeitpunkt zuermitteln, welche Anforderungen nach damals geltendem Recht zuerfüllen waren. Dabei sind diejenigen Vorschriften maßgeblich, unterdenen die Straße erstellt bzw. von der Öffentlichkeit benutzt wurde.2. Für die im zu entscheidenden Fall bereits im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der VO über das Straßenwesen v. 18.7.1957 (StrVO/DDR1957) am 31.7.1957 bestehende kommunale Straße ist § 3 Abs. 2Satz 1 StrVO/DDR 1957 anwendbar, wonach das entscheidende Indizfür die Öffentlichkeit einer Straße deren öffentliche Nutzung war.3. Der Annahme einer kommunalen öffentlichen Straße iSd StrVO 1957steht der Erlass von Grenzgesetzen/Grenzordnungen nicht entgegen.4. § 4 Abs. 1 der VO über die öffentlichen Straßen – StraßenVO –v. 22.8.1974 (StrVO/DDR 1974) gilt nur für insgesamt neue bzw. neuherzustellende öffentliche Straßen.5. Gem. § 10 Abs. 3 Satz 2 StrVO/DDR 1974 sind Rechtsträger oderEigentümer betrieblich-öffentlicher Straßen nur verpflichtet, dieErweiterung und Veränderung vorhandener betrieblich-öffentlicherStraßen mit den Räten der Städte bzw. Gemeinden abzustimmen;ein Beschluss gem. § 4 Abs. 1 StrVO/DDR 1974 ist in diesen Fällennicht erforderlich.

(mitgeteilt von VorsRiOVG Wolfgang Tiedje, Greifswald)

Anm. d. Redaktion : Zur Öffentlichkeit von Straßen unter Beachtung von DDR-Recht siehe auch OVG Weimar, NJ 2002, 387 (Leits.).

05 ARBEITSRECHT

� 05.1 – 9/02

Stellenbesetzungsverfahren/Konkurrentenklage/Benachteiligung vonAngestellten gegenüber BeamtenBAG, Urteil vom 18. September 2001 – 9 AZR 410/00 (LAG Berlin)

Berl. LehrerbildungsG § 12; Berl. SchullaufbahnVO § 24a; GG Art. 33 Abs. 2

Art. 33 Abs. 2 GG eröffnet jedem Deutschen nach Eignung, Befähi-gung und Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt.Wird eine Stelle gleichermaßen für Beamte und für Angestellte aus-geschrieben, dürfen ohne sachlichen Grund keine Anforderungengestellt werden, die nur von Beamten, nicht aber von Angestelltenerfüllt werden können.

Problemstellung:Die Parteien streiten über die Verpflichtung des bekl. Landes, den Kl.im Besetzungsverfahren für die Stelle eines pädagogischen Koordina-tors zu berücksichtigen.

Der Kl. legte 1982 die Prüfung als Diplomlehrer in den FächernMathematik und Geographie ab. Er war danach zunächst im Ober-schuldienst des Beitrittsgebiets tätig, anschließend als Angestellterbeim Land Berlin. Seine Übernahme als Beamter scheiterte 1993wegen des Ergebnisses einer amtsärztlichen Untersuchung. Im Mai1993 beauftragte das bekl. Land den Kl. widerruflich, die Funktion despädagogischen Koordinators für die gymnasiale Oberstufe an der A. inBerlin wahrzunehmen. Die zunächst auf ein Jahr befristete Übertra-

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499Neue Justiz 9/2002

gung der Aufgaben wurde jährlich verlängert und bestand auch zumSchluss der mündlichen Verhandlung vor dem LAG im Mai 2000.

Im Okt. 1995 erkannte das bekl. Land dem Kl. die Befähigung fürdie Laufbahn des Lehrers – mit fachwissenschaftlicher Ausbildung inzwei Fächern – (BesGr. A 13) nach § 19 Abs. 4 SchullaufbahnVO(SchulLVO) zu. Der Kl. erhält Vergütung der VergGr. IIa BAT-O.

Im Juni 1996 schrieb das bekl. Land die vom Kl. kommissarischwahrgenommene Stelle im Amtsblatt mit der Bezeichnung »Studien-direktorin/Studiendirektor« und einer Besoldung/Vergütung nachBesGr. A 15 bzw. VergGr. Ia BAT-O aus. Zu den »Anforderungen« heißtes u.a.:

»Nachweis der Befähigung für die Laufbahn des Studienrats oder Zugangdazu über § 24a SchulLVO für Bewerberinnen und Bewerber aus demBeitrittsgebiet bzw. Erfüllung der laufbahnrechtlichen Voraussetzungen(§ 25 SchullaufbahnVO) …«

Nach § 24a Abs. 1 Nr. 1 SchulLVO kann ein Eingangsamt der Laufbahndes Studienrats Lehrern mit der Befähigung des Kl. u.a. verliehen werden,

»wenn sie nach der Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit mindestenszwei Jahre mit insgesamt mindestens 24 Jahreswochenstunden … in dergymnasialen Oberstufe tätig waren … und sie sich dort bewährt haben …«

§ 25 SchulLVO setzt für die Beförderung zum Studiendirektor dieBefähigung für die Laufbahn des Studienrats und eine mindestensdreijährige Dienstzeit (§ 9 Abs. 5 LaufbahnG) voraus.

Neben dem Kl. bewarben sich mehrere Studienräte und Oberstu-dienräte auf die ausgeschriebene Stelle. Die Bewerbung des Kl. wurdenicht berücksichtigt. Mit seiner Klage beantragte der Kl., ihn für dieausgeschriebene Stelle eines Studiendirektors als pädagogischer Koor-dinator als gleich einem Bewerber mit der Laufbahnbefähigung für diebeamtenrechtliche Laufbahn des Studienrats und für das Amt desStudiendirektors fachlich geeignet zu berücksichtigen, hilfsweise, dasbekl. Land zu verurteilen, über seine Bewerbung unter Beachtung derRechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Nach Erhebung der Klage hat der vom bekl. Land ausgewählteBewerber seine Bewerbung zurückgezogen. Das bekl. Land hat zu Pro-tokoll des ArbG erklärt, über die Fortführung des Stellenbesetzungs-verfahrens sei noch nicht entschieden. Im Falle seiner Weiterführungwerde die Bewerbung des Kl. entsprechend der gerichtlichen Ent-scheidung berücksichtigt.

Das ArbG hat dem vom Kl. gestellten Hauptantrag stattgegeben, dasLAG hat die Klage abgewiesen (NJ 2000, 615 [Leits.]).

Die Revision des Kl. hatte Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:Nach Auffassung des BAG sei das bekl. Land verpflichtet, die Bewer-bung des Kl. bei der Fortsetzung des Stellenbesetzungsverfahrens zuberücksichtigen. Das ergebe sich aus Art. 33 Abs. 2 GG.

Art. 33 Abs. 2 GG eröffne jedem Deutschen nach seiner Eignung,Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffent-lichen Amt. Daraus folgten subjektive Rechte eines jeden Bewerbers,ohne dass es auf die Art des zu begründenden Rechtsverhältnissesankomme. Denn ein öffentliches Amt übten auch die auf arbeitsver-traglicher Grundlage Beschäftigten aus. Daher könne der angestellteKl. verlangen, bei seiner Bewerbung ausschließlich nach den in Art. 33Abs. 2 GG genannten Merkmalen beurteilt zu werden. Das habe dasbekl. Land als Arbeitgeber bereits bei der Festlegung der konkretenAnforderungen zu beachten, die es für die Stellenbewerber aufstelle.Danach sei es unzulässig, Anforderungen aufzustellen, die geeigneteund befähigte Bewerber ausschlössen. Verstoße der öffentliche Arbeit-geber dagegen, könne der übergangene Bewerber seinen Anspruch aufBeteiligung am Auswahlverfahren durchsetzen. Werde das Stellen-besetzungsverfahren fortgesetzt oder erneut eingeleitet, sei der über-gangene Bewerber entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts zuberücksichtigen. Hatte nach Auffassung des Gerichts der Dienstherrseiner Ausschreibung eine unzulässige Anforderung zugrunde gelegt,

so sei bei der Fortsetzung des Auswahlverfahrens dieses Merkmal künf-tig außer Acht zu lassen.

