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Aus dem Inhalt: B. Klose: Wie lange darf effektiver Rechtsschutz dauern? S. 241 St. Haupt/R. Schmidt: Online-Auftritte von Rechtsanwälten S. 245 M. Reinkenhof: Auswirkungen des EGMR-Urteils zur Bodenreform auf rechtskräftig abgeschlossene gerichtliche Verfahren S. 250 Aus dem Rechtsprechungsteil: VerfGH Thüringen: Prüfung einer Rüge willkürlicher Rechtsanwendung S. 261 OLG Naumburg: Zulässige anwaltliche Werbung um Einzelmandate S. 272 LG Berlin: Verjährungsbeginn für Schadensersatz- ansprüche falsch beratener Anleger S. 275 LG Potsdam: Auswirkungen einer überlangen Verfahrensdauer in Strafverfahren S. 276 VG Chemnitz: Ernennung eines Hochschulprofessors zum Landesbeamten nach Überschreiten der Altersgrenze S. 280 BSG: Kriterien für Kürzung der Entschädigungsrente eines NS-Opfers wegen Teilhabe am Systemunrecht des SED-Staates S. 283 6 04 58. Jahrgang NOMOS Berlin Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern E 10934 N J Seiten 241-288 Neue Justiz

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Aus dem Inhalt:

B. Klose: Wie lange darf effektiver Rechtsschutzdauern? S. 241

St. Haupt/R. Schmidt: Online-Auftritte vonRechtsanwälten S. 245

M. Reinkenhof: Auswirkungen des EGMR-Urteils zur Bodenreform auf rechtskräftig abgeschlossenegerichtliche Verfahren S. 250

Aus dem Rechtsprechungsteil:VerfGH Thüringen: Prüfung einer Rüge willkürlicherRechtsanwendung S. 261

OLG Naumburg: Zulässige anwaltliche Werbungum Einzelmandate S. 272

LG Berlin: Verjährungsbeginn für Schadensersatz-ansprüche falsch beratener Anleger S. 275

LG Potsdam: Auswirkungen einer überlangenVerfahrensdauer in Strafverfahren S. 276

VG Chemnitz: Ernennung eines Hochschulprofessorszum Landesbeamten nach Überschreiten derAltersgrenze S. 280

BSG: Kriterien für Kürzung der Entschädigungsrenteeines NS-Opfers wegen Teilhabe am Systemunrechtdes SED-Staates S. 283

6 0458. Jahrgang

NOMOS Berlin

Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

E 10934

NJSeiten 241-288

Neue Justiz

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RECHTSPRECHUNG

� 01 Verfassungsrecht

BVerfG:Keine Restitution nach VermG bei im Zugevon NS-Verfolgungsmaßnahmen erfolgterEnteignung in Polen (m. Anm. Gruber) . . . . . . . . . . 260

VerfGH Thüringen:Prüfung einer Rüge willkürlicher Rechts-anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

� 02 Bürgerliches Recht

BGH:Wohnfläche als zentrales Beschaffenheits-merkmal der von einem Bauträger errichteten Eigentumswohnung (bearb. v. Zank) . . . . . . . . . . . . 265

BGH:Kündigung bei fehlender Schriftform eines langfristigen Mietvertrags (bearb. v. Meyer-Harport). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

BGH:Verfassungsmäßigkeit des Eigentumsverlusts nach Ablauf der Ausschlussfrist bei Grund-bucheintragung von Volkseigentum . . . . . . . . . . . . . 268

EGMR:Wirksame rechtsgeschäftliche Überführung von Grundstücken in Volkseigentum trotz fehlerhaften Vertrags (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

BGH:Rechtsanwaltshaftung nach Zusammen-schluss in Sozietät (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

BGH:Enteignung durch Bodenreform (Leits.) . . . . . . . . . . 270

BGH:Betriebskostenabrechnung und Nachzah-lungsanspruch bei Grundstückseigentums-wechsel (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

BGH:Verjährung von Ansprüchen wegen Verän-derung oder Verschlechterung der Miet-/Pachtsache (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

OLG Jena:Kein Polizeigewahrsam allein wegen Neigung zu Verstoß gegen Versammlungs-recht (bearb. v. Walter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

OLG Naumburg:Zulässige anwaltliche Werbung um Einzelmandate (m. Anm. Kleine-Cosack) . . . . . . . . 272

OLG Dresden:LPG-Umwandlung und Gründung einer Aktiengesellschaft (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

OLG Naumburg:Sonderkündigungsrecht bei Landpacht-verträgen (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

S. 260

I

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in denNeuen Ländern

58. Jahrgang, S. 241-288

NJ 6/04

Herausgeber:

Prof. Dr. Marianne Andrae Universität Potsdam Prof. Dr. Ekkehard Becker-EberhardInstitut für Anwaltsrecht der Universität LeipzigDr. Michael BurmannPräsident der RechtsanwaltskammerThüringenDr. Bernhard Dombek Rechtsanwalt und Notar, BerlinPräsident derBundesrechtsanwaltskammerDr. Frank EngelmannPräsident der RechtsanwaltskammerBrandenburgDr. Margarete von GalenPräsidentin der RechtsanwaltskammerBerlin Lothar HaferkornPräsident der RechtsanwaltskammerSachsen-AnhaltGeorg Herbert Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gerhard Hückstädt Präsident des LandesverfassungsgerichtsMecklenburg-Vorpommern und Präsident des LG RostockDr. Günter KröberPräsident der RechtsanwaltskammerSachsenProf. Dr. Martin Posch Rechtsanwalt, Jena Dr. Erardo Cristoforo RautenbergGeneralstaatsanwalt des LandesBrandenburgDr. Axel Schöwe Präsident der RechtsanwaltskammerMecklenburg-VorpommernKarin Schubert Bürgermeisterin und Senatorin für Justizdes Landes BerlinProf. Dr. Horst Sendler Präsident des Bundesverwaltungs-gerichts a.D., BerlinManfred Walther Rechtsanwalt, Berlin Dr. Friedrich Wolff Rechtsanwalt, Berlin

In d iesem Hef t …

REZENSIONEN

Joachim Hoeck:Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutzin der Deutschen Demokratischen RepublikVon Hans Lühmann

S. 259

S. 257RAK-REPORT

S. 254INFORMATIONEN

Bundesgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Gesetzesinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Neue Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Berufsorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

S. 241AUFSÄTZE

Wie lange darf effektiver Rechtsschutz dauern?Bernhard Klose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Online-Auftritte von RechtsanwältenStefan Haupt und Ronald Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Auswirkungen des EGMR-Urteils zur Bodenreformauf rechtskräftig abgeschlossene gerichtliche VerfahrenMichaela Reinkenhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

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NJ-Abonnentenservice: Die Volltexte der kommentierten und im Leitsatz abgedruckten Entscheidungen können Sie inder Redaktion unter Angabe der Registrier-Nummer kostenlos bestellen. Fax (0 30) 22 32 84 33

II

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

58. Jahrgang, S. 241-288

NJ 6/04

Redaktion: Rechtsanwältin Adelhaid Brandt(Chefredakteurin)Barbara Andrä

Redaktionsanschrift:Französische Str. 13, 10117 BerlinTel.: (030) 22 32 84-0Fax: (030) 22 32 84 33E-Mail: [email protected]

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Erscheinungsfolge: einmal monatlich

Bezugspreise: Jahresabonnement 129,– €jeweils inkl. MwSt., zzgl. Porto undVersandkosten

Vorzugspreis: (gegen Nachweis) für Studenten jährlich 35,– €

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Einzelheft: 14,– € inkl. MwSt., zzgl. Porto und VersandkostenBestellungen beim örtlichen Buch-handel oder direkt bei der NOMOSVerlagsgesellschaft Baden-Baden. Abbestellungen bis jeweils 30. September zum Jahresende.

Verlag, Druckerei, Anzeigenver-waltung und Anzeigenannahme: Nomos VerlagsgesellschaftWaldseestr. 3-5, 76530 Baden-Baden,Tel.: (0 72 21) 21 04-0Fax: (0 72 21) 21 04-27

Urheber- und Verlagsrechte:Die in dieser Zeitschrift veröffentlich-ten Beiträge sind urheberrechtlichgeschützt. Das gilt auch für die veröf-fentlichten Gerichtsentscheidungenund ihre Leitsätze; diese sind geschützt, soweit sie vom Einsender oder vonder Redaktion erarbeitet und redigiert worden sind. Kein Teil dieser Zeit-schrift darf ohne vorherige schriftlicheZustimmung des Verlags verwendetwerden. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Bearbeitungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbei-tung in elektronischen Systemen.ISSN 0028-3231

Redaktionsschluss: 11. Mai 2004

In d iesem Hef t …

LG Berlin:Verjährungsbeginn für Schadensersatz-ansprüche falsch beratener Anleger (bearb. v. Maskow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

� 03 Strafrecht

LG Potsdam:Auswirkungen einer überlangen Verfahrensdauer in Strafverfahren. . . . . . . . . . . . . . . 276

� 04 Verwaltungsrecht

BVerwG:DDR-Grenzgrundstücke als Verwaltungs-vermögen des Bundes (bearb. v. Schmidt) . . . . . . . 278

BVerwG:Bewilligung von PKH für die Revisionsinstanz (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

BVerwG:Verdienstausfallentschädigung auch für länger als zwei Jahre arbeitslos gewesenen Wehrpflichtigen (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

BVerwG:Restitutionsausschluss wegen Verwendung derGrundstücke im komplexen Wohnungsbau und gerichtliche Aufklärungspflicht (Leits.) . . . . . . . . . . . 279

OVG Berlin:Keine pauschalen Mietobergrenzenin Sanierungsgebieten (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

OVG Bautzen:Ausnahmsweise Streitwerterhöhung aufgrund einer Honorarvereinbarung und Streitwert bei Baueinstellungsverfügungen (Leits.) . . . . . . . . . . . . . 280

OVG Frankfurt (Oder):Beitrag für Verbesserung der Schmutzwasser-beseitigung (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

OVG Weimar:Abwägungserhebliche Interessen von Anwoh-nern bzgl. Lärmbelästigung bei Planfeststellung eines Straßenbauvorhabens (Leits.) . . . . . . . . . . . . . 280

OVG Weimar:Wählbarkeit zum Amt des ehrenamtlichen Bürgermeisters trotz MfS-Tätigkeit (Leits.) . . . . . . . 280

VG Chemnitz:Ernennung eines Hochschulprofessors zum Landesbeamten/hier: nach Überschreiten der Altersgrenze (bearb. v. Fassbender). . . . . . . . . . 280

� 06 Sozialrecht

BSG:Kriterien für Kürzung der Entschädigungsrente eines NS-Opfers wegen Teilhabe am System-unrecht des SED-Staates (m. Anm. Vock) . . . . . . . . 283

BSG:Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente bei Übersiedlung des Unterhaltspflichtigen in die alten Bundesländer vor Beitritt . . . . . . . . . . . . 286

BSG:Sperrzonenzuschlag in DDR kein Arbeits-entgelt iSd AAÜG (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

BSG:Arbeitslosengeld für abhängig beschäftigteEhefrau im zu DDR-Zeiten erworbenen Handwerksbetrieb (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

BSG:Keine Rücknahme des Verwaltungsakts im Arbeitsförderungsrecht wegen Änderung der BAG-Rechtsprechung zum Betriebsübergang (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

LSG Halle/Saale:Sonderkündigungsrecht auch bei Beitrags-erhöhung infolge einer Krankenkassenfusion (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

NJ aktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III

Buchumschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI

Veranstaltungstermine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt ein Prospektdes C. H. Beck Verlages bei. Wir bitten freundlichstum Beachtung.

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IIINeue Justiz 6/2004

NJ aktuell Heft 6/2004

BVerfG: Verfassungsbeschwerden gegen Ökosteuer erfolglosDas BVerfG hat mit Urt. v. 20.4.2004 (1 BvR 1748/99 u. 905/00) dieVerfassungsbeschwerden von zwei gewerblichen Kühlhausunterneh-men und fünf Spediteuren (Beschwerdef.) betr. die sog. Ökosteuerzurückgewiesen. Das Produzierende Gewerbe darf im Interesse derSicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland durch steuerlicheVergünstigungen vor Wettbewerbsnachteilen geschützt werden, denendieser Wirtschaftszweig infolge der finanziellen Belastungen durchdie Stromsteuer und die Erhöhung der Mineralölsteuer auf Heizstoffeseit dem 1.4.1999 ausgesetzt sein könnte. Die Erhebung der Strom- und der Mineralölsteuer im Rahmen derökologischen Steuerreform berühren weder das Grundrecht derBerufsfreiheit der Verbraucher noch die Eigentumsgarantie. DieDifferenzierung zwischen Produzierendem Gewerbe und Dienstleis-tungsunternehmen bei der Steuervergünstigung nach §§ 9 Abs. 3, 10Abs. 1 u. 2 StromStG sowie nach den §§ 25, 25a MinöStG verstößt auchnicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Alle weiteren beim BVerfG zur sog. Ökosteuer anhängigen Verfas-sungsbeschwerden, u.a. von land- und forstwirtschaftlichen Unter-nehmen, sind mit Beschlüssen v. 20.4.2004 ebenfalls abschlägigentschieden worden.

(aus: Pressemitteilung des BVerfG Nr. 42 u. 43/04 v. 20./21.4.2004)

BGH: Zur Erstattung von Umsatzsteuer nach Kfz-Totalschaden

Mit Urt. v. 20.4.2004 (VI ZR 109/03) hat der BGH zur Erstattungs-fähigkeit nicht aufgewendeter Umsatzsteuer bei wirtschaftlichemTotalschaden eines Kfz Stellung genommen. In dem zugrunde liegenden Fall war der Totalschaden bei einem Ver-kehrsunfall im Aug. 2002 entstanden. Der bekl. Haftpflichtversichererlegte seiner Schadensabrechnung den von einem Sachverständigenermittelten Nettowiederbeschaffungswert eines gleichwertigen Ersatz-wagens zugrunde. Der Kl., der kein Ersatzfahrzeug erworben hatte,verlangte – in den Vorinstanzen erfolglos – Umsatzsteuer auf denNettowiederbeschaffungswert. Der BGH hat die Revision des Kl. zurückgewiesen. In allen Fällen einerSachbeschädigung nach dem 31.7.2002 schließt der zur Schadens-beseitigung erforderliche Geldbetrag die Umsatzsteuer nur mit ein,wenn und soweit sie tatsächlich angefallen ist. § 249 Abs. 2 Satz 2 BGBsteht einem Anspruch auf Erstattung nicht angefallener (fiktiver)Umsatzsteuer auch dann entgegen, wenn an dem Unfallfahrzeug wirt-schaftlicher Totalschaden entstanden ist. Nach neuem Recht ist daranfestzuhalten, dass im Falle eines wirtschaftlichen Totalschadens regel-mäßig keine § 251 BGB unterfallende Zerstörung der Sache vorliegt.Denn der Geschädigte kann Restitution seines Schadens meist durchden Erwerb eines (gleichwertigen) Ersatzfahrzeugs erlangen. Gegeneine Abkehr von dieser rechtlichen Einordnung der Ersatzbeschaf-fung spricht vor allem der aus den Gesetzesmaterialien zur Neufassungdes § 249 BGB ersichtliche Wille des Gesetzgebers, der die von der Rspr.vorgenommene Konkretisierung der Voraussetzungen und Rechtsfol-gen des § 249 BGB aF ausdrücklich auch für das neue Recht gebilligthat. Deshalb erfasst § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB auch die Fälle wirtschaft-lichen Totalschadens an einem Kfz.

(aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 42/04 v. 20.4.2004)

Europäische Gerichte

EGMR: Rechtsmittel gegen Bodenreformurteil eingelegt

Die Bundesregierung hat Rechtsmittel gegen das sog. Neubauern-Urteil des EGMR v. 22.1.2004 (NJ 2004, 167) eingelegt und beantragt,den Rechtsstreit an die Große Kammer zu verweisen. Nach ihrer Auf-fassung ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Urteils für dieFrage der Bodenreform in der DDR eine letztinstanzliche Entscheidungerforderlich. Die Rechtsmittelschrift wurde von Prof. Dr. JochenAbr. Frowein im Auftrag der Bundesregierung verfasst.

(aus: Pressemitteilung des BMJ v. 21.4.2004)

Zum EGMR-Urteil siehe A. Kolb, NJ 2004, 145 ff.; M. Reinkenhof, S. 250 ff.,in diesem Heft.

EGMR: Alteigentümer-Beschwerden an Große Kammer abgegeben

Im Ergebnis der am 29.1.2004 durchgeführten mündlichen Verhand-lung zu zusammengefassten Beschwerden zahlreicher Alteigentümer(Nr. 71916/ 01, 71917/01 u. 10260/02) hat die Kammer (Dritte Sektion)die Rechtssache gem. Art. 30 EMRK an die Große Kammer des EGMRabgegeben. Eine mündliche Verhandlung wurde für den 22.9.2004angesetzt. Bei den Beschwerdef. handelt es sich vornehmlich umPersonen, deren Rechtsvorgänger während der Bodenreform in denJahren 1945-1949 in der SBZ enteignet worden sind. Die Beschwerdef.halten die Bundesrepublik für verpflichtet, das verlorene Eigentumzurückzugeben oder jedenfalls eine Entschädigung in Höhe des Ver-kehrswerts zu zahlen. Dabei geht es um die Frage, ob das EALG mit derEMRK vereinbar ist. Das BVerfG hatte mit Urt. v. 22.11.2000 (NJ 2001,83) die Vorschriften des EALG für verfassungsgemäß erklärt.

(aus: Berliner Zeitung v. 22.4.2004)

EuGH: »Automatische« Ausweisungsregelung gemeinschaftswidrig

Auf Vorabentscheidungsersuchen des VG Stuttgart hat der EuGH mitUrt. v. 29.4.2004 (Rs. C-482/01 u. 493/01) entschieden, dass Art. 39EG und Art. 3 der RL 64/221/EWG des Rates v. 25.2.1964 einer natio-nalen Regelung (hier: § 47 AuslG) entgegenstehen, die den Behördenvorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen,die wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteiltwurden. Vielmehr muss in jedem Einzelfall geprüft werden, ob von demStraftäter noch eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung ausgeht.

(aus: EuGH, Rs. C-482/01 u. 493/01)

EuGH: Grenzen für Rückforderung staatlicher Beihilfen

Der EuGH hat mit Urt. v. 29.4.2004 (Rs. C-277/00) die Entscheidung2000/567/EG der Kommission v. 11.4.2000 über die staatliche BeihilfeDeutschlands zugunsten der System Microelectronic InnovationGmbH (SMI), Frankfurt (Oder), für nichtig erklärt, »soweit darin dieRückforderung der der SMI gewährten Beihilfen von anderenUnternehmen als ihr und die Rückforderung der der SMI gewährtenBeihilfen von anderen Unternehmen als dieser angeordnet wird«.Damit hat der EuGH das wirtschaftliche Risiko für Unternehmenbegrenzt, die einen Betrieb aus der Insolvenz heraus erwerben. Soferndies zum Marktpreis geschieht, kann der Käufer nicht zur Rückzahlungvon Beihilfen herangezogen werden, die der insolventen Gesellschaftrechtswidrig gewährt worden sind.

(aus: EuGH, Rs. C-277/00)

Bundesgerichte

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Neue Justiz 6/2004IV

BVerwG: Kein Stichtag für Abkömmlinge eines Spätaussiedlers

Das BVerwG hatte darüber zu entscheiden, ob die 1993 im Kriegsfol-genbereinigungsG für Spätaussiedler eingeführte Stichtagsregelungauch für dessen Abkömmlinge (Kinder und Enkel) gilt. Mit Urt. v.20.4.2004 (1 C 3/03) hat dies das Gericht verneint und die Feststellungdes BerufungsG bestätigt, dass die aus Kroatien stammenden Kl. Deut-sche (Statusdeutsche) sind. Die drei Kl., eine Mutter und ihre beiden Söhne, waren 1991 alsBürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland gekommen und hatten hiererfolglos ein Asylverfahren betrieben. 1993 kam die volksdeutscheGroßmutter ins Bundesgebiet und wurde als Spätaussiedlerin aner-kannt; sie hatte damit den Deutschenstatus. Problematisch war, ob dieKl. rechtlich als Abkömmlinge der Spätaussiedlerin behandelt werdenkönnen, weil sie vor dem für Spätaussiedler geltenden Stichtag, dem1.1.1993, nach Deutschland gekommen waren. Das BVerwG entschied, dass die gesetzliche Regelung des Stichtags in§ 4 BundesvertriebenenG sich nur auf die (volksdeutschen) Spätaus-siedler selbst, nicht aber auf deren Abkömmlinge bezieht. Diese Aus-legung ist im Interesse der Familieneinheit bzw. eines familienein-heitlichen Deutschen-Status geboten und entspricht dem Anliegen desGesetzgebers, im KriegsfolgenbereinigungsG die Anerkennungsvor-aussetzungen für die Spätaussiedler selbst, die sog. Stammberech-tigten, zu verschärfen, für deren Abkömmlinge aber zu erleichtern.

(aus: Pressemitteilung des BVerwG Nr. 22/04 v. 20.4.2004)

BVerwG: Hinnahme von Mehrstaatigkeit bei der Einbürgerung

Nach den Einbürgerungsvorschriften des AuslG wird eine doppelteStaatsangehörigkeit hingenommen, wenn der Einbürgerungsbewerberdie Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats der EU besitztund Gegenseitigkeit besteht. Das BVerwG hat mit Urt. v. 20.4.2004(1 C 13/03) entschieden, dass Gegenseitigkeit dann gegeben ist, wennder Herkunftsstaat seinerseits bei der Einbürgerung deutscher Staats-angehöriger eine doppelte Staatsangehörigkeit hinnimmt. Der Kl., ein seit 1980 in Deutschland lebender griechischer Psycho-therapeut, hatte in Bayern seine Einbürgerung beantragt und erklärt,dass er zur Aufgabe seiner griechischen Staatsangehörigkeit nichtbereit sei. Daraufhin lehnte die bekl. Stadt die Einbürgerung ab. Es fehlean der erforderlichen Gegenseitigkeit, weil Griechenland – anders alsDeutschland – keinen zwingenden Anspruch auf Einbürgerung vor-sehe, sondern diese nur nach Ermessen gewähre. Die hiergegen gerichtete Klage hatte vor dem VwGH Erfolg. Das BVerwG wies die Revision der Landesanwaltschaft Bayern zurück.Es hat maßgebend darauf abgestellt, dass sich das Gegenseitigkeits-erfordernis (§ 87 Abs. 2 AuslG) auf die Hinnahme der Mehrstaatigkeitin den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten bezieht. Es verlangt hingegennicht auch eine Übereinstimmung der übrigen Voraussetzungen undFolgen der Einbürgerung. Der Gesetzgeber hat 1999 mit der Reformdes Staatsangehörigkeitsrechts die Einbürgerung für EU-Staatsangehö-rige erleichtern wollen. Dies wird nicht erreicht, wenn man für dieGegenseitigkeit verlangt, dass auch andere EU-Staaten die im Wesent-lichen nur in Deutschland verankerte Anspruchseinbürgerung vorse-hen. Nicht nur das Einbürgerungsrecht, sondern auch die Einbür-gerungspraxis muss dem Gegenseitigkeitserfordernis gerecht werden.Das ist in Bezug auf Griechenland vom VwGH festgestellt worden.Einzelne Bundesländer haben bisher weiter gehende Anforderungengestellt. Der Vertreter des Bundesinteresses hatte darauf hingewiesen,dass Deutschland wegen der restriktiven Einbürgerungspraxis dieserBundesländer im Ausland kritisiert worden sei.

(aus: Pressemitteilung des BVerwG Nr. 23/04 v. 20.4.2004)

BAG: Umwandlung einer Vollzeitstelle in zwei Halbtagsstellen

Die Kl. war seit 1997 bei der Bekl. als Vollzeitkraft (40 Wochenstun-den) beschäftigt. Als technische Mitarbeiterin hatte sie zwei Arbeits-

BGH: Zur Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber ihren Eltern

Der klagende Landkreis gewährte dem Vater der Bekl. seit Mai 2000Sozialhilfe in Höhe der nicht durch eigenes Einkommen gedecktenKosten des Aufenthalts in einem Alten- und Pflegeheim. Die 1939geborene Bekl. ist das einzige noch lebende Kind aus der seit 1971geschiedenen Ehe ihrer Eltern; ihre Mutter ist verstorben. Die Bekl.verfügte – nach Abzug der Kosten der Kranken- und Pflegeversiche-rung – über Renteneinkünfte von monatl. ca. 2.480 DM, die Renteihres Ehemannes belief sich auf monatl. ca. 2.160 DM. Die Eheleutebewohnen eine Wohnung in dem der gemeinsamen Tochter gehören-den Haus, an der ihnen ein Wohnrecht zusteht. Auf ein Darlehen hattedie Bekl. Raten von monatl. 530 DM zu zahlen.Der Vater der Bekl. kam psychisch erkrankt aus dem Krieg zurück undbefand sich seit 1949 ununterbrochen in einer psychiatrischen Klinik.Seit 1998 lebt er in einem Alten- und Pflegeheim. Die ungedecktenHeimkosten beliefen sich in der Zeit von Mai bis Aug. 2000 auf Beträgezwischen monatl. ca. 1.370 DM und ca. 1.840 DM.Mit seiner Klage macht der Landkreis übergegangene Unterhalts-ansprüche des Vaters für diese Zeit i.H.v. monatl. 1.031 DM geltend.Klage und Berufung des Landkreises blieben erfolglos.Der BGH hat mit Urt. v. 21.4.2004 (XII ZR 326/01) die Revision desKl. zurückgewiesen und die Auffassung der Vorinstanzen bestätigt,dass der Übergang des Unterhaltsanspruchs eine unbillige Härte (§ 91Abs. 2 Satz 2 BSHG) darstellen würde. Wenn die Bekl. vom Träger derSozialhilfe auf Unterhalt für ihren Vater in Anspruch genommen wer-den könnte, würden dadurch soziale Belange vernachlässigt. Ange-sichts der Einbußen, die sie aufgrund der Kriegsfolgen, von denen ihrVater betroffen war, zu tragen hatte, und der weiteren Entwicklung derBeziehungen zu diesem kann von ihr nicht erwartet werden, Unter-haltsleistungen für den Vater an die öffentliche Hand zu erbringen.

(aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 45/04 v. 23.4.2004)

BGH: Häufig verwendete Vertragsklauseln in Bauverträgen im Straßenbau für unwirksam erklärt

Im Rahmen eines Rechtsstreits über den Werklohn für die Herstellungder Fahrbahn einer Bundesautobahn hat der BGH mit Urt. v. 29.4.2004(VII ZR 107/03) entschieden, dass folgende Klauseln der »Zusätzlichentechnischen Vertragsbedingungen und Richtlinien für den Bau vonFahrbahndecken aus Asphalt (ZTV-Asphalt-StB 94)«, wenn sie in AGBdes Auftraggebers (hier: der Bundesrepublik Deutschland) enthaltensind, der Inhaltskontrolle des § 9 AGBG nicht standhalten:

1.7.3Werden bei der Abnahme Über- bzw. Unterschreitungen der in denAbschnitten 2-9 sowie in 1.4 und 1.5 angegebenen Grenzwerte festge-stellt, so gilt jede unzulässige Unter- oder Überschreitung als jeweils einMangel. Darüber hinaus können auch andere Mängel vorliegen, die hiernicht behandelt werden.

1.7.4Abgesehen von seinen Rechten aus den §§ 12 und 13 VOB/B kann derAuftraggeber bei Nichteinhaltung der Grenzwerte für– das Einbaugewicht,– die Einbaudecke,– den Bindemittelgehalt,– den Verdichtungsgrad und– die EbenheitAbzüge gemäß Anhang 1 vornehmen. Die Gewährleistungsverpflich-tungen des Auftragnehmers bleiben dabei unberührt. Für Mängel aussonstigen Gründen werden in dieser Vorschrift keine Angaben fürAbzüge gemacht.Der Auftragnehmer hat jedoch Anspruch auf Rückzahlung des aufgrundeines Mangels abgezogenen Betrages, wenn er diesen Mangel aufgrundseiner Gewährleistungsverpflichtung beseitigt.

Diese Klauseln, so der BGH, sind unwirksam, da sie den Werkunter-nehmer durch die Vereinbarung eines von den Gewährleistungs-verpflichtungen unabhängigen Abzugs vom Werklohn unangemessenbenachteiligen.

(aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 48/04 v. 3.5.2004)

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gebiete zu betreuen, in denen sie dem techn. Leiter und dem Baulei-ter zuarbeitete. Im Nov. 2001 kündigte die Bekl. das Arbeitsverhältniszum 31.12.2001 und bot der Kl. die Fortsetzung des Arbeitsverhält-nisses ab 1.1.2002 mit reduziertem Arbeitsgebiet, halbierter Stunden-zahl (20 Wochenstunden, montags bis freitags vormittags) und ent-sprechend geringerer Vergütung an. Sie sollte allein noch für die vomtechn. Leiter zugewiesene Arbeit zuständig sein. Für das der Kl. entzo-gene Arbeitsgebiet (Bauleiter) stellte die Bekl. eine weitere Halbtags-kraft ein, die zeitgleich mit der Kl. eingesetzt wurde. Die Kl. hat das Änderungsangebot unter Vorbehalt angenommen undgeltend gemacht, die Änderung der Arbeitsbedingungen sei sozialungerechtfertigt. Die Bekl. berief sich auf die höhere Effizienz des neuenArbeitszeitkonzepts. ArbG und LAG gaben der Klage statt. Das BAG hat auf die Revision der Bekl. mit Urt. v. 22.4.2004 (2 AZR385/03) das Urteil des LAG Chemnitz aufgehoben. Entschließt sichder Arbeitgeber zu einer betrieblichen Umorganisation, die zu eineranderen zeitlichen Lage und Herabsetzung der Dauer der Arbeitszeitführt, so handelt es sich dabei um eine im Ermessen des Arbeitgebersstehende unternehmerische Entscheidung, die von den Arbeits-gerichten nicht auf ihre Zweckmäßigkeit, sondern lediglich – zur Ver-meidung von Missbrauch – auf offenbare Unvernunft oder Willkür zuüberprüfen ist. Ein Missbrauch der unternehmerischen Organisa-tionsfreiheit liegt nicht schon dann vor, wenn der Arbeitgeber dieMöglichkeit hätte, auf Reorganisation zu verzichten. War die Reorga-nisation im vorliegenden Fall dauerhafter Natur und nicht nur vor-geschoben, so bestand ein anerkennenswerter Anlass zum Aussprucheiner Änderungskündigung. Allerdings hat die Kl. geltend gemacht,die betriebliche Umorganisation sei allein deshalb erfolgt, weil sie sichüber den Bauleiter beschwert habe. Trifft dies zu, so kann ein Miss-brauch vorgelegen haben. Da es insoweit an Tatsachenfeststellungenfehlt, wurde die Sache an das BerufungsG zurückzuverwiesen.

(aus: Pressemitteilung des BAG Nr. 25/04 v. 22.4.20042004)

BAG: Ortszuschlag bei Eingetragener Lebenspartnerschaft

Der Kl. ist seit Jan. 2001 bei der Bekl. beschäftigt. Für das Arbeitsver-hältnis gilt der BAT. Danach besteht die Vergütung eines Angestelltenaus der Grundvergütung und dem Ortszuschlag. Der Ortszuschlagverfolgt den Zweck, die mit einem bestimmten Familienstand typischer-weise verbundenen finanziellen Belastungen auszugleichen. SeineHöhe richtet sich nach den Familienverhältnissen des Angestellten:Ledige und geschiedene Angestellte erhalten den Ortszuschlag derStufe 1. Verheirateten, verwitweten und geschiedenen Angestellten,die aus der früheren Ehe unterhaltsverpflichtet sind, steht der höhereOrtszuschlag der Stufe 2 zu. Im Okt. 2001 begründete der Kl. eine Lebenspartnerschaft nach demLPartG. Mit seiner Klage beanspruchte er den höheren Ortszuschlag.Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Die Revision hatte Erfolg. Mit Urt. v. 29.4.2004 (6 AZR 101/03) führte das BAG aus: Das durchdas LPartG geschaffene Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft begrün-det einen neuen Familienstand. Die damit verbundenen Unterhalts-pflichten entsprechen denen der Ehe. Die Lebenspartnerschaft erfülltalle Merkmale, an die der TarifV typisierend den Bezug eines höherenfamilienstandsbezogenen Vergütungsbestandteils anknüpft. DieserFamilienstand ist im Stufensystem des Ortszuschlags nicht berück-sichtigt. Mit dem Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft und derenfamilienrechtlicher Ausgestaltung durch das LPartG ist die Tarifnormnachträglich lückenhaft geworden. Diese Tariflücke kann systemkon-form nur durch die Gleichstellung von Angestellten, die eine Lebens-partnerschaft eingegangen sind, mit verheirateten geschlossen werden.

(aus: Pressemitteilung des BAG Nr. 28/04 v. 29.4.2004)

Zur Bejahung des Sozial(Orts-)Zuschlags im öffentlichen Dienst für Kinder deseingetragenen Lebenspartners siehe ArbG Neubrandenburg, Urt. v. 9.1.2004,NJ 2004, 191.

Neue Justiz 6/2004 V

Landesgerichte

VerfGH Thüringen: ThürPersVG teilweise verfassungswidrig

Der VerfGH hat in einem Normenkontrollverfahren mit Urt. v.20.4.2004 (14/02) den von der PDS-Fraktion im Landtag beanstande-ten und schon im alten PersVG 1993 enthaltenen § 4 Abs. 5 Nr. 5, nachdem Mitarbeiter mit geringer Wochenarbeitszeit von der Mitbestim-mung ausgenommen sind, für verfassungswidrig erklärt, weil es nichtallein von der Arbeitszeit – unabhängig von der Dauer der Betriebszu-gehörigkeit – abhängt, ob ein Mitarbeiter als in seine Dienststelleeingegliederter »Beschäftigter« Träger des Mitbestimmungsgrundrechtsist und dem Schutz des Personalvertretungsrechts unterfällt.Dagegen wurden die von der Ast. angegriffenen Vorschriften, die beider Novellierung des ThürPersVG im Jahr 2001 geändert oder neueingefügt worden waren, für mit Art. 37 Abs. 3 Thür. Verf. vereinbarerklärt. Durch diese Vorschriften ist u.a. die Zahl der Mitglieder desPersonalrats in Dienststellen mit mehr als 3.000 Beschäftigten auf 15,die Mindestzahl der Vertreter der einzelnen Beschäftigtengruppen imPersonalrat auf höchstens 4 und die Zahl der Mitglieder der Bezirks-und Hauptpersonalräte auf höchstens 13 verringert worden. Weiterwurden die vereinfachte Beteiligungsform der »Mitwirkung« desPersonalrats eingeführt und einzelne Beteiligungstatbestände denverschiedenen Beteiligungsformen (volle und eingeschränkte Mit-bestimmung und Mitwirkung) neu zugeordnet.

(aus: Pressemitteilung des VerfGH Thüringen v. 20.4.2004)

OLG Dresden: Ehem. Kolping-Geschäftsführer muss nicht zahlen

Der Kl. ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der gemeinnützigenKolping-Sachsen-Dienstleistungs-GmbH (KSD), einer Tochter desKolping-Bildungswerkes e.V. Er machte gegenüber dem bekl. ehem.Geschäftsführer Schadensersatzansprüche wegen einer Vertrags-strafenverpflichtung i.H.v. rd. 588.000 € geltend, die der Bekl. durchVerstöße gegen einen Vertrag mit der Treuhand verursacht haben soll. Die KSD hatte 1994 von der Treuhandanstalt das stark sanierungs-bedürftige Schlossgrundstück Schweinsburg für 460.000 DM miteinem »Verbilligungsabschlag« von 1.840.000 DM erworben. Bedin-gung war, dass eine Einrichtung des Kolpingwerkes das Schloss alsSchulungs- und Ausbildungsstätte insbes. für Jugendliche einschl.Unterbringungsmöglichkeiten betreibt. In der Folge nahm die KSDSanierungsarbeiten für ca. 27 Mio. DM vor und errichtete im Schlossein »Management- und Kulturzentrum«. Ende 2000 wurde über dasVermögen der KSD das Insolvenzverfahren eröffnet. Im März 2001 meldete der Bund eine Rückforderung betr. den gewähr-ten Kaufpreisabschlag sowie eine Vertragsstrafe i.H.v. 1.150.000 DMbeim Insolvenzverwalter an mit der Begründung, die Zweckverein-barung aus dem Kaufvertrag sei nicht eingehalten worden. Der Kl.erkannte die Forderungen an und verlangte nun vom Bekl. als dama-ligem Geschäftsführer Schadensersatz unter dem Gesichtspunkt derUntreue (§ 823 Abs. 2 BGB iVm § 266 Abs. 1 StGB) bzw. des Verstoßesgegen seine Geschäftsführerpflichten aus § 43 Abs. 2 GmbHG. Mit Urt. v. 15.4.2004 (7 U 1244/03) hat das OLG im Ergebnis die Ent-scheidung des LG bestätigt, das die Schadensersatzklage abgewiesenhat. Wesentlich für den Senat war, dass der bekl. Geschäftsführer zwar– entgegen dem LG – seine Pflichten gegenüber der KSD verletzt hat,als er das Schlossgrundstück verbilligt erwarb, obwohl seine Nut-zungskonzeption mit der Nutzung als Schulungs- und Ausbildungs-stätte insbes. für Jugendliche nicht zu vereinbaren war. Der Senat hataber einen Schaden auf Seiten der KSD verneint, da der Bundesrepu-blik (BvS) gegen die KSD kein Vertragsstrafenanspruch zusteht. DieBvS hat durch die Prospekte und den Finanzierungsplan der KSD dieNutzungskonzeption gekannt und trotzdem die Bebauung ermöglicht.

(aus: Pressemitteilung des OLG Dresden Nr. 19/04 v. 15.4.2004)

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Norbert Schneider/Peter MockDas neue Gebührenrecht für AnwälteAbrechnen nach dem neuen RVGDeutscher Anwaltverlag, Bonn 2004400 S., brosch., 38,– €. ISBN 3-8240-0678-2Das Praxisbuch vermittelt die neue Systematik des Gebührenrechts undzeigt auf, wie sich Änderungen gegenüber der BRAGO ergeben und wodie Chancen und Risiken des neuen Rechts liegen. Anhand von Beispie-len werden die Berechnungsmethoden und die sich hieraus ergeben-den prozessualen Konsequenzen erläutert. Mit der Synopse BRAGO/RVG ist ersichtlich, welche Regelungen im RVG fortgelten.

Amelie HagedornGleiche Maßstäbe für Ost und West?Die Staaten Ost- und Mitteleuropas vor dem EGMR unter besonderer Berücksichtigung des Art. 5 EMRKVerlag Peter Lang, Frankfurt/M. 2004294 S., brosch., 51,50 €. ISBN 3-631-51812-9Gegenstand der Dissertation ist die Frage, ob der EGMR den von ihmin knapp 40-jähriger Rechtsprechung entwickelten Grundsätzenhinsichtlich der Garantien der EMRK auch bei der Beurteilung derBeschwerden aus Ost- bzw. Mitteleuropa folgt. Anhand der Judikaturzu Art. 5 EMRK gelangt die Autorin zu dem Ergebnis, dass der EGMRden neuen Vertragsstaaten, in denen der Aufbau der Demokratie nochnicht abgeschlossen ist, keine Zugeständnisse macht.

Hans D. Jarass/Bodo PierothGrundgesetzKommentarVerlag C. H. Beck, 7. Aufl., München 20041.443 S., in Leinen, 42,– €. ISBN 3-406-51428-6Die 7. Auflage präsentiert die ausgewertete Rechtsprechung des BVerfGund – soweit sie Bezüge zum Verfassungsrecht aufweisen – auch Ent-scheidungen der obersten Bundesgerichte bis Sept. 2003. Durch denstringenten Aufbau der Kommentierung, der sich bspw. bei den Grund-rechten an der Prüfungsreihenfolge einer Falllösung orientiert, ist derBand besonders auch für die Prüfungsvorbereitung von Studenten undReferendaren geeignet.

Jürgen Herrlein/Ronald Kandelhard (Hrsg.)MietrechtKommentarZAP Verlag für die Rechts- und Anwaltspraxis, 2. überarb. u. wesentlicherw. Aufl., Recklinghausen 20041.072 S., geb., 75,– €. ISBN 3-89655-145-9Konzipiert als fundierte Kommentierung mit sofort umsetzbaren Praxis-hilfen liefert der Band den roten Faden durch das Mietrecht. Neben dergängigen Kommentierung aller Vorschriften unter Berücksichtigungder jüngsten obergerichtlichen Rechtsprechung werden Hinweise fürden Mietprozess, die Zwangsvollstreckung und zu Kosten und Gebüh-ren sowie Formulierungshilfen und steuerliche Ratschläge gegeben.

Jürgen DamrauErbrechtHandkommentarNomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 20041.800 S., geb., 88,– €. ISBN 3-8329-0544-8Der Band bietet eine Kombination aus wissenschaftlicher Kommen-tierung und Praxisbezug. Anhand der Rechtsprechung der OLG unddes BGH werden die bedeutsamen materiell-rechtlichen und prozes-sualen Problemstellungen bis zu gebührenrechtlichen Fragen erläutert.Für die Bearbeitung des erbrechtlichen Mandats sind taktische Hin-weise für den Erbprozess, Praxistipps für die gesamte Nachlassabwick-lung und Berechnungsbeispiele enthalten.

Walter ZimmermannErbschein und ErbscheinsverfahrenFür die gerichtliche, anwaltliche und notarielle PraxisErich Schmidt Verlag, Berlin 2004440 S., kart., 58,– €. ISBN 3-503-07839-8Der Band stellt das materielle Erbscheinsrecht des BGB und das Ver-fahrensrecht des FGG praxisnah dar. Besonderes Gewicht wird dabei

VI Neue Justiz 6/2004

BuchumschauVG Berlin: Uneingeschränkte Umzugswilligkeit des Beamten als Voraussetzung für Gewährung von Trennungsgeld

Beamte, die an einen anderen Dienstort versetzt werden und denen ihrDienstherr deshalb zugesagt hat, die Kosten eines Umzugs an denneuen Dienstort zu übernehmen, haben nur dann Anspruch auf dieGewährung von Trennungsgeld, wenn sie uneingeschränkt umzugs-willig sind. Uneingeschränkte Umzugswilligkeit liegt nach der Tren-nungsgeldVO vor, wenn sich der Berechtigte unter Ausschöpfung allerMöglichkeiten nachweislich und fortwährend um eine angemesseneWohnung bemüht. Eine bloße Unsicherheit über die Dauer desVerbleibens an dem neuen Dienstort ist weder für die Dienststellenoch für den Trennungsgeldempfänger Grund, um auf den unein-geschränkten Umzugswillen zu verzichten. Dies entschied das VG Berlin mit Urt. v. 30.3.2004 (26 A 228/01), mitdem die Klage eines Bundesgrenzschutzbeamten auf Gewährung vonTrennungsgeld mangels uneingeschränkter Umzugswilligkeit des Kl.abgewiesen wurde.Der Kl. hatte sich zwar in eine bei seiner Dienststelle geführte Liste derWohnungsbewerber eingetragen, jedoch vorgetragen, ein Umzug anden neuen Dienstort komme für ihn nicht Betracht, da von ihm eine– befristete – Abordnung an das Auswärtige Amt in nächster Zeit erwar-tet werde. Schon daraus ergibt sich ohne weiteres, so das VG, dass demKl. der notwendige uneingeschränkte Umzugswille fehlt. Dement-sprechend habe er sich auch nicht ausreichend um neuen Wohnraumbemüht. Ob der Beamte uneingeschränkt umzugswillig ist oder ob erz.B. seine Bereitschaft zum Wohnungswechsel an Bedingungenknüpft, ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung seinesVerhaltens und seiner Erklärungen zu beurteilen. Will der Beamteseinen Trennungsgeldanspruch nicht verlieren, muss er nach derst.Rspr. der VG selbst alle Möglichkeiten ausschöpfen, um frühzeitigin den Besitz einer Wohnung am neuen Dienstort oder dessen Ein-zugsgebiet zu kommen. Das fortwährende Bemühen um eine Woh-nung hat ein Beamter im Einzelnen durch Vorlage von Belegen, Inse-raten, persönlichem Schriftverkehr, Vermerken über fernmündlicheKontakte und anderes nachzuweisen. Die Hoffnung des Kl. auf einenAuslandseinsatz beim Auswärtigen Amt rechtfertigt es nicht, imvorliegenden Fall auf die Forderung nach einem uneingeschränktenUmzugswillen ausnahmsweise zu verzichten.

(aus: Pressemitteilung des VG Berlin Nr. 17/04 v. 28.4.2004)

SG Berlin: Rentenkürzung für MfS-Mitarbeiter verfassungswidrig

Die Berechnung der Renten von hauptamtlichen MfS-Mitarbeiternentsprechend dem allgemeinen Durchschnittsverdienst in der DDR istteilweise nicht mit dem GG vereinbar. Diese Auffassung vertritt die18. Kammer des SG Berlin im Beschl. v. 26.4.2004 (S 18 RA 7460/01)und hat die Frage dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt. DerVorlagebeschluss betrifft einen promovierten Ökonom, der zunächstin leitender Stellung in der Industrie als Offizier im besonderen Ein-satz und später hauptamtlich für das MfS tätig war. Für den Kl., der zzt.eine monatl. Rente i.H.v. 1.320 € erhält, geht es um eine Renten-erhöhung von ca. 320 € pro Monat. Die derzeitige Regelung in § 7 Abs. 1 AAÜG ist, so die Kammer, grund-gesetzwidrig, weil sie nicht nach der Qualifikation der Betroffenenunterscheidet. Dies hat zur Folge, dass höher qualifizierte ehem. Stasi-Mitarbeiter von den Kürzungen überproportional betroffen sind. Inallen Wirtschaftsbereichen der DDR sind höher qualifizierte Beschäf-tigte jedoch auch überdurchschnittlich vergütet worden. Eine Absen-kung der bei der Rentenberechnung berücksichtigten Arbeitsentgelteunter den Durchschnitt der entsprechenden Qualifikationsgruppe istdeshalb nicht mehr von dem legitimen Regelungszweck der Vorschrif-ten gedeckt, aufgrund der MfS-Tätigkeit überhöhte Entgelte zu kappen. Zu dieser Frage sind beim BVerfG mehrere Verfassungsbeschwerdenvon Betroffenen anhängig, jedoch noch keine Vorlage eines Gerichts.

(aus: Pressemitteilung des SG Berlin v. 27.4.2004)

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VIINeue Justiz 6/2004

auf Kostenfragen gelegt. Die aktuelle Rechtsprechung ist eingearbeitet;enthalten sind zudem zahlreiche Muster für Anträge und Entschei-dungen sowie ein umfangreiches Stichwortverzeichnis.

Ingrid OlbrichtWege aus der Angst – Gewalt gegen FrauenUrsachen – Folgen – TherapieVerlag C. H. Beck, München 2004240 S., brosch., 17,90 €. ISBN 3-406-51759-5In Deutschland wird jede siebte Frau zwischen ihrem 20. und 59. Lebens-jahr mindestens einmal Opfer einer sexuellen Nötigung oder Verge-waltigung. Der von einer erfahrenen Therapeutin verfasste Band istausschließlich weiblichen Traumaopfern gewidmet. Die Autorin gibteinen Überblick über die seelischen und körperlichen Folgen sexuali-sierter Gewalt, beschreibt die Beziehung zwischen weiblichem Gewalt-opfer und Therapeutin und erläutert zentrale Elemente der psycho-und sozialtherapeutischen wie medizinischen Hilfe.

Wolfgang MeyerArbeitsrecht für die PraxisHandbuchNomos Verlagsgesellschaft, 10. Aufl., Baden-Baden 2004779 S., brosch., 49,– €. ISBN 3-8329-0247-3Das Handbuch bietet in seiner Neuauflage eine ausführliche undkompetente Darstellung des Arbeitsrechts einschließlich der Neurege-lungen durch die Novellierung des KSchG. Zahlreiche Muster zu Ver-tragsgestaltung und Antragsformulierungen im Arbeitsgerichtsprozessmachen den Band zu einem wertvollen Arbeitsmittel für die anwalt-liche Tätigkeit.

Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker (Hrsg.)Stufen zum GalgenLebenswege vor den Nürnberger UrteilenMilitzke Verlag, Leipzig 2004480 S., brosch., 12,90 €. ISBN 3-86189-614-1Das Buch handelt von jenen zivilen und militärischen Führern desNS-Regimes, die von dem Internationalen Militärtribunal zum Todeverurteilt worden waren. Das Interesse der sechs Autoren richtet sichauf den besonderen Anteil, den sie am Aufkommen des Faschismus inDeutschland und daran besaßen, dass Millionen Menschen kaltblütigermordet wurden. Auf diese Weise werden verdrängte, manchmal auchnoch nicht bekannte Tatsachen in das öffentliche Gedächtnis gerufenund verdeckte Bezüge in ein klares Licht gerückt.

Ingo WirthTodesstrafenEine geschichtliche SpurensucheMilitzke Verlag, Leipzig 2004192 S., brosch., 7,90 €. ISBN 3-86189-610-9Das richterlich verfügte Töten gemäß Strafgesetz, religiösem Gebotoder Sippenkodex ist ein Phänomen der menschlichen Zivilisation.Der Gerichtsmediziner beschreibt in seinem Buch, welche Problemezu lösen sind, wenn das Todesurteil gefällt ist, welcher Techniken sichdie Henker bedienen, was körperlich mit den Delinquenten geschiehtund was sich hinter der nüchternen Nachricht von einer Exekutionverbirgt.

Weitere Neuerscheinungen:

Polizei- und OrdnungsrechtVon Wolf-Rüdiger Schenke. C. F. Müller Verlag, 3., neu bearb. Aufl.,Heidelberg 2004. 416 S., kart., 22,– €. ISBN 3-8114-9022-2.

Das Werberecht der rechts- und steuerberatenden BerufeVon Michael Kleine-Cosack. Verlag C. H. Beck, 2. Aufl., München2004. 340 S., kart., 42,– €. ISBN 3-406-51295-X.

Das neue KrankenversicherungsrechtHrsg. von Jürgen Kruse und Andreas Hänlein. Nomos Verlagsgesell-schaft, Baden-Baden 2004. 180 S., brosch., 24,– €. ISBN 3-8329-0479-4.

(ausführliche Rezensionen bleiben vorbehalten)

Der 13. Deutsche EDV-Gerichtstag findet vom 15. bis 17. September2004 in Saarbrücken statt und steht unter dem Rahmenthema

»Justiz im Gespräch – Gerichte als Kommunikationszentren«.In den Arbeitskreisen werden u.a. folgende Themen behandelt:• Portale der Justiz• Standards der e-mail-Kommunikation• Erfahrungen mit der Spracherkennung• Stand der IT-Entwicklungen in der Justiz• Das europäische Netzwerk• Konkrete Auswirkungen elektronisch unterstützter Arbeitsweisen in

Anwaltskanzleien• Datensicherheit in Kanzleien und mittelständischen Unternehmen• Sicherheitsfragen rund um die Bankkarten• Die virtuelle Fachbibliothek RechtAnmeldung und weitere Informationen: Deutscher EDV-Gerichtstag e.V.,Lehrstuhl Prof. Dr. Rüßmann, Universität Saarbrücken, Im Stadtwald,Bau 31, 66123 Saarbrücken. Tel.: (0681) 3023150, Fax: (0681) 3024012,E-Mail: [email protected]; Internet: www.edvgt.de

*Das Kommunale Bildungswerk e.V. führt im Juni 2004 in Berlin folgen-des Spezialseminar durch:

»Schuldrechtsanpassung adé, jetzt gilt das BGB!Vertragsgestaltung von Pacht- und Garagenverträgen nach dem BGB«

Schwerpunkte sind:• Beendigung der Verträge aus der DDR und ihre Folgen; Risiken der

Vertragsbeendigung• Entschädigung oder Wertersatz für Datschen, Lauben, Garagen usw.• Garagen- und Datschenverkauf durch Nutzer; Abfindungsverträge• Risiken der Bodennutzung durch Pächter/MieterTermin: 28.-29. Juni 2004Dozent: Rechtsanwalt Uwe AderholdSeminargebühr: 155 Weitere Informationen: Kommunales Bildungswerk e.V., Gürtelstr. 29 a/30,10247 Berlin. Tel.: (030) 293350-0, Fax: (030) 293350-39; E-Mail:[email protected]; Internet: www.kbw.de

*Die Deutsche Richterakademie führt im III. Quartal 2004 u.a. folgendeTagungen durch:Tagungsstätte Trier:• 5.7.-10.7. Internationale Zusammenarbeit in strafrechtlichen

AngelegenheitenFrauen und Männer in der Justiz

• 12.7.-17.7. Verhandeln – Fragen – VergleichenArbeitsrecht im Umbruch

• 25.8.-4.9. Recht, Gewalt, AggressionEinführung in das Steuerrecht

• 6.9.-9.9. Moderne Führung IV – Lern- und Beratungsprojekt»Change Management« 2. PräsenzphaseAktuelle Probleme aus dem Straßen- und Straßen-planungsrecht

• 12.9.-18.9. Europa und ZivilrechtWirtschaftskriminalität

• 20.9.-25.9. Der amtsrichterliche EildienstDer Verwaltungsprozess in Europa – Bestandsauf-nahme und Möglichkeiten einer Annäherung

• 27.9.-2.10. Aktuelle Fragen des Asyl- und AusländerrechtsTagungsstätte Wustrau:• 11.8.-21.8. Aktuelle Entwicklungen in Kriminalität und Straf-

rechtspflegeDeutsche Justizgeschichte ab 1945

• 23.8.-28.8 Schnittstelle zwischen Arbeits- und Sozialrecht amBeispiel des SGB III

• 29.8.-4.9. Einführung in das WirtschaftsstrafrechtStrafvollstreckung und Strafvollzug

• 12.9.-18.9. Zwischen Recht und Unrecht – Leben und Wirkendeutscher Juristen

• 8.9.-18.9. Effektive Führung einer Hauptverhandlung undKommunikationsanalyse für Strafjuristen

• 20.9.-25.9. Der MENSCH in der RobeDie erfolgreiche Gestaltung von Mitarbeitergesprä-chen und Dienstbesprechungen

• 27.9.-1.10. ZPO-Reform – Auswertung durch die PraxisWeitere Informationen: www.deutsche-richterakademie.de

Veranstaltungstermine

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Chefredakteurin:Rechtsanwältin Adelhaid BrandtAnschrift der Redaktion:Französische Straße 13 • 10117 Berlin • Tel. (030) 2232840 • Fax (030) 22328433

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

Neue Justiz 6/2004

In einem Aufsatz über das Qualitätsmanagement in der Justiz setzensich Hochschild/Schulte-Kellinghaus mit der Bedeutung des Faktors»Zeit« auseinander (DRiZ 2003, 413 ff., 417). Sie gelangen zu demErgebnis, dass eine geringere Erledigungszahl bei gleicher Arbeitszeitals nahe liegendes Indiz für eine größere Qualität der Arbeit angesehenwerden sollte. Richter mit hohen Erledigungszahlen sollten sich an derArbeitsweise von Kollegen mit geringeren Erledigungszahlen orientieren,um zu überprüfen, wie sie die Qualität ihrer eigenen Arbeit verbessernkönnen. Ob dies insbesondere die Verfahrensbeteiligten überzeugenkann, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen.

I. Zielkonflikt zwischen schneller Erledigung und der richterlichen Arbeit

Es kann nicht bestritten werden, dass ein Zielkonflikt zwischenBegründungstiefe und Erledigungszahl besteht. Wer weniger Fällebearbeitet oder zu bearbeiten hat, kann in dem einzelnen Fallgründlicher und vertiefter arbeiten.1 Daraus abzuleiten, dass hoheErledigungszahlen für eine mangelnde Qualität der richterlichenArbeit sprechen, erscheint jedoch zumindest vordergründigproblematisch, weil so das Interesse der jeweiligen Verfahrens-beteiligten an einer möglichst schnellen gerichtlichen Klärungihrer dem Gericht offerierten Rechtsfrage insgesamt negiert wird.Dies wäre wiederum nur dann gerechtfertigt, wenn die durcheinen größeren Zeitaufwand erreichte höhere Überlegungs- undBegründungstiefe als absoluter Bewertungsmaßstab richterlicherEntscheidungen angelegt werden und die Dauer des Verfahrensunbeachtlich bleiben kann.

II. Gesetzliche Regelungen über die Verfahrensdauer

Gesetzliche Vorgaben über die Dauer von Verfahren habenregelmäßig Verfassungsrang (Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 78 Abs. 3Sächs. Verf.; Art. 52 Abs. 4 Verf. Bbg.) oder beruhen auf demVölkervertragsrecht (Art. 6 Abs. 1 EMRK). EinfachgesetzlicheRegelungen sind etwa in §§ 272, 273, 278, 349, 514 ZPO oderin § 87 VwGO enthalten. Eine Richtschnur für Eilverfahrenenthält § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG. Danach soll eine Entscheidungüber Eilanträge gegen die sofortige Vollziehung als offenkundigunbegründet abgelehnter Asylanträge binnen einer Wocheergehen.2

Diese gesetzlichen Vorgaben reichen jedoch nicht aus, umkonkret zu bestimmen, welche Verfahrensdauer im Hinblick aufdie angestrebte Qualität des gerichtlichen Rechtsschutzes ange-messen ist.

III. Die Verfahrensdauer in der Rechtsprechung des EGMRund der Verfassungsgerichte

Die Dauer von Verfahren ist inzwischen vielfach Gegenstand vonEntscheidungen mit dem Grund- und Menschenrechtsschutzbefasster Gerichte gewesen.

Wie lange darf effektiver Rechtsschutz dauern?RiLG Dr. Bernhard Klose, Chemnitz

6 0458. Jahrgang • Seiten 241-288

1 Müller-Christmann, Zivilgerichtsbarkeit – Oberlandesgericht, in: Müller-Graff/Roth (Hrsg.), Die Praxis des Richterberufes, 2000, S. 16 f.

2 Eine Verlängerung der Wochenfrist durch die Kammer ist zulässig. WeitereFristverlängerungen können nur erfolgen, wenn eine außergewöhnlicheBelastung des Gerichts eine frühere Entscheidung nicht möglich macht(§ 36 Abs. 3 Satz 7 AsylVfG).

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Neue Justiz 6/2004242

1. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Im Hinblick auf den das Zivil- und Strafverfahren behandelndenArt. 6 Abs. 1 EMRK,3 der eine Entscheidung in einer angemesse-nen Frist vorschreibt, bemisst der EGMR die nicht konventions-widrige Verfahrensdauer anhand einer Einzelfallbewertung desjeweiligen Verfahrens. Maßgeblich sind dafür vor allem diebesonderen Schwierigkeiten des Verfahrens, das Verhalten desBeschwerdeführers und der Behörde sowie die Bedeutung derSache für den Betroffenen.4 Wenn das Gericht das Verfahren nichtbetreibt, etwa eine längere Periode der Untätigkeit zu verzeichnenist, geht das zu Lasten des Staates.5

Auch beim Gericht länger bestehende Rückstände können denStaat nicht entlasten, denn er muss seine Rechtsprechung soeinrichten, dass die Gerichte den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1EMRK entsprechend eine Entscheidung in angemessener Fristtreffen können.6 Die chronische Überlastung eines Gerichts kanneine überlange Verfahrensdauer nicht rechtfertigen.7 Bei einerVerletzung des Beschleunigungsgebots muss dem Betroffenengem. Art. 13 EMRK eine innerstaatliche effektive Beschwerde-möglichkeit zur Seite stehen.8

2. Bundesverfassungsgericht

Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG 9 ist das Recht auf eineVerfahrensdurchführung in angemessener Zeit vom Schutz desGrundgesetzes erfasst. Die Grundsätze der freiheitlich-rechts-staatlichen Ordnung allgemein und der besondere Schutzzweckdes Art. 19 Abs. 4 GG gebieten es danach, dass durch gerichtlicheVerfahren binnen einer angemessenen Zeit Rechtssicherheitherbeigeführt wird,10 wobei letztere Vorgabe jedoch nur ansatz-weise zeitlich eingegrenzt wird. Jeder Bürger habe einen Anspruchauf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes, wozu auch einRechtsschutz in einer angemessenen Zeit gehöre.11 Diesem seijedenfalls dann nicht genügt, wenn es durch die Untätigkeit desGerichts zu einer (faktischen) Vorentscheidung gekommen sei.12

Die Angemessenheit der Zeit soll aber nicht absolut, sondern nuranhand der besonderen Umstände des einzelnen Falles bestimmtwerden können.13 Hierbei stellt das BVerfG auch auf die »Üblich-keit« der Verfahrensdauer ab, sofern der Betroffene keine recht-lich relevanten Gesichtspunkte dargelegt hat, die die Hinnahmeder üblichen Verfahrensdauer als unzumutbar erscheinen lassen.14

Die Entscheidung über die Frage, wann in einem Verfahren einVerhandlungstermin bestimmt werde, obliege in erster Linie demmit der Sache befassten Gericht, allerdings im Rahmen des ihmdurch die Prozessordnung eingeräumten Ermessens. Wenn derArbeitsanfall die alsbaldige Terminierung und Entscheidungsämtlicher zur Entscheidung anstehenden Fälle nicht zulasse,müsse das Gericht eine zeitliche Abfolge festlegen, wobei es denAnspruch des Bürgers aus Art. 19 Abs. 4 GG auf einen effektivenRechtsschutz nicht außer Acht lassen dürfe.15 Einzelfallbezogenkann das Gericht auch dazu verpflichtet sein, besondere Maß-nahmen zur Verfahrenbeschleunigung zu nutzen.16

3. Landesverfassungsgerichte

In jüngster Zeit haben sich auch die Verfassungsgerichte vor allemder neuen Länder, deren Verfassungen teilweise ein ausdrück-liches Recht der Bürger auf ein zügiges Gerichtsverfahren enthal-ten,17 mit dem Recht der Bürger auf ein in einer angemessenenZeit abgewickeltes gerichtliches Verfahren auseinandergesetzt.So sah das VerfG Brandenburg eine Dauer von drei Jahren und fünfMonaten, in denen ein Verfahren nicht gefördert wurde, als zulang an.18

Nur kurz danach entschied der Sächsische VerfGH zu einerAnfechtungsklage des Bundesbeauftragten für Asylangelegen-heiten, dass eine Verfahrensdauer von zwei Jahren und fünfMonaten ohne eine verfahrensleitende Verfügung mit dem durchArt. 78 Abs. 3 Sächs. Verf. gewährten Recht auf ein zügigesVerfahren nicht vereinbar sei. Mit der zunehmenden Dauer desVerfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichte sichdie Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um die Beschleunigungdes Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen.19

IV. Einfachrechtliche Konsequenzen einer zögerlichenVerfahrensbearbeitung

Neben diese verfassungsrechtlichen Erwägungen, die einer zöger-lichen Verfahrensbearbeitung entgegenstehen, muss auch dieFrage treten, welche einfachrechtlichen Konsequenzen Verstößegegen das Beschleunigungsgebot haben. Diese können sichsowohl aus dem Gebiet des Zivil- als auch des Strafrechts ergeben.

1. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

Als denkbarer Ansatzpunkt einer strafrechtlichen Verantwortungder Richter kommt eine Rechtsbeugung iSv § 339 StGB20 inBetracht, wenn in der zögerlichen Verfahrensbehandlung einelementarer Verstoß gegen die Rechtspflege zu sehen ist, durchden sich der Richter bewusst und in schwerer Weise von Rechtund Gesetz entfernt hat.21 Der BGH geht bei der Frage, ob in derverzögerten Bearbeitung einer Rechtssache ein erheblicher Rechts-bruch vorliegen kann, zunächst davon aus, dass es der Richtergrundsätzlich selbst zu entscheiden hat, welchen Dienstgeschäf-ten er den Vorrang einräumt, welche Mittel er im Einzelfall für dieFörderung der Rechtssache als angemessen erachtet und welcheGründlichkeit er der Sachbehandlung widmet. Jedoch soll dierichterliche Unabhängigkeit strafrechtlich relevante Verstößegegen das Beschleunigungsgebot insbesondere dann nicht aus-

Aufsätze Klose , Wie lange dar f e f fekt iver Rechtsschutz dauern?

3 Zu dem über den Wortlaut hinausgehenden Anwendungsbereich: Meyer-Ladewig, Handkomm. EMRK, 2003, Art. 6 Rz 4-15.

4 EGMR, Urt. v. 26.10.2000, NJW 2001, 2694 (2967); Urt. v. 27.7.2000, NJW2001, 211 (213).

5 Meyer-Ladewig (Fn 3), Art. 6 Rz 79.6 EGMR, Urt. v. 25.2.2000, NJW 2001, 211 (213). 7 EGMR, Urt. v. 1.7.1997, NJW 1997, 2809 (2810). Dazu: Lansnicker/Schwirt-

zek, NJW 2001, 1971.8 EGMR, Urt. v. 26.10.2000, NJW 2001, 2694, 2700; darauf gestützt für die

Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde im deutschen Recht: Redeker,NJW 2003, 488 f.; ablehnend für das Strafverfahren: Gimbel, ZRP 2004, 35 ff.

9 Dazu: Lansnicker/Schwirtzek (Fn 7), S. 1970.10 BVerfGE 60, 253, 269; 93, 1, 13.11 BVerfG, Beschl. v. 17.11.1999, NJW 2000, 797 (797); Beschl. v. 6.5.1997,

NJW 1997, 2811 (2812).12 BVerfG, Beschl. v. 6.5.1997, ebenda; Beschl. v. 25.11.2003, NJW 2004, 835

(836).13 BVerfGE 55, 349, 369.14 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2003, 1 BvR 1345/03 (n.v.).15 BVerfGE 55, 349, 369. Die sich daran anschließende Frage, nach welchen

Kriterien die zu erledigenden oder genauer: die zurückzustellenden Verfah-ren ausgewählt werden sollen, wird auch von Hochschild/Schulte-Kelling-haus, DRiZ 2003, 418 Fn 28, bewusst offen gelassen.

16 BVerfG, Beschl. v. 20.7.2000, NJW 2001, 214 (215).17 Art. 78 Abs. 3 Satz 1 Sächs. Verf. z.B. lautet: »Jede Person hat Anspruch auf

ein gerechtes, zügiges und öffentliches Verfahren und das Recht auf Ver-teidigung.«

18 VerfG Bbg., Beschl. v. 20.3.2003, NJ 2003, 418 (419). Das VerfG hattebereits zuvor entschieden, dass im Land Brandenburg einer Überlastung derGerichte keine ausschlaggebende Bedeutung mehr zukommen soll: Beschl.v. 28.3.2001, NJ 2001, 364 (365).

19 SächsVerfGH, Beschl. v. 24.4.2003, Vf 4-IV-03, BDVR-RS 2003, 90 (91).20 Der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung kann auch durch eine Verlet-

zung des Verfahrensrechts begründet werden: Kindhäuser, StGB, 2002,§ 339 Rz 6.

21 BGH, Urt. v. 5.12.1996, NJW 1997, 1452 (1452); zur Kritik der »einengen-den« Auslegung des Rechtsbeugungstatbestands: Spendel, NJW 1996, 809 ff.

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243Neue Justiz 6/2004

schließen, wenn gesetzliche Vorgaben oder die besonderenUmstände des Falles ein richterliches Einschreiten gebieten.22

Ein derartiger Verstoß kann insbesondere dann vorliegen, wennauch Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht beschleu-nigt bearbeitet, sondern ohne zwingenden Grund trotz Entschei-dungsreife zu einer späteren Bearbeitung zurückgelegt werden.Der einstweilige Rechtsschutz dient der Gewährleistung der staat-lichen Rechtsschutzgarantie. Ziel der Eilentscheidung ist es, eineanstehende Hauptsacheentscheidung vor ihrer Entwertung durchden Zeitablauf zu schützen.23 Dies ist um so wichtiger, je wenigerder Hauptsacherechtsschutz geeignet ist, einen umfassendenRechtsschutz zu gewährleisten.24

Gerade bei Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist alsoein besonderes Eilbedürfnis gegeben. Jedenfalls hier ist es unzu-lässig, die Verfahren, und sei es auch nur zur gründlicherenDurchdringung der Rechtsfrage, länger unerledigt zu lassen, alsdies unbedingt erforderlich ist. Der Eilrechtsschutz als Ausflussder verfassungsrechtlich geschützten Rechtsschutzgarantie kannseine Funktion, den Betroffenen vor einer Verletzung seiner imHauptsacheprozess nicht mehr hinreichend zu schützendenRechte zu bewahren,25 nur dann erfüllen, wenn die begehrteEilentscheidung rechtzeitig ergeht.