Die vom bekl. Land in der Ausschreibung aufgestellte Anforderung,angestellte Lehrer ohne die Befähigung zur Laufbahn eines Studien-rats am Stellenbesetzungsverfahren nur zu beteiligen, wenn dieseZugang zur Laufbahn eines Studienrats nach Maßgabe von § 24aSchulLVO hätten, führe zu einer Benachteiligung von angestelltenBewerbern. Indem das bekl. Land u.a. verlange, der Bewerber auf dieStelle des Oberstufenkoordinators müsse über die Befähigung zur Lauf-bahn eines Studienrats verfügen, habe es das Verfahren sowohl fürbeamtete als auch für angestellte Lehrer geöffnet. Die Befähigung zurLaufbahn eines Studienrats erwerben Lehramtswärter mit dem Studien-gang nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 u. 4 LehrerbildungsG (LBiG) v. 16.10.1958idF v. 6.11.2000 (GVBl. S. 473) und schulpraktischer Ausbildung nach§ 11 LBiG mit dem Bestehen der Zweiten Lehramtsprüfung nach § 12Abs. 2 Nr. 4 LBiG. Auf eine spätere Tätigkeit des so befähigten Lehrersals Beamter oder als Angestellter komme es danach nicht an. Es genügeder dem LBiG entsprechende Ausbildungsabschluss.

Zugang zur Laufbahn eines Studienrats nach § 24a SchulLVO hät-ten demgegenüber allein beamtete Lehrer. Das Amt eines Studienratskönne nach dieser Vorschrift einem Lehrer mit fachwissenschaftlicherAusbildung in zwei Fächern verliehen werden. Die Verleihung setzevoraus, dass der Lehrer nach der Ernennung zum Beamten auf Lebens-zeit mindestens zwei Jahre mit insges. mindestens 24 Jahreswochen-stunden in der gymnasialen Oberstufe tätig war und sich bewährthabe. Der Kl., dem die Befähigung für die Laufbahn des Lehrers mitfachwissenschaftlicher Ausbildung in zwei Fächern zuerkannt wordensei, hätte zu dem vom bekl. Land angesprochenen Bewerberkreis danngehört, wenn er seine langjährige Tätigkeit als vollzeitbeschäftigterLehrer mit den kommissarisch übertragenen Aufgaben des pädagogi-schen Oberstufenkoordinators auf der Grundlage eines beamten-rechtlichen Dienstverhältnisses erbracht hätte. Als Angestellter habeer sich von vornherein nicht erfolgreich auf die ausgeschriebene Stellebewerben können.

Diese Ungleichbehandlung beeinträchtige den Kl. in seinem Bewer-berverfahrensanspruch nach Art. 33 Abs. 2 GG. Einen die Benachtei-ligung rechtfertigenden Grund habe das bekl. Land nicht vorgetragen.Der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG, nach dem die Aus-übung hoheitsrechtlicher Befugnisse i.d.R. Beamten vorbehalten unddiesen zu übertragen sei, rechtfertige die vom bekl. Land aufgestellteAnforderung nicht. Zwar stehe dem öffentlichen Arbeitgeber bei derFestlegung des Anforderungsprofils und der Eignungsmerkmale einBeurteilungsspielraum zu. Dieser Spielraum rechtfertige jedoch nichtden Ausschluss des Kl. aus dem Bewerberkreis. Er bestehe nur, soweitdas Prinzip der »Bestenauslese« gewährleistet sei, also die Merkmaleder Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung der Auswahlent-scheidung zugrunde gelegt würden. Bestehe kein Funktionsvorbehaltfür Beamte und kämen für die Besetzung der ausgeschriebenen Stelledaher sowohl Angestellte als auch Beamte in Frage, dürfe die Bewer-berauswahl nicht von der Art des Rechtsverhältnisses abhängiggemacht werden. Art. 33 Abs. 2 GG enthalte kein Vorzugsrecht für einebestimmte Gruppe von Bediensteten.

Das vom LAG angezogene Laufbahnprinzip rechtfertige ebenfallsnicht den Ausschluss des Kl. aus dem Bewerbungsverfahren. Das Lauf-bahnprinzip gehöre zu den verfassungsrechtlich durch Art. 33 Abs. 5GG gesicherten hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums(vgl. BVerfGE 62, 374, 383; 71, 255, 268). Laufbahnrechtliche Befähi-gungen kämen nur zum Tragen, wenn eine Stelle ausschließlich fürBeamte ausgeschrieben sei.

Das bekl. Land wende ohne Erfolg ein, die Bewährungszeit als Beam-ter sei zwingend erforderlich. Ob ein Beschäftigter des öffentlichenDienstes sich während einer zweijährigen Tätigkeit bewährt habe undzur Wahrnehmung eines Beförderungsamts geeignet sei, beurteile sichnach objektiven Kriterien und nicht nach dem Status des Bedienste-

Arbe i t s recht

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Neue Justiz 9/2002500

ten. Maßgebend seien persönliche Eignung und fachliche Leistung,wie sie insbes. anhand der Güte der erbrachten Arbeitsleistung zu beur-teilen seien.

Da die fiktiv nachzuzeichnenden Voraussetzungen des § 24aSchulLVO vorlägen, sei das bekl. Land verpflichtet, die Bewerbung desKl. bei der Fortsetzung des Auswahlverfahrens zu berücksichtigen.Er erfülle sowohl die erforderliche Bewährungszeit für die Verleihungeines Amts als Studienrat als auch die für die Beförderung zum Stu-diendirektor nach § 25 Abs. 1 Nr. 10 SchulLVO vorgeschriebene drei-jährige Dienstzeit.

Kommentar:Die beamtenrechtliche Konkurrentenklage ist bereits seit langembekannt und anerkannt. Auch im Arbeitsrecht ist spätestens seit zweiEntscheidungen des BAG v. 2.12.1997 (BAGE 87, 165; 87, 171 = NJ1998, 610 [bearb. v. Battis]; vgl. bzgl. eines freigestellten Personalrats-mitglieds BAGE 90, 106) geklärt, dass ein Bewerber um eine für Ange-stellte ausgeschriebene Stelle des öffentlichen Dienstes arbeitsgericht-lichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann, wenn er geltendmachen will, er sei unter Verletzung der in Art. 33 Abs. 2 GG fest-gelegten Kriterien abgewiesen worden (arbeitsrechtliche Konkurren-tenklage). Abweichend von der beamtenrechtlichen Konkurrenten-klage bedarf es dazu im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren nicht derAufhebung des ablehnenden Bescheids. Prozessziel der arbeitsrecht-lichen Konkurrentenklage ist nicht die Neubescheidung iSv § 113Abs. 5 VwGO, sondern die Wiederholung der Auswahlentscheidungunter Beachtung der Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG.

Eine arbeitsrechtliche Konkurrentenklage unter Berufung auf Art. 33Abs. 2 GG ist nicht nur möglich bei Einstellungen, sondern auch beiBeförderungen innerhalb des öffentlichen Dienstes. Zu beachten ist,dass sich aus dem Verbot unzulässiger Differenzierung im Regelfall fürden benachteiligten Bewerber nur das Recht ergibt, dass seine Bewer-bung neu zu beurteilen ist. Der weitergehende Anspruch auf Einstel-lung oder Beförderung setzt voraus, dass sich jede andere Auswahl-entscheidung als rechtswidrig oder ermessensfehlerhaft darstellt, weildie Auswahl zugunsten dieses Bewerbers die einzig rechtmäßige Ent-scheidung wäre (vgl. nur BAGE 87, 165).

Eine beamtenrechtliche Konkurrentenklage erledigt sich bekannt-lich mit der endgültigen Übertragung des Amts auf den Mitbewerber.Die Stelle ist dann nicht mehr verfügbar. Eine nochmalige Vergabe desAmts mit der ihm zugeordneten Planstelle und dem Dienstposten istnicht möglich. Die Beförderung oder Ernennung des erfolgreichenBewerbers kann beamtenrechtlich nicht rückgängig gemacht werden.Abgelehnten Bewerbern ist deshalb die Auswahlentscheidung recht-zeitig mitzuteilen. Ihnen wird damit Gelegenheit gegeben, vorläufigenRechtsschutz zu erreichen (vgl. BVerwGE 80, 127, 130 f.).

Diese Grundsätze sind nach der Rspr. des BAG (vgl. nur BAGE 87,165) auch auf die arbeitsrechtliche Konkurrentenklage anzuwenden:Der Einstellungsanspruch aus Art. 33 Abs. 2 GG setze das Vorhanden-sein einer besetzungsfähigen und haushaltsrechtlich abgesichertenStelle voraus. Art. 33 Abs. 2 GG lasse keine Differenzierung zwischenden Gruppen der Beamten oder Angestellten zu. Gesichert werde derZugang zum Amt, der Bewerbungsverfahrensanspruch. Der Begriff desAmts iSv Art. 33 Abs. 2 GG betreffe die konkrete Tätigkeit mit einembestimmten Aufgabenkreis, den konkreten Arbeitsplatz. Dieser stehemit der Übertragung auf einen Dritten nicht mehr zur Verfügung.Solange noch ein personalvertretungsrechtliches Mitbestimmungs-verfahren betrieben werde, könne allerdings nicht von einer abschlie-ßenden Willensbildung im Auswahlverfahren ausgegangen werden(vgl. BAG, Urt. 22.6.1999 – AP GG Art. 33 Abs. 2 Nr. 49).

Die endgültige Stellenbesetzung wird man im Regelfall im vor-läufigen Rechtsschutzverfahren verhindern müssen (vgl. Seitz, Diearbeitsrechtliche Konkurrentenklage, 1995, S. 37 ff.; Düwell, ZTR 2000,245 ff.; Zimmerling, ZTR 2000, 489 ff.).

Rechtsprechung Arbei t s recht

Mit Urt. v. 11.8.1998 (BAGE 89, 300) hat das BAG betont, dass dasjedem Deutschen nach Art. 33 Abs. 2 GG gewährleistete Zugangsrechtzu jedem öffentlichen Amt durch den zugunsten von Beamten inArt. 33 Abs. 4 GG bestimmten Funktionsvorbehalt beschränkt wird.Nach Art. 33 Abs. 4 GG ist die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisseals ständige Aufgabe i.d.R. Beschäftigten zu übertragen, die in einemöffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. In einemsolchen Dienst- und Treueverhältnis werden ausschließlich die Beam-ten tätig. Auch wenn das Rechtsverhältnis der Angestellten nach demTarifrecht des öffentlichen Dienstes in vielfacher Hinsicht dem derBeamten angenähert ist, werden sie in einem Arbeitsverhältnis unddamit entsprechend den Regelungen des bürgerlichen Rechts beschäf-tigt. Die Aufgaben des Bundesaufsichtsamts für Kreditwesen hat dasBAG als hoheitlich iSv Art. 33 Abs. 4 GG angesehen und gemeint, diebei ihm beschäftigten Bediensteten übten hoheitsrechtliche Befug-nisse auch dann aus, wenn sie als Sachbearbeiter an Aufsichtsmaß-nahmen vorbereitend mitwirkten.

Deshalb kann es sehr wohl der sog. Funktionsvorbehalt rechtferti-gen, dass bestimmte Stellen nur mit Beamten besetzt werden. Einensolchen Funktionsvorbehalt hat das BAG im Streitfall für die ausge-schriebene Lehrerstelle verneint. Das lag schon deshalb auf der Hand,weil das bekl. Land die Stelle sowohl für Beamte wie für Angestellteausgeschrieben hatte. Greift so Art. 33 Abs. 4 GG nicht ein, hat sichdie Besetzung der Stelle allein nach Art. 33 Abs. 2 GG zu richten.Letztlich handelt es sich um eine Konkretisierung des allgemeinenGleichheitssatzes in Bezug auf Stellen im öffentlichen Dienst. Verlangtdie Aufgabe nicht zwingend die Besetzung mit einem Beamten, ist essachwidrig, Anforderungen zu stellen, die nur von Beamten erfülltwerden können. Eine solche Diskriminierung müssen Angestelltenicht hinnehmen. Das hat das BAG präzise zum Ausdruck gebracht.

Verfahrensrechtlich ist zu beachten, dass der Kl. im Streitfall seineBerücksichtigung bei der Stellenbesetzung erstrebt hat. Da er alsAngestellter tätig war und auch weiterhin eine Beschäftigung alsAngestellter anstrebte, war hierfür der Rechtsweg zu den Arbeits-gerichten gegeben. Hätte er im einstweiligen Rechtsschutzverfahrendie Ernennung eines konkurrierenden Beamten auf der ausgeschrie-benen Stelle verhindern wollen, wäre hierfür indes der Rechtsweg zuden Verwaltungsgerichten einschlägig gewesen. Parallel dazu wäreggf. ein Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht zu betreiben gewesen.

RiArbG Thomas Lakies, Berlin/Karlsruhe

� 05.2 – 9/02

Wirksamkeit eines Aufhebungsvertrags/Beweiswürdigung/Parteiver-nehmungBAG, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 2 AZR 396/00 (LAG Chemnitz)

BGB §§ 123 Abs. 1, 142 Abs. 1; ZPO §§ 141, 286 Abs. 1, 398 Abs. 1, 448,451

Das LAG muss die Aussage einer vom ArbG nach § 448 ZPO ver-nommenen Partei in seine Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPOeinbeziehen, auch wenn es selbst keinen Anlass für eine solcheParteivernehmung gesehen hätte.

� 05.3 – 9/02

Öffentlicher Dienst/Lehrer/Schulfahrt/Verzicht auf Reisekostenver-gütung/SachsenLAG Chemnitz, Urteil vom 19. April 2002 – 3 Sa 134/01 (ArbG Dresden)(Revision eingelegt)

BAT-O § 42; TVG § 4 Abs. 1 u. 3; SächsRKG §§ 2-5, 9; BGB § 397 Abs. 1

Da von einem Lehrer die Durchführung von Schulfahrten als dienst-liche Aufgabe erwartet wird, ist es unzulässig, deren Genehmigung

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501Neue Justiz 9/2002

von seinem Verzicht auf die Vergütung der anfallenden Reisekosten(hier: nach dem SächsRKG) abhängig zu machen. Ein Verzicht ist alstarifwidrige »anderweitige Abmachung« iSd § 4 Abs. 3 TVG zu wer-ten und daher unwirksam. (Leitsatz der Redaktion)

Die Parteien streiten um die Verpflichtung des Bekl., der Kl. Auslagenzu erstatten, die dieser anlässlich einer sog. Schulfahrt entstanden sind.

Die Kl. steht als Vollzeitlehrerin im staatlichen Schuldienst des Bekl.Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem BAT-O.

Am 23.11.1999 beantragte die Kl. für ihre Klasse 3b unter Verwen-dung des Formulars »Antrag auf Genehmigung von Schulwanderun-gen und Schulfahrten« bei ihrer Schulleitung die Genehmigung einerLandheimfahrt zu einer Jugendfreizeitstätte für die Zeit vom 6. bis10.12.1999 mit ihr als Leiterin und einer Begleitperson. Der Antrag galtgleichzeitig als Dienstreiseantrag. Der gesondert von ihr und derBegleitperson unterzeichnete Abschn. C »Erklärung zum Verzicht aufErstattung von Reisekostenvergütung nach Maßgabe des SächsischenReisekostengesetzes« lautet:

»Ich wurde vom Schulleiter/der Schulleiterin/der personalverwaltendenStelle darauf hingewiesen, dass die zur Verfügung stehenden Haushalts-mittel für eine Abrechnung der durch die o.g. Maßnahme anfallendenKosten nach Maßgabe des Sächsischen Reisekostengesetzes ggf. nichtausreichend sind.Da die Veranstaltung trotzdem durchgeführt werden soll, verzichte ichauf die Zahlung der Reisekostenvergütung, soweit die für die Maßnahmezugewiesenen Pauschalbeträge zur Deckung der anfallenden Kostennicht ausreichend sind.«

Der Antrag wurde hierauf von der Schulleitung genehmigt.Für die durchgeführte Schulfahrt entstanden der Kl. Kosten für vier

Übernachtungen mit Vollverpflegung, zwei Tagesfahrten mit Reisebus,An- und Abfahrt sowie Eintrittsgelder in Museen i.H.v. 187 DM. DieseKosten machte die Kl. unter Verwendung eines Reisekostenabrech-nungs-Formulars beim zuständigen Regionalschulamt geltend; gleich-zeitig »widerrief« sie ihre Verzichtserklärung v. 23.11.1999.

Das Regionalschulamt wies die Forderung auf Erstattung der Kostenzurück.

Mit ihrer Klage verwies die Kl. darauf, dass gem. § 4 Abs. 4 TVG nichtwirksam auf tarifliche Ansprüche verzichtet werden könne.

Das ArbG gab der Klage statt.Dagegen richtete sich die vom ArbG zugelassene Berufung des Bekl.

Er vertritt die Ansicht, der Verzicht verstoße nicht gegen § 4 Abs. 4TVG. § 42 Abs. 1a BAT-O verweise hinsichtlich aller Voraussetzungenauf das Sächsische ReisekostenG (SächsRKG). Auf eine Reisekosten-vergütung hieraus könne wirksam verzichtet werden, da es sich nichtum einen tariflichen Anspruch handele.