2. Zivilrechtliche Haftung

Neben möglichen strafrechtlichen Sanktionen besteht bei einerpflichtwidrig zögerlichen Verfahrensbehandlung auch die Mög-lichkeit einer zivilrechtlichen Haftung.26 Im Zivilprozess wird eineplanmäßige, durch unrichtige Einwirkung erreichte Prozess-verzögerung einer Partei als möglicher Ansatzpunkt für eine Haf-tung wegen sittenwidriger Schädigung iSv § 826 BGB gesehen.27

Bei pflichtwidrigem Handeln von Richtern kommt im Hinblickauf Art. 34 GG zunächst vor allem der Amtshaftungsanspruch aus§ 839 BGB in Betracht. Anknüpfungspunkt für die Amtspflicht-verletzung ist die zur überlangen Verfahrensdauer führendePflichtwidrigkeit. Auch hier sind die Maßstäbe anzulegen, diebereits die strafrechtliche Verantwortung prägen. Der Richter hatauch zivilrechtlich die Pflicht zu einem formell- und materiell-rechtlich rechtmäßigen Verhalten. Die Verletzung einer Amts-pflicht kann auch in dem Unterlassen einer gebotenen Handlungbestehen.28 Dementsprechend muss der Richter bestrebt sein, denBeteiligten den von ihnen begehrten Rechtsschutz im Rahmender jeweiligen Prozessordnung zu gewähren. Betreibt er das Ver-fahren etwa in zeitlicher Hinsicht nicht ordnungsgemäß, kommtalso eine Amtspflichtverletzung in Betracht.

Liegt der Tatbestand des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB vor, stellt sichgrundsätzlich die weitere Frage, ob dem Ersatzanspruch das nachdem Gesetzeswortlaut nur für Urteile in einer Rechtssache geltendeSpruchrichterprivileg des § 839 Abs. 2 BGB entgegensteht. Urteilim Sinne dieser Vorschrift sind jedoch nicht nur Urteile im enge-ren Sinne, sondern auch in Beschlussform ergehende Entschei-dungen, die urteilsvertretende Erkenntnisse darstellen.29 Maßgeb-lich ist, ob das der Entscheidung zugrunde liegende Verfahren einErkenntnisverfahren ist, das sich nach bestimmten prozessualenRegeln richtet und im Wesentlichen darauf abzielt, einen kon-kreten Fall nach materiellen Rechtsnormen zu beurteilen.30

Eine urteilsvertretende Entscheidung ist danach anzunehmen,wenn nach Sinn und Zweck der Regelung eine jederzeitige Befas-sung des Gerichts mit der formell rechtskräftig entschiedenenSache so ausgeschlossen ist, dass sie nur nach den engen Voraus-setzungen der Wiederaufnahme vorgenommen werden kann.31

Allerdings gilt das Spruchrichterprivileg gem. § 839 Abs. 2 Satz 2BGB nicht, wenn eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzö-

gerung der Ausübung des Amtes gegeben ist. Genau dieses istjedoch der Fall, wenn das Verfahren durch das Gericht pflicht-widrig nicht betrieben worden ist.

Aber auch außerhalb des Spruchrichterprivilegs begründetnicht jeder Verfahrensverstoß eine Haftung. Auch hier ist nämlichdie richterliche Unabhängigkeit zu beachten, so dass es weiter dar-auf ankommt, ob die Entscheidung auf groben Verstößen bei derRechtsanwendung und Gesetzesauslegung beruht, dem Richteralso Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last liegt.32 Diese Vor-aussetzungen können bei einer zögerlichen Verfahrensbehand-lung jedenfalls dann erfüllt sein, wenn sich die Notwendigkeiteiner rechtzeitigen Entscheidung aufdrängt und diese nichtobjektiv ausgeschlossen ist. Jeder Amtsträger muss bei der Gesetzes-auslegung und Rechtsanwendung unter Zuhilfenahme der ihmzur Verfügung stehenden Hilfsmittel sorgfältig und gewissenhaftprüfen und danach aufgrund vernünftiger Überlegungen eineRechtsmeinung bilden.33 Hierzu gehört auch das pflichtgemäßeBemühen um eine rechtzeitige Entscheidung.

Eine neben der (regelmäßig problematischen) Darlegung desdurch die zögerliche Verfahrensbehandlung verursachten Scha-dens weitere erhebliche Hürde ist der in § 839 Abs. 3 BGB gere-gelte Ausschluss der Ersatzpflicht bei einem pflichtwidrigen Nicht-gebrauch der Möglichkeit, den Schaden durch ein Rechtsmittelabzuwenden.34 Anders als bei förmlichen Rechtsbehelfen35 kom-men bei einer Verfahrensverzögerung durch den Richter jedochregelmäßig alleine außerordentliche »Rechtsbehelfe« wie die Dienst-aufsichtsbeschwerde oder formlose Erinnerungen in Betracht.Diese einzulegen dürfte aber von dem Betroffenen allenfalls dannverlangt werden können, wenn mit ihnen außergewöhnliche, ausdem bisherigen Akteninhalt nicht hervorgehende Umstände vor-zubringen gewesen wären, die sein zwingendes Interesse an einerunverzüglichen Entscheidung aufgezeigt und das Gericht unab-weisbar zu einer zügigeren Sachbehandlung veranlasst hätten.

Die Regelung des § 839 Abs. 3 BGB beruht nämlich auf dem Gedan-ken, dass eine Ersatzpflicht des Staates nicht eintreten soll, wenn esder Betroffene vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Scha-den durch den Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden, also keinhinreichender Grund für die Nichteinlegung des Rechtsmittels besteht.Dies führt damit nur dann zu einem Ausschluss des Schadensersatz-

Klose , Wie lange dar f e f fekt iver Rechtsschutz dauern?

22 BGH, Urt. v. 4.9.2001, NJW 2001, 3275 (3276). Sofern eine zögerlicheBearbeitung noch im Rahmen des Vertretbaren liegt, kommt eine Straf-barkeit nur dann in Betracht, wenn der Richter mit seiner Verfahrensweiseaus sachfremden Erwägungen gezielt zum Nachteil einer Partei handelt:BGH, ebenda, S. 3277.

23 Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Jan. 2002, Vorb. § 80Rz 34. Mit § 80 Abs. 5 VwGO sollen etwa durch den sofortigen Vollzugdrohende irreperable Folgen ausgeschlossen werden; ebenda, § 80 Rz 12.

24 Ebenda, § 123 Rz 10. 25 BVerfGE 93, 1, 13 f.26 Lansnicker/Schwirtzek, NJW 2001, 1073 f. Die von den Autoren geäußer-

ten Bedenken, dass dahingehende Urteile nicht zu erwarten seien, weildann ja ein Gericht einem anderen ein nicht ordnungsgemäßes Verfahrenattestieren müsste, dürften angesichts der verfassungsgerichtlichen Rspr.nicht durchgreifen.

27 BGH, Urt. v. 11.11.2003, NJW 2004, 446 (447 f.).28 Palandt-Sprau, BGB, 63. Aufl., 2004, § 839 Rz 31. Auch Maßnahmen der

Staatsanwaltschaft werden in Amtshaftungsprozessen nicht auf ihre Rich-tigkeit, sondern nur darauf überprüft, ob sie bei voller Würdigung auch derBelange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege vertretbar sind: BGH,Urt. v. 23.10.2003, NJW 2003, 3693 (3694).

29 BGH, Urt. v. 19.2.1962, NJW 1962, 1500, 1500; Urt. v. 3.7.2003, NJ 2004,23 (bearb. v. Lühmann) = NJW 2003, 352.

30 BGH, Urt. v. 23.10.2003, NJW 2003, 3693 (3695).31 BGH, ebenda, S. 3696.32 BGH, Urt. v. 3.7.2003, NJW 2003 ,3052 (3053) = NJ 2004, 23; OLG Frank-

furt/M., Urt. v. 29.3.2001, NJW 2001, 3270, 3271. 33 BGH, Urt. v. 23.10.2003, NJW 2003, 3693 (3696).34 So muss etwa bei der Anordnung des Sofortvollzugs der Geschädigte neben

dem Widerspruch grundsätzlich auch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGOstellen: BGH, Urt. v. 19.9.1985, NJW 1986, 1107 (1108).

35 BGH, Urt. v. 20.2.2003, NJW 2003, 1308 (1312 f.). Zur Kritik: Wißmann,NJW 2003, 3455 ff.

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Neue Justiz 6/2004244

anspruchs, wenn das Rechtsmittel Erfolg gehabt hätte.36 Angesichtsder durch § 26 Abs. 2 DRiG eingeschränkten Eingriffsmöglichkeitender Dienstaufsicht bei Beschwerden gegen richterliche Verfahrens-anordnungen37 kann jedoch durch eine Dienstaufsichtsbeschwerdei.d.R. die Beschleunigung des Verfahrens nicht erreicht werden.

V. Richterliche Unabhängigkeit und Verfahrensdauer

Maßgebliches Korrektiv der zivil- und strafrechtlichen Verant-wortlichkeit für eine zögerliche Verfahrensbehandlung ist dierichterliche Unabhängigkeit.38 Diese ist durch Art. 97 GG, §§ 25,26 DRiG geschützt. Sie darf jedoch nicht als Standesprivilegder Richter verstanden werden, sondern dient ihrerseits der Erfül-lung der Justizgewährleistungspflicht durch den Rechtsstaat.39

Zunächst bedeutet die in Art. 97 GG normierte sachliche Unab-hängigkeit der Richter, dass diese an Weisungen nicht gebundenund nur dem Recht und Gesetz unterworfen sind. Aus der weitauszulegenden Weisungsfreiheit folgt, dass jeder vermeidbareEinfluss der Exekutive unterbleiben und der Richter in seinereigenverantwortlichen Arbeit, der Rechtsfindung, von äußerenZwängen so weit wie möglich frei sein muss.

Seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts gehört es zu denGrundfesten der richterlichen Unabhängigkeit, dass sich diesenicht nur auf die Rechtsprechung im engeren Sinne, also dieendgültige Sachentscheidung, sondern auch auf die gesamte dieEntscheidung vorbereitende sowie die ihr nachfolgende richter-liche Tätigkeit, insbesondere auch die Prozessleitung, bezieht.40

Jegliche den Inhalt einer Entscheidung betreffende Maßnahmeder Dienstaufsicht ist unzulässig, wenn sie über den Bereich deräußeren Ordnung hinausgreift, sofern die Dienstausübung nichtoffensichtlich fehlerhaft ist.41 Daraus folgt, dass grundsätzlichsowohl eine zu frühe, als auch eine zu späte Terminierung von derrichterlichen Unabhängigkeit gedeckt ist.42 Erst wenn ein Richterdie Terminierung insgesamt verweigert, ist eine mit der Dienstauf-sichtsbeschwerde angreifbare Rechtsverweigerung gegeben.43

Dies schließt jedoch eine Verletzung von Dienstpflichten durcheine zögerliche Verfahrensbehandlung nicht aus.

Bereits in dem Gesetzentwurf für ein deutsches Richtergesetzv. 9.7.1958 war in dem die Dienstaufsicht regelnden § 22 Abs. 2vorgesehen, dass die Dienstaufsicht auch die Befugnis haben sollte,zu einer ordnungsgemäßen unverzögerten Erledigung zu ermahnen.In der Begründung des Entwurfs wurde angeführt, dass die Ermahnungzu einer beschleunigten Bearbeitung und Entscheidung mit der Unab-hängigkeit eines Richters vereinbar sein könne.44

Aus dieser nunmehr in § 26 Abs. 2 DRiG aufgenommenen Rege-lung folgt damit, dass auch die richterliche Unabhängigkeit, aufdie durch den Verweis auf § 26 Abs. 1 DRiG ausdrücklich Bezuggenommen wird, nicht als Rechtfertigung einer zögerlichen Ver-fahrensbearbeitung herangezogen werden kann. Der Richter isteben nicht generell, sondern allein in den Grenzen seiner Gesetzes-gebundenheit und seiner Amtspflichten frei und unabhängig.45

Es gehört zu seinen Dienstpflichten, seine Tätigkeit an der staat-lichen Justizgewährungspflicht auszurichten.46 Dazu gehört aucheine Entscheidung in angemessener Zeit.47 Die Versagung oderVerweigerung eines Rechtsschutzes in angemessener Zeitbegründet eine Verletzung der staatlichen Justizgewährungs- unddamit einer Dienstpflicht.

VI. Ergebnis

Mit dem Vorstehenden soll keinesfalls für eine allein an derErledigungsdauer orientierte Verfahrensweise plädiert werden.Die Verfahrensbeteiligten haben nicht nur Anspruch auf eine

möglichst schnelle, sondern auch auf eine möglichst richtigeEntscheidung.48 Die Zeit, die der Richter nach der jeweiligenVerfahrensordnung49 braucht, um diese zu treffen, muss er sichnehmen. Es wäre verfehlt, Verfahrensbeteiligte in ein Rechtsmit-tel zu treiben, nur weil sich das Gericht aus Zeitgründen nicht mitder obergerichtlichen Rechtsprechung zu einer entscheidungs-erheblichen Frage auseinandergesetzt hat. Derart übereilte Ent-scheidungen führen nämlich schon wegen der notwendigen Dauerdes Rechtsmittelzuges zu einer (vermeidbaren) Verzögerung.

Wie lange ein ordnungsgemäß geführtes Verfahren dauern darf,lässt sich nicht generell bestimmen. Dies ergibt sich bereits ausder Unterschiedlichkeit der Verfahrensgegenstände, die sowohlgenerell, als auch im Einzelfall erheblich unterschiedliche Zeit-aufwände bei der Fallbearbeitung rechtfertigen können.50 Dement-sprechend verbietet es sich, absolute zeitliche Vorgaben für dieQualitätsbeurteilung des gerichtlichen Rechtsschutzes heranzu-ziehen. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Verfahrensdauer auchfür das einzelne Verfahren keine Bedeutung zukommt. Dies wäreschon vor dem Hintergrund der dem Richter übertragenen Auf-gaben zweifelhaft. Ihm ist gem. Art. 92 GG die rechtsprechendeGewalt anvertraut. Zu den wesentlichen Elementen der Recht-sprechung gehört das Element der Entscheidung, also der Fest-stellung und des Ausspruchs dessen, was Rechtens ist.51 PrimäreAufgabe der Gerichte ist die Rechtsanwendung.52 Die Qualität derrichterlichen Arbeit muss sich an dieser Aufgabe orientieren, dieVerfahrensbeteiligten haben einen Anspruch darauf, dass sichdie Gerichte bei ihrer Entscheidungsfindung auf diese Aufgabekonzentrieren. Schon dies zeigt, dass die »Begründungstiefe« keinSelbstzweck sein darf. Der Respekt vor dem Rechtsschutzbedürf-nis der auf eine gerichtliche Entscheidung wartenden Recht-suchenden gebietet es, deren Wartezeit nicht deshalb zu verlän-gern, weil in anderen Verfahren Rechtsfragen mit einer vom Fallnicht veranlassten Begründungstiefe behandelt werden.

Wirksamer Rechtsschutz bedeutet zumindest auch Rechts-schutz innerhalb einer angemessenen Zeit.53 Eine juristisch und

Aufsätze Klose , Wie lange dar f e f fekt iver Rechtsschutz dauern?

36 Für die Kausalität zwischen Nichteinlegung des Rechtsmittels und Scha-denseintritt ist der Schädiger beweisbelastet: BGH, Urt. v. 9.10.2003, DVBl.2004, 192 (194); vgl. BGH, Urt. v. 15.11.1990, NJW 1991, 1168 (1170) = NJ1991, 231 (Leits.).

37 BGH, Urt. v. 16.1.1986, NJW 1986, 1924 (1925).38 Zu deren Inhalt: Benda, DRiZ 1975, 166 ff.; Papier, NJW 2001, 1089 ff. Für an

das europäische Gemeinschaftsrecht anknüpfende Fehler letztinstanzlicherGerichte hat der EuGH dagegen der richterlichen Unabhängigkeit beiHaftungsfragen keine maßgebliche Bedeutung zugemessen: EuGH, Urt. v.30.9.2003, NJW 2003, 3539 (3540); dazu: Kremer, NJW 2004, 480 ff.

39 Dinslage, DRiZ 1960, 203.40 Doerr, Rheinische Zeitschr. f. Zivil- und Prozeßrecht, 1911, 431; vgl. Papier,

(Fn 38), S. 1090.41 BGH, Urt. v. 27.9.1976, NJW 1977, 437 (437).42 Lansnicker/Schwirtzek (Fn 7), S. 1973.43 Doerr (Fn 40), S. 431 f.44 BT-Drucks. III/516, S. 39 = BR-Drucks. 40/58, S. 39. Zu den Eingriffsmög-

lichkeiten: Papier (Fn 38), S. 1092 f.45 Dinslage (Fn 39).46 Papier (Fn 38), S. 1091.47 Papier, NJW 1990, 10; Lansnicker/Schwirtzek (Fn 7), S. 1973.48 Zur Relativität der Gerechtigkeit: Rüthers, DRiZ 2004, 40 ff.49 Zur Kritik an den das sozialgerichtliche Verfahren verlängernden gesetz-

lichen Gegebenheiten: Borchert, Sozialgerichtsbarkeit, in: Müller-Graff/Roth (Fn 1), S. 61 f.

50 Die Schwierigkeiten bei dem Versuch, den erforderlichen Zeitaufwand fürein gerichtliches Verfahren zu bestimmen, zeigen sich etwa bei der zurneuen Personalbedarfsberechnung für die ordentliche Gerichtsbarkeiterstellten PEBB§Y I Studie, die auf einer kleinteiligen Untergliederung dereinzelnen Verfahrensarten beruht. Vgl. dazu nur DRiZ 2002, 123 f.

51 BVerfGE 7,183, 188 f.; 103, 111, 132.52 Seifert/Hömig-Hömig, GG-Komm., 7. Aufl. 2003, Art. 92 Rz 2.53 Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Fn 23), Einl. Rz 157. So hat auch die

Bundesvertreterversammlung des DRB am 15.11.2002 eine »Entscheidungin angemessener Zeit« als ein sich aus der verfassungsrechtlichen Stellungdes Richters ergebendes Qualitätskriterium herausgestellt: DRiZ 2003, 9.Auch Steindorfner stellt »kürzere Durchlaufzeiten« als Bestandteil derQualität der »Justizprodukte« heraus: DRiZ 2003, 274.

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245Neue Justiz 6/2004

sprachlich noch so ausgefeilte Entscheidung nützt den Beteilig-ten dann nichts mehr, wenn sich die Situation, in der sie dieEntscheidung gebraucht hätten, erledigt hat. Bei dieser Sachlagekann eine formell obsiegende Prozesspartei allein wegen derVerfahrensdauer zum Verlierer werden.

Der Wert gerichtlicher Entscheidungen für die Betroffenensinkt regelmäßig proportional zum Zeitablauf.54 Wer sich etwa imeinstweiligen Rechtsschutz begründet gegen den Entzug einerFahrerlaubnis wehrt, hat keinen hinreichenden Rechtsschutzerhalten, wenn die stattgebende Entscheidung erst nach mehre-ren Monaten ergeht und er dann zwar wieder Inhaber einer Fahr-erlaubnis ist, seinen von der Fahrerlaubnis abhängigen Arbeits-platz jedoch wegen der verstrichenen Zeit verloren hat. Auch einObsiegen in einem Prüfungsrechtsstreit nützt dem Betroffenennichts mehr, wenn ihm nach Abschluss des Verfahrens wegen desZeitablaufs bei einer zeitnäheren Entscheidung gegebene Berufs-chancen verschlossen bleiben. Dies sollte im Hinblick auf dieAkzeptanz der Gerichte beachtet werden.

Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot werden inzwischennicht mehr als unvermeidbar hingenommen. Die Dauer der (vorallem verwaltungsgerichtlichen) Verfahren steht immer heftigerin der Kritik. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird dieAnsicht vertreten, die Überzeugung, die Gerichte arbeiteten zulangsam, sei inzwischen weit verbreitet, was zu einem »enormen

Ansehensverlust der Justiz« geführt habe.55 Der Zeitablauf bis zumAbschluss eines Gerichtsverfahrens werde längst von den Behör-den instrumentalisiert.56 Diesem Eindruck müssen die Gerichte(und dort konkret jeder einzelne Richter) entgegentreten.57

So sehr der einzelne Richter auch durch seine Unabhängigkeitund die Einschränkungen der Dienstaufsicht in § 26 DRiGgeschützt ist, so sehr ist er auch gehalten, eigenverantwortlich dieihm obliegende Pflicht zur sach- und damit auch zeitgerechtenVerfahrensbehandlung wahrzunehmen. Als Richtschnur für denangemessenen Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung hilftvielleicht die Lebensweisheit des Nordpolforschers John Franklinin Sten Nadolnys Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«weiter, die lautet:

»Es gibt drei Zeitpunkte, einen richtigen, einen verpassten undeinen verfrühten.«58

Den richtigen Zeitpunkt in möglichst vielen Verfahren zu treffen,ist originäre Aufgabe des Richters.

Klose , Wie lange dar f e f fekt iver Rechtsschutz dauern?

54 Kemper, NJ 2003, 393.55 Kemper, ebenda.56 Redeker, NJW 2003, 2958.57 Daher ist es auch nicht überzeugend, wenn als Hinderungsgründe für eine

zeitnahe Entscheidung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gerichts-artspezifische besondere Qualitätserfordernisse angeführt werden; so:Müssner, in: Müller-Graff/Roth (Fn 1), S. 91.

58 Nadolny, 36. Aufl. 2003, S. 41.

Online-Auftritte dienen Rechtsanwälten neben Rundschreiben zuneh-mend als Mittel, über ihre Tätigkeiten und Qualifikationen zu infor-mieren. Als Kombination bietet es sich an, in einem Rundschreiben nurdarauf hinzuweisen, dass unter der eigenen Internetpräsentation neueInformationen zu bestimmten Themen abgelegt sind. Das spart Kostenund kann die Internetpräsentation des Rechtsanwalts zum Erfolg wer-den lassen. Nachfolgend wird dargestellt, welche rechtlichen Rahmen-bedingungen Rechtsanwälte bei der Gestaltung ihrer Webpräsenz zubeachten haben. Begrifflich bezeichnet »Website« hier die Gesamtheiteines Internetauftritts.

I. Der Domainname

Die Adresse des im Internet verbundenen Rechners1 besteht ausmehreren Ebenen, nämlich Netzprotokoll (http://), Server (www),Second Level Domain (xyzname), Top Level Domain (de, net)sowie Sub Level Domains/Pfad mit Dateiangaben (html). Es gibtgeographische (Abkürzungen bestimmter Länder z.B. de – Deutsch-land) und generische Top Level Domain (TLD). Letztere beziehensich auf bestimmte Eigenschaften des Verwenders, z.B. com –Unternehmen; edu – Bildungseinrichtungen; net – Netzwerke.2

Die Second Level Domain kann frei gewählt werden, sofern sienoch verfügbar ist. Bei der Auswahl der Domain ist einerseitsdarauf zu achten, dass sie einprägsam ist und vom Rechtsuchen-

den leicht aufgefunden werden kann. Andererseits dürfen bei derWahl der Domain keine entgegenstehenden Rechte verletztwerden, wobei insbesondere folgende Quellen zu beachten sind:

– Schutz des Namens (§ 12 BGB),– Schutz der Firma (§§ 17, 37 HGB),– Schutz der Unternehmenskennzeichen (§ 5 Abs. 2 MarkenG),– Schutz der Marken (MarkenG),– Schutz der Gemeinschaftsmarke (GemeinschaftsmarkenVO),– Schutz der internationalen Registrierungen (MMA/PMMA),– Schutz der Werktitel (§ 5 Abs. 3 MarkenG, § 2 UrhG),– Schutz der geographischen Herkunftsangaben (§ 126 MarkenG),– Schutz gegen sittenwidrige Behinderung (§§ 826, 226 BGB),– Schutz gegen wettbewerbswidriges Verhalten (§§ 1, 3 UWG), – Schutz der Sachlichkeit der Anwaltswerbung (§ 43b BRAO, § 6

BerufsO),– Schutz des olympischen Emblems (Olympische Ringe) und

der olympischen Bezeichnungen (OlympSchG).

Die Registrierung einer Domain mit der geographischen TLD »de«erfolgt bei der DENIC-Domain Verwaltungs- und Betriebsgesell-

1 IP-Adressen, auch URL/Uniform Ressource Locator genannt.2 Weitere generische Top Level Domain sind: aero; biz; coop; gov; info; int;

museum; name; org; pro. Ende 2004 ist zudem die Einführung der TLD eugeplant; vgl. unter www.eurid.org.

Online-Auftritte von Rechtsanwälten Rechtsanwälte Dr. Stefan Haupt und Ronald Schmidt, Berlin

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Neue Justiz 6/2004246

schaft e.G. (DENIC). Unter www.denic.de kann recherchiertwerden, ob eine de-Domain bereits vergeben ist. Die DENIC istgrundsätzlich nicht verpflichtet, bei der Registrierung die Zuläs-sigkeit der Domain bzw. die Berechtigung des Anmelders zu über-prüfen.3 Seit dem 1.3.2004 sind auch bei der DENIC mit den neuenInternationalized Domain Names (IDN) 92 zusätzliche Buchstaben,insbesondere Umlaute, erlaubt. Für die Vergabe der generischenTLD ist das International Network Information Center zuständig.4

Als Teil der »Internetverwaltung« steuert die Internet Corporationfor Assigned Names and Numbers das Domain-Namensystem.5

Der Rechtsanwalt sollte sich selbst als Inhaber der Domaineintragen lassen und nicht den Provider (Anbieter, der Leistungenim Zusammenhang mit dem Internet erbringt). Das erleichtertden Wechsel zu einem anderen Provider. Sofern die Domain eingeschütztes Zeichen als Bestandteil nutzt bzw. Personen, Unter-nehmen, geschäftliche Angebote oder Werke individualisiert,kommt zugunsten der Internetadresse eine Schutzfähigkeit in Betracht. Durch die Registrierung und Freischaltung einer Domainallein entsteht noch kein Schutzrecht.6

Nach der Rechtsprechung des BGH stellt schon die Registrie-rung und nicht erst die Benutzung eines fremden Unternehmens-kennzeichens als Domain einen unbefugten Namensgebrauch dar.7

Bei Gleichnamigkeit hat grundsätzlich der prioritätsältere Nutzereiner Domain ein besseres Recht.8 Ausnahmen kommen beiKollisionen zwischen Namen einerseits und Kennzeichen mitüberragender Verkehrsgeltung andererseits in Betracht, wobeiletzteren schützenswerte Interessen zuerkannt wurden.9 EineVerwechslungsgefahr kann durch Aufklärung auf der Homepage(Eingangsseite = erste Seite, die bei Eingabe der Internetadresseangezeigt wird) darüber ausgeräumt werden, dass es sich nicht umden Internetauftritt des anderen Namensträgers handelt.10

II. Informationspflichten und Haftung

Nach dem Teledienstegesetz (TDG) besteht bei geschäftsmäßigenAngeboten die Verpflichtung, auf der Website eine Anbieter-kennzeichnung vorzunehmen. Das trifft auch auf Anwälte zu,die sich im Internet »lediglich« präsentieren.11 Online-Auftrittevon Rechtsanwälten unterfallen regelmäßig dem Anwendungs-bereich des TDG, da keine Meinungsbildung iSd MDStV statt-findet.12 Die Anbieterkennzeichnung hat folgenden Mindest-inhalt (§ 6 TDG):

– Name und Anschrift des Betreibers, bei juristischen Personenzusätzlich den Vertretungsberechtigten (Nr. 1),

– eine schnelle elektronische Kontaktmöglichkeit, insbeson-dere E-Mail-Adresse (Nr. 2),

– ggf. die Aufsichtsbehörde (Nr. 3),– ggf. Handels-, Vereins-, Genossenschafts- oder Partnerschafts-

register und die entsprechende Registernummer (Nr. 4),– ggf. Angaben über die Kammer, gesetzliche Berufsbezeichnung

und Staat, in dem die Berufsbezeichnung verliehen wurde,sowie berufsrechtliche Regelungen und eine Fundstelle (Nr. 5),

– ggf. die Umsatzsteueridentifikationsnummer (Nr. 6).

Sofern diese Bestimmungen nicht eingehalten werden, droht einBußgeld bis zu 50.000 € (§ 12 Abs. 2 TDG).

Die Angaben müssen leicht erkennbar, unmittelbar erreichbarund ständig verfügbar sein. Maßstab für die Erkennbarkeit ist derdurchschnittlich informierte und verständige Verbraucher.13

Entweder sollte sich die Anbieterkennzeichnung sichtbar imBildschirmbereich jeder Seite befinden oder über einen Linkaufgerufen werden können. Dementsprechend muss bereits amBeginn der Homepage im Zusammenhang mit den Hauptnavi-

gationselementen zumindest der Link zu den Informationenangebracht sein.14 Informationen zur Anbieterkennzeichnung,die über einen doppelten Link mittels »Kontakt« und »Impressum«aufgerufen werden können, sind geeignet, den Anforderungendes Transparenzgebots zu genügen.15 Teilweise wird als Link dieAngabe »Impressum/Anbieterkennzeichnung gem. § 6 TDG«vorgeschlagen.16 Die Anbieterkennzeichnung in den AGB reichtnicht aus.17 Eine Notwendigkeit, den Besucher einer Internetprä-sentation quasi zur Anbieterkennzeichnung zu führen, bestehtnicht.18 Sinn und Zweck des § 6 Ziffer 4 TDG erfordern es, dass imAusland registrierte Teledienste-Anbieter, die im Inland ihregeschäftliche Tätigkeit entfalten und nicht zugleich auch imInland registriert sind, die ausländischen Registerangaben offenlegen.19

Die Einordnung der Informationspflicht des § 6 TDG als Ver-stoß gegen § 1 UWG ist bedeutsam, da sie Mitwettbewerber zurAbmahnung befugt.20 Im Falle eines bewussten planmäßigenHinwegsetzens unter Vorteilserzielungsabsicht kann die Versäu-mung der Informationspflichten eine kostenpflichtige Abmah-nung nach sich ziehen.21 Die Rechtsprechung vertritt zur neuenFassung des TDG die Auffassung, dass ein Verstoß gegen § 6 TDGauch wettbewerbswidrig iSv § 1 UWG sei.22 Aus anderen Gesetzenkönnen sich weitergehende Informationspflichten ergeben(§ 6 TDG), etwa aus den Bestimmungen zu Fernabsatzverträgen(§§ 312 ff. BGB).23

Entsprechend der technischen Abläufe im Internet ist abgestuftgeregelt, welcher Beteiligte für rechtswidrige Inhalte haftet.24

Anbieter sind für eigene Inhalte, die sie zur Nutzung bereithalten,nach den allgemeinen Gesetzen voll verantwortlich (§ 8 Abs. 1TDG). Diensteanbieter im Bereich der Durchleitung, Zwischen-speicherung zur beschleunigten Übermittlung bzw. Speicherungfremder Informationen (§§ 9 bis 11 TDG) sind vorbehaltlich all-gemeiner Gesetze nicht verpflichtet, die von ihnen übermitteltenoder gespeicherten Informationen zu überwachen oder nachUmständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeithinweisen (§ 8 Abs. 2 TDG).

Aufsätze Haupt/Schmidt , Onl ine-Auft r i t te von Rechtsanwälten

3 BGH, NJW 2001, 3265 = BGHZ 148, 13 – ambiente.de; Urt. v. 19.2.2004,I ZR 82/01 – kurt-biedenkopf.de.

4 InterNIC – www.internic.net.5 ICANN – www.icann.org; Die Recherche für die Top-Level-Domain com,

net, org, biz, info und edu kann unter www.namesdirect.com erfolgen.6 OLG Hamburg, ZUM 2001, 514.7 BGH, NJW 2002, 2031 – shell.de; a.A. OLG Karlsruhe, GRUR-RR 2002, 138

– Dino.de.8 OLG Köln, MMR 2001, 170 – maxem.de.; OLG München, CR 2002, 56 –

boos.de.9 BGH, NJW 2002, 2031 – shell.de; OLG Hamm, NJW-CoR 1998, 175 –

krupp.de.10 BGH, NJW 2002, 2096 – Vossius.11 Das TDG wurde durch das Gesetz über die rechtlichen Rahmenbedingun-

gen für den elektronischen Geschäftsverkehr (EGG) geändert und ist am21.12.2001 in Kraft getreten. Damit wurde die e-Commerce-Richtlinie(RL 2000/31/EG) umgesetzt. Entsprechend wurde der Mediendienste-Staatsvertrag (MDStV) durch den 6. Rundfunkänderungsstaatsvertrag ange-passt und ist am 1.7.2002 in Kraft getreten.

12 Sieber, Verantwortlichkeit im Internet, 1999, Rn 269.13 EuGH, GRUR-Int. 1995, 804; BGH, NJW 2001, 3262, 3265 – mitwohnzen-

trale.de.; Hoß, »Web-Impressum und Wettbewerbsrecht«, CR 2003, 687,688.

14 Strömer, Online-Recht, 3. Aufl. 2002, 5.1; Woitke, Das »Wie« der Anbieter-kennzeichnung gemäß § 6 TDG«, NJW 2003, 871, 872.

15 OLG München, ZUM 2003, 961.16 Woitke (Fn 14), S. 872.17 LG Berlin, CR 2003, 139.18 Hoenike/Hülsdunk, MMR 2002, 415.19 LG Frankfurt, ZUM-RD 2003, 544.20 Hoß (Fn 13), S. 687.21 Ernst, »Die wettbewerbsrechtliche Relevanz der Online-Informations-

pflichten des § 6 TDG«, GRUR 2003, 759 ff.22 Krit. dazu Hoß (Fn 13), S. 687; Ernst (Fn 21), S. 759.23 Bis 2001 FernabsatzG.24 BGH, NJW 2003, 3764.