Die Berufung hatte keinen Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:II. … 2. Der Begriff der Reisekostenvergütung iSd § 42 Abs. 1a BAT-Oumfasst die in § 4 SächsRKG aufgelisteten Einzelpositionen. Es gehö-ren somit hierzu nicht nur die Fahrtkosten- und Übernachtungs-kostenerstattung, sondern auch die Erstattung sämtlicher Auslagen,welche zur Erfüllung des Dienstgeschäfts notwendig waren, imvorliegenden Fall also auch Exkursionskosten wie Eintrittsgelder inMuseen.

3. Auf die Verzichtserklärung der Kl. im Rahmen ihres Antrags aufGenehmigung der Schulfahrt v. 23.11.1999 kann sich der Bekl. nichtberufen. Es kommt deshalb auch nicht darauf an, ob nicht selbst beiWirksamkeit des Verzichts Teilbeträge an die Kl. zu erstatten wären, dasie unter die Einschränkung des Verzichts fielen (»soweit die für dieMaßnahme zugewiesenen Pauschalbeträge zur Deckung der anfallen-den Kosten nicht ausreichend sind« – der Bekl. hat eine genaueAbrechnung der zugewiesenen Pauschalbeträge nicht vorgelegt).

a) Schulfahrten sind erwünschte, pädagogisch als notwendig aner-kannte Veranstaltungen. Die Teilnahme von Lehrern hieran wird vom

Arbeitgeber erwartet. So heißt es in Ziff. 1.2 der Verwaltungsvorschriftdes Sächsischen Staatsministeriums für Kultus zur Durchführung vonSchulwanderungen und Schulfahrten (VwV-Schulfahrten) v. 8.6.1999:

»Schulwanderungen und Schulfahrten sind ein wichtiger Bestandteil derErziehungs- und Bildungsarbeit der Schule. Sie vertiefen, erweitern undergänzen den Unterricht. Die Sozial- und Gemeinschaftsfähigkeit derSchüler wird in besonderer Weise unterstützt und gefördert.«

Die Teilnahme von Schülern an genehmigten Schulfahrten ist Pflicht.Die Teilnahme der Lehrkräfte hieran gehört zu deren dienstlichenAufgaben (Ziff. 6.1 der VwV-Schulfahrten). Im Regelfall obliegt die Lei-tung dem Klassenlehrer.

Die Bedeutung von Schulfahrten hebt auch der Beschluss der Kul-tusministerkonferenz v. 30.9.1983 hervor, welcher als Anlage zur VwV-Schulfahrten v. 8.6.1999 im Mbl. des SMK v. 22.7.1999 bekanntgemacht wurde. Hierin wird betont, dass durch den Aufenthalt imSchullandheim Unterricht und Erziehung in besonders günstigerWeise miteinander verbunden werden können. Es wird die Forderunggestellt, dass jeder Schüler mindestens einmal während seiner Schul-zeit an einem Schullandheim-Aufenthalt teilnehmen sollte.

Die Bedeutung von Schulfahrten betont ebenso das den Antrag aufReisekostenvergütung ablehnende Schreiben des Regionalschulamtsv. 16.5.2000.

Aus alldem ergibt sich, dass der Bekl. von den Klassenlehrern dieDurchführung von Schulfahrten erwartet. Weigerte sich der Klassen-lehrer, sich an einer solchen als pädagogisch notwendig erachtetenVeranstaltung zu beteiligen, so verletzte er seinen Erziehungs- undBildungsauftrag (§ 40 Abs. 2 SächsSchulG).

Vom Lehrer einerseits die Durchführung von Schulfahrten alsdienstliche Aufgabe zu erwarten, andererseits Schulfahrten nur beiVerzicht auf die Reisekostenvergütung zu genehmigen, stellt – der Ver-zicht wäre Erlassvertrag iSd § 397 Abs. 1 BGB – eine unzulässige Rechts-gestaltung dar. Dies gilt insbes. dann, wenn – wie hier – ein Verzichtauf jegliche Kostenerstattung beabsichtigt war, also selbst der Verzichtauf die reinen Fahrtkosten zu und vom Landheim. Durch die Art derVertragsgestaltung, nämlich Kombination der Vereinbarung einerSchulfahrt mit einer Verzichtserklärung, wird gerade der pflicht-bewusste, seinen Erziehungs- und Bildungsauftrag ernst nehmendeLehrer benachteiligt. Hierin liegt eine Verletzung der Fürsorgepflichtdes Arbeitgebers, die in einem Missbrauch der Vertragsfreiheit besteht.Im Wege der Vertragskorrektur ist deshalb festzustellen, dass es demBekl. verwehrt ist, sich auf die Verzichtserklärung zu berufen.

b) Darüber hinaus ist der Verzicht auch wegen Verstoßes gegen § 4Abs. 1 u. 3 TVG unwirksam.

Die Parteien sind tarifgebunden. § 42 BAT-O stellt eine zwingendenormative tarifliche Regelung iSd § 4 Abs. 1 TVG dar und enthält keineÖffnungsklausel iSd § 4 Abs. 3 TVG. Die Tarifvorschrift verweist »fürdie Erstattung« auf die für die Beamten des Arbeitgebers jeweils gel-tenden Bestimmungen entsprechend. Damit gelten die materiellenVoraussetzungen und Rechtsfolgen des Reisekostenrechts des Bekl. alsInhalte des tariflichen Anspruchs. Es handelt sich um eine auch ananderen Stellen des Tarifvertrags anzutreffende Inbezugnahme ander-weitiger Normen. Die für eine Abänderungsmöglichkeit sprechendeVorschrift des § 2 Abs. 3 BBesG (aus welcher im Umkehrschluss gefol-gert wird, der Beamte könne außer auf seine Besoldung auf andereAnsprüche verzichten) ist in § 42 BAT-O gerade nicht in Bezuggenommen worden (vgl. hierzu auch Clemens/Scheuring, Komm.zum BAT, § 42 Erl. 2a).

Der als Erlassvertrag zu qualifizierende Verzicht stellt eine tarif-widrige »anderweitige Abmachung« iSd § 4 Abs. 3 TVG dar (dagegengreift § 4 Abs. 4 TVG nur bei bereits entstandenen Ansprüchen ein).

V. Die Kammer hat wegen Divergenz zur Entscheidung des LAGChemnitz in dem Verfahren 7 Sa 984/00, jedoch auch wegen grund-sätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen.

(mitgeteilt von Rechtsanwalt Roland Gross, Leipzig)

Arbe i t s recht

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Neue Justiz 9/2002502

06 SOZIALRECHT

� 06.1 – 9/02

Rentenüberleitung/Beitragszeiten im Beitrittsgebiet/Bezieher von Invalidenrente mit daneben ausgeübter versicherungspflichtigerBeschäftigungBSG, Urteil vom 30. August 2001 – B 4 RA 62/00 R (LSG Potsdam)

SGB VI § 248 Abs. 3

Vom Ausschlusstatbestand des § 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VI werdennur Bezieher einer Vollrente wegen Alters, nicht hingegen Beziehervon Invalidenrente mit einer daneben ausgeübten versicherungs-pflichtigen Beschäftigung erfasst. (Leitsatz der Redaktion)

Streitig ist, ob für die Zeit vom 1.3.1981 bis 9.5.1990, in der der Kl.neben seiner Invalidenrente Einkommen aus Erwerbstätigkeit bezogenhat, entgegen der Rentenhöchstwertfestsetzung in den angefochtenenBescheiden Rangstellenwerte aus Beitragszeit anzurechnen sind undihm deshalb eine höhere Altersrente zu zahlen ist.

Der Kl. war seit 1965 als Experimentalphysiker bei der StaatlichenPlankommission der DDR beschäftigt. Seit dem Jahre 1965 gehörte erder zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz an undab 1.3.1971 der freiwilligen zusätzlichen Altersversorgung für haupt-amtliche Mitarbeiter des Staatsapparates (AVSt). Ab 1.3.1981 erhielt erim Hinblick auf seine Erblindung eine Invalidenrente aus der Sozial-pflichtversicherung, eine Invalidenrente aus dem Zusatzversorgungs-system sowie Blindengeld. Nach seiner Erblindung war er als wissen-schaftlich-technischer Berater bei der Staatlichen Plankommissionentgeltlich beschäftigt. Ab 10.5.1990 bezog er Vorruhestandsgeld.

Ab 1.1.1992 gewährte ihm die Bekl. nach Maßgabe des SGB Vl einRecht auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Daneben bezog der Kl.weiterhin Vorruhestandsgeld.

Die BfA hat als Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssystemedie Zugehörigkeit des Kl. zur zusätzlichen Altersversorgung der tech-nischen Intelligenz vom 1.9.1965 bis 28.2.1971 und zur AVSt vom1.3.1971 bis 28.2.1981 sowie das in dieser Zeit erzielte Einkommenund die Arbeitsausfalltage festgestellt. Insoweit hat der Kl. Klage erho-ben; das Verfahren vor dem SG ruht.

Auf seinen Antrag bewilligte die Bekl. dem Kl. antragsgemäß ab1.1.1993 ein Recht auf Altersrente. Bei der Entscheidung über denRentenhöchstwert berücksichtigte sie u.a. die Zeit vom 1.3.1981 bis9.5.1990 nicht als Beitragszeit. Der Widerspruch des Kl. blieb erfolg-los. Nach Auffassung der Bekl. seien gem. § 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2SGB VI Zeiten, in denen nach den Vorschriften des BeitrittsgebietsVersicherungsfreiheit bestanden habe, den Beitragszeiten nach Bun-desrecht nicht gleichgestellt. Vollrentenbezieher und gleichgestellteInvalidenrentner der Sozialversicherung seien in der DDR von derZahlung ihres Beitragsteils befreit gewesen. Der vom Arbeitgeber desKl. zu zahlende Beitragsteil entspreche vergleichbaren Regelungen inden alten Bundesländern für weiterbeschäftigte Vollrentenbezieher,ohne dass hierdurch ein bei der Rente zu berücksichtigender Beitragentstehe.

In der Folgezeit stellte die Bekl. die Altersrente des Kl. teilweise neufest. Der letzte Bescheid v. 8.6.1998 (für die Zeit ab 1.1.1997) enthieltden Hinweis, bei der Rentenberechnung seien die vom Versorgungs-träger im Überführungsbescheid nach Abs. 3 AAÜG festgestelltenEntgelte berücksichtigt worden; die Rente werde neu festgestellt, wennder Überführungsbescheid im anhängigen Streitverfahren gegen denVersorgungsträger abgeändert werde.

Die vom Kl. daraufhin erhobene Klage wies das SG ab. Auf seineBerufung hat das LSG die Bekl. u.a. verurteilt, die Zeit vom 1.3.1981bis 9.5.1990 als Pflichtbeitragszeit unter Zugrundelegung bestimmterArbeitsverdienste zu berücksichtigen. Es hat im Wesentlichen aus-geführt: Auch wenn der Kl. nunmehr für die Zeit vom 1.3.1981 bis

9.5.1990 seine Zugehörigkeit zur AVSt geltend mache, könne im Hin-blick auf die verbindliche Entscheidung des Versorgungsträgers in derSache entschieden werden. Bei der Feststellung des Werts des Rechtsauf Rente seien Pflichtbeitragszeiten im streitigen Zeitraum anzurech-nen. Denn für den Kl. seien Beiträge zu einem System der gesetzlichenRentenversicherung iSv § 248 Abs. 3 Satz 1 SGB VI entrichtet worden.Die Ausschlussklausel des § 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VI greife nichtein. Denn als Invalidenrentner sei der Kl. nicht Rentner iSd Vorschriftgewesen. Unter diese Bestimmung fielen nur diejenigen, die eine Voll-rente wegen Alters bezogen hätten.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügte die Bekl. eine Verlet-zung von § 248 Abs. 3 SGB VI, da die Vorschrift den Erwerb von Pflicht-beitragszeiten für sämtliche Rentner ausschließe.

Der Kl. wandte sich mit seiner Revision im Wesentlichen gegen dieRentenhöchstwertfestsetzung in den angefochtenen Bescheiden.

Die Revision des Kl. hatte Erfolg, die der Bekl. blieb erfolglos.

Aus den Entscheidungsgründen:II. … 1. Die Revision des Kl. ist begründet, das Urteil des LSG istabzuändern und die Rentenhöchstwertfestsetzung in den angefoch-tenen Bescheiden aufzuheben. …

Die Bekl. hat unzutreffend den Rentenhöchstwert endgültig (stattvorläufig) festgestellt.

Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war u.a. das mit derzulässigen (kombinierten) Anfechtungs- (und Leistungs-)klage (§ 54Abs. 4 SGG) verfolgte Begehren des Kl., das SG möge die Renten-höchstwertfestsetzung in den angefochtenen Bescheiden aufheben(und die Bekl. verurteilen, ihm auf der Grundlage eines höheren Wertsseines Rechts, unter Anrechnung u.a. von in der Zeit vom 1.3.1981 bis9.5.1990 zurückgelegten Beitragszeiten, die Altersrente zu gewähren).Mit diesem Begehren hatte der Kl. zwar vor dem LSG im WesentlichenErfolg und seine Berufung war insoweit begründet, weil nach denFeststellungen des LSG die Bekl. u.a. weitere Beitragszeiten bei derRentenwertfestsetzung nicht berücksichtigt hatte. Allerdings hätte dieBekl. keine endgültige Entscheidung über den Rentenhöchstwerttreffen und das LSG der Anfechtungsklage gegen den endgültig fest-gesetzten Rentenhöchstwert auch insoweit stattgeben müssen, da dieSach- und Rechtslage noch nicht abschließend geklärt war (Verbotdes vorzeitigen Verfahrensabschlusses; vgl. hierzu entsprechend BSG,SozR 3-1300 § 32 Nr. 2 mwN). Denn vor einer endgültigen Festsetzungdes Rentenhöchstwerts musste noch die BfA als Trägerin des Zusatz-versorgungssystems über die vom Kl. für die Zeit vom 1.3.1981 bis9.5.1990 geltend gemachte Erfüllung von Tatbeständen von Zeiten derZugehörigkeit zur AVSt (u.a. einschließlich der in diesem Zeitraumerzielten Arbeitsentgelte und der tatbestandlichen Voraussetzungeneiner Beitragsbemessungsgrenze) bestandskräftig entscheiden. Inso-weit ist jedoch noch ein Rechtsstreit vor dem SG anhängig (…).(es folgen Ausführungen zum Rentenfeststellungsverfahren)

2. Die Revision der Bekl. ist unbegründet. Zutreffend hat das LSGeinen höheren Rentenwert festgesetzt und die Bekl. – sinngemäß – zurZahlung der Altersrente dem Grunde nach unter Berücksichtigung derPflichtbeitragszeiten sowie der festgestellten Arbeitsentgelte verurteilt(§ 54 Abs. 1, 4 iVm § 130 Regelung 1 SGG).

a) Rechtsgrundlage für die beitragsrechtliche Rechtsnatur der beider Altersrente nach dem SGB VI zu berücksichtigenden Zeit vom1.3.1981 bis 9.5.1990 im Beitrittsgebiet ist die Gleichstellungsnormdes § 248 Abs. 3 Satz 1 SGB VI. Wie der Senat bereits ausgeführt hat(vgl. BSG, SozR 3-2600 § 248 Nr. 7 S. 37 ff.), finden die in § 55 Abs. 1SGB VI getroffenen Regelungen für Beitragsansprüche, Beitrags-schuldner und Beitragszahlungen im Beitrittsgebiet vor dem 1.1.1992keine Anwendung. Denn diese Vorschrift entfaltet keine Rück-wirkung für Zeiten vor ihrem In-Kraft-Treten. Nach § 55 Abs. 1 Satz 1SGB VI sind Beitragszeiten iSd SGB VI nur solche Zeiten, für die nachBundesrecht ab 1.1.1992 Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder

Rechtsprechung

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503Neue Justiz 9/2002

freiwillige Beiträge gezahlt worden sind; nach Satz 2, aaO, sindBeitragszeiten auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderenVorschriften als gezahlt gelten. Beitragszeiten nach dem SGB VI sindsomit grundsätzlich Zeiten, für die Beiträge – von wem auch immer –gezahlt worden sind (§ 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) oder als gezahlt gelten(§ 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI), etwa im Falle von Zeiten der Kinder-erziehung (vgl. hierzu Urt. des Senats v. 29.6.2000 – B 4 RA 57/98 R =SozR 3-2600 § 210 Nr. 2 S. 12 f.; BSG, SozR 3-2600 § 248 Nr. 7 S. 39 f.).Die Bestimmung definiert den Begriff »Beitragszeit« ausschließlich fürden Geltungsbereich des SGB VI, und zwar für die Zeit ab – und nichtvor – dessen In-Kraft-Treten am 1.1.1992 (vgl. hierzu BSG, SozR 3-2600§ 248 Nr. 7 S. 38 f.).