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247Neue Justiz 6/2004

III. Inhalt der Website

1. Urheberrecht

Bezüglich der Gestaltung der Website oder einzelner Elementekönnen Urheber- und Leistungsschutzrechte bestehen. DasUrheberrecht schützt Werke, wenn sie persönliche geistigeSchöpfungen darstellen (§ 2 Abs. 2 UrhG). Dazu zählen ins-besondere Texte, Musik, Fotografien, Grafiken sowie program-mierte Elemente der Website wie JavaScripts, ActiveX-Elemente,Java-Applets, animierte Buttons, Menüs etc. Für die Erlangung vonUrheberrechtsschutz ist das Erbringen einer persönlichen geistigenSchöpfung maßgeblich, die nach außen hin in Erscheinung trittund eine erforderliche Gestaltungshöhe aufweist.

Zu den nichtvermögensrechtlichen Befugnissen des Urheberszählen insbesondere das Veröffentlichungsrecht (§ 12 Abs. 1 UrhG),das Recht auf Anerkennung der Urheberschaft, das im Kern denAnspruch auf Namensnennung beinhaltet (§ 13 UrhG), der Schutzvor Entstellung und sonstigen Beeinträchtigungen des Werkes(§ 14 UrhG). Mit dem Berechtigten kann ein Verzicht auf dieNamensnennung vereinbart werden. Das sollte schriftlich erfolgen.

Zu den vermögensrechtlichen Befugnissen des Urhebers, die alsVerwertungsrechte bezeichnet werden, gehören bspw. das Verviel-fältigungsrecht (§ 16 UrhG), das Bearbeitungsrecht (§ 23 UrhG)und das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a UrhG).

Für Online-Nutzungen wurde mit dem Ges. zur Regelung desUrheberrechts in der Informationsgesellschaft25 Rechtsklarheitgeschaffen. Für jede Nutzung von urheberrechtlich relevantenLeistungen ist es notwendig, die Zustimmung des Berechtigteneinzuholen.26 Es gibt keinen gutgläubigen Erwerb von Nutzungs-rechten.27 Nach § 31 Abs. 1 UrhG kann der Urheber einemanderen das Recht einräumen, das Werk auf einzelne oder alleNutzungsarten zu nutzen, wobei ein einfaches oder ausschließ-liches Recht eingeräumt werden kann. Die Auslegung zumUmfang der Rechteübertragung erfolgt in Zweifelsfällen anhandder Lehre von der Zweckübertragung (§ 31 Abs. 5 UrhG). Darausergibt sich die Notwendigkeit, im Vertragswerk die angestrebtenNutzungsarten detailliert zu benennen.28

Für die Nutzung im Internet sollten insbesondere das Recht zuröffentlichen Zugänglichmachung, zur öffentlichen Wiedergabe,zur Nutzung von Ausschnitten sowie das Vervielfältigungs- undBearbeitungsrecht erworben werden. Es empfiehlt sich, denCopyright-Hinweis auf den eigenen Websites anzubringen, damitdie urheberrechtlich relevanten Leistungen in möglichst vielenRechtsordnungen Schutz genießen29 (© Benennung Rechteinhaber2004. All rights reserved).

Bestandteile, die keine persönlichen geistigen Schöpfungen (§ 2Abs. 2 UrhG) sind bzw. deren Schutzfrist abgelaufen ist, dürfenaus urheberrechtlicher Sicht frei verwendet werden, wenn nichteines der verwandten Schutzrechte, wie etwa für das Lichtbild(§ 72 UrhG) oder der wettbewerbliche Schutz gegen die Über-nahme fremder Leistungen eingreift (§ 1 UWG).

Der postmortale Urheberrechtsschutz währt in Deutschland70 Jahre, beginnend am 1. Januar des auf den Tod des Urhebersfolgenden Jahres (§ 64 UrhG).

2. Recht am eigenen Bild

Abbildungen von Menschen dürfen nur mit Einwilligung desAbgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden(§ 22 KUG). Im Zweifel gilt die Einwilligung als erteilt, wenn derAbgebildete eine Entlohnung erhielt. Im Falle des Todes desAbgebildeten bedarf es innerhalb von zehn Jahren der Einwilli-

gung eines Angehörigen. Der Bildnisbegriff setzt die Erkenn-barkeit der abgebildeten Person voraus,30 wobei es ausreicht,wenn sich die Erkennbarkeit aus den Umständen ergibt. EinAugenbalken verhindert die Erkennbarkeit nicht ohne weiteres.31

Die Einwilligung zur Verbreitung und Veröffentlichung kann aus-drücklich, aber auch stillschweigend erklärt werden, wobei zuBeweiszwecken eine schriftliche Einwilligung eingeholt werdensollte. Der Umfang der Einwilligung hängt vom wirklichen Willenab, der aufgrund der Erklärung und der Umstände, insbesonderedem Zweck des Rechtsgeschäfts, zu erforschen ist (§§ 133, 157BGB). Das heißt, dass auch bei Vorliegen einer Einwilligung dieNutzung einer Abbildung nur entsprechend der vereinbartenZwecksetzung erfolgen darf.32

Als Zweck der Veröffentlichung eines Abbildes ist die öffent-liche Zugänglichmachung in einer Internetpräsentation einesRechtsanwalts anzugeben. Die Einverständniserklärung der abge-bildeten Person sollte sich zudem darauf beziehen, dass

– die Aufnahmen auch in geänderter Form, z.B. im Rahmen vonMontagen jeder Art, verwendet werden können,

– versichert wird, dass eine Bindung hinsichtlich der Bildnis-rechte mit Dritten nicht besteht,

– auf Namensnennung verzichtet wird, diese jedoch erfolgenkann.

Ausnahmsweise dürfen Abbildungen ohne Einwilligung verbrei-tet und veröffentlicht werden, insbesondere sofern es sich umBildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte handelt oder Bilder,auf denen die Personen nur als Beiwerk erscheinen (§ 23 KUG), essei denn, berechtigte Interessen des Abgebildeten werden verletzt.33

3. Persönlichkeitsrecht

Jeder Person steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu.34

Bei der Gestaltung der Website ist es nicht gestattet, Namen oderUmstände aus der Intim- und Privatsphäre zu veröffentlichen,wenn der Betroffene nicht zugestimmt hat. Für Rechtsanwälteergibt sich der Schutz des persönlichen Lebensbereichs unmittel-bar aus dem Schutz von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB). Dasallgemeine Persönlichkeitsrecht schützt nicht vor kritischer Aus-einandersetzung mit einer Person als freie Meinungsäußerung.Verbotene »Schmähkritik« liegt dagegen vor, wenn es nur um ein»Heruntermachen« des Betroffenen geht, ohne dass ein inhalt-licher Diskurs geführt wird.35

4. Frames und Links

Ein besonderes Problem urheber-, kennzeichen- sowie wett-bewerbsrechtlicher Natur ergibt sich bei der Verwendung vonFrames und Links.

Der Vorteil der Frames besteht darin, dass man die Optik für dieWebsite nur einmal entwerfen muss und die Inhalte sich dann indiesen »Rahmen« einfügen. Rechtswidrig ist es, wenn im Inhalts-Frame eine fremde Website aufgerufen wird. Es entsteht der

Haupt/Schmidt , Onl ine-Auft r i t te von Rechtsanwälten

25 V. 10.9.2003, BGBl. I S. 1774.26 KG, NJW 1997, 1160.27 Schricker, in: Schricker (Hrsg.), Urheberrecht, 2. Aufl., § 28 UrhG Rn 44.28 BGH, NJW 1995, 3252.29 Haupt, »Der Copyright-Vermerk – unverzichtbar?«, Kommunikation und

Recht (K & R) 2000, 239.30 BGHZ 26, 349 – Herrenreiter.31 Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 4. Aufl., Rn 7.9.32 Prinz/Peters, Medienrecht, Die zivilrechtlichen Ansprüche, 1999, Rn 837.33 BGH, NJW 1996, 1128, 1129 – Caroline von Monaco III; Gerstenberg/

Götting, in: Schricker (Fn 27), § 60 UrhG/§ 23 KUG Rn 6.34 Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 2 Abs. 1 GG.35 BVerfG, NJW 2003, 3760.

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Neue Justiz 6/2004248

Eindruck, dass es sich um eigene Inhalte handelt. Dadurch ergibtsich nicht nur eine Verwirrung des Nutzers bzgl. der Identität desUrhebers, sondern es liegt auch die Übernahme einer fremdenLeistung vor, die aus wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunktenunzulässig ist. Das heißt, dass ein Rechteerwerb erforderlich ist.

Grundsätzlich sind Links zulässig.36 Die Benutzung einesgeschützten Kennzeichens zur Benennung von Links ist unzuläs-sig.37 Ein »Disclaimer«, d.h. eine Haftungsfreizeichnung vonsämtlichen Inhalten auf der verlinkten Seite, ist nicht zulässig,weil ansonsten auch die Verantwortlichkeit ausgeschlossen wäre,wenn absichtlich auf eine ehrverletzende Seite verwiesen wird.38

Um das Haftungsrisiko zu mindern, empfiehlt es sich, denverlinkten Inhalt regelmäßig zu kontrollieren und eine kurzeInhaltsbeschreibung sowie das Datum des letzten Abrufs zunotieren bzw. den Inhalt der verlinkten Seite zu Beweiszweckenauszudrucken.

5. Marken und Kennzeichen

Bei der Verwendung von Namen, Firmen, Unternehmenskenn-zeichen, Marken, Titeln und geographischen Herkunftsangabenim Internet sind Kollisionen im Bereich der Internetadressen(Domains) und Kollisionen aufgrund des Inhalts (Content) vonInternetauftritten zu vermeiden. Eine Markenbenutzung imSinne einer Verletzungshandlung setzt voraus, dass sie zur Unter-scheidung geschäftlicher Angebote dient. Metatags sind Elementeim Quelltext der Internetpräsentation, die als Sachbegriffe vonSuchmaschinen (Google, Yahoo) aufgefunden werden undinsoweit den Internetnutzer und Rechtsuchenden zur Internet-präsentation führen. Grundsätzlich dürfen in einer Website keineMetatags benutzt werden, die nicht auf den Inhalt der Seitenhinweisen.39 Ohne Zustimmung des Inhabers ist die Nutzungeines fremden Kennzeichens als Metatag im geschäftlichen Ver-kehr untersagt.40 Das ist nicht der Fall, wenn der Anbieter einesjuristischen Informationsdienstes die Bezeichnung »Anwalt-suchservice« als Link oder als Metatag benutzt, da dem Wort-bestandteil »Anwaltsuchservice« im Bereich juristischer Informa-tionsdienstleistungen keine Kennzeichnungskraft zukommt.41

Dem Berechtigten stehen im Falle von rechtswidrigen Internet-präsentationen, die gegen das Urheber-, Persönlichkeits- oderKennzeichenrecht verstoßen, Unterlassungs-, Schadensersatz-und Auskunftsansprüche zu.

IV. Berufs- und Wettbewerbsrecht

1. Allgemeines

Bei der Gestaltung einer Internetpräsentation ergeben sich fürverschiedene Berufsgruppen berufs- und wettbewerbsrechtlicheVorgaben,42 insbesondere für Ärzte,43 Steuerberater44 und Rechts-anwälte45.

Werbung ist jedem Anwalt erlaubt, sofern sie über die beruf-liche Tätigkeit sachlich unterrichtet und nicht auf die Erteilungeines Auftrags im Einzelfall gerichtet ist, § 43b BRAO.46 Werbungliegt vor, sofern darauf abgezielt wird, einen anderen dafür zugewinnen, eine Leistung in Anspruch zu nehmen.47 Die Inter-netpräsentation eines Anwalts stellt grundsätzlich Werbung iSv§ 43b BRAO dar.48 Vor dem Hintergrund der Berufsfreiheit nachArt. 12 Abs. 1 GG ist zu prüfen, ob mit einer Internetpräsentationdem Berufsbild des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ derRechtspflege entsprochen wird.49

Der Form nach darf die Werbung nicht marktschreierisch oderplump aufdringlich sein.50 Ein besonderer Anlass für eine Wer-

bung ist nicht erforderlich.51 Rundschreiben sind grundsätzlichzulässig.52 Bei Rundschreiben per E-Mail ist wie bei Telefon- undTelefaxwerbung grundsätzlich die Zustimmung des Empfängerserforderlich.53 Es bietet sich an, schriftlich von Mandantendie Genehmigung einzuholen, künftig über Rundschreiben perE-Mail informiert zu werden. Inhaltlich lassen sich berufsbe-zogene Tatsachenbehauptungen von Werturteilen der eigenenDienstleistungen unterscheiden,54 wobei es keinen Grundsatzgibt, dass letztere nicht mit dem Sachlichkeitsgebot vereinbarsind.55 Die Verwendung von Werbebannern Dritter auf der Web-site eines Rechtsanwalts wird als unsachlich angesehen.56

Die Slogan »Ihre Rechtsfragen sind unsere Aufgabe« oder»Alles was Recht ist, Rechtsanwälte …« wurden als unzulässigesunsachliches Anpreisen eingestuft.57 Derartige Einschätzungendurch die Rechtsprechung wurden sowohl vom BVerfG als auchin der Literatur kritisiert.58 Die Verwendung von Begriffen wie»Experte« oder »Spezialist« ist risikobehaftet. Die Einordnung derEinrichtung eines Gästebuchs in der Internetseite wird teilweiseals berufswidrige Werbung eingestuft.59 In keinem Fall sollte eineBestenliste im Sinne eines Rankings geführt werden.60 Wahrheits-gemäße Hinweise eines Anwalts auf seine frühere sportlicheKarriere sind im Hinblick auf eine Spezialisierung im Sportrechtzulässig.61

Im Zusammenhang mit dem Merkmal der Berufsbezogenheitder Werbung werden vom BVerfG werbewirksame Maßnahmenwie etwa Vernissagen in den Büroräumen von tätigkeitsbezo-genen Maßnahmen unterschieden.62 Werbewirksames Verhaltenist wie beim Sponsoring oder bei Kanzleifeierlichkeiten nichtzwangsläufig mit berufsbezogenen Informationen verbundenund grundsätzlich zulässig.63 Die Einordnung, ob derartigeswerbewirksames Verhalten nicht den berufsspezifischen Bestim-mungen als Beschränkungsmaßstab unterfällt, da es sich umkeine Werbung iSv § 43b BRAO handele, ist strittig.64

Die Zulässigkeit von Werbung von Anwälten im Internetbeschränkt sich nicht auf die Vorgaben von § 43b BRAO, sondernkann Beschränkungen aufgrund der §§ 1, 3 UWG erfahren.65

Aufsätze Haupt/Schmidt , Onl ine-Auft r i t te von Rechtsanwälten

36 BGH, NJW 2003, 3406 – Paperboy.37 LG München I, MMR 2001, 56.38 OLG München, NJW 2002, 2398.39 LG Trier, WRP 1996, 1231.40 LG München I, MMR 2001, 56.41 OLG Köln, NJW 2003, 518 – Anwaltsuchservice.42 Kleine-Cosack, »Vom Werbeverbot zum Werberecht«, NJ 2002, 57; Hoffmann,

»Die Entwicklung des Internet-Rechts bis Mitte 2003«, NJW 2003, 2576 ff.43 BGH, NJW 2004, 440 – Arztwerbung im Internet.44 LG Düsseldorf, BRAK-Mitt. 1997, 95.45 LG München I, CR 1996, 736; OLG Nürnberg, NJW-CoR 2000, 370.46 BGH, NJW 2001, 2087 = NJ 2002, 112 (Leits.) – Anwaltswerbung II.47 BGH, NJW 1992, 45.48 Steinbeck, »Werbung von Rechtsanwälten im Internet«, NJW 2003, 1481 ff.49 Kleine-Cosack (Fn 42), S. 58; Zur Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in die

Berufsausübungsfreiheit vgl. BVerfG, NJW 1996, 3067 – Apothekerwerbung.50 BGH, NJW 2001, 2087; Kleine-Cosack (Fn 42), S. 59.51 BGH, BB 2000, 1428.52 BGH, NJW 2001, 2886 – Rundschreiben.53 LG Berlin, NJW-CoR 1998, 431.54 Huff, »Die zielgruppenorientierte Werbung von Rechtsanwälten – Ein

zulässiges Werbeinstrument«, NJW 2003, 3525 ff.55 BGH, NJW 2001, 2087, 2088 – Anwaltswerbung II.56 Dahns/Krauter, »Anwaltliche Werbung im Internet«, BRAK-Mitt. 2004, 2 (4).57 OLG Köln, WPK-Mitt. 1999, 68; AGH NRW, MDR 1999, 1099, Kleine-

Cosack (Fn 42), S. 61.58 Kleine-Cosack, ebenda, S. 61; BVerfG, MDR 2000, 358.59 LG München II, StB 2001, 185.60 OLG München, NJW 2001, 1950; BGH, NJW 1997, 2681 – Die Besten II.61 BVerfG, NJW 2003, 2816 = NJ 2003, 591 (Leits.).62 BVerfG, BRAK-Mitt. 2000, 137, 138 = NJ 2000, 312 (Leits).63 BVerfG, NJW 2000, 3195; BGH, NJW 2001, 2087 – Anwaltswerbung II.64 Kleine-Cosack (Fn 42), S. 58; AnwG Hamm, MDR 2000, 55, u. K & R 2000, 259.65 Vogt, »Die Entwicklung des Wettbewerbsrechts in den Jahren 2001 bis

2003«, NJW 2003, 3309, 3314.

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249Neue Justiz 6/2004

Grundsätzlich kann Werbung sich an einen Nichtmandantenrichten.66 Umgekehrt darf nicht für ein konkretes Mandat gewor-ben werden, § 43b BRAGO. Die Internetpräsentation darf sichdem User jedoch nicht aufdrängen, dem Anbieter einen konkre-ten Auftrag zu erteilen.67 Sofern in einer Internetpräsentationallgemeine Angaben ohne Einzelfallbezug erfolgen, kommt eineWerbung um ein konkretes Einzelfallmandat eher nicht inBetracht. Folgende Formulierungen wurden als aufdringlich einge-stuft: »Wir beraten Sie in allgemeinen Rechtsangelegenheiten«68

oder »Sofern Sie Beratungsbedarf auf den genannten Gebietenhaben und hier anwaltlich noch nicht vertreten sind, stehen wirIhnen als sachkundiger Ansprechpartner gerne zur Verfügung«.69

Die Werbung im Internet mit den Schwerpunkten ist derzeit auffünf Interessen- und/oder Tätigkeitsschwerpunkte beschränkt (§ 7BerufsO), wovon höchstens drei Tätigkeitsschwerpunkte genanntwerden dürfen. Der Tätigkeitsschwerpunkt darf nur angegebenwerden, sofern der Anwalt nach Zulassung mindestens zwei Jahreauf dem entsprechenden Gebiet nachhaltig tätig ist (§ 7 Abs. 2BerufsO). Die Schwerpunkte müssen stets auf den einzelnenAnwalt bezogen sein.70 Ein Hinweis im Internet auf bestehendeMandate kommt nur in Betracht, wenn der Mandant ausdrück-lich eingewilligt hat (§ 6 Abs. 3 BerufsO). Weitergehende Infor-mationen sind in Praxisbroschüren, Rundschreiben und anderenInformationsmitteln zulässig (§§ 6 Abs. 2 BerufsO). Die Schrankengelten bei Anzeigen und anderen Werbeformen (§ 7 BerufsO).Einem Fachanwalt ist es dagegen gestattet, aus dem Fachanwalts-gebiet mehr als fünf Schwerpunkte anzugeben.71

Im Bereich des allgemeinen Wettbewerbsrechts sind die Vorga-ben der vergleichenden Werbung zu beachten. Eine Werbung miteinem Erfolgshonorar ist unzulässig (§ 1 UWG), da es gegen das Ver-bot des § 49b BRAO verstößt.72 Die Angabe einer nicht verliehenenFachanwaltsbezeichnung ist irreführend (§ 3 UWG).73 Die Angabe,dass die Mitglieder eines Anwaltsbüros Maßnahmen der Weiter-bildung durchführen, ist nicht irreführend.74 Unsachlich alsreklamehafte Selbstanpreisung bzw. unzulässige Alleinstands-werbung (§ 3 UWG) sind Formulierungen wie »Wir erbringenSpitzenleistungen«75 oder »Außergewöhnliche Serviceleistung«oder »Spitzenleistungen«.76 Die Angabe von schlagwortartigenKanzleibezeichnungen ist nach dem BGH erlaubt.77

2. Domain und Berufsrecht

Die Verwendung einer Domain kann Werbung sein.78 Bei derVerwendung von Gattungsbegriffen als Domainnamen handeltes sich nicht ohne weiteres um eine unlautere Kanalisierung vonKundenströmen, Behinderung oder Irreführung (§§ 1, 3 UWG).Es ist vom Prioritätsgrundsatz gedeckt, eine attraktive Internet-adresse zu registrieren.79 Ein Wettbewerbsverstoß kommt inBetracht, wenn jemand mehrere Schreibweisen eines Gattungs-begriffs, evtl. sogar unter mehreren TLD registrieren lässt oder,wenn die Website den Eindruck erweckt, dass es sich um deneinzigen Anbieter handelt.80

Der BGH hat die Verwendung der Domain »www.presse-recht.de« oder »www.rechtsanwaelte-notar.de« als zulässig ange-sehen,81 da der durchschnittliche User weiß, dass es sich bei derjeweiligen Homepage nicht um das gesamte mit der Domainbeschriebene Dienstleistungsangebot handelt. Der Wettbewerbs-vorteil einer derartigen Domain ergibt sich systembedingt ausdem Prioritätsprinzip.82 Bei der Feststellung, ob eine Domain-verwendung eine unlautere Alleinstellungsberühmung nach § 3UWG darstellt, ist sowohl die Bezeichnung der Domain alsauch die Gestaltung des Internet-Auftritts zu berücksichtigen.83

Mögliche Fehlvorstellungen können mit Hinweisen auf derHomepage ausgeräumt werden.84 Der Slogan »All you need ist l@w«

wurde als zulässig erachtet.85 Die Domain »Rechtsanwalt.com«ist unzulässig, sofern die Internetpräsentation nicht vonBerufsangehörigen zugänglich gemacht wird.86 Die Angabewww.ra[Ortsname].de verstößt grundsätzlich nicht gegen § 1UWG.87

Es verstößt weder gegen das Marken- oder Wettbewerbsrechtnoch gegen das RBerG, wenn eine Einzelperson unter der Domainwww.rechtsbeistand.info einen Suchdienst für Rechtsanwälte,Rechtsbeistände, Notare und Steuerberater präsentiert.88

3. Rechtsberatung im Internet

Mittels E-Mail kann der User einen Sachverhalt darlegen undFragen zur rechtlichen Einordnung stellen. Die Abrechnung kannstreitwertbezogen nach der BRAGO erfolgen, wobei eine Erst-beratungsgebühr anfällt (§ 20 BRAGO). Daneben kann in außer-gerichtlichen Angelegenheiten eine Pauschal- bzw. Zeitvergütungvereinbart werden (§ 3 Abs. 5 BRAGO).89

Eine Haftungsbeschränkung aufgrund der internetspezifischenRisiken (Computerausfälle, unvollständige Sachverhaltsaufklä-rung) lässt sich nur begrenzt vereinbaren (§ 51a BRAO). Es mussabgesichert werden, dass ein Auftrag unverzüglich abgelehntwerden kann (§ 44 BRAO). Das setzt die ständige Prüfung dereingehenden E-Mails voraus.

V. Checkliste

• Wurde eine einprägsame Internetadresse ausgewählt, die nichtgegen das Berufsrecht verstößt?

• Erfolgt die Eintragung in kostenlose und/oder kostenpflichtigeAnwaltssuchdienste?

• Werden zutreffende Metatags im Quelltext der Internetpräsen-tation verwendet?

• Ist die Anbieterkennzeichnung auf jeder Seite des Angebotssichtbar im Bildschirmbereich bereitgehalten bzw.

• ist ein eindeutiger Link zur Anbieterkennzeichnung an leichtsichtbarer Stelle wahrnehmbar auf jeder Seite des Angebots vor-handen?

• Enthält die Anbieterkennzeichnung den gesetzlichen Inhalt?• Sind rechtswidrige Inhalte ausgeschlossen, die eine Haftung

auslösen könnten?• Ist die regelmäßige Kontrolle des verlinkten Inhalts gewähr-

leistet?

Haupt/Schmidt , Onl ine-Auft r i t te von Rechtsanwälten

66 BGH, NJW 2001, 2886 – Rundschreiben.67 Kleine-Cosack (Fn 42), S. 63; OLG München, NJW 2002, 760.68 AGH BW, NJW 1997, 1316.69 OLG Dresden, BRAK-Mitt. 1998, 239.70 AGH BW, MDR 2000, 178.71 BVerfG, NJW 2001, 1926.72 Kleine-Cosack (Fn 42), S. 57.73 BVerfG, NZA 1993, 691.74 BVerfG, NJW 2001, 3324.75 LG Freiburg, DStRE 1998, 538.76 BGH, BRAK-Mitt. 1998, 98. Für Steuerberater vgl. LG München II, StB 2001,

1859.77 BGH, BRAK-Mitt. 2001, 139.78 Karl, »Werberecht freier Berufe und generische Domainnamen«, BRAK-

Mitt. 2004, 5 (10).79 BGH, NJW 2001, 3262, 3265 – mitwohnzentrale.de.80 OLG München, NJW 2002, 2113 – rechtsanwaelte-dachau.de.81 BGH, NJW 2003, 662 – presserecht.de; NJW 2003, 504 – rechtsanwaelte-

notar.de.82 BGH, NJW 2003, 662 – presserecht.de.83 OLG Hamburg, ZUM-RD 2003, 536.84 OLG Hamburg, ebenda.85 AGH Hamburg, NJW 2002, 3184.86 OLG Hamburg, NJW-RR 2002, 1582 = MMR 2002, 824.87 OLG München, NJW-RR 2003, 781 = MMR 2003, 404; Hoffmann (Fn 42),

S. 2579.88 LG Berlin, NJW 2004, 1254.89 Härting, in: Hagenkötter/Härting, Anwälte im Netz, 2001, 70.

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Neue Justiz 6/2004250

• Handelt es sich bei den Elementen bzw. der Gestaltung der Inter-netpräsentation um eine urheberrechtlich relevante Leistung?

• Wer ist Urheber bzw. Rechteinhaber?• Kann der Nachweis der Übertragung der Rechte zur Nutzung im

Internet lückenlos erbracht werden?• Erfolgt die Namensnennung der Urheber bzw. Leistungs-

schutzberechtigten?• Erfolgt der Copyright-Hinweis auf allen Seiten?• Soll ein Bildnis iSv § 22 KUG veröffentlicht werden?• Liegt die Einwilligung des Abgebildeten vor?• Wurde in der Einwilligung als Zweck der Bildveröffentlichung

die Internetnutzung benannt?• Besteht ausnahmsweise eine Abbildungsfreiheit nach §§ 23

bzw. 24 KUG?

• Verletzt die Domain bzw. der Inhalt der InternetpräsentationMarken- bzw. Kennzeichenrechte Dritter?

• Welche Prioritäten älterer, besserer Rechte bestehen? • Wurden bei der Feststellung besserer bzw. kollidierender

Rechte im Bereich der Internetadressen die verschiedenen TLDberücksichtigt?

• Liegt bei Gleichnamigkeit eine überragende Bekanntheit desanderen vor?

• Wird bei der Verwendung eines Gattungsbegriffs in einerDomain dieser nur unter einer TLD registriert?

• Ist eine unlautere Zueigenmachung fremder Leistungen z.B.durch Frames ausgeschlossen?

• Ist eine unlautere Alleinstellungsbehauptung ausgeschlos-sen?

Aufsätze Haupt/Schmidt , Onl ine-Auft r i t te von Rechtsanwälten

Der Beitrag befasst sich mit den rechtlichen Konsequenzen von Fest-stellungsurteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.Noch nicht abschließend geklärt sind die konkreten Verpflichtungeneines Konventionsstaates aus einem gegen ihn ergangenen EGMR-Urteil– insbesondere dann, wenn die Konventionsverletzung aufgrund dernationalen Gesetzeslage bzw. -auslegung (auch) durch ein Urteilbegangen wurde. Das besondere Augenmerk der Autorin liegt auf demzivilprozessualen Wiederaufnahmeverfahren.

I . Zum Inhalt der EGMR-Entscheidung vom 22.1.2004

Im Urteil Jahn u.a. ./. Bundesrepublik Deutschland hat der EGMR am22.1.20041 festgestellt, dass die entschädigungslose Enteignungder Erben von Begünstigten der Bodenreform durch das 2. VermR-ÄndG gegen das Recht auf Eigentum in Art. 1 des 1. Zusatz-protokolls zur EMRK verstößt. Nach Art. 43 EMRK kann jedePartei innerhalb von drei Monaten nach Verkündung des Urteilsder Kammer in Ausnahmefällen die Verweisung der Rechtssachean die Große Kammer des EGMR beantragen. Vor dem Hinter-grund der bewussten Entscheidung des Gesetzgebers für eineNachzeichnungslösung aus Gründen der Gleichbehandlung hatDeutschland eine solche Verweisung beantragt und damit umeine abschließende Klärung der Rechtsfragen ersucht.2

Über die konkrete Abwicklung der Verpflichtung zur Wieder-gutmachung wird bereits diskutiert, bevor das EGMR-Urteilendgültig iSd Art. 44 Abs. 1 oder 2c EMRK geworden ist. Aber auchwenn der Ausschuss der Großen Kammer den Antrag der Bundes-regierung zur Entscheidung ablehnen oder die Große Kammerdas Urteil inhaltlich bestätigen sollte, wird die innerstaatlicheUmsetzung der Straßburger Entscheidung weiterhin Problemeaufwerfen.

II. Die innerstaatliche Umsetzung von EGMR-Urteilen

Die Konsequenzen dieser Urteile sind weitreichend. Die Wahl derMittel zur Umsetzung der Entscheidungen des EGMR ist jedochdem Konventionsstaat überlassen. Der verletzende Konventions-staat hat (lediglich) alle im innerstaatlichen Recht vorhandenenMittel auszuschöpfen, die geeignet sind, den Beschwerdeführer sozu stellen, wie er ohne die Verletzung stünde.

Deutschland als Konventionsstaat der EMRK hat sich derJurisdiktion des EGMR unterworfen. Der deutsche Gesetzgeber hatdie EMRK mit Zustimmungsgesetz in das deutsche Recht inkor-poriert.3 Da man davon ausgeht, dass das Zustimmungsgesetz als»Transformator« nicht mehr an innerstaatlicher Rechtsqualitätvermitteln kann als es selbst besitzt, gilt die EMRK in der Bundes-republik somit als einfaches Bundesrecht.4 Dieses Bundesrechtkollidiert im konkreten Fall mit mehreren Beschlüssen des BVerfG,laut denen die entsprechenden Bestimmungen des 2. VermRÄndGmit dem Grundgesetz vereinbar sind.5 Diese Entscheidungen desBVerfG haben Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG).

1 EGMR, NJ 2004, 167 = NJW 2004, 923 = VIZ 2004, 166.2 Siehe dazu Pressemitt. des BMJ v. 21.4.2004, Inform. auf S. III, in diesem Heft.

Zur Nachzeichnungslösung siehe Pressemitt. des BMJ v. 26.2.2004(www.bmj.bund.de). Vgl. auch BGH, Urt. v. 17.12.1998, NJ 1999, 203.Gegen diese Argumentation bereits Purps, VIZ 2001, 65 ff., sowie jüngstKolb, NJ 2004, 145 ff. (147). Siehe auch Dokumentation in NJ 2004, 118.

3 Ges. über die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grund-freiheiten v. 7.8.1952, BGBl. II S. 685.

4 Zweifelnd statt vieler Wilfinger, Das Gebot effektiven Rechtsschutzes inGrundgesetz und Europäischer Menschenrechtskonvention, Frankfurt/M.1995, S. 187 ff. m. zahlr. Nachw.

5 BVerfG, Beschl. v. 4.10.1995, NJ 1996, 195; Beschl. v. 6.10.2000, NJ 2001,247; Beschl. v. 25.10.2001, VIZ 2001, 115. Zur Problematik des konven-tionswidrigen Gesetzes, das vom BVerfG für verfassungsgemäß gehaltenwurde, siehe auch Zwingenberger, Die Europäische Kommission zumSchutz der Menschenrechte in ihrer Auswirkung auf die BundesrepublikDeutschland, Münster 1997, S. 350.

Auswirkungen des EGMR-Urteils zur Bodenreform aufrechtskräftig abgeschlossene gerichtliche VerfahrenRichterin und wiss. Mitarbeiterin Dr. Michaela Reinkenhof, Universität Leipzig

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251Neue Justiz 6/2004

Weitgehend unstrittig ist, dass bei festgestellter Unverein-barkeit nationaler Normen mit der EMRK der Konventionsstaatzur Änderung seiner Rechtsordnung verpflichtet ist, um neuenFällen von Konventionsverletzungen und damit dem Vorwurfder Begehung eines völkerrechtlichen »Dauerdelikts« vorzubeugen.6

Die Herstellung einer konventionsgemäßen Rechtslage durchden Gesetzgeber nützt den Betroffenen, gegen die ein bereitsrechtskräftiges Urteil ergangen ist, erst einmal nichts. Der Kon-ventionsstaat ist im Fall eines Urteils, das auf einem konven-tionswidrigen Gesetz beruht, nämlich an die innerstaatlicheRechtskraft und die Unabhängigkeit der Justiz gebunden. Auchdie Möglichkeit, solche Urteile nicht zu vollstrecken, erfüllt diePflicht zur Wiedergutmachung nur unvollständig, werden dochdie Folgen des konventionswidrigen Urteils nur für die Zukunftbeseitigt.7 Überdies wird die Vollstreckung in den »hängendenAlterbenfällen« zumeist schon erfolgt sein.