Wegen der Andersartigkeit des Rentenversicherungsrechts desBeitrittsgebiets, das mit Ablauf des 31.12.1991 außer Kraft getreten ist,bedurfte es einer rechtsbegründenden Entscheidung des DeutschenBundestags zur Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen»Beitrittsgebietszeiten« nach dem ab 1.1.1992 geltenden SGB VI denBeitragszeiten »nach Bundesrecht« gleich stehen und damit im Rechts-verhältnis zur Bekl. Beitragszeiten – mit Rangstellen begründendenversicherten Arbeitsverdiensten – »nach Bundesrecht« erlangt sind(vgl. BSG, SozR 3-2600 § 248 Nr. 7 S. 38 ff. mwN). Während § 248Abs. 3 SGB VI dies für Erwerbstatbestände in der allgemeinen Renten-versicherung des Beitrittsgebiets regelt, trifft § 5 AAÜG eine Regelungspeziell für solche Erwerbstatbestände im Zusammenhang mit Zusatz-und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (st.Rspr. stellver-tretend: BSG, SozR 3-8570 § 5 Nr. 5 S. 25; SozR 3-2600 § 248 Nr. 1 S. 4,Nr. 3 S. 14, Nr. 4 S. 230).

b) Der Gleichstellungstatbestand des § 248 Abs. 3 SGB VI begründetsomit die rechtliche Erheblichkeit von im Beitrittsgebiet zurückgeleg-ten Zeiten als Pflichtbeitragszeiten iSd originären bundesrechtlichenRentenversicherungsrechts des SGB VI. Diese Grundregel für dieGleichstellung der Beitrittsgebiets-Beitragszeiten verlangt grundsätz-lich nur, dass für Zeiten nach dem 8.5.1945 Beiträge zu einem Systemder gesetzlichen Rentenversicherung des Beitrittsgebiets gezahlt wor-den sind. Dabei ordnet die Vorschrift nicht die Anwendung bestimm-ter Vorschriften des DDR-Rechts an. Bundesrechtlich ist vielmehr nurzu prüfen, ob Beiträge zu einem System der gesetzlichen Rentenver-sicherung nach den damaligen Vorschriften der DDR gezahlt wordensind. Das DDR-Recht ist insoweit nur tatsächlicher Anknüpfungs-punkt (vgl. BSG, SozR 3-2600 § 248 Nr. 3 S. 14).

Hiernach sind im o.g. Zeitraum Beiträge zu einem System dergesetzlichen Rentenversicherung gezahlt worden. Der Arbeitgeber desKl. hat trotz dessen Beitragsfreiheit wegen und während des Bezugseiner Invalidenrente gem. § 15 Abs. 1 Buchst. a der VO zur Sozial-pflichtversicherung der Arbeiter und Angestellten (SVO) v. 17.11.1977(GBl. I S. 373) bis zum 9.5.1990 »Beiträge« iSv § 248 Abs. 3 Satz 1SGB VI entrichtet. Denn gem. § 13 Abs. 3 SVO waren die Betriebe zurZahlung des Beitrags auch dann verpflichtet, wenn »der Werktätigewegen des Bezugs einer Rente von der eigenen Beitragsleistung befreitwar«. Unabhängig von der Verteilung der Beitragslast galten nach § 2Abs. 2 Buchst. a der VO über die Gewährung und Berechnung vonRenten der Sozialpflichtversicherung (RentV 1979) v. 23.11.1979(GBl. I S. 403) als versicherungspflichtige Tätigkeiten alle Tätigkeiten,für die aufgrund von Rechtsvorschriften Versicherungspflicht zurgesetzlichen Rentenversicherung bestand. Hierzu zählte demnachauch die entgeltliche Beschäftigung des Kl., so dass auch die in diesemZusammenhang entrichteten Beiträge »zu einem System der gesetz-lichen Rentenversicherung« gezahlt worden sind. Ohne Bedeutung ist,dass allein der Arbeitgeber Beiträge getragen hat (s.o.). Maßgeblich istallein, dass überhaupt Beiträge zu einem System der gesetzlichen Ren-tenversicherung entrichtet worden sind. Der erst nach dem 9.5.1990in Kraft getretene § 19 Abs. 2 SGG v. 28.6.1990 (GBl. I S. 486), wonachBeschäftigte, die eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherungbeziehen, in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungsfrei

waren, soweit für sie nach den bis zum 30.6.1990 geltenden Rechts-vorschriften eine Befreiung von der Beitragspflicht bestand, steht demnicht entgegen. Denn die Vorschrift lässt die Beitragspflicht desArbeitgebers in diesen Fällen grundsätzlich und insbes. für die Zeitvom 1.3.1981 bis 9.5.1990 unberührt.

Wären im Übrigen … Beiträge iSd § 248 Abs. 3 Satz 1 SGB VI nursolche, die von Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte zu ent-richten seien, so hätte es der Regelung in § 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2SGB VI, wonach Beitragszeiten im Beitrittsgebiet nicht solche Zeitensind, in denen u.a. wegen des Bezugs einer Rente oder nach denVorschriften des Beitrittsgebiets Versicherungs- oder Beitragsfreiheitbestanden hat, nicht bedurft. Denn dann wäre der Tatbestand des§ 248 Abs. 3 Satz 1 SGB VI bereits wegen fehlender »Beiträge« nichterfüllt. Die Ausnahmebestimmung des § 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIhätte dann keinen Anwendungsbereich mehr.

c) Der Ausschlusstatbestand des § 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIgreift hier nicht ein. Denn Zeiten während des Bezugs der Invaliden-rente sind grundsätzlich Beitragszeiten gleichgestellt, wenn derBezieher einer derartigen Rente eine versicherungspflichtige Beschäf-tigung ausgeübt hat. Die Vorschrift ist insoweit einschränkend aus-zulegen.

Der Kl. war nicht »wegen des Bezugs einer Rente in diesem Sinnenach den Vorschriften des Beitrittsgebiets versicherungs- oder bei-tragsfrei«. Zwar könnte der Wortlaut für die von der Bekl. in denangefochtenen Bescheiden vertretene Rechtsauffassung sprechen,wonach sämtlichen Rentnern, seien es die Bezieher einer Alters- odereiner Invalidenrente, keine den Pflichtbeitragszeiten gleichgestellteZeiten zuerkannt werden können. Aus dem Ziel des EinigungsV,wonach Renten und Rentenanwartschaften in ein einheitliches neuesRentenrecht, das SGB VI, zu überführen waren, ergibt sich jedoch dieEinschränkung, dass lediglich die Bezieher von Altersrenten, nichtjedoch die Bezieher von Invalidenrenten mit einer daneben aus-geübten versicherungspflichtigen entgeltlichen Beschäftigung vonder Zuerkennung gleichgestellter Zeiten ausgeschlossen werden soll-ten. § 248 Abs. 3 Satz 2 SGB VI sollte – ab Einführung dieses einheit-lichen Rentenrechts im gesamten Bundesgebiet – eine ungerechtfer-tigte Benachteiligung der Beitragszahler in den alten Bundesländerngegenüber den Rentenbeziehern aus dem Beitrittsgebiet verhindern(vgl. hierzu BSG, SozR 3-2600 § 248 Nr. 4 S. 23). Eine derartige Benach-teiligung hätte sich jedoch nur ergeben, wenn die Bezieher von Alters-renten in der DDR, die eine dem Grunde nach versicherungspflich-tige Beschäftigung ausgeübt hatten, aufgrund dieses Tatbestandsnoch gleichgestellte Beitragszeiten hätten erwerben können. Denninsoweit ist § 75 Abs. 1 SGB VI zu entnehmen, dass die nach Beginneiner Rente liegenden »rentenrechtlichen« Zeiten bei der Festsetzungdes Werts dieser Rente grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigensind. Das bedeutet, dass allein die Bezieher einer Vollrente wegenAlters (RAR), die gem. § 5 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI versicherungsfrei undbeitragsfrei sind, keine – anrechenbaren – rentenrechtlich erheb-lichen Zeiten mehr erwerben können. Der Gesetzgeber geht insoweitdavon aus, dass in diesen Fällen ein Sicherungsbedürfnis in dergesetzlichen Rentenversicherung wegen Erreichens des Sicherungs-ziels nicht mehr besteht. Die Bezieher einer Rente wegen verminder-ter Erwerbsfähigkeit jedoch, die eine versicherungspflichtige undbeitragspflichtige Beschäftigung ausüben, erwerben hingegen nochPflichtbeitragszeiten, die allerdings erst bei einem später entstehen-den Recht auf Rente anzurechnen sind. Unter Berücksichtigung desAngleichungsziels bei Überführung der (Renten und) Anwartschaftendes Beitrittsgebiets in das SGB VI werden infolgedessen nach Sinn undZweck von § 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VI Invalidenrentner mit einerdem Grunde nach versicherungspflichtigen Beschäftigung nichterfasst. Für diese Auslegung sprechen auch die sog. Materialien zu§ 248 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VI. Danach sollen unter den Ausschluss-tatbestand nur solche Zeiten fallen, die nach Bundesrecht nicht

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Neue Justiz 9/2002504

werterhöhend berücksichtigt werden dürfen; die Zeiten nach Nr. 2,aaO, – so die Materialien – entsprächen Zeiten im alten Bundesgebiet,in denen bei Beschäftigung eines Rentners lediglich zur Vermeidungvon Wettbewerbsvorteilen ein »Arbeitgeberanteil« gezahlt werde,ohne dass diese Zeiten dadurch zu Beitragszeiten würden (vgl. BT-Drucks. 12/405, S. 125). Bei der in den Materialien angesprochenenPersonengruppe handelt es sich, wie sich aus § 172 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI(iVm § 5 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI) ergibt, jedoch allein um die Bezieher einerVollrente wegen Alters. Im Einklang mit diesem Ergebnis steht imÜbrigen, dass die Altersrente nach DDR-Recht sowohl bei blindenInvalidenrentnern als auch bei anderen Invalidenrentnern, die wäh-rend des Bezugs der Invalidenrente versicherungspflichtig beschäftigtwaren, unter Berücksichtigung dieser versicherungspflichtigenBeschäftigung neu zu berechnen (und ggf. neu festzustellen) war(§ 76 Abs. 2, 3 RentV 1979 und § 18 Abs. 1 der 1. DB zur RentV 1979).Trotz »Beitragsfreiheit« des Invalidenrentners wurde somit die Zeit derversicherungspflichtigen Beschäftigung als rentenerheblich gewertet.

� 06.2 – 9/02

Anerkennung einer Berufskrankheit/Schwerhörigkeit/Verwaltungs-praxis der DDRBSG, Urteil vom 4. Dezember 2001 – B 2 U 35/00 R (LSG Halle/Saale)

SGB VII § 215 Abs 1; RVO § 1150 Abs. 2; EinigungsV Art. 19BerufskrankheitenVO/DDR Nr. 50 der Anl. 1 zur 1. DB

Ist die übergangsweise Fortgeltung von DDR-Recht vorgeschrieben,so ist bei dessen Auslegung auch die dortige Verwaltungspraxis (hier:Anerkennung einer Schwerhörigkeit als Berufskrankheit) zu berück-sichtigen, sofern diese Praxis nicht rechtsstaatlichen Grundsätzenoder den Regelungen des EinigungsV widerspricht. (Leitsatz der Redaktion)

Anm. d. Redaktion: Unter Aufhebung des LSG-Urteils hat das BSG einenAnspruch des Kl. auf Anerkennung seiner Schwerhörigkeit als Berufskrankheitmit der Begründung verneint, dass die Voraussetzungen für eine Anerkennungder Lärmschwerhörigkeit des Kl. als Berufskrankheit Nr. 50 der Anl. zur 1. DBder BKVO/DDR v. 21.4.1981 (GBl. I S. 139) nicht erfüllt seien, weil dessenKörperschaden durch die berufsbedingte Hörminderung nicht mit einem Gradvon 20 v.H. zu bewerten ist, sondern unterhalb dieses Werts liegt. Dazu hat das BSG u.a. ausgeführt:»Der vom Kl. erhobene Anspruch richtet sich gem. § 215 Abs. 1 SGB VII nach§ 1150 Abs. 2 RVO in der vor dem 1.1.1997 geltenden Fassung, weil die vonihm als Berufskrankheit geltend gemachte Lärmschwerhörigkeit … spätestensmit dem Ausscheiden aus der Lärmtätigkeit am 30.6.1991, also vor dem1.1.1992, im Beitrittsgebiet eingetreten ist. Gem. § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem1.1.1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltendenRecht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, alsArbeitsunfälle und Berufskrankheiten iSd Dritten Buches der RVO. Dies gilt u.a.nicht für Krankheiten, die – wie die Schwerhörigkeit des Kl. – einem ab1.1.1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst

nach dem 31.12.1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch derRVO nicht zu entschädigen wären (Abs. 2 Satz 2 Nr. 1). In letzterem Falle mussdie betreffende Krankheit die Voraussetzungen für die Anerkennung alsBerufskrankheit sowohl nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht als auchnach der RVO erfüllen (…). Dies ist bei der Schwerhörigkeit des Kl. nicht derFall. …In der Liste der Berufskrankheiten sind unter Nr. 50 Berufskrankheiten durch›Lärm, der Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung verursacht‹, genannt. DasLSG hat für den Senat bindend … festgestellt, dass bei dem Kl. eine Schwer-hörigkeit vorliegt, die auf beruflich bedingte Lärmeinwirkung zurückzuführenist. Diese Lärmschwerhörigkeit hat jedoch keine »soziale Bedeutung« iSdNr. 50 der Liste der Berufskrankheiten und ist daher nach den bis zum31.12.1991 im Beitrittsgebiet geltenden Rechtsvorschriften, die hier Anwen-dung finden, keine Berufskrankheit.«

� 06.3 – 9/02

Opferentschädigung/gewaltsam erzwungener Inzest/behindertesKind/Rechtsfortbildung wegen planwidriger GesetzeslückeBSG, Urteil vom 16. April 2002 – B 9 VG 1/01 R (SG Schwerin)

OEG §§ 1, 10a; EinigungsV Anl. I, Kap. VIII, Sachg. K, Abschn. III, Nr. 18 Buchst. a bis g; BVG § 1

Einem Kind, das gewaltsam gezeugt und wegen des Inzests erheblichgeschädigt geboren wird, stehen Entschädigungsleistungen nachdem OEG zu. Die insoweit in § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG bestehendeplanwidrige Gesetzeslücke ist im Wege der Rechtsfortbildung zuschließen. (Leitsatz der Redaktion)

Anm. d. Redaktion: Siehe dazu auch die Information in NJ 2002, 299.

� 06.4 – 9/02

Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen/Werkstätte für Behin-derte/Verzinsung/Vereinbarung prospektiver PflegesätzeLSG Erfurt, Urteil vom 12. März 2002 – L 1 SF 687/00 (SG Altenburg)(rechtskräftig)

SGB I § 44 Abs. 1; BSHG § 93 Abs. 2; SGB X §§ 53 ff.

1. § 44 Abs. 1 SGB I ist nicht auf die Regelung der Kostentragungfür Sozialversicherungsbeiträge im Rahmen einer Maßnahme, dieeinem behinderten Menschen nach dem BSHG gewährt wird, anzu-wenden.2. Eine Abgeltung von Erstattungsforderungen für Sozialversiche-rungsbeiträge (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) durch dieVereinbarung prospektiver Pflegesätze nach § 93 Abs. 2 BSHG istweder vom Gesetzgeber gewollt noch automatisch mit deren Abschlusserfolgt.3. Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2 BSHG sind öffentlich-rechtlicheVerträge iSd §§ 53 ff. SGB X und unterliegen der Schriftform.

(mitgeteilt von RiLSG Fritz Keller, Erfurt)

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VIINeue Justiz 9/2002

ZEITSCHRIFTENÜBERSICHT

Völkerrecht/EuroparechtM. Kloepfer, Die europäische Herausforderung – Spannungslagen zwi-schen deutschem und europäischem Umweltrecht, NVwZ 2002, 645-657G. Krings/Ch. Burkiczak, Bedingt abwehrbereit? Verfassungs- und völ-kerrechtliche Aspekte des Einsatzes der Bundeswehr zur Bekämpfungneuer terroristischer Gefahren im In- und Ausland, DÖV 2002, 501-512H.-H. Kühne/R. Esser, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-hofs für Menschenrechte (EGMR) zur Untersuchungshaft. Ein Berichtüber die Entwicklung in den Jahren 2000 und 2001, StV 2002, 383-393F. Megret, »Krieg«? – Völkerrechtssemantik und der Kampf gegen denTerrorismus, KJ 2002, 157-179