Wie kann Betroffenen also geholfen werden? Der Gesetzgeberkönnte zur Wiedergutmachung bei der anstehenden Gesetzes-änderung eine Bestimmung treffen, dass bei denjenigen Urteilen,welche auf der konventionswidrigen Norm basieren, eine Wieder-aufnahme zuzulassen ist.8 Unabhängig von den konkreten Fällenkönnte der nationale Gesetzgeber eine generelle Wiederaufnahme-möglichkeit für den Fall einführen, dass der EGMR eine Menschen-rechtsverletzung festgestellt hat.9 Zu einer solchen Gesetzgebungist ein nationaler Gesetzgeber allerdings nicht verpflichtet.10

Gleichwohl hat der bundesdeutsche Gesetzgeber im Jahr 1998eine entsprechende Regelung in die StPO eingefügt (§ 359 Ziff. 6StPO). Aus den Materialien zur entsprechenden Änderung derStPO ergibt sich nicht, dass der Gesetzgeber eine vergleichbareÄnderung der ZPO in Betracht gezogen hätte.11 Folglich suchtman in der ZPO vergebens. Hieraus kann nun nicht geschlossenwerden, dass eine zivilprozessuale Wiederaufnahme nach demWillen des Gesetzgebers ausgeschlossen sein soll. Vielmehr hatder Gesetzgeber vermutlich kein Regelungsbedürfnis gesehen, daein solcher Fall in Deutschland bislang nicht aufgetreten war.12

Das mag sich jetzt ändern.

III. Zivilprozessuale Wiederaufnahmeverfahren in den Neubauernerben-Fällen

Zu unterscheiden sind ausgehend vom Urteil des EGMRv. 22.1.2004 die Folgen zum einen für die fünf Beschwerdeführerdes Verfahrens, zum anderen für Betroffene gleich gelagerter Fälle.

1. Wiederaufnahmeklage seitens der Beschwerdeführer

Rechtswirkungen entfaltet das EGMR-Urteil nur inter partes, alsozwischen den fünf Beschwerdeführern und der BundesrepublikDeutschland. Für die fünf Beschwerdeführer ist entscheidend, dassdas Feststellungsurteil des EGMR – nach seiner Endgültigkeit – fürdie Beteiligten zwar verbindlich ist, aber nicht ipso iure die Rechts-kraft der entsprechenden bundesdeutschen Urteile durchbricht.13

Im Hinblick auf die Pflicht der Bundesrepublik, ihre konven-tionswidrige Gesetzgebung zu ändern bzw. aufzuheben, müssenzumindest die fünf Beschwerdeführer ein zögerliches Gesetz-gebungsverfahren nicht fürchten. Denn zur Prüfung der Frage, obin den anhängigen Fällen eine Rückübertragung erfolgen solleoder nur eine Entschädigung geleistet werde, hat der EGMR denParteien eine Sechsmonatsfrist eingeräumt und eine Einigungzwischen den Parteien angeregt. Nach Ablauf dieser Frist wirdder EGMR über die Rechtsfolgen seines Urteils entscheiden. DieBeschwerdeführer können also zumindest auf eine gerechteEntschädigung nach Art. 41 EMRK hoffen.

Ob die Beschwerdeführer darüber hinaus – wenn das EGMR-Urteil endgültig ist – auch eine zivilprozessuale Wiederaufnahme-klage anstrengen könnten, ist daher eine wohl eher akademischeBetrachtung und erscheint zudem fraglich. Das Urteil des EGMRist weder neue Tatsache noch Beweismittel im Sinne der zivil-prozessualen Wiederaufnahmebestimmungen. Ein Restitutions-grund nach § 580 Nr. 6 ZPO liegt nicht vor, da durch die Entschei-dung des EGMR kein präjudizielles nationales Urteil aufgehobenwurde, auf welches das jetzt anzugreifende nationale Urteil inSachen der Beschwerdeführer gegründet ist.14 Denn wie dargelegtlässt die EMRK konventionswidrige, aber rechtskräftige nationaleUrteile unangetastet. Insbesondere ist auch § 580 Nr. 7b ZPOnicht direkt anwendbar. Zum einen ist die Entscheidung desEGMR keine Urkunde, die zu einem Zeitpunkt errichtet wurde, indem sie im Vorprozess noch hätte benutzt werden können.15 Zumanderen erscheint es fraglich, ob sie geeignet wäre, eine günstigereEntscheidung zugunsten der Beschwerdeführer herbeizuführen.16

Damit bestünde bei wörtlicher Auslegung der Wiederaufnahme-bestimmungen keine Möglichkeit, ein rechtskräftiges deutschesUrteil, dessen Konventionswidrigkeit durch den EGMR festge-stellt worden ist, zu korrigieren.

In Rechtsprechung und Lehre zum Strafprozessrecht war manvor Einfügung des § 359 Ziff. 6 in die StPO zu einem vergleich-baren Ergebnis gelangt.17 Man suchte aber auch dort nach Kor-rekturmöglichkeiten. Das BVerfG hat 1985 offen gelassen, ob dieAuffassung, dass § 359 Nr. 5 StPO und § 79 Abs. 1 BVerfGG einerausdehnenden Auslegung nicht zugänglich seien, einfach-recht-lich zwingend sei.18 Völkerrechtlich geschuldet sei eine erwei-ternde Auslegung jedenfalls nicht. Im Strafprozessrecht hat sichdie Diskussion durch das Tätigwerden des Gesetzgebers erübrigt.

Für das Zivilprozessrecht hingegen ist die geltende Rechtslagenoch unbefriedigend. Die Restitutionsklage ist ein außerordent-licher Rechtsbehelf. Die Rechtssicherheit verbietet seine Anwen-dung in anderen als den besonders angeordneten Fällen.19

Reinkenhof , Auswirkungen des EGMR-Urte i l s zur Bodenre form …

6 Siehe nur E. Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerdegegen richterliche Entscheidungen, Berlin 1963, S. 328; Uerpmann, DieEuropäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtspre-chung, Berlin 1993, S. 192; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staatenaus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,Berlin u.a. 1993, S. 63. Gegen die Zwischenschaltung eines besonderenGesetzgebungsakts und für eine unmittelbare Wirkung der Urteile desEGMR: Stöcker, NJW 1982, 1905 ff. (1909).

7 Siehe Polakiewicz (Fn 6), S. 112.8 Vgl. E. Schumann (Fn 6), S. 329.9 Für ein besonderes Ausführungsgesetz zur Menschenrechtskonvention:

E. Schumann, NJW 1964, 753 ff. (755).10 Siehe BVerfG, NJW 1986, 1425 ff. (betr. die Wiederaufnahme eines Straf-

verfahrens nach Feststellung einer EMRK-Verletzung); ferner Meyer-Ladewig, Handkomm. zur EMRK, Baden-Baden 2003, Art. 46 Rn 8; Ress,Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten. DieWirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechteim innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, in: I. Maier(Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, Heidelberg 1982, S. 227 ff.(241); Leeb, Die innerstaatliche Umsetzung der Feststellungsurteile desEuropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im entschiedenen Fall,Linz 2001, S. 17 f.; Polakiewicz (Fn 6), S. 112.

11 BT-Drucks. 13/3594; 13/10333.12 Krit. zu der fehlenden Regelung Meyer-Ladewig (Fn 10), Art. 46 Rn 8.13 Zu den innerstaatlichen Wirkungen eines Feststellungsurteils vgl. Stein/

Jonas-Grunsky, ZPO-Komm., 21. Aufl. 1994, vor § 578 Rn 58; Uerpmann(Fn 6), S. 188; Meyer-Ladewig, (Fn 10), Art. 46 Rn 8 (allerdings für Urteile,die auf einem nicht konventionswidrigen Urteil beruhen); E. Schumann(Fn 6), S. 176.

14 Vgl. OLG Dresden, Beschl. v. 1.4.2004, 16 U 0297/04 (PKH-Beschluss). 15 Zu dieser Voraussetzung, Zöller-Greger, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 580 Rn 16a.16 Vgl. OLG Dresden (Fn 14).17 Siehe hierzu den Überblick bei Polakiewicz (Fn 6), S. 128 ff.; Uerpmann

(Fn 6), S. 188 m. zahlr. Nachw. in Fn 61. 18 BVerfG, NJW 1986, 1426.19 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 62. Aufl. 2004, § 580 Rn 1;

a.A. MünchKomm/Braun, ZPO, 2. Aufl. 2000, vor § 578 Rn 7 ff., § 580Rn 2 ff. Gegen eine analoge Anwendung von bestehenden Wiederaufnahme-tatbeständen bei Feststellung einer Konventionsverletzung durch denEGMR ausdrückl. Leeb (Fn 10), S. 18.

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Neue Justiz 6/2004252

Zumindest ist dies die traditionelle Auffassung basierend auf derLehre von der Beweissicherheit nach Gaul.20 Eine im Vordringenbefindliche Literaturmeinung – zurückgehend auf Braun21 – befür-wortet gleichwohl die Analogiefähigkeit der Wiederaufnahme-gründe und gelangt so zu einer entsprechenden Anwendung von§ 580 Nr. 7b ZPO bzw. § 580 Nr. 6 oder 7a ZPO.22 Doch was solldas Ergebnis eines solchen Wiederaufnahmeverfahrens sein?Ob sich aus Art. 46 EMRK in Verbindung mit dem Zustimmungs-gesetz eine Bindung der deutschen Gerichte an die Urteile desEGMR herleiten lässt, ist strittig.

Die erste Auffassung verneint eine solche Bindung.23 Dasbedeutet, dass der Richter, solange der Gesetzgeber noch nichttätig geworden ist, die alte konventionswidrige Rechtsordnunganzuwenden hätte und so zu keinem anderen Ergebnis als imfrüheren Verfahren kommen würde.24 Dieses Ergebnis würdefreilich der völkerrechtlichen Verpflichtung widersprechen, einenneuerlichen Verstoß gegen Konventionsbestimmungen zu ver-hindern. Wer ein solches Ergebnis aus völkerrechtlichen Gesichts-punkten vermeiden will, dürfte daher konsequenterweise einWiederaufnahmeverfahren zumindest vor Änderung der konven-tionswidrigen Gesetzgebung nicht zulassen.

Für die zweite Auffassung, die von einer Bindung deutscherGerichte an die Urteile des EGMR ausgeht, stellt sich die Proble-matik sinnwidriger Ergebnisse eines möglichen Wiederaufnahme-verfahrens nicht. Vielmehr erscheint nach dieser Auffassung dieBindung der nationalen Gerichte an die Rechtsansicht des EGMRunvermeidlich, wenn man den festgestellten Konventionsverstoßunverzüglich beenden will.25 Dementsprechend hat das Gerichtauch im Wiederaufnahmeverfahren schon vor Änderung derGesetzgebung die Grenzen zu ignorieren, die ihm sein nationalesRecht setzt. Nur dann läuft das Wiederaufnahmeverfahren nicht leer.

Die zweite Auffassung wird auf zwei Argumente gestützt:Zum einen wird vertreten, dass mit der Inkorporation der EMRKin deutsches Recht die Befolgung der vom EGMR ausgesprochenenFeststellungen zur Konventionswidrigkeit eines nationalenGesetzes den Gerichten und Behörden des verletzenden Konven-tionsstaates zur Pflicht gemacht worden sei.26 Zum anderen wirdvon einem Verbot konventionswidrigen Verhaltens ausgegangenund es werden in der Folge allgemeine Auslegungsgrundsätzeangewendet. Die EMRK gilt in der Bundesrepublik als einfachesBundesrecht. Soweit eine Konfliktlage zwischen den Regelungender EMRK und anderen einfachgesetzlichen Normen besteht,wäre bei konventionsfreundlichem Verhalten nicht die Regel lexposterior derogat legi anteriori, sondern der Grundsatz lex specialisderogat legi generali anzuwenden. Konventionswidrige Gesetzewürden danach verdrängt und wären nicht mehr anzuwenden.27

Beide Argumente haben den Vorteil, dass es nicht zur Voll-streckung konventionswidriger Urteile kommen kann. Gleich-wohl ist eine solche unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 46Abs. 1 EMRK abzulehnen. Auch wenn die Fortgeltung des kon-ventionswidrigen Rechtssatzes bis zum Einschreiten des Gesetz-gebers eine »verwundbare Stelle«28 ist, ist daran festzuhalten, dassdas Konventionssystem deutlich zwischen der völkerrechtlichenund der innerstaatlichen Ebene trennt. Dies schließt die inner-staatliche Wirkung einer EGMR-Entscheidung dann nicht aus,wenn das nationale Recht eine spezielle Bestimmung, nach der dieEntscheidungen des EGMR die nationalen Gerichte binden, vor-sieht. Eine solche Bestimmung fehlt jedoch im deutschen Recht.

2. Wiederaufnahmeklage seitens sonstiger Neubauernerben

Was gilt in gleich gelagerten Fällen? Die Schar der Betroffenen istgroß. Die Fälle, in denen Bodenreformeigentümer zu DDR-Zeiten

Grundstücke hinterlassen haben und diese von den Erben nichtmehr landwirtschaftlich genutzt wurden, betreffen eine Boden-fläche von geschätzt 100.000 Hektar.29 Allein in Sachsen gibt esin Bezug auf das Urteil des EGMR zur Bodenreform exakt 5.276ähnlich gelagerte Einzelfälle.30

Den Betroffenen hatten die eingetragenen Vereine gegen dieAbwicklung der Bodenreform bzw. zur Verteidigung der Boden-reform – ungeachtet der fehlenden Endgültigkeit des EGMR-Urteils – empfohlen, eine Wiederaufnahmeklage nach §§ 578 ff.ZPO zu erheben.31 Die Anwaltschaft, welche die Materie als»kompliziert und für den Anwalt regressträchtig« einstuft, hattevielfach den gleichen Rat erteilt.32 So ist es nicht verwunderlich,dass viele der Betroffenen diesem Ratschlag gefolgt sind.

Die zuvor erläuterten Bedenken gegen eine solche Wiederauf-nahmeklage gelten hier um so mehr, als die Wiederaufnahme-kläger selbst kein Urteil vor dem EGMR erstritten haben, ihrjeweiliger Fall vielmehr nur als gleich gelagert bezeichnet werdenkann.33 Wie auch im nationalen Recht, wirkt im internationalenRecht die Rechtskraft grundsätzlich nur inter partes.34 Die Fest-stellungswirkung des EGMR-Urteils erstreckt sich also nur auf dieam EGMR-Verfahren beteiligten Parteien. Genauso wenig wie eineRestitutionsklage nach § 580 Nr. 6 ZPO darauf gestützt werdenkann, dass das Urteil in einem Parallelprozess vom Revisions-gericht aufgehoben wurde,35 können sich die Neubauernerben,die den Weg zum EGMR nicht gesucht haben, auf dessen Urteilberufen. Andernfalls würden die Zulässigkeitsvoraussetzungendes Art. 35 EMRK unterlaufen.

Aufsätze Reinkenhof , Auswirkungen des EGMR-Urte i l s zur Bodenre form …

20 Gaul, Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung derWiederaufnahmegründe, Bielefeld 1956.

21 Braun, Rechtskraft und Restitution, 2. Teil, Berlin 1985.22 Zöller-Geimer (Fn 15), Einl. Rn 136; Stein/Jonas-Schumann, ZPO, 20. Aufl.

1984, Einl. XIV D Rn 684 (jew. für eine entsprechende Anwendung von § 580Nr. 7b); Böhringer, Rpfleger 2004, 267 ff. (269), lässt es jedoch offen, ob eineWiederaufnahme nach § 580 Nr. 7b erreicht werden kann; Stein/Jonas-Grunsky (Fn 13), vor § 578 Rn 58 (für eine entsprechende Anwendung von§ 580 Nr. 7a); Schramm/Neixler, Briefe zum Agrarrecht 2004, 98 ff. (103, füreine entsprechende Anwendung von § 580 Nr. 6 oder 7a); Schlosser, Zeitschr.f. Zivilprozeßrecht (ZZP) 1966, 164 ff. (189); E. Schumann (Fn 6), S. 329 (jew.ohne Benennung der analogiefähigen Vorschrift). Vage Zwingenberger(Fn 5), S. 351, der dem Verletzten das Recht zusprechen will, ungeachtet derRechtskraft der früheren gerichtlichen Entscheidung, »nochmals zu klagen«.

23 Vgl. Uerpmann (Fn 6), S. 210. Aus der Rspr. im Gefolge der EGMR-UrteileLuedicke (EuGRZ 1979, 34) und Öztürk (EuGRZ 1985, 62) siehe z.B. OLGHamm, Beschl. v. 16.6.1978 (1 WS 26/78), hier zitiert nach Polakiewicz(Fn 6), S. 299.

24 Vgl. Uerpmann (Fn 6), S. 190; E. Schumann (Fn 6), S. 329; ders. (Fn 9),S. 755; ihm folgend Schorn, Die Europäische Konvention zum Schutz derMenschenrechte und Grundfreiheiten. Text und Kommentar, Frankfurt/M.1965, S. 405; wohl auch A. Kolb, NJ 2004, 149; krit. zu dieser »dualisti-schen« Auffassung Stöcker (Fn 6), S. 1907.

25 Vgl. hierzu Leeb (Fn 10), S. 74 u. 77.26 Vgl. Stöcker (Fn 6), S. 1908.27 So Selbmann, Gedanken zur Anwendbarkeit der Regelungen zur Wieder-

aufnahme des Verfahrens, www.bodenreformland.de/Forum/public (Stand:19.4.2004). Siehe bereits den Hinweis bei Ress, EuGRZ 1996, 350 ff. (353).

28 E. Schumann (Fn 6), S. 329.29 Dabei betrug das Gesamtvolumen der Bodenreform zwischen 1945 und

1949 nach einer Pressemitt. des BMJ v. 21.4.2004 rd. 3,3 Mio. Hektar. 30 Dabei sollen insges. rd. 85.000 Vorgänge geprüft worden sein – so auf

Anfrage M. Lesch, Sprecher des zuständigen Finanzministeriums. Die Zahlsei geringer als in den Ländern Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpom-mern. Grund dafür seien die traditionell geringere Bedeutung der Land-wirtschaft in Sachsen und deren Gliederung in kleinere Betriebe bereits vorder Bodenreform. Insgesamt erstreckten sich die Ansprüche auf 11.700 ha.Keine detaillierten Angaben sind zu der Frage verfügbar, welcher Teil derjetzt strittigen Flächen sich noch im Landesbesitz befindet oder bereits weiterveräußert wurde (ND-special v. 28./29.2.2004, S. 5). In Sachsen-Anhalt habennach Angaben des Agrarministeriums rd. 5.000 Personen eine Rückgabeihres früheren Eigentums oder eine Entschädigung beantragt (Mitteldeut-sche Zeitung v. 28.2.2004). Weitere Zahlen bei Böhringer (Fn 22), S. 268.

31 www.neubauernerben.de/aktuelles4.htm (Stand: 19.4.2004).32 Siehe nur Schramm/Neixler (Fn 22), S. 102; wohl auch Grün, ND-special,

v. 28./29.2.2004, S. 4.33 Schramm/Neixler (ebenda), S. 103, befürworten es, solch »rechtliches Neu-

land« zu betreten.34 Polakiewicz (Fn 6), S. 33.35 BGH, NJW-RR 1994, 894.

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253Neue Justiz 6/2004

Wirft man einen Blick auf Kommentierungen zu § 359 Nr. 6StPO, erfährt man, dass die Erweiterung der Wiederaufnahme-gründe auch dort nur denjenigen Verurteilten zugute kommt, diein eigener Person vor dem EGMR ein obsiegendes Urteil erstrittenhaben, in welchem die Unvereinbarkeit von Rechtsnormen, aufdenen das bundesdeutsche Strafurteil gegen sie beruhte, mit denBestimmungen der EMRK festgestellt wurde.36

Wer dennoch von einer erga-omnes-Verbindlichkeit des EGMR-Urteils ausgeht und überdies auf den Zeitraum vor Endgültigkeitdieses Urteils abstellt, hat im Wiederaufnahmeverfahren möglicher-weise eine Aussetzung nach § 148 ZPO analog beantragt. Diese istjedoch abzulehnen. Die später endgültige EGMR-Entscheidung istfür Restitutionsklagen in Parallelprozessen nicht vorgreiflich iSd§ 148 ZPO. Eine Aussetzung des Verfahrens allein aufgrund vonZweckmäßigkeitsgründen sieht das Gesetz nicht vor.37

Ist das EGMR-Urteil erst einmal endgültig, stößt man im Wieder-aufnahmeverfahren auf die o.g. Schwierigkeiten. Wie bereitsangemerkt ist nämlich von der Fortgeltung der konventions-widrigen Rechtsordnung bis zum Tätigwerden des Gesetzgebersauszugehen. Vereinzelt wird vorgeschlagen, anhängige Verfahren(in unserem Zusammenhang also die Wiederaufnahmeverfahren)bis zu einer Neuregelung auszusetzen.38 Jedoch ist im Fall desBevorstehens einer gesetzlichen Neuregelung eine Aussetzung inanaloger Anwendung des § 148 ZPO umstritten.39 Die Aussetzungeines entscheidungsreifen Verfahrens, allein um eine Gesetzes-änderung abzuwarten, wird von vielen als unzulässig betrachtet.40

In jedem Fall wäre eine derartige Aussetzung im Hinblick auf denim Grundgesetz garantierten wirksamen Rechtsschutz nur inengen, zeitlichen Grenzen zulässig. Ein Stillstand des Verfahrenskönnte in diesem Fall schließlich auch durch einen Antrag beiderParteien auf Ruhen des Verfahrens nach § 251 ZPO erreichtwerden.41 Über die »Zweckmäßigkeit« einer solchen Anordnungließe sich freilich ebenso trefflich streiten.

IV. Prozessvergleiche in Bodenreformsachen und die Rechtsprechung des EGMR

Eine weitere schon jetzt praxisrelevante Frage lautet, welcheAuswirkungen das Urteil des EGMR auf abgeschlossene Prozess-vergleiche haben kann.

Auch ein Prozessvergleich unterfällt § 779 BGB. Unstrittig ist,dass Vorstellungen über die künftige Gesetzgebung oder denFortbestand einer bestimmten Rechtsprechung nicht unter dieRegelung des § 779 BGB fallen.42 Ein Irrtum über den späterenGang der Gesetzgebung oder eine mögliche Änderung der Recht-sprechung kann nur unter dem Gesichtspunkt des Wegfalls derGeschäftsgrundlage relevant sein.43 Ob die Vereinbarkeit derentsprechenden Vorschriften des 2. VermRÄndG mit der EMRKGeschäftsgrundlage für die am jeweiligen Prozessvergleich betei-ligten Parteien war, erscheint mehr als fraglich und bleibt imjeweiligen Einzelfall zu prüfen. Nahe liegender erscheint es, aufdie Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und folglich auf die Fort-geltung der entsprechenden Vorschriften des 2. VermRÄndGabzustellen.

Sollte der Verweisungsantrag der Bundesregierung durch denAusschuss der Großen Kammer abgelehnt werden bzw. das Straß-burger Urteil im Ergebnis auch in der Großen Kammer bestätigtwerden und sollte der deutsche Gesetzgeber sodann den konven-tionswidrigen Zustand legislatorisch beseitigen, dann – aber aucherst dann! – ist an einen Wegfall der Geschäftsgrundlage zudenken. Sollte sich der Gesetzgeber im Hinblick auf die Umset-zung des Urteils des EGMR für eine Entschädigungsregelung

entscheiden, so wären die entsprechenden Verträge nach einerumfassenden Interessenabwägung anzupassen.

Auch eine Änderung der deutschen Rechtsprechung wird sich– legt man die hier präferierte Auffassung zugrunde – erst nachTätigwerden des deutschen Gesetzgebers vollziehen. Folglichkann auch erst zu diesem Zeitpunkt die Geschäftsgrundlage»Kontinuität der Rechtsprechung« wegfallen.

Schließlich sind bereits Fälle bekannt, in denen der Prozessver-gleich unmittelbar nach Verkündung des EGMR-Urteils angefoch-ten wurde. Doch stellt sich in diesen Fällen die Frage, ob nicht inWahrheit ein unbeachtlicher Irrtum im Beweggrund vorliegt.Ob diese Frage im alten Verfahren zu klären oder der Anfechtendeauf einen neuen Prozess zu verweisen ist, mag hier dahingestelltbleiben.

V. Fazit

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass vor Endgültigkeit desEGMR-Urteils die Einlegung von Rechtsmitteln nicht veranlasstwar. Aber auch wenn der Ausschuss der Großen Kammer denVerweisungsantrag der Bundesregierung ablehnen oder die GroßeKammer im Ergebnis die Entscheidung der (Kleinen) Kammerbestätigen sollte, besteht für die zivilprozessuale Wiederaufnahmeder Verfahren sowohl der betroffenen als auch anderer Neubauernnach der derzeitigen Gesetzeslage kein Restitutionsgrund.

Der Gesetzgeber muss sich nun die Frage stellen, ob die Wieder-aufnahmegründe der ZPO zu ergänzen sind. Dabei sollte er ggf.klarstellen, welche Rechtslage der Richter bis zu einer gesetzlichenNeuregelung der konventionswidrigen Vorschrift zugrunde zulegen hat. Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Recht-sprechung des verletzenden Konventionsstaates nämlich bis zumTätigwerden des Gesetzgebers an die konventionswidrige Rechts-ordnung gebunden. Die Nichtanwendung konventionswidrigerinnerstaatlicher Regelungen geht über das Gebot einer konven-tionskonformen Auslegung weit hinaus und lässt die Trennungzwischen völkerrechtlicher und innerstaatlicher Ebene unberück-sichtigt.

Zu beachten ist ferner, dass die Entscheidung des EGMR nurinter partes wirkt. Wenn der Gesetzgeber einem dictum aus Straß-burg im Ergebnis eine erga-omnes-Wirkung verleihen will, somuss er dies regeln. Im konkreten Fall mag dies einer Überlegungwert sein, wenn man einen Gleichlauf der Wiederaufnahme-verfahren sonstiger Neubauernerben mit denjenigen Verfahrenerzielen will, welche durch Prozessvergleich beendet wurden undnunmehr durch Terminsanberaumung fortgesetzt werden.

Grundsätzlich ist eine Anpassung von Prozessvergleichen unterdem Gesichtspunkt einer Änderung der Gesetzgebung nämlichmöglich. Allerdings kommt sie erst dann in Betracht, wenn derdeutsche Gesetzgeber den konventionswidrigen Zustand beseitigthaben wird. Gleiches gilt für einen Wegfall der Geschäftsgrund-lage wegen geänderter Rechtsprechung. Ob im Einzelfall derspätere Gang der Gesetzgebung oder die Kontinuität der Recht-sprechung Geschäftsgrundlage war, bleibt freilich genau zu prüfen.

Reinkenhof , Auswirkungen des EGMR-Urte i l s zur Bodenre form …

36 KK-Schmidt, 5. Aufl. 2003, § 359 StPO Rn 40. Krit. hierzu – mit Blick auf§ 79 Abs. 1 BVerfGG – aber T. Weigend, StV 2000, S. 384 ff. (388).

37 Zu diesem Gedanken siehe Stein/Jonas-Roth (Fn 13), § 148 Rn 16.38 Polakiewicz (Fn 6), S. 241.39 Für eine Aussetzung Stein/Jonas-Roth (Fn 13), § 148 Rn 99.40 Siehe hierzu Zöller-Greger (Fn 15), § 148 Rn 4.41 Für ein Ruhen des Verfahrens bei noch nicht rechtskräftig entschiedenen

Klagen nach § 894 ZPO Böhringer (Fn 22), S. 270.42 MünchKomm/Habersack, 4. Aufl. 2004, § 779 BGB Rn 63.43 BGH, MDR 1966, 310, im Hinblick auf geänderte Gesetzgebung; BGHZ 58,

355, 262, für die Änderung der zugrunde gelegten Rspr.

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Neue Justiz 6/2004254

BUNDESGESETZGEBUNG

Auswertung der BGBl. 2004 I Nr. 15 bis 19

Das Ges. zur Umsetzung der RL 2002/47/EG v. 6.6.2002 über Finanz-sicherheiten und zur Änderung des HypothekenbankG und andererGesetze v. 5.4.2004 ist am 9.4.2004 in Kraft getreten. Die EU-Richtlinie gilt zwingend für den Interbankenverkehr und schreibtdetailliert vor, wie das nationale Recht auszurichten ist. Sie eröff-net den Mitgliedstaaten aber zugleich die Möglichkeit, Geschäfteder Banken mit sonstigen Unternehmen aus dem Anwendungs-bereich auszuklammern (sog. opt-out). Der deutsche Gesetzgeberhat sich gegen ein sog. opt-out entschieden und mit der Defini-tion der Finanzsicherheit die privilegierten Finanzgeschäfte aufTransaktionen im Zusammenhang mit Finanzinstrumentenbeschränkt. Im Interesse der Gläubigergleichbehandlung geltenfür das normale Kreditgeschäft der Banken damit weiterhin dieallgemeinen insolvenzrechtlichen Regelungen. Geändert wurdenu.a. zahlreiche Bestimmungen der InsO; in das BGB wurde einneuer § 1259 (Verwertung des gewerblichen Pfandes) eingefügt.

(BGBl. I Nr. 15 S. 502)

Das Ges. zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr v.6.4.2004 enthält in Art. 1 das Montrealer-Übereinkommen-Durch-führungsG (MontÜG) und ändert in Art. 2 das LuftverkehrsG idFd. Bkm. v. 27.3.1999 (BGBl. I S. 550) sowie in Art. 3 u.a. das BGB(hinsichtlich der Überschriften zu §§ 828 u. 2101) und das HGBin § 431 (Ersetzung von Deutsche Mark durch Euro). Es dient derVerbesserung der Haftung für Schadensfälle im Luftverkehr durchVerschärfung der Haftung von Fluggesellschaften wegen Passa-gierschäden und Ausweitung des Haftungsumfangs. Wird beieinem Luftverkehrsunfall ein Passagier getötet oder körperlichverletzt, haftet künftig das Luftfahrtunternehmen auch ohne Ver-schulden bis zu einem Betrag von 123.000 € je Anspruchsteller.Über diesen Betrag hinaus haftet das Unternehmen für vermute-tes Verschulden in unbegrenzter Höhe. Trifft das Unternehmenkein Verschulden, kann es eine über 123.000 € hinausgehendeHaftung abwenden. Nach den neuen Regelungen haften Flug-gesellschaften gegenüber Passagieren auch für Schäden wegenverspäteter Beförderung und für Schäden wegen Zerstörung,Beschädigung, Verlust oder verspäteter Beförderung ihres Gepäcks.Art. 1 u. 2 treten erst an dem Tag in Kraft, an dem das MontrealerÜbereinkommen für Deutschland in Kraft tritt; der Termin wirdim BGBl. bekannt gemacht. (BGBl. I Nr. 16 S. 550)

Das Ges. zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vater-schaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes, zurRegistrierung von Vorsorgeverfügungen und zur Einführung von Vor-drucken für die Vergütung von Berufsbetreuern v. 23.4.2004 dient inerster Linie der Umsetzung des BVerfG-Beschlusses v. 9.4.2003(siehe Inform. in NJ 6/03, III), mit dem § 1600 BGB mit dem GGinsoweit für nicht vereinbar erklärt wurde, als er den leiblichen,aber nicht rechtlichen Vater eines Kindes ausnahmslos von derAnfechtung einer Vaterschaftsanerkennung ausschließt. Nach deram 30.4.2004 in Kraft getretenen Neufassung des § 1600 BGBkann nunmehr der leibliche Vater die Vaterschaft des rechtlichenVaters anfechten, sofern zwischen dem rechtlichen Vater unddem Kind keine »sozial-familiäre Beziehung« besteht oder bestan-den hat. Folgeänderungen betreffen die §§ 1600a Abs. 2, 1600bAbs. 1, 1600e u. 1685 Abs. 2 BGB und § 640h ZPO; Art. 229EGBGB wurde um einen § 10 (Überleitungsvorschrift) ergänzt(Art. 1 u. 2 des ArtikelG).Zur Registrierung von Vorsorgeverfügungen sind in die BNotO die§§ 78a bis 78c eingefügt und das bei der BNotK bereits einge-richtete Vorsorgeregister für notariell beurkundete Vorsorge-

vollmachten auf eine gesetzliche Grundlage gestellt worden.Nach den am 31.7.2004 in Kraft tretenden Regelungen sind demVormundschaftsG auf Ersuchen Auskünfte aus dem ZentralenVorsorgeregister zu erteilen (§ 78a). Die BNotK kann für die Auf-nahme von Erklärungen in das Register Gebühren erheben, diedurch Satzung zu bestimmen sind und der Genehmigung des BMJbedürfen (§ 78b). Nähere Bestimmungen über die Einrichtungund Führung des Registers, die Auskunftserteilung und überAnmeldung, Änderung, Eintragung, Widerruf und Löschung vonEintragungen hat das BMJ durch Rechtsverordnung mit Zustim-mung des Bundesrats zu treffen (Art. 2b des ArtikelG).Hinsichtlich der Vergütung von Berufsbetreuern wurden die Landes-regierungen mit dem neu eingefügten Abs. 2 in § 69e FGGermächtigt, für Anträge und Erklärungen auf Ersatz von Aufwen-dungen und Bewilligung von Vergütung Vordrucke einzuführen.

(BGBl. I Nr. 18 S. 598)

Das Ges. zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwer-behinderter Menschen v. 23.4.2004 ist im Wesentlichen am 1.5.2004in Kraft getreten. Das ArtikelG ändert das SGB IX und weitereRechtsvorschriften. (BGBl. I Nr. 18 S. 606)

GESETZESINITIATIVEN

Stärkung des AnlegerschutzesZur Umsetzung des 10-Punkte-Programms zur Stärkung derUnternehmensintegrität und des Anlegerschutzes hat die Bundes-regierung mehrere Gesetzentwürfe für ein Anlegerschutzver-besserungsG, ein BilanzrechtsreformG und ein BilanzkontrollGbeschlossen. Die Novellierung des VersicherungsaufsichtsG siehtdarüber hinaus u.a. einen gesetzlichen Sicherungsfonds für alle inDeutschland ansässigen Lebens- und Krankenversicherungen vor.Von der Bundesjustizministerin wurde zudem ein »Diskussions-entwurf« für ein Kapitalanleger-MusterverfahrensG vorgelegt, mitdem bei der Haftung für Falschinformationen gegenüber demKapitalmarkt Musterverfahren eingeführt werden sollen. Jedergeschädigte Anleger kann danach Antrag auf Einleitung einesMusterverfahrens stellen, der vom Gericht in einem Klageregisterim elektronischen Bundesanzeiger bekannt gemacht wird. Werdenmehr als zehn identische Anträge eingereicht, holt das LG beimOLG einen »Musterentscheid« zu der Rechtsfrage ein, der alleKläger bindet. Während des Musterverfahrens beim OLG ruhendie übrigen Verfahren. Der Musterkläger wird vom Gerichtausgewählt.

(aus: Pressemitteilungen des BMF und des BMJ v. 21.4.2004 u. F.A.Z. v. 28.4.2004)

Strukturelle Neuordnung der JustizDer Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichte-rinnen (BDVR) hat sich auf seiner Mitgliederversammlung gegendie vom Bundesgesetzgeber zum 1.1.2005 vorgesehene Übertra-gung der sozialhilferechtlichen Streitigkeiten auf die Sozial-gerichte ausgesprochen. Er sieht diese als sachwidrig an und trittdafür ein, sie rückgängig zu machen. Gleichzeitig hat der BDVR»bei Fortbestehen der gegebenen Situation« mehrheitlich dieZusammenführung von Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeitauf der Grundlage von Länderöffnungsklauseln befürwortet. EineZusammenführung beider Gerichtsbarkeiten biete die bestenMöglichkeiten für flexiblen und effizienten Ressourceneinsatz inder Justiz in Zeiten äußerst knapper Haushaltsmittel. Der beson-dere Sachverstand spezialisierter Richter bleibe so auch in einerneu geordneten Fachgerichtsbarkeit ungeschmälert erhalten.

(aus: Pressemitteilung des BDVR v. 16.3.2004)

In format ionen

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255Neue Justiz 6/2004

Fernabsatz von FinanzdienstleistungenDie Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf (BT-Drucks. 15/2946)vorgelegt, der EU-Rechtsvorschriften für den Vertrieb von Finanz-dienstleistungen wie Krediten, Versicherungen oder Geldanlagenan Verbraucher vor allem per Telefon, Fax oder Internet in deut-sches Recht umsetzen soll. Geplant sind u.a. Änderungen in denVorschriften über Fernabsatzverträge und die Einrichtung eineraußergerichtlichen Streitschlichtung.

(aus: www.bundestag.de/hib Nr. 108/04 v. 27.4.2004)

AbrisskündigungDem vom Bundesrat vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des§ 573 Abs. 2 BGB (siehe Inform. in NJ 2004, 208) hat die Bundes-regierung nicht zugestimmt. Sie sieht für das vorgeschlageneSonderkündigungsrecht weder ein rechtliches noch ein praktischesBedürfnis. Schon das geltende Recht ermögliche dem Vermieterunter bestimmten Voraussetzungen eine Kündigung in Abrissfällen.Darüber hinaus sei mit Ges. v. 31.3.2004 (BGBl. I S. 478) durchAufhebung von Art. 232 § 2 Abs. 2 EGBGB das Verbot der Verwer-tungskündigung für Altmietverträge in den neuen Ländern weg-gefallen, wodurch Abrisskündigungen weiter erleichtert würden.

(aus: www.bundestag.de/hib Nr. 108/04 v. 27.4.2004)

Reform des VersicherungsvertragsrechtsDie Experten-Kommission zur Reform des Versicherungsvertrags-rechts hat nach vierjähriger Arbeit ihren Abschlussbericht über-geben. Die Kommission fordert u.a., das Widerrufsrecht vonKunden bei Vertragsabschlüssen auszuweiten und die Kündi-gungsfristen für alle Verträge zu verkürzen. Bei frühzeitiger Kün-digung von Lebensversicherungen soll den Kunden mind. 50%der Deckungssumme ausgezahlt werden. Das BMJ will spätestensAnf. 2005 den Entwurf für ein neues VVG vorlegen.

(aus: Pressemitteilung des BMJ v. 19.4.2004 u. F.A.Z. v. 20.4.2004)

NEUE BUNDESLÄNDER

BERLIN/BRANDENBURG

Der Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit undBrandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck haben denStaatsvertrag über die Zusammenlegung der Fachobergerichte beiderLänder unterzeichnet. Am 1.6.2005 sollen das gemeinsameOVG in Berlin und das gemeinsame LSG in Potsdam die Arbeitaufnehmen. Für das gemeinsame LAG in Berlin und das gemein-same FG in Cottbus soll die Arbeitsaufnahme am 1.1.2007 erfol-gen. Dem Staatsvertrag müssen die Länderparlamente mit einerZweidrittelmehrheit zustimmen. Die Berliner Oppositionspar-teien erheben Einwände gegen den Sitz Cottbus für das FG.

(aus: Berliner Zeitung u. F.A.Z. v. 27.4.2004)

BERLIN

Das Abgeordnetenhaus hat die Liberalisierung des Umgangs mitleichten Drogen beschlossen. Künftig soll der Besitz von bis zu15 Gramm (bisher: 6 Gramm) Cannabis nicht mehr bestraftwerden. Bei einer Menge von bis zu 30 Gramm kann von einerStrafverfolgung abgesehen werden. Berlin folgt damit dem LandSchleswig-Holstein, wo der Besitz von bis zu 30 Gramm erlaubt ist.

(aus: Berliner Zeitung v. 3.5.2004)

Mit Wirkung v. 1.1.2004 ist das HaushaltsG 2004/2005 (HG 04/05)in Kraft getreten. Es berücksichtigt die Anforderungen an dieBegründung für eine erhöhte Kreditaufnahme, die der VerfGHBln. in seinem Urt. v. 31.10.2003 aufgestellt hat (siehe Inform. inNJ 12/2003, V). (GVBl. Nr. 16 S. 154)

Das 2. ÄndG v. 7.4.2004, in Kraft seit 22.4.2004, hat das SOG Bln.v. 14.4.1992 (GVBl. S. 119), zuletzt geänd. durch Ges. v. 5.12.2003(GVBl. S. 574), in den §§ 17, 18, 21, 26, 43 u. 47 geändert.

(GVBl. Nr. 17 S. 174)

Das Ges. zur Änderung zuständigkeits- und verfahrensrechtlicherVorschriften v. 8.4.2004 ist am 22.4.2004 in Kraft getreten undändert u.a. in Art. I umfänglich die Anlage zum SOG Bln.

(GVBl. Nr. 17 S. 175)

Mit 2. ÄndVO v. 16.3.2004 ist die VO über die Voraussetzungen fürdie Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht v. 2.1.1992 (GVBl.S. 3), zuletzt geänd. durch VO v. 11.3.2003 (GVBl. S. 131), in den§§ 1 u. 5 geändert worden. Anträge auf Befreiung können danachauch Empfänger von laufenden Leistungen nach dem AsylblGund dem Ges. über eine bedarfsorientierte Grundsicherung imAlter und bei Erwerbsminderung stellen. Die VO ist am 1.5.2004in Kraft getreten. (GVBl. Nr. 17 S. 179)

BRANDENBURG

Die im Zusammenhang mit der sog. Trennungsgeld-Affäre (sieheInform. in NJ 2004, 115) eingesetzte externe Kommission zur Über-prüfung von möglichen Unregelmäßigkeiten bei der Gewährungvon Trennungsgeldern hat ihren Bericht vorgelegt. Im Bereich desJustizministeriums erfolgten bei insges. 1.809 überprüften Vor-gängen 309 Beanstandungen; 175 betreffen den Justizvollzug,134 das Ministerium und das OLG. Nach dem Prüfbericht habendie festgestellten Mängel häufig ihre Ursache in der eingeschränk-ten oder fehlenden Umzugswilligkeit der Antragsteller und demdaraus resultierenden mangelhaften Bemühen um eine Wohnungam Dienstort.In einem ersten Strafprozess hat das AG Potsdam das Verfahrengegen einen angeklagten Oberstaatsanwalt wegen des Vorwurfsder Untreue Ende März 2004 eingestellt und den Angekl. beauf-lagt, 300 € zugunsten einer Förderschule zu zahlen.

(aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 28.4.2004 und Berliner Zeitung v. 30.3. u. 28.4.2004)

Zum Anspruch auf Gewährung von Trennungsgeld siehe die Inform. zumUrteil des VG Berlin v. 30.3.2004 auf S. VI, in diesem Heft.

Im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung wies InnenministerSchönbohm darauf hin, dass im Jahr 2003 insges. 34.132 Straftatenin den 25 Grenzgemeinden des Landes und damit 8,7% weniger als2002 registriert wurden. Etwa 1/4 davon waren Verstöße gegendas Asyl- und Ausländerrecht. Die Zahl der Straftaten bei derRauschgift-, Gewalt- und Straßenkriminalität ging im Grenzgebietjeweils um ca. 10% zurück. Der Beitrag der Grenzregion zumgesamten Kriminalitätsgeschehen in Brandenburg verringertesich von 15,3% auf 13,9%.

(aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 25.4.2004)

Zur Polizeilichen Kriminalstatistik 2003 siehe NJ 2004, 205.

Durch das NachtragshaushaltsG 2004 v. 5.4.2004, in Kraft seit7.4.2004, ist der dem HaushaltsG 2004 v. 17.12.2003 (GVBl. IS. 318) als Anlage beigefügte Haushaltsplan für 2004 geändertworden. (GVBl. I Nr. 4 S. 70)

Das GemeindefinanzierungsG 2004 v. 17.12.2003 (GVBl. I S. 331)ist mit Wirkung v. 7.4.2004 in § 7 Abs. 2 u. 3 geändert worden.

(GVBl. I Nr. 4 S. 76)

Das VwVfGBbg in der seit dem 24.12.2003 geltenden Fassung istam 9.3.2004 bekannt gemacht worden. (GVBl. I Nr. 5 S. 78)

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Neue Justiz 6/2004256

Mit Ges. v. 20.4.2004 ist das NaturschutzG (BbgNatSchG) v.25.6.1992 (GVBl. I S. 208), zuletzt geänd. durch Ges. v. 10.7.2002(GVBl. I S. 62, 72), umfänglich geändert worden. Die am 22.4.2004in Kraft getretenen Änderungen dienen im Wesentlichen derUmsetzung von EU-Richtlinien. (GVBl. I Nr. 6 S. 106)

Das LWaldG v. 20.4.2004 ersetzt das WaldG v. 17.6.1991 (GVBl. IS. 213) und ist am 22.4.2004 in Kraft getreten.

(GVBl. I Nr. 6 S. 137)

Mit am 24.4.2004 erfolgten In-Kraft-Treten des neuen StiftungsG(StiftGBbg) v. 20.4.2004 ist das StiftungsG v. 27.6.1995 (GVBl. IS. 198) außer Kraft getreten. (GVBl. I Nr. 7 S. 150)

Durch Ges. v. 20.4.2004, in Kraft seit 24.4.2004, ist das Ordnungs-behördenG (OBG) idF d. Bkm. v. 21.8.1996 (GVBl. I S. 266), zuletztgeänd. durch Ges. v. 17.12.2003 (GVBl. I S. 298, 305), zur Haltunggefährlicher Hunde ergänzt worden. In § 17 wurde ein neuer Abs. 5eingefügt. Danach wird der Halter eines gefährlichen Hundesverpflichtet, eine Haftpflichtversicherung mit einer Mindestver-sicherungssumme für Personenschäden von 500.000 € und fürsonstige Schäden von 250.000 € abzuschließen. Aufgenommenwurde zudem ein neuer § 25a (Haltung gefährlicher Hunde undErmächtigung zum Erlass einer Hundehalterverordnung).

(GVBl. I Nr. 7 S. 153)

MECKLENBURG-VORPOMMERN

Das Land hat seine Zahlungen an die Verbraucherzentrale eingestellt,womit das Ende der Einrichtung besiegelt sein dürfte. Im Vorjahrhatte das Wirtschaftsministerium die Verbraucherschützer nochmit einer 1 Mio. € gefördert; im März 2004 wurden die Mittelfür die 33 Mitarbeiter überraschend um 50% gekürzt. Diesernachträgliche Eingriff in die Finanzplanung ist für den Vereinnicht mehr kompensierbar. Mecklenburg-Vorpommern wäredamit das einzige Bundesland ohne Verbraucherzentrale.

(aus: Pressemitteilung der Verbraucherzentrale M-V v. 4.5.2004)

Zur neuen Direktorin des AG Ueckermünde wurde die in Nieder-sachsen geborene 39-jährige Richtern Sylvia Hagemann ernannt,die seit Okt. 2002 als ständige Vertreterin des Direktors am AGNeustrelitz tätig war.

(aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 14.4.2004)

Das am 1.8.2004 in Kraft tretende KinderförderungsG (KiföG M-V)v. 1.4.2004 löst das bisherige KindertagesstättenG ab. Die Sicher-stellung eines bedarfsgerechten Angebots obliegt danach denLandkreisen und kreisfreien Städten als örtlichen Trägern deröffentlichen Jugendhilfe. (GVOBl. M-V Nr. 6 S. 146)

Mit Ges. zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des Verfas-sungsschutzes v. 16.4.2004, in Kraft seit 29.4.2004, sind dieBefugnisse des Verfassungsschutzes erweitert, Sicherheitsüber-prüfungen von Mitarbeitern in bestimmten Unternehmen aus-gedehnt und Kontrollbefugnisse des Landtags gegenüber demVerfassungsschutz gestärkt worden. (GVOBl. M-V Nr. 7 S. 167)

Durch 2. VO v. 16.4.2004 ist die HundehalterVO v. 4.7.2000(GVOBl. M-V S. 295, 391), geänd. durch VO v. 10.12.2001 (GVOBl.M-V S. 525), geändert worden. In § 2 wurde die Rasse Bullmastiffvon der Liste der als gefährlich eingestuften Hunderassen gestri-chen. In § 4 (Erlaubnispflicht) wurde in Abs. 2 die Nr. 4, wonachder Halter das Bestehen einer Haftpflichtversicherung nachweisenmuss, aufgehoben. Die ÄndVO ist am 29.4.2004 in Kraft getreten.

(GVOBl. M-V Nr. 7 S. 174)

SACHSEN

Mit Ges. v. 19.3.2004 ist das Sächs. Ges. über die Hilfen und dieUnterbringung bei psychischen Krankheiten v. 16.6.1994 (SächsGVBl.S. 1097), geänd. durch VO v. 10.4.2003 (SächsGVBl. S. 94, 96),geändert worden. Es wurde ein neuer § 39a (Erkennungsdienst-liche Maßnahmen) eingefügt und § 41 (Einschränkung vonGrundrechten) neu gefasst. Das ÄndG ist am 9.4.2004 in Kraftgetreten. (SächsGVBl. Nr. 5 S. 118)

Die Neufassung der Sächs. UrlaubsVO (SächsUrlVO) in der seit dem31.1.2004 geltenden Fassung ist am 2.3.2004 bekannt gemachtworden. (SächsGVBl. Nr. 5 S. 118)

Mit Ges. v. 20.4.2004 ist das VerfassungsschutzG (SächsVSG) v.16.10.1992 (SächsGVBl. S. 459), zuletzt geänd. durch Ges. v.25.8.2003 (SächsGVBl. S. 330, 341), zum 1.7.2004 in den §§ 1Abs. 2 u. 12 Abs. 2 geändert worden. (SächsGVBl. Nr. 6 S. 134)

SACHSEN-ANHALT

Im Zusammenhang mit der schleppenden Ausstellung von Negativ-attesten im Grundstücksverkehr hat Justizminister Curt Becker denBund zu unverzüglichem Handeln aufgefordert. GVO-Genehmi-gungen für den Verkauf bzw. Kauf von Grundstücken werdennur dann erteilt, wenn das zuständige ARoV und das LARoVbestätigen, dass keine Restitutionsanträge vorliegen. Da seit dem1.1.2004 mit dem EntschRÄndG die Zuständigkeit für die Bear-beitung von Rückübertragungsverfahren nach § 1 Abs. 6 VermGauf das BARoV verlagert wurde, ist dieses nun zusätzlich fürAnmeldeauskünfte (Negativ-/Positivatteste) zuständig. Aufgrundder dadurch bedingten Umstellung ist ein erheblicher Rückstaueingetreten, der den Grundstücksverkehr erheblich behindert.So wurden vom BARoV bislang lediglich 10% der neu eingegan-genen Anträge bearbeitet. Da diese deutliche Verlängerung derBearbeitungszeiten nicht mehr hinnehmbar sei, habe der BundMaßnahmen zur beschleunigten Bearbeitung zu treffen.

(aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 26.4.2004)

Auf der Kammerversammlung der RAK Sachsen-Anhalt hat Justiz-minister Becker die Rechtsanwälte des Landes zu einer intensivenZusammenarbeit bei der Ausbildung des juristischen Nachwuchsesaufgerufen. Es würde einer anwaltsorientierten Ausbildung zuwi-derlaufen, wenn diese von Richtern oder Beamten durchgeführtwerden müsste, sagte der Minister. Die Verantwortung für dieAusbildung liege zwar in der Hand des Staates; es sei jedoch eingemeinsames Engagement von Justiz und Anwaltschaft gefragt.

(aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 3.5.2004)

Siehe zu dieser Problematik den Beitrag von H. Kasper, NJ 2004, 61 f.

Der 1996 zum Präsidenten des OVG Bautzen ernannte Gerd-Heinrich Kemper ist in den Ruhestand getreten. Er wurde vonJustizminister Becker als engagierter Jurist gewürdigt, der denAufbau der Verwaltungsgerichte des Landes konsequent fort-geführt und abgeschlossen hat.

(aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 26.4.2004)

THÜRINGEN

Am 10.5.2004 hat das OLG Jena seine Dienstgeschäfte im neuerrichteten Justizzentrum Jena aufgenommen. Dort sind auch dasAG Jena, die Thür. Generalstaatsanwaltschaft, die Zweigstelle Jenader Staatsanwaltschaft Gera und die Sozialen Dienste in der Justiz(Außenstelle Jena) untergebracht. Die neue Anschrift lautet:Rathenaustr. 13, 07745 Jena; Postanschrift: PF 100138, 07701 Jena.

(aus: Pressemitteilung des OLG Jena v. 9.5.2004)

In format ionen

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257Neue Justiz 6/2004

Mit 4. VO v. 5.3.2004 wurde die Thür. KommunalwahlO v.3.2.1994 (GVBl. S. 630) und mit 2. VO v. 19.3.2004 die Thür.LandeswahlO v. 12.7.1994 (GVBl. S. 817) geändert. Die Änderun-gen sind am 1.4.2004 in Kraft getreten. Die Landtagswahl findetzusammen mit der Europawahl am 13.6.2004 statt.

(GVBl. Nr. 9 S. 435, 438)

Mit Ges. zur Änderung besoldungs- und anderer dienstrechtlicher Vor-schriften v. 15.4.2004 erfolgt eine Anpassung an die geändertenOrganisationsstrukturen der Landesverwaltung und an Bestim-mungen des BBesG. Einen Schwerpunkt bildet die Aufnahme vonVorschriften über die Hochschullehrerbesoldung einschl. derverschiedenen Arten von Leistungsbezügen in das ThürBesG zum1.1.2005. Nach den ebenfalls zu diesem Zeitpunkt in Kraft tre-tenden Änderungen des HochSchG wird die bisher nur für großeHochschulen geregelte Einrichtung von hauptberuflichen Rektor-ämtern im Beamtenverhältnis auf Zeit auf alle Hochschulenausgedehnt. Die Amtszeit der Rektoren wird von vier auf sechsJahre verlängert. (GVBl. Nr. 10 S. 457)

BERUFSORGANISATIONEN

Strafverteidigerverbände

In einem gemeinsamen Appell haben die Strafverteidigerorganisa-tionen das BMJ aufgefordert, den Bereich der Zeugnisverweigerungs-rechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen neu zu regeln. DerGesetzgeber soll einen vorliegenden Gesetzentwurf umsetzen, dendas Forschungsprojekt des Arbeitskreises Strafprozessrecht undPolizeirecht im Auftrag des BMJ bereits im Jahr 2002 erarbeitet hat.Der Entwurf sei geeignet, unerträgliche Wertungswidersprücheund Inkonsistenzen des geltenden Strafprozessrechts im Bereichder Zeugnisverweigerungsrechte zu beseitigen. Als besondersregelungsbedürftig werden all diejenigen Ermittlungsmaßnah-men angesehen, in denen die Zeugnisverweigerungsrechte unvoll-kommen und unausgewogen geregelt sind. Dies sei mit Blick aufdas essentielle Berufsgeheimnis der Strafverteidiger notwendig.Der DAV ist an dem Appell durch seine Arbeitsgemeinschaft Straf-recht und seinen Strafrechtsausschuss beteiligt.

(aus: Pressemitteilung des DAV Nr. 18/04 v. 24.3.2004)

RAK-Report

Rechtsanwaltskammer BERLIN

Geschäftsstelle: Littenstr. 9, 10179 BerlinTel.: (030) 30 69 31-0, Fax: (030) 30 69 31 99E-Mail: [email protected]; Internet: www.rak-berlin.dePräsidentin: RAin Dr. Margarete von GalenVizepräsidenten: RA und Notar Wolfgang Gustavus, RA und Notar Jann Fiedler, RA und Notar Bernd HäuslerGeschäftsführerin: RAin Marion Pietrusky

TermineDas zivilprozessuale Verfahren in erster und zweiter Instanz stehtim Mittelpunkt einer Fortbildungsveranstaltung der RAK zusam-men mit der Berliner Senatsverwaltung für Justiz: Am 11.6.2004von 13.30 bis 17.30 Uhr referieren RiLG Dr. Sven Marlow undRA Dr. Bernhard von Kiedrowski aus richterlicher und aus anwalt-licher Sicht über die Erfahrungen mit dem neuen Berufungsrechtund den Auswirkungen auf die erste Instanz. Anmeldungen überdie RAK.

Die RAK bietet eine weitere Fortbildungsveranstaltung zumRechtsanwaltsvergütungsG für den Bereich des Allgemeinen Zivil-rechts, des Familienrechts und des Arbeitsrechts an, nachdem dreidieser Veranstaltungen bereits ausgebucht waren. Am 25.6.2004von 14 bis 19 Uhr referieren RAin Esther Caspary und RAuNDr. Axel Görg. Anmeldungen über die RAK.

StandpunktVorschläge der neuen Kammerpräsidentin

RAin Dr. Margarete von Galen, die neue Präsidentin der RAK, hatsich im Interview mit dem »Kammerton« (Berliner Anwaltsblatt2004, 172 ff.) über ihre Pläne für die kommende Amtszeitgeäußert. Die Kammerpräsidentin regte an, einige berufsrechtlicheRegelungen zu überdenken: Die Einschränkung des § 20 Abs. 1Nr. 1 BRAO sei angesichts der bundesweiten Postulationsfähigkeitnicht mehr sinnvoll. Die jetzige Ausgestaltung des Werberechtsdurch die §§ 6, 7 BerufsO sei problematisch und schwer zu

kontrollieren. Dr. von Galen hofft, dass die Liberalisierungsten-denzen, die aus europarechtlichen Vorgaben zu erwarten sind, beiden Änderungen der BRAO und der BerufsO vernünftig umgesetztwerden können.

RAK begrüßt Urteil des BVerfG zur Geldwäsche

Das BVerfG hat mit dem Urteil v. 30.3.2004 (siehe Inform. in NJ5/04, III) die Möglichkeit der Anwendung von § 261 StGB auf dieEntgegennahme von Honorar durch Strafverteidigerinnen undStrafverteidiger auf ein vertretbares Maß reduziert. Kammerpräsi-dentin Dr. von Galen: »In erfreulicher Deutlichkeit hat das Bun-desverfassungsgericht die besondere Bedeutung einer unbeein-trächtigten Strafverteidigung für die Funktionsfähigkeit derStrafrechtspflege herausgestellt.« Allerdings »wäre es zu begrüßengewesen, wenn Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger voll-kommen aus dem Tatbestand des § 261 Abs. 2 StGB herausge-nommen worden wären«.

Rechtsanwaltskammer BRANDENBURG

Geschäftsstelle: Grillendamm 2, 14776 Brandenburg an derHavelTel.: (03381) 25 33-0, Fax: (03381) 25 33-23E-Mail: [email protected]; Internet: www.rak-brb.dePräsident: RA Dr. Frank Engelmann, OranienburgVizepräsident: RA Klaus Wendland, PotsdamGeschäftsführer: RA Dr. Rüdiger Suppé

WissenswertesForum zum Rechtsberatungsgesetz

Am 23.4.2004 fand in der Ostdeutschen Sparkassenakademie inPotsdam die diesjährige ordentliche Kammerversammlung derRAK statt. Der Kammerversammlung vorangestellt war ein

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Neue Justiz 6/2004258

rechtspolitisches Forum, in dem unter dem Titel »Rechtsbei-stand durch jedermann, ob jedermann es wirklich kann?« diederzeit diskutierte Reform des Rechtsberatungsgesetzes thema-tisiert wurde. Die RAK durfte für diese Diskussionsrunde so pro-minente Gäste wie Professor Dr. Battis von der Humboldt-Universität zu Berlin, RA Dr. Bürglen der Sozietät Linklaters &Oppenhoff, RiOLG Dr. Horst König sowie weitere Vertreter ausdem Kammerwesen und den Bankverbänden begrüßen. Diestellenweise äußerst kontroverse Diskussion wurde allgemeinals sehr anregend und auch für den anstehenden Diskurszwischen Rechtspolitik und Anwaltschaft als befruchtend wahr-genommen.

Kammerversammlung

In der Kammerversammlung wurde vor allem die Neustrukturie-rung des Kammerhaushalts diskutiert. Darin war insbesondereenthalten die Bereitstellung von 50.000 € zur Co-Finanzierungder Juristenausbildung im Land Brandenburg. Die der Abstim-mung vorhergehende Debatte war außerordentlich kontrovers,da eine Vielzahl von Kammermitgliedern der von der Anwalt-schaft co-finanzierten Juristenausbildung skeptisch gegenüber-standen. Insbesondere die kritische wirtschaftliche Situationder brandenburgischen Anwaltschaft sowie die grundsätzlicheFrage, ob eine Staatsaufgabe tatsächlich von Freiberuflern flan-kiert werden solle, lag der Diskussion zugrunde. Gleichwohlwurde die Co-Finanzierung mehrheitlich beschlossen.In der Gesamtschau haben das rechtspolitische Forum sowie dieKammerversammlung die aktive Teilnahme der RAK an derRechtspolitik unterstrichen und unter Beweis gestellt, dass sie inschwierigen wirtschaftlichen Zeiten und auch mit Blick aufrechtspolitische Umbrüche eine aktive Rolle zu spielen in derLage ist.

PersonalienIn der Wahl zum Vorstand schieden nach langjähriger verdienst-voller Tätigkeit RA Hartmut Sinapius und RAin Gabriele Giersbergaus dem Vorstand aus. Neue bzw. wiedergewählte Mitglieder desVorstands sind RAin Elke Wendt aus dem LandgerichtsbezirkNeuruppin sowie RA Harald Krömling und RAin Lilian Widra,beide aus dem Landgerichtsbezirk Potsdam.

Rechtsanwaltskammer MECKLENBURG-VORPOMMERN

Geschäftsstelle: Bornhövedstr. 12, 19055 SchwerinTel.: (0385) 55 74 385, Fax: (0385) 55 74 388E-Mail: [email protected]; Internet: www.rak-mv.dePräsident: RA Dr. Axel Schöwe, SchwerinVizepräsidenten: RA Dr. Gerold Kantner, Rostock, undRA Hans-Jörg Schüler, StralsundGeschäftsführer: RA Franz-Joachim Hofer

TermineDas angekündigte Mediationsseminar (siehe RAK-Report in NJ2004, 70) wird von den Kollegen Dres. Mähler aus Münchendurchgeführt. Das Einführungsseminar findet vom 9.-13.6.2004im Hotel Schloss Vietgest in der Nähe von Güstrow statt.Interessenten können sich an die Geschäftsstelle der RAK oderan die Kanzlei der Kollegen Dres. Mähler (Tel.: 089/1782069)wenden.

WissenswertesKammerversammlung

Am 31.3.2004 fand in Rostock-Diedrichshagen die diesjährigeKammerversammlung statt. Ehrengast war der Staatssekretär derJustiz, Dr. Rainer Litten. Gegenstand seines Grußwortes und deranschließenden Diskussion waren Fragen der reformierten Juris-tenausbildung, des Rechtsberatungsgesetzes und des Projekts»Gerichtliche Mediation« in Mecklenburg-Vorpommern.

Rechtsanwaltskammer SACHSEN

Geschäftsstelle: Atrium am Rosengarten, Glacisstr. 6, 01099DresdenTel.: (0351) 31 85 90, Fax: (0351) 3 36 08 99E-Mail: [email protected]; Internet: www.rak-sachsen.dePräsident: RA Dr. Günter Kröber, LeipzigVizepräsidenten: RA Markus M. Merbecks, Chemnitz, RAinKarin Meyer-Götz, Dresden, RAin Dr. Susanne Pohle, LeipzigGeschäftsführerin: Ass jur. Ina Koker

Termine11.6.-12.6.2004: Sächsische Anwaltstage in Leipzig14.6.2004: Tag der Offenen Tür im OLG Dresden24.6.2004: Tag der Rechtspflege an der FH der Sächsischen Ver-waltung, Meissen

Wissenswertes

Kammerversammlung

In der Mitgliederversammlung der RAK, die am 26.3.2004 inChemnitz stattfand, wurde mehrheitlich der Haushaltsentwurfder Kammer für das Jahr 2005 abgelehnt. Im Mittelpunkt einerkontroversen Diskussion stand die anteilige Bezuschussung fürdie Anwaltsreferenten der RAK während der Referendarausbil-dung, für die sich der Vorstand einsetzt.

Anwaltsorientierte Juristenausbildung

Am 23.4.2004 fand in Leipzig die 6. Soldantagung am Institut fürAnwaltsrecht statt. Im Mittelpunkt dieser Tagung standen in die-sem Jahr Fachvorträge zur anwaltsbezogenen Juristenausbildungan den universitären Fakultäten, die von den Teilnehmern ausganz Deutschland mit großem Interesse aufgenommen und zumErfahrungsaustausch genutzt wurden.

Osteuropa und die Europäische Verfassung

Anlässlich der Gründung des Dresdner Osteuropa Instituts e.V.sprach Prof. Dr. Jürgen Meyer als Vertreter des Deutschen Bundes-tags im Europäischen Konvent in Dresden zum Thema »Osteuropaund die zukünftige Europäische Verfassung«, an der zahlreicheInteressierte teilnahmen. Prof. Dr. Meyer gab in seinem Vortraginteressante rechtliche sowie historische Einblicke in den Entwurfeiner Europäischen Verfassung und regte die Teilnehmer zu einerlebhaften Diskussion an. Die Veranstaltung wurde von der Deut-schen Gesellschaft für Osteuropakunde in Zusammenarbeit mitder RAK Sachsen und der Landeshauptstadt Dresden ausgerichtet.

Chemnitzer Erbrechtstage

Zum nunmehr zweiten Mal finden vom 29.4. bis 22.6.2004 dieChemnitzer Erbrechtstage mit großer Resonanz in der Bevölkerung

RAK-Report

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259Neue Justiz 6/2004

statt. Das Deutsche Forum für Erbrecht möchte mit dieser Veran-staltungsreihe, in der über die vielschichtige Problematik rund umsErben und Vererben informiert wird, der starken Nachfrage unterder Bevölkerung zum Thema Erbrecht Rechnung tragen. Zur Eröff-nungsveranstaltung mit einer Informationsmesse, an der ca. 800Gäste teilnahmen, sprach der Präsident des Deutschen Forumsfür Erbrecht, Klaus Michael Groll, über »Vererben mit Sinn undVerstand«. Die RAK war mit einem Informationsstand »Anwalt-liche Beratung im Erbrecht« vertreten, der stark umlagert war.

Rechtsanwaltskammer THÜRINGEN

Geschäftsstelle: Bahnhofstr. 27, 99084 ErfurtTel.: (0361) 6 54 88-0, Fax: (0361) 6 54 88-20E-Mail: [email protected]; Internet: www.rak-thuerin-gen.dePräsident: RA Dr. Michael Burmann, ErfurtVizepräsident: RA Ralf Seeler, GeraGeschäftsführer: RA Wulf Danker, Erfurt

StandpunktNovellierung des Thür. Verfassungsschutzgesetzes und des Thür. Polizeiaufgabengesetzes

Auf dem viel beachteten und stark besuchten Medienstammtischdes Deutschen Journalistenverbandes am 19.4.2004 stellteProf. Dr. Huber von der Universität München unter dem Motto»Lauschen erlaubt?« Thesen zu seinem u.a. von der RAK Thürin-gen in Auftrag gegebenen Gutachten zur »Verfassungskonfor-mität der Regelungen zur Datenerhebung, präventiven Telekom-munikationsüberwachung und des Einsatzes technischer Mittelin Wohnungen nach dem Thür. Verfassungsschutzgesetz unddem Thür. Polizeiaufgabengesetz unter besonderer Berücksich-tigung der Belange von Berufsgeheimnisträgern im Hinblickauf die Entscheidung des BVerfG vom 3.3.2004« vor.In sehr ausgewogener und differenzierter Weise begründete derangesehene Verfassungsrechtler die seiner Auffassung nachbestehende teilweise Verfassungswidrigkeit einzelner Bestim-mungen. Innenstaatssekretär Scherer sagte für den Freistaat einenochmalige Prüfung der angesprochenen Regelungen und dieBereitschaft für weitere Gespräche mit den die Interessen derBerufsgeheimnisträger vertretenden Kammern und Standesorga-nisationen zu.

Rezens ionen

Joachim HoeckVerwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechts-schutz in der Deutschen Demokratischen Republik Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2003486 Seiten, brosch., 98 €

Fernab von den teilweise ausgelatschten, jedenfalls nicht immer per-spektivisch, sondern häufig rückwärts gewandten und insofern nichtErkenntnis bringenden, oft ideologisch inspirierten Trampelpfadender Aufarbeitungsdiskussionen zwischen dem »Unrechtsstaat DDR«und der »Siegerjustiz« legt der Verfasser eine kenntnisreiche unddamit lesenwerte Untersuchung zum Verwaltungsrechtsschutz in derDDR vor. Er siedelt seine Arbeit selbst im Bereich der »Zeitgeschichtedes Rechts« an und möchte Rechtsentstehung, -vermittlung und -durchsetzung im Kontext der jeweiligen politischen und gesell-schaftlichen Situation erforschen. Dies ist dem Verfasser – auch wenndiese oder jene seiner Erörterungen und Einschätzungen nicht wenigeFragen aufwerfen – am Referenzgebiet des Verwaltungsrechtsschutzesin der DDR gelungen. Dass hierbei – entgegen dem verheißungs-vollen Titel der Schrift – Verwaltung und Verwaltungsrecht lediglichals Annex zum Verwaltungsrechtsschutz eine Beachtung finden, störtweniger.