Verfassungsrecht/StaatsrechtH. Bauer, Verfassungspoker im Bundesrat. Zur umstrittenen Bundes-ratsabstimmung vom 22. März 2002, RuP 2002, 70-82G. Bertram, Mäßigungsgebot für Amts- und Bundesverfassungsrichter– neue Maßstäbe beim Deutschen Richterbund?, RuP 2002, 117-123R. Gröschner, Das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat, JZ 2002, 621-627G. Hirsch, Die deutsche Justiz im Unrechtssystem und bei der Auf-arbeitung von Justizunrecht. Ansprache aus Anlass des 100. Geburts-tages von Hans von Dohnanyi, DRiZ 2002, 228-230Ch. Lenz, Das neue Parteifinanzierungsrecht, NVwZ 2002, 769-779L. O. Michaelis, Aufgaben, Befugnisse und Kontrolle der Ämter fürVerfassungsschutz im streitbaren Parteienstaat, KritV 2002, 188-218H.-J. Papier, Ehe und Familie in der neueren Rechtsprechung desBVerfG, NJW 2002, 2129-2133B. Pieroth/Th. Kingreen, Funktionen des Ehegrundrechts am Beispieldes Lebenspartnerschaftsgesetzes, KritV 2002, 219-241M. Ruffert, Terrorismusbekämpfung zwischen Selbstverteidigung undkollektiver Sicherheit. Die Anschläge vom 11.9.2001 und die Inter-vention in Afghanistan, ZRP 2002, 247-252H. Sendler, Nochmals: Terroristische Angriffe auf Kernkraftwerke (zuOssenbühl, NVwZ 2002, 290 ff.), NVwZ 2002, 681-686S. Wolf, Der Fall »LER« – ein Paradigmenwechsel im Selbstverständ-nis des Bundesverfassungsgerichts?, KJ 2002, 250-253

Bürgerliches Recht/ZivilprozessrechtW. Ball, Rechtsmittel im Mietprozeß nach der ZPO-Reform (Vortrag,gehalten auf dem Deutschen Mietgerichtstag 2002 am 1. u. 2.3.2002 inDortmund), WuM 2002, 296-300, und DWW 2002, 158-163V. Beuthin/Th. Titze, Offene Probleme beim Insolvenzverfahren dereingetragenen Genossenschaft, ZIP 2002, 1116-1125V. Bißmaier, Der Prozeßkostenvorschuß in der familiengerichtlichenPraxis, FamRZ 2002, 863-866P. Derleder, Die Neuregelung der Mietsicherheiten und ihre Rechts-folgen, DWW 2002, 150-157O. Fischer, Prozesskostenhilfe – Anwaltsbeiordnung und »Mehrkos-tenverbot«, MDR 2002, 729-733G. Geldmacher, Die Kaution im Miet- und Pachtverhältnis. Teil 6:Gerichtliche Spruchpraxis Juni 2001 bis Mai 2002, DWW 2002, 182-197U. Gottwald, Das neue Rechtsmittelrecht im Zivilprozess und Zwangs-vollstreckung, DGVZ 2002, 97-102H.-U. Graba, Zum trennungsbedingten Mehrbedarf, FamRZ 2002,857-863B. Gsell/Th. Mehring, Kompetenzkonflikt bei Prozesskostenhilfever-fahren vor Zivilgerichten, NJW 2002, 1991-1994J. Helle, Persönlichkeitsverletzungen im Internet, JZ 2002, 593-601M. Heße, Der handelsrechtliche Provisionsanspruch des Zivilmaklers,NJW 2002, 1835-1838W. Hinz, ZPO-Reform – Die wichtigsten Neuerungen für den Miet-prozess, WuM 2002, 352-358J. Hoffmann, Haustürwiderruf bei Realkrediten und verbundenesGrundstücksgeschäft, ZIP 2002, 1066-1075R. Jacobs, Das neue Urhebervertragsrecht, NJW 2002, 1905-1909J. Kohler, Rücktrittsrechtliche Bereicherungshaftung, JZ 2002, 682-696K. Kuhnigk, Die Bedarfsberechnung beim Kindesunterhalt durch Ver-doppelung der Tabellenbeträge, FamRZ 2002, 923-927N. Meier/F. Grünebaum, Die Höhe des Verzugszinses nach dem Schuld-rechtsmodernisierungsgesetz, MDR 2002, 746-748

B. Niepmann, Aktuelle Entwicklungen im Familienrecht, MDR 2002,794-800H. Oelkers/C. Kraeft, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Men-schen – Auswirkungen auf das Unterhaltsrecht, FamRZ 2002, 790-800M. Schmidt-Kessel/Ch. Baldus, Prozessuale Behandlung des Wegfallsder Geschäftsgrundlage nach neuem Recht, NJW 2002, 2076-2078G. Schnabel, Rechtsprechung zur Schuldrechtsanpassung undSachenrechtsbereinigung (im Anschl. an NJW 2001, 2362 ff.), NJW2002, 1916-1924J. Tietz-Bertram, Zur Bodenbewertung im Immobilienrecht der neuenLänder, LKV 2002, 390-396N. Vossler, Bindungswirkung von Patientenverfügungen? Gesetzge-berischer Handlungsbedarf?, ZRP 2002, 295-298

Straf- und StrafprozessrechtH. Kudlich/R. Christensen, Zum Relevanzhorizont strafgerichtlicherEntscheidungsbegründungen. GA 2002, 337-350J. Lehmann, Zur Zulassung der Nebenklage bei Nötigung zu einersexuellen Handlung (§ 240 I, IV Nr. 1 StGB), NStZ 2002, 353-356E. Müller, Rechtsprechungsüberblick zu den Rechtspflegedelikten1997-2001 (§§ 153 ff., 164, 258, 339, 356 StGB), NStZ 2002, 356-364N. Nedopil, Prognosebegutachtungen bei zeitlich begrenzten Freiheits-strafen – Eine sinnvolle Lösung für problematische Fragestellungen?,NStZ 2002, 344-349H.-U. Paeffgen, »Vernachrichtendienstlichung« von Strafprozeß- (undPolizei-)recht im Jahre 2001. Weitere grundsätzliche Anmerkungenzur deutschen »Sicherheitsrechts«-Entwicklung bis zum Terrorismus-bekämpfungs-Gesetz, StV 2002, 336-341

VerwaltungsrechtH. Fischer, Zur Bauleitplanung für überwiegend bebaute Gebiete. Vor-aussetzungen, Rechtsprechung und Anwendungsprobleme des § 1Abs. 10 BauNVO, DVBl. 2002, 950-955B. Huber, Die Änderungen des Ausländer- und Asylrechts durch dasTerrorismusbekämpfungsgesetz, NVwZ 2002, 787-794A. Th. Jobs, Verfassungsrechtliche Anforderungen an verwaltungs-gerichtliche Asylentscheidungen, ZAR 23002, 219-227Th. Wilrich, Vereinsbeteiligung und Vereinsklage im neuen Bundes-naturschutzgesetz, DVBl. 2002, 872-880

Recht der offenen VermögensfragenCh. Kroker/H.-W. Teige, Die Verteilung des Sondervermögens DeutscheReichsbahn, VIZ 2002, 385-390

Arbeits- und SozialrechtSt. Braun, Job-AQTIV-Gesetz – Überblick über die wesentlichen Ände-rungen, MDR 2002, 672-674M. Grobys, Erstattungspflicht des Arbeitgebers für Arbeitslosengeldbei einvernehmlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses, NZA2002, 660-664J. Joussen, Das neue Mutterschutzgesetz, NZA 2002, 702-706M. Löwisch, Entsendung in den Gesamtbetriebsrat und Prinzip derVerhältniswahl, BB 2002, 1366-1370P. Niepalla/J. Dütemeyer, Die vergangenheitsbezogene Geltendmachungdes Arbeitnehmerstatus und Rückforderungsansprüche des Arbeit-gebers, NZA 2002, 712-716S. Petermeise, Neuordnung der Aufgaben nach dem Bundessozial-hilfegesetz in Mecklenburg-Vorpommern, LKV 2002, 313-315A. Richter, Muss der Chef Arbeitnehmer vor Entlassung anhören?,AuA 2002, 300-304C. Weber, Materielle und prozessuale Folgen des Nachweisgesetzes beiNichterteilung des Nachweises, NZA 2002, 641-644

Finanzrecht/SteuerrechtH. Plewka/M. Söffing, Die Entwicklung des Steuerrechts (im Anschl. anNJW 2002, 937 ff.), NJW 2002, 1838-1848

BerufsrechtB. Borgmann, Die Rechtsprechung des BGH zum Anwaltshaftungs-recht in der Zeit von Mitte 2000 bis Mitte 2002 (im Anschl. an NJW2000, 2953 ff.), NJW 2002, 2145-2153K. Deppert, Die Rechtsprechung des Senats für Anwaltssachen desBundesgerichtshofs im Jahre 2001, BRAK-Mitt. 2002, 102-104D. Hoß, Berufs- und wettbewerbsrechtliche Grenzen der Anwaltswer-bung im Internet, AnwBl. 2002, 377-387