An Darstellungswert gewinnt die von der Juristischen Fakultät derHeidelberger Universität als Dissertation angenommene Schrift ins-besondere an den Stellen, an denen bisher unveröffentlichte Archiv-bestände aus den Jahren 1945 bis 1989 der SMAD, des Staatsrats,Ministerrats, Justizministeriums, der Volkskammer und Bezirkstageund des Zentralkomitees der SED Verwendung finden (ca. 200 Doku-mente). Der Verfasser bezieht so politische Rahmenbedingungen,verwaltungsrechtswissenschaftliche und verwaltungspraktische Über-legungen in seine Betrachtungen ein und zeichnet ein wechselhaftesBild des Verwaltungsrechtsschutzes.

Die Darlegungen folgen der Chronologie der Gesellschafts-entwicklung in der SBZ/DDR und insbesondere der Abfolge vonFührungseliten (»Ära Ulbricht«, »Ära Honecker«). Im ersten Teil stelltder Autor justizpolitische Rahmenbedingungen und Institutionender Rechtssetzung in der sowjetischen Besatzungszone sowie dieWiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringenvor dem Jahre 1949 heraus. Der zweite Teil behandelt den Verwal-

tungsrechtsschutz in der DDR-Verfassung aus dem Jahre 1949, theo-retische und rechtspraktische Aspekte des Eingabenwesens und dieBeschwerdeausschüsse. Der dritte Teil geht von der Rehabilitierungder Verwaltungsrechtswissenschaft aus und reicht bis zum Erlass desGesetzes zur gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentschei-dungen aus dem Jahre 1988.

Die Bewertungen der Entwicklungsphasen zeigen sich schon anden Titeln der Teile. Der zweite Teil schildert den »Niedergang desVerwaltungsrechts« und die »Substituierung der Verwaltungsgerichts-barkeit« (S. 129 ff.), der dritte Teil verdeutlicht die »Renaissance desVerwaltungsrechts« in der DDR (S. 371 ff.).

Freilich decken sich manche Ergebnisse und Wertungen der rezen-sierten Arbeit nicht mit manchen Beobachtungen oder Bewertungendes Rezensenten. An dieser Stelle nur zwei Fragen:

War tatsächlich die Auffassung der SED zur Institution der Verwal-tungsgerichtsbarkeit von den Ost-West-Beziehungen beider deutscherStaaten (»offenbar ganz maßgeblich von den Beziehungen zum west-lichen Teil Deutschlands beeinflusst«, S. 22; »Furcht der SED, sichinstitutionell dem westlichen Rechtssystem anzunähern«, S. 443)abhängig oder sind nicht weitere Erklärungsmuster heranzuziehen(der Grad der Instrumentalisierung und Ideologisierung des Rechtsund der Rechtswissenschaft, Einfluss sowjetischer Rechtsauffassun-gen, Lücken in der Kontrolle der Einhaltung des Rechts, Untauglich-keit des Eingabenwesens als Ersatzinstitution)?

Begann »die erste Phase« »der rechtstheoretischen Entwicklung desVerwaltungsrechts in der DDR« mit der Babelsberger Konferenzvon 1958 (S. 442) oder ist diese durch mittlerweile zahlreiche wissen-schaftliche Untersuchungen auch vielleicht unberechtigt über-bewertete Veranstaltung nicht eine Reaktion auf erste verwaltungs-rechtstheoretische Überlegungen (Man denke an die Arbeiten vonKarl Bönninger oder Hans-Ulrich Hochbaum!), die sich von sowjetischenEinflüssen langsam emanzipierten und auch deutsche Traditionennicht von vornherein über Bord werfen wollten?

Insgesamt kann die Schrift jedem empfohlen werden, der unab-hängig von politischen oder ideologischen Bekenntnissen oder garrechtsdogmatischen Aspekten Wissenswertes zur Entwicklung desVerwaltungsrechtsschutzes in der DDR und damit wohl auch ersteErklärungsansätze zur Verwaltungsrechtsentwicklung in den neuenLändern erfahren möchte.

PD Dr. Hans Lühmann, Düsseldorf

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Neue Justiz 6/2004260

01 VERFASSUNGSRECHT

� 01.1 – 6/04

Keine Restitution nach VermG bei im Zuge von NS-Verfolgungs-maßnahmen erfolgter Enteignung in Polen

BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 6. Februar 2004– 1 BvR 1948/00

GG Art. 3 Abs. 1, 14 Abs. 1; VermG § 1 Abs. 6

Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, den sachlichenAnwendungsbereich des § 1 Abs. 6 VermG auf Vermögensent-ziehungen zu beschränken, die im Zuge von NS-Verfolgungs-maßnahmen auf dem Gebiet der SBZ und DDR vorgenommenworden waren. (Leitsatz der Redaktion)

Der Vater der Beschwerdef. war Mitinhaber eines Textilbetriebs inPolen. Er und die übrigen Mitinhaber jüdischen Glaubens wurdenOpfer nationalsozialistischer Verfolgung. Das Unternehmenwurde nach der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmachtbeschlagnahmt und in Treuhandverwaltung überführt. 1940wurde das Warenlager beschlagnahmt und in das Deutsche Reichverbracht. Ein 1958 eingeleitetes Rückerstattungsverfahren, dasAnsprüche nach dem BRüG betraf, endete durch Vergleich. 1992beantragte der Vater mit der Begründung, Vermögensgegenständeaus dem Warenbestand seien 1940 in das Gebiet der späteren DDRverbracht worden, erfolglos die Fortsetzung dieses Verfahrens.

Die 1990 angemeldeten Ansprüche nach dem VermG wurdenabgelehnt. Das VG Berlin hat die daraufhin erhobene Klageabgewiesen, da eine Vermögensschädigung im Beitrittsgebietnicht stattgefunden habe.

Das BVerwG wies mit Beschl. v. 5.9.2000 (8 B 176/00) dieBeschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurück:

§ 1 Abs. 6 VermG begründe Rückübertragungsansprüche für Bürgerund Vereinigungen, denen durch NS-Verfolgungsmaßnahmen aufdem Gebiet der späteren DDR und des sowjetischen Sektors von BerlinVermögen entzogen worden sei. Die Vorschrift erstrecke sich damitnur auf solche NS-Verfolgungsmaßnahmen, die eine Gebietsbezo-genheit zum Beitrittsgebiet aufwiesen. Hier sei der Vermögensverlustaber schon in Polen eingetreten. § 5 BRüG greife in diesem Zusam-menhang nicht ein. Er stelle auf das Gebiet der damaligen Bundes-republik Deutschland einschl. (Groß-)Berlin ab; eine inhaltliche Aus-weitung auf die Verbringung entzogener Gegenstände in das Gebietder DDR (ohne Berlin-Ost) werde auch durch Art. 8 EV nicht bewirkt.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdef. alsRechtsnachfolger ihres verstorbenen Vaters insbes. die Verletzungvon Art. 3 Abs. 1 u. Art. 14 Abs. 1 GG. Sie würden ohne sachlichenGrund schlechter gestellt als NS-Opfer, deren Vermögenswertenach ihrer Beschlagnahme in Polen in den Geltungsbereich desspäteren BRüG verbracht worden seien oder die ihr Eigentum erstauf dem Gebiet des Deutschen Reiches verloren hätten.

Zu der Verfassungsbeschwerde haben das BMJ, die ThüringerStaatskanzlei und das BVerwG Stellung genommen. Das BMJ hältdie Auffassung des BVerwG zur Reichweite des § 1 Abs. 6 VermGauch im Lichte des Notenwechsels mit den Drei Mächten v.27./28.9.1990 (BGBl. II S. 1387) für vertretbar. Nach Ansicht derThüringer Staatskanzlei ist § 1 Abs. 6 VermG nur auf die Fälleanzuwenden, in denen der Vermögensverlust im Beitrittsgebieteingetreten ist. Von den beiden Senaten des BVerwG, die sichgeäußert haben, hält einer die Auslegung des § 1 Abs. 6 VermG imangegriffenen Beschluss für zu eng; vom Rückerstattungsrechtseien auch Vermögensgegenstände erfasst worden, die nachträg-lich in dessen Anwendungsbereich gelangt seien.

Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidungangenommen.

Aus den Entscheidungsgründen:

II. 2. … a) Die Auslegung des § 1 Abs. 6 VermG im angegriffenenBeschluss des BVerwG, die sich mit derjenigen in dem Beschlussdieses Gerichts v. 23.8.2000 (VIZ 2000, 719 = NJ 2001, 108 [Leits.] )deckt, verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz desArt. 3 Abs. 1 GG.

aa) Der Gleichheitssatz ist nicht schon deshalb verletzt, weil dieAuffassung zur Reichweite des § 1 Abs. 6 VermG, die das BVerwG imAusgangsverfahren vertreten hat, von der Ansicht des anderen Senatsdieses Gerichts abweicht, der gegenüber dem BVerfG Stellung genom-men hat. Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen(Art. 97 Abs. 1 GG). Die Rechtspflege ist deshalb konstitutionelluneinheitlich. Infolgedessen verstoßen abweichende Auslegungeneiner Norm durch verschiedene Gerichte oder durch verschiedeneSpruchkörper ein und desselben Gerichts nicht gegen das Gebot, alleMenschen vor Gericht gleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 87, 273[278]).

bb) Eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG liegt auch nicht darin,dass die Auslegung des § 1 Abs. 6 VermG, die das BVerwG imAusgangsverfahren vorgenommen hat, zu einer Differenzierungführt, die dem Gesetzgeber verwehrt wäre (vgl. BVerfGE 99, 129[139] = NJ 1999, 194 [bearb. v. Kolb] mwN).

(1) Auf dem Gebiet der Wiedergutmachung, um das es bei derAuslegung und Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG geht, hat derGesetzgeber im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG eine besondersgroße Gestaltungsfreiheit. Dementsprechend ist der Gleichheits-satz hier nur in seiner Bedeutung als Willkürverbot zu beachten.Der Regelungsspielraum des Gesetzgebers endet daher erst dort,wo sich für eine ungleiche Behandlung ein sich aus der Natur derSache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund nichtfinden lässt (vgl. BVerfGE 102, 254 [299] = NJ 2001, 83; 106, 201[206]).

(2) Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Auslegung des§ 1 Abs. 6 VermG durch das BVerwG im Blick auf Art. 3 Abs. 1 GGverfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

(a) Sie führt allerdings zu einer benachteiligenden Ungleich-behandlung insofern, als NS-Verfolgte, deren Vermögenswerteaußerhalb Deutschlands entzogen wurden, unterschiedlichbehandelt werden je nachdem, ob die Vermögenswerte nach derEntziehung in das Gebiet der späteren (alten) BundesrepublikDeutschland oder in das der späteren DDR verbracht wordensind. Im ersten Fall wurde den Geschädigten im Westen Deutsch-lands vermögensrechtlich Wiedergutmachung nach den ein-schlägigen Vorschriften des Rückerstattungsrechts gewährt (…).

Im zweiten Fall kommt nach der Auffassung des BVerwG dage-gen eine Wiedergutmachung auf der Grundlage des § 1 Abs. 6VermG nicht in Betracht, obwohl dieser nach der übereinstim-menden Ansicht des Schrifttums den Umstand ausgleichen soll,dass es in der SBZ und in der DDR eine dem westlichen Rück-erstattungsrecht gleichwertige vermögensrechtliche Wiedergut-machung von NS-Unrecht nicht gegeben hat (vgl. Wasmuth, in:Rechtshandbuch Vermögen und Investitionen in der ehemaligenDDR, § 1 VermG Rn 133 [Stand: Aug. 1994] iVm Einf VermGRn 51 ff. [Stand: Nov. 1998]; Neuhaus, in: Fieberg/Reichenbach/Messerschmidt/Neuhaus, VermG, § 1 Rn 131 ff. [Stand: April 1995];Brettholle/Schülke, in: Rädler/Raupach/Bezzenberger, Vermögenin der ehemaligen DDR, § 1 VermG Rn 108 [Stand: 28. Erg.Lfg.]).

(b) Diese Ungleichbehandlung kann jedoch mit dem BVerwGals sachlich hinreichend gerechtfertigt angesehen werden. Sie istdeshalb auch dem Gesetzgeber nicht verwehrt.

(aa) Allerdings hat sich die Bundesrepublik Deutschland inNr. 4 Buchst. c Abs. 4 Satz 1 des schon genannten Notenwechselsgegenüber den Drei Mächten völkerrechtlich verpflichtet, dasBRüG und das bundesdeutsche EntschG auf das Gebiet der DDR

Rechtsprechung

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261Neue Justiz 6/2004

zu erstrecken (vgl. auch BVerfGE 102, 254 [342]). Die Anspruchs-berechtigten sollten im Zuge dieser Erstreckung so gestellt wer-den, als hätten sie in der SBZ und späteren DDR Wiedergut-machung wie im Westen erhalten (vgl. BVerfGE 102, 254 [343]).Eine Verpflichtung zum Erlass einer Regelung, die das Rück-erstattungsrecht ohne Abstriche auf das Beitrittsgebiet überträgt,ist damit jedoch nicht verbunden. Denn die Bundesregierung hatin Nr. 4 Buchst. c Abs. 4 Satz 2 des Notenwechsels für die Bundes-republik auch erklärt, für die Erstreckung des Rückerstattungs-rechts auf das Gebiet der DDR seien »weitere Bestimmungenerforderlich, die den dortigen Gegebenheiten Rechnung tragen«(vgl. BGBl. 1990 II S. 1389). Innerstaatlich kann deshalb von denRegelungen und Wertungen des BRüG abgewichen werden, wennund soweit dies im Hinblick auf Gegebenheiten in der DDRgeboten erscheint.

(bb) Im Lichte dieses Vorbehalts ist es verfassungsrechtlichnicht zu beanstanden, dass das BVerwG den sachlichen Anwen-dungsbereich des § 1 Abs. 6 VermG auf Vermögensentziehungenbeschränkt hat, die im Zuge von NS-Verfolgungsmaßnahmen aufdem Gebiet der späteren SBZ und DDR vorgenommen wordenwaren.

Mit dieser Auslegung, die mit der im Schrifttum mehrheitlich ver-tretenen Auffassung übereinstimmt (vgl. Wasmuth, aaO, § 1 VermGRn 146, 150, 163 f.; Brettholle/Schülke, aaO; anders aber wohl Neu-haus, aaO, § 1 Rn 134), folgt das Gericht dem Gebietsbezug, der dasnoch von der Volkskammer der DDR beschlossene VermG auch imÜbrigen auszeichnet: Nur Schadensfälle, die sich in den Grenzen desheutigen Beitrittsgebiets ereignet haben, sollen nach Maßgabe dernäheren Ausgestaltung durch den Gesetzgeber vermögensrechtlicheWiedergutmachungspflichten auslösen. Das führt nicht nur dazu,dass die für den Gesetzesvollzug zuständigen Behörden insoweit imInteresse einer erleichterten Umsetzung des Gesetzes von einheit-lichen Grundsätzen ausgehen können. Es hat vielmehr, worauf dasBMJ und die Thüringer Staatskanzlei in ihren Stellungnahmen hin-gewiesen haben, auch zur Folge, dass diejenigen, die als Opfer des NS-Regimes Vermögensverluste erlitten, grundsätzlich mit denen gleichbehandelt werden, deren Vermögen unter der Verantwortung derDDR entzogen wurde. Dagegen bestehen im Hinblick auf den allge-meinen Gleichheitssatz keine durchgreifenden verfassungsrecht-lichen Bedenken (vgl. BVerfG, VIZ 1999, 468 = NJ 1999, 255 [Leits.] …).

b) Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen auch nichtgegen Art. 14 Abs. 1 GG. Wie die Beschwerdef. zutreffend erken-nen, kann der Eigentumsgarantie als Abwehrrecht für die Frageder vermögensrechtlichen Wiedergutmachung des von ihnenerlittenen Unrechts nichts entnommen werden (vgl. BVerfGE102, 254 [297]; 104, 74 [84] = NJ 2002, 140 [bearb. v. Kolb] ). Auchdie Wertentscheidung des Art. 14 Abs. 1 GG zugunsten des Privat-eigentums zwingt nicht dazu, Vermögensentziehungen in denAnwendungsbereich des § 1 Abs. 6 VermG einzubeziehen, die, wiees das BVerwG verfassungsrechtlich unbedenklich angenommenhat, nicht im späteren Beitrittsgebiet eingetreten sind. Die wert-setzende Kraft, die den Grundrechten als Teil der objektiven Wert-ordnung des GG zukommt (…), führt nicht zu einer Erweiterungihres Schutzbereichs in dem Sinne, dass das thematisch berührteGrundrecht als objektive Norm auch Werte schützt, die es alssubjektives Abwehrrecht nicht erfasst (vgl. auch BVerfGE 102, 254[300]).

Anmerkung:

Prof. Dr. Joachim Gruber, D.E.A. (Paris I), Westsächsische Hochschule, Zwickau

Das BVerfG betont die »besonders große Gestaltungsfreiheit« desGesetzgebers auf dem Gebiet der Wiedergutmachung. Der EGMRin Straßburg vertritt dagegen in seiner Entscheidung v. 22.1.2004hinsichtlich der Enteignung der Erben von Bodenreformgrund-stücken (NJ 2004, 167; dazu Kolb, NJ 2004, 145 ff.) die Auffassung,

dass die Eigentumsgarantie nicht deswegen aufgeweicht werdenkönne, weil die mit der deutschen Wiedervereinigung verbunde-nen finanziellen Lasten für den Staat enorm sind.

Die Betroffenen würden aber im vorliegenden Fall mit derAnrufung des EGMR nichts erreichen: Dieser hat im Zusammen-hang mit den Bodenreform-Enteignungen von 1945/49 bereitsentschieden, dass er nicht für Entschädigungsansprüche zustän-dig ist, die vor In-Kraft-Treten der Menschenrechtskonventionam 3.9.1953 entstanden sind (EGMR, RGV B II 130).

Interessant sind die Äußerungen des BVerfG zu den unter-schiedlichen Interpretationen des § 1 Abs. 6 VermG durch zweiSenate des BVerwG: Während der 8. Senat den Anwendungsbereichdes § 1 Abs. 6 VermG auf Vermögensentziehungen beschränkt, dieim Zuge von NS-Verfolgungsmaßnahmen auf dem Gebiet derspäteren DDR vorgenommen wurden, meint ein anderer Senat,dass diese Norm auch Vermögensgegenstände erfasst, die nach-träglich in das genannte Gebiet gelangt seien. Die letztgenannteAuffassung setzt voraus, dass der verfolgungsbedingte Vermö-gensverlust außerhalb des Gebiets der späteren DDR rechtlichnicht oder zumindest nur beschränkt wirksam war und daher imZeitpunkt der Verbringung der Gegenstände in das Gebiet derspäteren DDR noch ein eigentumsähnliches Recht an diesenGegenständen bestand.

Eine solche Konstruktion wurde z.B. im Anwendungsbereichdes deutsch-amerikanischen Globalentschädigungsabkommens(BGBl. 1992 II S. 1223) von der amerikanischen Behörde, derForeign Claims Settlement Commission (FCSC), ihren Entschei-dungen zugrunde gelegt (vgl. Gruber, VIZ 1999, 646). Nach demWortlaut dieses Abkommens sollten nur Vermögensverluste ent-schädigt werden, die zwischen dem 8.5.1945 und dem 18.10.1976eingetreten waren. Die FCSC bezog aber auch NS-Verfolgte in denAnwendungsbereich des Abkommens ein, indem sie diesen fürden Zeitraum nach dem verfolgungsbedingten Vermögensverlustnoch ein eigentumsähnliches Recht am enteigneten Vermögens-gegenstand zubilligte. Begründet wurde dies damit, dass einverfolgungsbedingter Eigentumswechsel rechtlich nicht wirksamsei.

Entscheidend ist also im vorliegenden Fall, ob die entschädi-gungslose Enteignung in Polen auf besatzungsrechtlicher Grund-lage völkerrechtswidrig war. Da diese besatzungshoheitlichenKonfiskationen nicht alltägliche Enteignungen waren, dienach internationalem Enteignungsrecht hingenommen werdenmüssten, sondern die Schranken der occupatio bellica verletztund zusätzlich Verfolgungscharakter hatten, wird man davon aus-gehen können, dass den Betroffenen auch nach der Enteignungin Polen eine vermögenswerte Rechtsposition verblieb. DieserUmstand spricht für die Anwendung des VermG, da diese vermö-genswerte Rechtsposition mit der Verbringung des Vermögens-gegenstands in das Gebiet der späteren DDR gänzlich erlosch.

� 01.2 – 6/04

Prüfung einer Rüge willkürlicher Rechtsanwendung (hier:Bejahung eines Ankaufsrechts nach SachenRBerG durch OLG)

VerfGH Thüringen, Beschluss vom 28. Oktober 2003 – 19/01

ThürVerf. Art. 2 Abs. 1, 80 Abs. 1 Nr. 1; ThürVerfGHG §§ 31, 32;SachenRBerG §§ 30, 121; VermG § 4 Abs. 2

1. Die im Revisionszulassungsverfahren erfolgte Vorbefassungeines Revisionsgerichts hindert den Thür. VerfGH nicht, dasBerufungsurteil eines Thüringer Gerichts auf seine Vereinbarkeitmit der Landesverfassung zu prüfen, weil im Rahmen derNichtzulassungsbeschwerde lediglich nach dem Vorliegen von

Ver fassungsrecht

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Neue Justiz 6/2004262

Revisionszulassungsgründen gefragt wird (Bestätigung von Thür.VerfGH, Beschl. v. 29.10.1999, 23/97). 2. Der Zulässigkeitsmangel des noch nicht erschöpften Rechts-wegs (§ 31 Abs. 3 Satz 1 ThürVerfGHG) wird geheilt, wennnachträglich eine den fachgerichtlichen Rechtsweg abschlie-ßende Entscheidung ergeht (vgl. Thür. VerfGH, Beschl. v.22.4.2003, 20/01).3. Eine Verfassungsbeschwerde scheitert nicht an § 31 Abs. 3Satz 1 ThürVerfGHG, wenn ein Rechtsmittel, dessen Zulässigkeits-anforderungen durch die zuständigen obersten Fachgerichtenoch nicht abschließend geklärt sind, diejenigen Formalitätenwahrt, welche für vergleichbare Rechtsbehelfe nach der Recht-sprechung eines Gerichtshofs des Bundes ausreichen (hier:Bewilligung von PKH für die Nichtzulassungsbeschwerde). 4. Die Verfassungsbeschwerde wahrt die Begründungsanforde-rungen des § 32 ThürVerfGHG, wenn ein Verfassungsverstoß inseinen Grundzügen erkennbar dargestellt und ausgeführt ist.Die Rüge, die Auslegung von Rechtsnormen widerspreche demInhalt dieser Regelungen, enthält die Behauptung, dieser Wider-spruch sei so eklatant, dass die Entscheidung völlig rechtsfremdsei und damit gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 2Abs. 1 ThürVerf. und das aus ihm abgeleitete Verbot willkürlicherRechtsanwendung verstoße.5. Der Thür. VerfGH ist entscheidungszuständig für die Rüge, dieEntscheidung eines Thüringer Gerichts verlasse den Bereich desBundesrechts, weil das Rechtsfindungsergebnis den tatsäch-lichen Normengehalt unter keinem denkbaren Gesichtspunktberührt, so dass die Rechtsanwendung im Einzelfall als keinesfallsvertretbar, schlechthin unhaltbar, offensichtlich sachwidrig undeindeutig unangemessen qualifiziert werden muss (vgl. Thür.VerfGH, Beschl. v. 17.10.2002, 12/01; BayVerfGH, BayVBl. 2003,591, [592]).6. Begründet das Gericht seine vom herkömmlichen Norm-verständnis abweichende Entscheidung, verletzt es das Willkür-verbot nur, wenn die Begründung völlig nichtssagend oderunverständlich ist, oder wenn sie den Inhalt der betroffenenRechtsnorm ganz offenkundig verfehlt.

Die Beschwerdef. streitet mit dem Kl. des Ausgangsverfahrens umdessen Berechtigung zum Ankauf eines Grundstücks nach demSachenRBerG.

Die Beschwerdef. ist die Tochter des 1986 verstorbenen Eigentü-mers eines Grundstücks in N. Nachdem der Vater der Beschwerdef.mit seiner Familie 1949 die DDR verlassen hatte, wurde das miteinem zweigeschossigen Wohnhaus bebaute Grundstück untervorläufige staatliche Verwaltung gestellt und später in Volks-eigentum überführt. Rechtsträger wurde der VEB KWV N., der dasErdgeschoss des Hauses 1983 an die Familie W. und das Ober-geschoss an die Familie R. vermietete.

Mit einem Schreiben v. 4.10.1989 an den VEB KWV N. bekun-deten die Eheleute W. ihre Absicht, das Haus zu kaufen und baten»um einen Termin …, um alles weitere zu besprechen«. Weiterheißt es in dem Schreiben:

»Wir möchten jedoch nicht, dass unsere Nachbarn, die Familie R.,von unseren Absichten zu früh etwas erfährt, da wir an unnötigemÄrger kein Interesse haben. Aus diesem Grunde möchten wir Siebitten, den Inhalt dieses Schreibens vorerst für sich zu behalten …«.

Mit Vertrag des Staatlichen Notariats N. v. 9.4.1990 erwarben dieEheleute W. das Grundstück und sie wurden am 17.9.1990 alsEigentümer im Grundbuch eingetragen.

1996 übertrug das ARoV das Eigentum an dem Grundstück andie Beschwerdef. zurück. Den von den Eheleuten W. erhobenenWiderspruch wies das LARoV zurück. Die hiergegen gerichteteKlage der Eheleute W. wies das VG Weimar mit Urt. v. 22.2.1999

rechtskräftig mit der Begründung ab, das Eigentum am Grund-stück sei nach den Vorschriften des VermG zu Recht zurücküber-tragen worden. Die Rückübertragung sei auch nicht nach § 4Abs. 2 VermG deshalb ausgeschlossen, weil die Eheleute W. inredlicher Weise das Eigentum an dem Grundstück erworbenhätten.

In der Folgezeit wurde die Beschwerdef. als Eigentümerin desGrundstücks im Grundbuch eingetragen.

Im Febr. 2000 beantragten die Eheleute W. beim Notar, denAnkauf des Grundstücks zum halben Verkehrswert nach den Vor-schriften des SachenRBerG zu vermitteln. Darauf hat Notar B. am18.4.2000 das Grundbuchamt um Eintragung des Vermerks überdie Eröffnung des Vermittlungsverfahrens nach dem SachenR-BerG ersucht und die Beteiligten zum Verhandlungstermin gela-den. Nachdem im Verhandlungstermin am 27.6.2000 keineEinigung zwischen der Beschwerdef. und den Eheleuten W. erzieltworden ist, hat Notar B. mit Beschluss vom selben Tage dasVermittlungsverfahren ausgesetzt und die Beteiligten auf denKlageweg verwiesen.

Hierauf hat Herr P. W. beim LG Klage auf Feststellung seinesAnkaufsrechts nach dem SachenRBerG gegen die Beschwerdef.erhoben. Das LG Mühlhausen wies die Klage ab.

Auf die Berufung des Kl. hat das OLG Jena mit Urt. v. 16.9.2002(9 U 1215/01) das Urteil des LG abgeändert und festgestellt, dassder Kl. berechtigt ist, das Grundstück nach den Bestimmungendes SachenRBerG anzukaufen.

Zur Begründung hat das OLG ausgeführt, der Kl. habe einAnkaufsrecht nach § 121 Abs. 2 SachenRBerG. Die Voraussetzungendieser Anspruchsnorm lägen vor. Der Kl. habe ein Eigenheim iSdGesetzes aufgrund eines bis zum Ablauf des 18.10.1989 abgeschlos-senen Mietvertrags sowohl am 18.10.1989 als auch am 1.10.1994zu eigenen Wohnzwecken genutzt (§ 121 Abs. 2 Buchst. a und cSachenRBerG) und über dieses Eigenheim bis zum Ablauf des14.6.1990 einen wirksamen, beurkundeten Kaufvertrag mit einerstaatlichen Stelle der DDR geschlossen (§ 121 Abs. 2 Buchst. bSachenRBerG). Insbes. genüge der am 9.4.1990 über das Eigenheim-grundstück abgeschlossene Kaufvertrag den damals – nach In-Kraft-Treten des »Modrow-Gesetzes« v. 7.3.1990 – geltenden gesetzlichenBestimmungen.

Die Anspruchsnorm des § 121 Abs. 2 SachenRBerG, die dem Nut-zer noch nach vollzogener Restitution ein Ankaufsrecht zubillige unddamit im Ergebnis die Restitution an den Alteigentümer wieder zu Fallbringe, halte nach der Rspr. des BVerfG verfassungsrechtlicher Über-prüfung stand. Indem der Gesetzgeber dem Nutzer unter den in § 121Abs. 2 SachenRBerG genannten Voraussetzungen ein Ankaufsrechtgewährt habe, habe er das Problem der nicht vollzogenen sog. hän-genden Kaufverträge aus DDR-Zeiten mittels eines gerechten Interes-senausgleichs zwischen dem Nutzer und dem Restitutionsberechtig-ten gelöst. Dabei habe der Gesetzgeber das durch den Abschluss desKaufvertrags entstandene Vertrauen des Nutzers, das in seinem Besitzbefindliche Eigenheimgrundstück behalten zu dürfen, für schutzwür-dig erachtet, wenn der Kaufvertrag durch Umstände, die dem Nutzernicht zugerechnet werden können, nicht zu einem dinglichen Voll-rechtserwerb geführt habe. Die Regelung vermeide die Härten eines»Alles-oder-Nichts«. Zwar hindere das erst nach der »Wende« vorge-nommene Veräußerungsgeschäft nicht die vermögensrechtlicheRückübertragung an den Alteigentümer. Jedoch erhalte der Nutzer,der in seinem auf dem Handeln staatlicher Stellen der DDR beruhen-den Vertrauen jedenfalls bis zur gemeinsamen Erklärung der Regie-rungen der BRD und der DDR zur Regelung offener Vermögensfragenv. 15.6.1990 schutzwürdig sei, ein Recht auf Ankauf des Grundstückszum halben Verkehrswert.

Entgegen der Auffassung des LG stehe dem Ankaufsrecht des Kl. dievon der Beschwerdef. erhobene Einrede des unredlichen Erwerbs nach§ 30 Abs. 1 Satz 1 SachenRBerG iVm § 4 VermG nicht entgegen. DieseAnnahme stehe nicht in Widerspruch zu den Ausführungen des VGWeimar in seiner Entscheidung v. 22.2.1999. Denn das VG habe nichtgeprüft, ob der Kl. das Grundstück nach dem »Modrow-Gesetz« wirk-sam erworben habe, da ein solcher Erwerb nach § 4 Abs. 2 Satz 2Buchst. b VermG ohne Einfluss auf die Restitution des Grundstücksan die Beschwerdef. gewesen sei. Für die Beurteilung der Unredlich-

Rechtsprechung Ver fassungsrecht

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263Neue Justiz 6/2004

keit des Kl. sei auf die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertragsam 9.4.1990 maßgebliche Rechtslage abzustellen. Danach sei eineBeteiligung des Mitmieters beim Verkauf eines Zweifamilienhausesnicht mehr erforderlich gewesen. Vielmehr habe das zum Zeitpunktdes Abschlusses des Kaufvertrags geltende »Modrow-Gesetz« denSchutz des Mitmieters abweichend von der früheren Rechtslagegewährleistet, indem es vorsah, dass bestehende Mietverträge durchdie Veräußerung unberührt bleiben sollten. Mithin könne eineUnredlichkeit des Kl. nicht daraus abgeleitet werden, dass er demMitmieter R. sein bereits 1989 zu Tage getretenes Interesse am Erwerbdes Grundstücks zunächst verheimlicht und ausweislich des Schrei-bens v. 4.10.1989 sogar versucht habe, dessen Beteiligung an demVerkaufsvorgang zu hintertreiben.

Das OLG hat die Revision nicht zugelassen, den Wert derBeschwer der Berufungsbekl. aber auf mehr als 20.000 € festgesetzt.

Am 1.10.2002 hat die Beschwerdef. beim BGH beantragt, ihr fürdas Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der RevisionPKH unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu bewilligen, ohnein ihrem Antrag Revisionszulassungsgründe darzulegen. MitBeschl. v. 16.1.2003 hat der BGH den Antrag abgelehnt und dies– ohne nähere Ausführungen – damit begründet, die beabsichtigteRechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wandte sich die Beschwerdef.gegen die Eröffnung des notariellen Vermittlungsverfahrens. Sieist der Ansicht, die gesetzlichen Voraussetzungen für derenDurchführung nach dem SachenRBerG hätten nicht vorgelegen.Dies habe Notar B. nicht beachtet, wodurch ihr unnötige Kostenentstanden seien. Außerdem rügte sie eine Verletzung rechtlichenGehörs durch das OLG und beanstandete, dass die Rechtsausfüh-rungen des OLG mit denen im VG-Urteil nicht in Einklang stünden.

Die Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

B. Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig. Im Übrigenist sie jedenfalls unbegründet.

I. Soweit sich die Beschwerdef. gegen die Eröffnung des Ver-mittlungsverfahrens nach dem SachenRBerG durch den Notar B.wendet, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig.

Es kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde insoweit über-haupt einen konkreten beschwerdefähigen Akt öffentlicher GewaltiSd Art. 80 Abs. 1 Nr. 1 ThürVerf., § 31 Abs. 1 ThürVerfGHG zumGegenstand hat. Jedenfalls ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig,weil die Beschwerdef. entgegen § 32 ThürVerfGHG weder behauptetnoch substantiiert darlegt, durch die angegriffene Maßnahme in ihrenGrundrechten, grundrechtsgleichen oder staatsbürgerlichen Rechtenverletzt zu sein. Sie rügt vielmehr ohne jede Bezugnahme aufbestimmte verfassungsmäßige Rechte, dass die gesetzlichen Voraus-setzungen für die Durchführung des Vermittlungsverfahrens nachdem SachenRBerG zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrensnicht vorgelegen hätten. Dies zu überprüfen, ist dem Thür. VerfGHverwehrt. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde ist nur über dieVerfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte, nicht aber überdie Richtigkeit der Auslegung einfacher Gesetze und ihrer Anwen-dung auf den konkreten Fall oder über die Angemessenheit undZweckmäßigkeit von Entscheidungen zu befinden (vgl. Thür. VerfGH,Beschl. v. 6.2.2002, 15/01).

Im Übrigen ist die gegen die Eröffnung des notariellen Vermitt-lungsverfahrens gerichtete Verfassungsbeschwerde auch deshalbunzulässig, weil die Beschwerdef. die Monatsfrist des § 33 Abs. 1 Thür-VerfGHG ersichtlich nicht gewahrt hat. Danach ist die Verfassungs-beschwerde binnen eines Monats nach Bekanntgabe der angegriffe-nen Maßnahme oder Entscheidung an den Beschwerdef. zu erhebenund zu begründen. Die im Zusammenhang mit der Eröffnung desVermittlungsverfahrens stehenden Amtshandlungen des Notars B.,wie die Zustellung des Antrags und die Ladung der Beteiligten zumVerhandlungstermin nach § 92 Abs. 1 SachenRBerG oder das Ersu-chen auf Eintragung des Grundbuchvermerks nach § 92 Abs. 5SachenRBerG sind jedenfalls vor dem 27.6.2000 vorgenommen undder Beschwerdef. bekannt gemacht worden. Die Verfassungsbe-schwerde ist aber erst im Nov. 2001 und damit nicht innerhalb derMonatsfrist beim Thür. VerfGH eingegangen.

II. 1. Bedenken gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbe-schwerde greifen nicht durch, soweit sich die Beschwerdef. gegendas Berufungsurteil des OLG Jena v. 16.9.2002 wendet.

a) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nach Art. 80Abs. 1 Nr. 1 ThürVerf., § 31 Abs. 1 ThürVerfGHG steht nicht ent-gegen, dass der BGH am 16.1.2003 den Antrag der Beschwerdef.auf Bewilligung von PKH für die nach §§ 26 Nr. 8 EGZPO,544 ZPO nF gegen die Nichtzulassung der Revision eröffneteBeschwerde mangels Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechts-verfolgung abgelehnt hat. Denn dem Thür. VerfGH ist die Sach-prüfung einer mit der Landesverfassungsbeschwerde angefochte-nen Entscheidung eines Landesgerichts erst dann verwehrt, wennein Gericht des Bundes den Gegenstand des Ausgangsverfahrensrechtlich schon geprüft und die beanstandete Entscheidung inder Sache ganz oder teilweise bestätigt hat (vgl. BVerfGE 96, 345,[371] = NJ 1998, 252 [bearb. v. Jutzi]; Thür. VerfGH, Beschl. v.29.10.1999, 23/97).

Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nimmt das Revi-sionsG aber grundsätzlich keine rechtliche Prüfung des Sachver-halts des Ausgangsverfahrens vor, sondern untersucht lediglich,ob die vom Beschwerdef. geltend gemachten Gründe für dieZulassung der Revision vorliegen. Dies folgt aus § 544 Abs. 2Satz 3 u. Abs. 6 Satz 3 ZPO. Danach sind in der Begründung derNichtzulassungsbeschwerde nur die in § 543 Abs. 2 ZPO genann-ten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutungder Rechtssache oder der Erforderlichkeit einer revisionsgericht-lichen Entscheidung zur Fortbildung des Rechts oder zur Siche-rung einer einheitlichen Rspr. darzulegen, während die Revisionselbst erst nach Zustellung der der Nichtzulassungsbeschwerdestattgebenden Entscheidung des RevisionsG begründet werdenmuss. Entsprechendes gilt, wenn das RevisionsG im Rahmeneines Antrags auf Bewilligung von PKH die Erfolgsaussichten derbeabsichtigten Nichtzulassungsbeschwerde prüft. Die im Aus-gangsverfahren ergangene Entscheidung des RevisionsG istdanach nicht als inhaltliche Bestätigung des angegriffenen Beru-fungsurteils anzusehen.

b) Der Rechtsweg ist erschöpft.

aa) Gegen § 31 Abs. 3 Satz 1 ThürVerfGHG ist nicht allein des-wegen verstoßen, weil bei Einlegung der Verfassungsbeschwerdeder zur Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung eröff-nete Instanzenzug noch nicht vollständig durchschritten war.Nach der Rspr. des Thür. VerGH wird dieser Zulässigkeitsmangeleiner Verfassungsbeschwerde geheilt, wenn nachträglich eine denfachgerichtlichen Rechtsweg abschließende Entscheidung ergeht(vgl. Thür. VerfGH, Beschl. v. 22.4.2003, 20/01).

bb) Andererseits sind die Voraussetzungen des § 31 Abs. 3 Satz 1ThürVerfGHG nicht schon deswegen gegeben, weil mit der Ent-scheidung des BGH, dass der PKG-Bewilligungsantrag betr. dieDurchführung des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens abge-lehnt werde, die Grenze des der Beschwerdef. zur Rechtsweg-erschöpfung Zumutbaren erreicht worden ist. Gleichwohl würdedie Verfassungsbeschwerde an § 31 Abs. 3 Satz 1 ThürVerfGHGscheitern, wenn der Beschluss des BGH darauf beruhte, dass dieBeschwerdef. die für den Erfolg ihres Antrags erforderlichen For-malitäten nicht beachtet hatte, denn der fachgerichtliche Rechts-weg ist auch dann nicht erschöpft, wenn ein an sich statthaftesRechtsmittel aus formellen Gründen, etwa wegen Fristversäum-nis oder wegen unzulänglicher Darlegung des Rechtsmittel-anliegens als unzulässig behandelt worden ist (vgl. BVerfGE 1, 12,[13]; 1, 13, [14]; 16, 124, [127]).

Im vorliegenden Fall wären zwar die gem. § 544 Abs. 2 Satz 3ZPO notwendigen Ausführungen zu den Revisionszulassungs-gründen im Vorbringen der Beschwerdef. nicht zu finden gewe-

Ver fassungsrecht

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Neue Justiz 6/2004264

sen. Jedoch gelten diese Begründungsanforderungen nur für dieNichtzulassungsbeschwerde selbst, nicht aber ohne weiteres auchfür den Antrag auf Bewilligung von PKH für diesen Rechtsbehelf.Hierzu hat das BVerwG es genügen lassen, dass das Antragszielerkennbar ist, wogegen es das für die Erfolgsaussicht des Antragsnotwendige Vorliegen von Nichtzulassungsgründen von Amtswegen festgestellt hat (vgl. BVerwG, NJW 1965, 1293). DerBeschluss des BGH v. 16.1.2003 lässt nicht erkennen, ob er dieserRspr. gefolgt ist. Dass sich der BGH dem BVerwG insoweit ange-schlossen hat, liegt indessen nahe, so dass davon auszugehen ist,dass der BGH das Vorliegen von Revisionszulassungsgründengeprüft und im Ergebnis verneint hat. Jedenfalls durfte dieBeschwerdef. davon ausgehen, dass der BGH, was die Begrün-dungsvoraussetzungen für den Antrag auf PKH-Bewilligung imRevisionszulassungsverfahren angeht, dem BVerwG folgt, so dassaus Sicht des § 31 Abs. 3 Satz 1 ThürVerfGHG keine höherenBegründungsanforderungen gestellt werden können.

c) Die Verfassungsbeschwerde wahrt auch die Begründungs-anforderungen des § 32 ThürVerfGHG. Der Thür. VerfGH lässt eshierbei in st.Rspr. genügen, dass ein Verfassungsverstoß in seinenGrundzügen erkennbar dargestellt und ausgeführt ist. Hier wen-det die Beschwerdef. sich gegen das Berufungsurteil des OLG mitder Rüge, das in Auslegung der §§ 121, 30 SachenRBerG, 4 VermGgefundene Ergebnis widerspreche dem Inhalt dieser Regelungen.Hierin ist die Behauptung eingeschlossen, dieser Widerspruch seiso eklatant, dass die Entscheidung des OLG Jena völlig rechts-fremd sei und damit gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 2Abs. 1 ThürVerf. und das aus ihm abgeleitete Verbot willkürlicherRechtsanwendung verstoße.

d) Mit diesem Rügegehalt kann sich der Thür. VerfGH unge-achtet dessen befassen, dass der Rechtsanwendungsfehler derAnwendung von Bundesrecht anhaften soll. Auch insoweit bejahtder VerfGH in st.Rspr. … seine Entscheidungszuständigkeit, weilder Bereich des Bundesrechts verlassen wird, wenn das Ergebniseiner ihm geltenden Rechtsfindung den tatsächlichen Normen-gehalt unter keinem denkbaren Gesichtspunkt berührt, so dassdie Rechtsanwendung als keinesfalls vertretbar, schlechthinunhaltbar, offensichtlich sachwidrig und eindeutig unangemessenqualifiziert werden muss (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 17.10.2002,12/01; BayVerfGH, BayVBl. 2003, 591, [592]).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet. Nach densoeben ausgeführten Maßstäben sind die Rechte der Beschwerdef.aus Art. 2 Abs. 1 ThürVerf. nicht verletzt.

a) Das angefochtene Urteil des OLG Jena ist verfassungsrecht-lich nicht deshalb zu beanstanden, weil es im Ergebnis dieBeschwerdef. dazu verpflichtet, das ihr gegen den Widerspruchdes Kl. des Ausgangsverfahrens nach den Vorschriften des VermGzu Eigentum zurückübertragene Grundstück wieder an den Kl. zuveräußern. Diese Rechtsfolge sieht das Gesetz ausdrücklich vor.

§ 121 Abs. 1 Satz 1 SachenRBerG billigt dem Nutzer eines Grund-stücks, eines Gebäudes oder einer baulichen Anlage seinem Wortlautnach ein Ankaufsrecht auch dann zu, wenn das Grundstück, dasGebäude oder die bauliche Anlage nach dem VermG an den Alt-eigentümer zurückübertragen worden ist. Anspruchsberechtigt sinddabei diejenigen Nutzer, die bis zum Ablauf des 18.10.1989 einenwirksamen beurkundeten Kaufvertrag über das betreffende Objekt miteiner staatlichen Stelle der DDR abgeschlossen haben. Nach § 121Abs. 1 Satz 3 SachenRBerG stehen die Ansprüche aus Satz 1 der Vor-schrift auch denjenigen Nutzern zu, die erst nach dem genanntenStichtag den Kaufvertrag abgeschlossen haben. Voraussetzung hierfürist jedoch, dass der Nutzer den Kaufvertrag vor dem 19.10.1989schriftlich beantragt oder aktenkundig angebahnt (§ 121 Abs. 1 Satz 3Buchst. a SachenRBerG), zu gewerblichen Zwecken nach § 1 des»Modrow-Gesetzes« abgeschlossen (§ 121 Abs. 1 Satz 3 Buchst. bSachenRBerG) oder Investitionen getätigt hat (§ 121 Abs. 1 Satz 3Buchst. c SachenRBerG).

Die so in § 121 Abs. 1 SachenRBerG getroffene Stichtagsregelungmit Ausnahmen entspricht der in § 4 Abs. 2 Satz 2 VermG. Der durchsie bestimmte Kreis der ankaufsberechtigten Nutzer wird durch denvom OLG als Anspruchsgrundlage herangezogenen § 121 Abs. 2SachenRBerG nochmals erweitert. Denn diese Vorschrift bezieht auchdiejenigen Nutzer ein, die aufgrund eines bis zum Ablauf des18.10.1989 abgeschlossenen Mietvertrags ein Eigenheim am 18.10.1989genutzt (§ 121 Abs. 2 Buchst. a SachenRBerG), bis zum Ablauf des14.6.1990 einen wirksamen, beurkundeten Kaufvertrag mit einerstaatlichen Stelle der DDR über dieses Eigenheim geschlossen (§ 121Abs. 2 Buchst. b SachenRBerG) und das Eigenheim am 1.10.1994 zueigenen Wohnzwecken genutzt haben (§ 121 Abs. 2 Buchst. cSachenRBerG).

Die Vorschrift des § 121 Abs. 2 SachenRBerG steht als solchemit dem GG in Einklang (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.5.2001,NJ 2001, 529). Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass das OLGJena bei der Subsumtion dieser Anspruchsgrundlage willkürlichvorgegangen wäre. Vielmehr hat sich der Senat eingehend unterHeranziehung der einschlägigen Lit. und Rspr. mit der einfach-gesetzlichen Rechtslage auseinander gesetzt und dabei auchdie gegen die Vorschrift erhobenen, vom BVerfG letztlich fürunbegründet erklärten verfassungsrechtlichen Bedenken erwo-gen.

b) Art. 2 Abs. 1 ThürVerf. ist auch nicht dadurch verletzt, dassdas OLG die von der Beschwerdef. im Ausgangsverfahren erho-bene Einrede des unredlichen Erwerbs nach § 30 Abs. 1 Satz 1SachenRBerG iVm § 4 VermG für unbegründet gehalten hat.

Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 SachenRBerG kann der Grundstücks-eigentümer den Verkauf verweigern, wenn der Nutzer bei derBestellung des Nutzungsrechts oder, falls ein Nutzungsrecht nichtbestellt wurde, der Nutzer bei der Erlangung des Besitzes amGrundstück unredlich iSd § 4 VermG gewesen ist. § 30 Abs. 1Satz 1 SachenRBerG ist Rechtsgrundverweisung auf § 4 VermGund knüpft für den Begriff der Unredlichkeit an dessen Abs. 2u. 3 an (vgl. Vossius, SachenRBerG, Komm., 2. Aufl. 1996, § 30Rn 14/15). Soweit nach der Vorschrift für die Beurteilung derUnredlichkeit der Zeitpunkt der Besitzerlangung maßgeblich ist,kommt es auf den Erwerb des Eigenbesitzes an (vgl. Eickmann-Rothe, SachenRBerG, Losebl.-Komm., § 30 Rn 10).

§ 4 Abs. 2 Satz 2 VermG schließt einen redlichen Erwerb vonGrundstücken und Gebäuden von vorneherein aus, wenn das demErwerb zugrunde liegende Rechtsgeschäft nach dem 18.10.1989geschlossen worden ist, es sei denn, dass der Erwerb vor dem19.10.1989 schriftlich beantragt oder sonst aktenkundig ange-bahnt worden (§ 4 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VermG), zu gewerb-lichen Zwecken nach § 1 des »Modrow-Gesetzes« erfolgt (§ 4Abs. 2 Satz 2 Buchst. b VermG) oder investiert worden ist (§ 4Abs. 2 Satz 2 Buchst. c VermG). Liegt also eine der (Rück-)Aus-nahmen nach Buchst. a bis c der Vorschrift vor, kommt beiVersäumung des Stichtags ein redlicher Erwerb überhaupt erst inBetracht. In diesem Falle ist zu prüfen, ob Unredlichkeit iSd § 4Abs. 3 VermG gegeben ist (vgl. Eickmann-Rothe, aaO, Rn 17),anderenfalls ist ein redlicher Erwerb anzunehmen. Nach § 4 Abs. 3VermG ist ein Rechtserwerb i.d.R. u.a. dann unredlich, wenn ernicht in Einklang mit den zum Zeitpunkt des Erwerbs in der DDRgeltenden allgemeinen Rechtsvorschriften, Verfahrensgrundsät-zen und einer ordnungsgemäßen Verwaltungspraxis stand undder Erwerber dies wusste oder hätte wissen müssen (§ 4 Abs. 3Buchst. a VermG).

Während das VG im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob derRückübertragung an die Beschwerdef. nach § 4 Abs. 2 Satz 2Buchst. a VermG ein redlicher Erwerb des Grundstücks durch denKl. des Ausgangsverfahrens entgegenstehe, einen solchen Erwerbnach dem Stichtag verneint hat, weil der Kaufvertrag nicht schonvor dem Stichtag aktenkundig angebahnt worden sei, ist das OLG

Rechtsprechung Ver fassungsrecht

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265Neue Justiz 6/2004

im Ergebnis davon ausgegangen, dass es im Rahmen der demAnkaufsrecht des Kl. entgegengehaltenen Einrede des unred-lichen Erwerbs nach § 30 Abs. 1 Satz 1 SachenRBerG iVm § 4VermG hierauf nicht ankomme, sondern nur darauf, dass zumZeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags am 9.4.1990 dieVoraussetzungen für einen rechtswirksamen Erwerb nach damalsgeltendem Recht – dem »Modrow-Gesetz« – erfüllt waren. Hierzuhat der Senat ausgeführt, dass das Verhalten des Kl. im Jahre 1989ohne Bedeutung für die Wirksamkeit des später geschlossenenKaufvertrags gewesen sei und daher keine Unredlichkeit begrün-den könne.

Es ist nicht Aufgabe des Thür. VerfGH zu entscheiden, ob dieseRechtsauffassung zutreffend ist oder das OLG damit möglicher-weise die Prüfung des unredlichen Erwerbs unter Verkennung dergesetzlichen Systematik letztlich darauf verkürzt hat, ob die Vor-aussetzungen des § 4 Abs. 3 Buchst. a VermG vorgelegen habenund dabei den vorab zu prüfenden § 4 Abs. 2 Satz 2 Buchst. aVermG außer Acht gelassen hat. Denn jedenfalls ist die ausführ-lich und unter Bezug auf die Entscheidung des VG begründete An-sicht des Senats nach den oben dargestellten Kriterien nicht alswillkürlich zu bezeichnen, zumal sie auch in den Kommen-tierungen zu § 30 Abs. 1 Satz 1 SachenRBerG insoweit eine Stützefindet, als es danach für die Unredlichkeit auf den Zeitpunkt derErlangung des Eigenbesitzes ankommen soll.

Schließlich kommt auch eine Verletzung des in Art. 2 Abs. 1ThürVerf. verankerten Gleichbehandlungsgebots nicht deshalbin Betracht, weil die oberlandesgerichtliche Entscheidung mög-licherweise in Widerspruch zu dem Urteil des VG steht (vgl.BVerfGE 87, 273, [278]).

3. Eine Verletzung des Rechts der Beschwerdef. auf rechtlichesGehör aus Art. 88 Abs. 1 ThürVerf. scheidet ebenfalls aus.

Der aus dem Rechtsstaatsgedanken folgende Anspruch aufrechtliches Gehör soll als Prozessgrundrecht sichern, dass dieVerfahrensbeteiligten nicht bloßes Objekt richterlicher Entschei-dungen sind, sondern vor einer solchen Entscheidung zu Wortkommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis neh-men zu können. Dies setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligtenbei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt erken-nen können, auf welche tatsächlichen und rechtlichen Gesichts-punkte es für die Entscheidung möglicherweise ankommt. Zwarist das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgesprächnoch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet.Jedoch kann es im Ergebnis der Verhinderung eines Vorbringenszur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigenHinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit demauch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nichtrechnen musste. In diesen Fällen ist es geboten, die Verfahrens-beteiligten auf die Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gerichtseiner Entscheidung zugrunde legen will (vgl. Thür. VerfGH,Beschl. v. 29.7.1999, 2/98).

Danach kommt ein Gehörsverstoß nicht in Betracht. Denn dasOLG hat in seinem Hinweisbeschl. v. 6.5.2002 darauf hinge-wiesen, dass es sich bei der Beurteilung der Frage des unredlichenErwerbs nach § 30 Abs. 1 Satz 1 SachenRBerG iVm § 4 Abs. 2 Satz 2VermG nicht an die Entscheidung des VG gebunden fühle, unddies damit begründet, dass das VG einen Erwerb nach dem»Modrow-Gesetz« nicht geprüft habe und auch nicht habe prü-fen müssen. Die im Ausgangsverfahren anwaltlich vertreteneBeschwerdef. konnte daraus ohne weiteres entnehmen, dass derSenat möglicherweise – anders als das VG – von einem redlichenErwerb des Kl. ausgehen würde. Der von der Beschwerdef. erho-bene Vorwurf einer überraschenden Entscheidung ist mithinunbegründet.

02 BÜRGERLICHES RECHT

� 02.1 – 6/04

Wohnfläche als zentrales Beschaffenheitsmerkmal der von einemBauträger errichteten Eigentumswohnung

BGH, Urteil vom 8. Januar 2004 – VII ZR 181/02 (OLG Rostock)

BGB §§ 133, 157, 166 Abs. 1, 631 Abs. 1

1. Die Wohnflächen gehören zu den zentralen Beschaffenheits-merkmalen des vom Bauträger geschuldeten Objekts. Fehlen ineinem Erwerbervertrag Angaben hierzu, sind die einseitigenVorstellungen des Erwerbers für den Inhalt des Vertrages maß-geblich, wenn der Bauträger in eigener oder zurechenbarerKenntnis des Willens des Erwerbers den Vertrag abschließt.2. Beauftragt der Bauträger eine Hilfsperson mit der Anwerbungder Kunden und mit den Vertragsanbahnungsgesprächen undschaltet der Verhandlungsgehilfe einen selbständigen Vermittlerein, sind dessen Kenntnisse über die einseitigen Vorstellungendes Erwerbers dem Bauträger zuzurechnen, wenn dieser mit derEinschaltung des Untervermittlers rechnen musste.

Problemstellung:

Der Kl. erwarb von der Bekl., einer Bauträgerfirma, 1994 fünfnoch zu errichtende Eigentumswohnungen. Nach Fertigstellungder Wohnungen stellte sich heraus, dass die Wohnungen gegen-über den durch eine Maklerfirma angegebenen Wohnflächen einedurchschnittlich um 11% geringere Fläche aufwiesen. Darausleitet der Kl. einen Anspruch auf Herabsetzung des Erwerbspreises,Erstattung zu viel gezahlter Maklercourtage sowie Rückforderungüberzahlter Grunderwerbssteuer her.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung blieb ohneErfolg.

Auf die Revision des Kl. hat der BGH das Berufungsurteil auf-gehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entschei-dung an das BerufungsG zurückverwiesen.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Entgegen der Ansicht des BerufungsG haben die VertragsparteienWohnflächen für die von dem Kl. erworbenen Eigentumswoh-nungen vereinbart und weil diese nicht eingehalten worden sind,liegt ein Mangel des geschuldeten Objekts vor.

Da der notarielle Kaufvertrag insoweit keine eindeutigen Aus-sagen enthielt – vereinbart war u.a., dass die Bekl. »keine Gewährfür Größe« übernehme und »keine besonderen Eigenschaften«zusichere und außerdem, dass »baubedingte Wohnflächenver-minderungen von bis zu 3%« keinen Einfluss auf das Entgelthaben sollten – und selbständige Maklerfirmen mit dem Vertriebder Wohnungen beauftragt waren (die allerdings Größen undqm-Preise der einzelnen Wohnungen schriftlich unter Zusetzungdes Kürzels »WF« angegeben hatten), war das BerufungsG zu derAnsicht gelangt, dass die Bekl. eine bestimmte Wohnfläche nichtzugesichert habe. Diese Auslegung beruht – so der BGH – aber aufeinem Rechtsfehler. »Sie widerspricht dem Gebot, dass vertrag-liche Vereinbarungen der Parteien als sinnvolles Ganzes unterBerücksichtigung der beiderseitigen Interessen auszulegen sind.«

Nach dem Auslegungsergebnis des BerufungsG wäre davon aus-zugehen, dass die Parteien sich über die Größe der Wohnflächenals ein zentrales Beschaffenheitsmerkmal der Wohnungen nichtgeeinigt hätten und die vertragliche Preisanpassungsklausel fürMinderflächen überflüssig und damit sinnlos wäre. Demnachwäre der Erwerber zur Zahlung der Vergütung verpflichtet ohneRücksicht auf die Größe der Wohnungen. Der Bauträger könnte

Ver fassungsrecht

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Neue Justiz 6/2004266

die Größe der Wohnfläche nach seinem Belieben festlegen undausführen. Dies widerspricht dem Gebot einer interessengerech-ten Auslegung; es würden ausschließlich die Interessen der Bekl.berücksichtigt. Zwar haben die Parteien eine vertragliche schrift-liche Abrede über die Wohnflächen nicht getroffen, jedoch istzu prüfen, ob die einseitige Vorstellung des Kl. über die Größeder Wohnfläche Inhalt des Vertrags und damit geschuldetesBeschaffenheitsmerkmal der Wohnungen geworden ist.

Eine einseitige Vorstellung einer Vertragspartei ist für dieBestimmung des Vertragsinhalts von Bedeutung, wenn derErklärungsempfänger den wirklichen Willen des Erklärendenerkennt und in Kenntnis dieses Willens den Vertrag abschließt(BGH, Urt. v. 11.7.1997, NJ 1997, 614 [Leits.]). Im vorliegendenFall ist dies aus folgenden Gründen zu bejahen:

Vereinbarte Wohnflächen sind Beschaffenheitsmerkmale eineraufgrund des Erwerbervertrags vom Bauträger geschuldetenWohnung (vgl. z.B. BGH, Urt. v. 22.12.2000, BGHZ 146, 250 =NJ 2001, 375 [Leits.]). Für den Erwerber gehören die Wohnflächeeiner Eigentumswohnung und deren Berechnungsgrundlage zuden zentralen Beschaffenheitsmerkmalen des Objekts. DieKenntnis hiervon ermöglicht es ihm zu entscheiden, ob dasObjekt für seine Zwecke geeignet ist und ob er die Gegenleistungfür die Eigentumswohnung erbringen kann und will. DieWohnfläche ist ein maßgebliches Kriterium für den Verkehrswertder Wohnung und damit für die Möglichkeit der Finanzierungdurch Fremdmittel sowie für die Wirtschaftlichkeitsprognose(BGH, Urt. v. 7.9.2000, BGHZ 145, 121, 129).

Im konkreten Fall kann offen bleiben, ob von einer eigenenKenntnis der Bekl. über die Vorstellungen des Kl. auszugehen ist.Sie muss sich in jedem Fall die Kenntnis der Maklerfirma in ent-sprechender Anwendung des § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen.Diese hatte dem Kl. noch am Tage vor Vertragsabschluss eineTabelle übersandt, in der die Flächenangaben durch den unmiss-verständlichen Zusatz »WF« als Wohnflächenangaben gekenn-zeichnet waren. Die Mitarbeiter der Maklerfirma kannten daherdie Vorstellung des Kl., dass er Wohnungen entsprechenderGröße erhalten werde.

Zwar muss eine Vertragspartei im Rahmen von Verhandlungenfür einen von ihr beauftragten Makler einstehen, jedoch gilt diesnicht, wenn dieser Makler seine Tätigkeit nicht auf das für dieDurchführung seines Auftrags Notwendige beschränkt, sondernals Hilfsperson der Vertragspartei, etwa als Verhandlungsführeroder -gehilfe, tätig wird (BGH, Urt. v. 2.6.1995, NJW 1995, 2550).Die Selbständigkeit eines Maklers steht dessen Einordnung alsErfüllungsgehilfe nicht grundsätzlich entgegen (BGH, Urt. v.24.9.1996, NJW-RR 1997, 116).

Das BerufungsG hat die hier eingeschaltete Maklerfirma korrektals Verhandlungsgehilfin der Bekl. angesehen. Bereits die zuletztgenannte BGH-Entscheidung sagt aus, dass ein Makler als Hilfs-person der Partei anzusehen ist, wenn er mit deren Wissen undWollen Aufgaben übernimmt, die typischerweise dieser obliegenund damit in deren Pflichtenkreis tätig wird. Diese Vorausset-zungen sind vom BerufungsG zutreffend als erfüllt angesehenworden, u. a. deshalb, weil die Bekl. der Maklerfirma die Anwer-bung der Kunden und die Vertragsanbahnungsgespräche über-lassen hat. Das BerufungsG hat allerdings ein Einstehen der Bekl.für die Verhandlungen der Maklerfirma deshalb verneint, weildiese Maklerfirma eine zweite Maklerfirma als Untervermittlereingeschaltet hatte, die letztlich die Endverhandlungen mit demKl. geführt und auch die Wohnflächenzusicherungen gegebenhatte. Das BerufungsG war der Ansicht, dass diese eingeschaltetezweite Maklerfirma die Kriterien einer Hilfsperson ebenfalls erfül-len müsse. Diese Anforderung widerspricht der Rspr. des BGH.

In drei Entscheidungen gegen eine Lebensversicherungs-gesellschaft sowie gegen eine Bausparkasse hatte der BGH bereitsklargestellt, dass das Unternehmen für einen von ihm beauftrag-ten Vermittler auch dann haftet, wenn dieser Vermittler Unter-vermittler beauftragt (BGH, Urt. v. 9.7.1998, NJW 1998, 2898;v. 24.9.1996, aaO; v. 14.11.2000, NJW 2001, 358 = NJ 2001, 477[bearb. v. Kühne] ). Für die Haftung des Bauträgers gilt nichtsanderes. »Überträgt dieser einem Makler den Vertrieb zu errich-tender Wohnungen, muss er auch damit rechnen, dass der vonihm beauftragte Makler selbständige Untermakler einschaltet,wenn der Vertrieb nicht von vornherein nur auf einem lokalenMarkt an Erwerber mit eigener Nutzungsabsicht erfolgen soll.«

Diese Grundsätze führen zu der Schlussfolgerung, dass die ein-seitige Vorstellung des Kl. über die Größe der Wohnfläche Inhaltdes Vertrags geworden ist, weil die andere Partei in Kenntnisdieser Vorstellung den Vertrag abgeschlossen hat.

Eine Rückverweisung des Rechtsstreits an das BerufungsG warerforderlich, weil die für eine Entscheidung über die Höhe derErstattungsansprüche erforderlichen Tatsachen bisher nicht fest-gestellt worden sind. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen,dass der Erwerber im Rahmen des kleinen Schadensersatzes gem.§ 635 BGB aF den mangelbedingten Minderwert oder die zurMangelbeseitigung erforderlichen Kosten geltend machen kann.Der Minderwert besteht in der Differenz des Verkehrswerts desHauses im mangelfreien Zustand zum Verkehrswert im mangel-bedingten Zustand. Dieser Minderwert kann vom Kl. in der Weiseberechnet werden, dass er den Erwerbspreis der Wohnungen indem Verhältnis herabsetzt, in dem die tatsächlichen Wohn-flächen zu den vereinbarten stehen. In der Berechnung diesesMinderungsbetrags führen auch die im Vertrag als geringfügigvereinbarten Differenzen bei den Wohnflächen nicht zu einerKürzung des Anspruchs. Wird die vereinbarte geringfügigeMinderung der Wohnfläche von 3 % zu Lasten des Erwerbersüberschritten, dann haftet der Veräußerer uneingeschränkt, dieberechtigte Kürzung des Erwerbspreises kann nicht um einenGeringfügigkeitsabschlag von 3 % gekürzt werden (BGH, Urt. v.22.10.1999, NJW-RR 2000, 202).

Auch die auf der Basis des vereinbarten Erwerbspreises gezahlteMaklerprovision und die Grunderwerbsteuer können als frustierteAufwendungen nach § 635 BGB aF anteilig erstattungsfähig sein,falls der Kl. die entsprechenden Leistungen im Vertrauen darauferbracht hat, dass der Bauträger die Wohnungen in der als ver-einbart geltenden Größe erstellen werde und die Rentabilitäts-vermutung nicht widerlegt wird. Dazu und zu einem möglichenMitverschulden des Kl. iSd § 254 Abs. 2 BGB wird das BerufungsGFeststellungen zu treffen haben.

Kommentar:

Der Entscheidung ist vollinhaltlich zuzustimmen. Der VII. Zivil-senat des BGH hat hier in eindrucksvoller Weise demonstriert, wieein mangelhafter Vertrag in Anwendung der gesetzlichen Ausle-gungsvorgaben der §§ 133, 157 BGB sachgerecht ausgelegt werdenmuss. Die Orientierungen über die Voraussetzungen für den Ein-gang einseitiger Vorstellungen einer Vertragspartei in eine vertrag-liche Vereinbarung dürften von grundsätzlicher Bedeutung sein.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Horst Zank, Potsdam

� 02.2 – 6/04

Kündigung bei fehlender Schriftform eines langfristigen Miet-vertrags

BGH, Urteil vom 5. November 2003 – XII ZR 134/02 (OLG Rostock)

Rechtsprechung Bürger l i ches Recht

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267Neue Justiz 6/2004

BGB §§ 242, 550

Ist ein Mietvertrag nicht in der für langfristige Mietverträgevorgeschriebenen Schriftform (§ 550 BGB = § 566 aF BGB)abgeschlossen worden, so ist eine darauf gestützte vorzeitigeKündigung nicht deshalb treuwidrig, weil der Mietvertrag zuvorjahrelang anstandslos durchgeführt worden ist.

Problemstellung:

Streitig sind Mietzinsansprüche der Kl. als Eigentümer undVermieter eines Geschäftshauses. Die Kl. sind die beiden einzigenGesellschafter einer GbR. Sie hatten das Haus, in dem sich u.a. derMietbereich befindet, von der bekl. Stadt abrissreif erworben undaufwendig saniert. Mit schriftlichem Mietvertrag vermieteten sie1996 Gewerbeflächen in diesem Haus für zehn Jahre fest an die»Kurverwaltung«, wobei es sich um eine Einrichtung der Bekl.ohne eigene Rechtspersönlichkeit handelt. Die Kl. sind nament-lich mit einem »&« im Kopf des Mietvertrags aufgeführt. Einausdrücklicher Hinweis, dass sie in einer GbR verbunden sind,fehlt. Der Kl. zu 1) unterschrieb den Mietvertrag auf Vermieter-seite ohne den Zusatz, den anderen Gesellschafter zu vertreten.Auf Mieterseite wurde der Vertrag von der damaligen Kurdirekto-rin unterzeichnet.

Zunächst wurde die Miete regelmäßig bezahlt. 1998 wurde derEigenbetrieb »Kurverwaltung« aufgelöst. Seit Jan. 1999 werdendie gemieteten Räume nicht mehr genutzt. Mit Schreiben v. Nov.1999 wurde der Mietvertrag namens der Bekl. gekündigt, die aus-führte, der Mietvertrag sei nicht wirksam zustande gekommen,weil die Kurdirektorin keine Vertretungsmacht gehabt habe undauf Vermieterseite nur von dem Kl. zu 1) unterschrieben wordensei. Die Bekl. zahlte ab Nov. 1999 keine Miete mehr.

Die Kl. haben für den Zeitraum von Nov. 1999 bis zum Endeder Mietlaufzeit die vereinbarte Miete eingeklagt, teilweise alsKlage auf zukünftige Leistung. Vor dem LG waren sie mit ihrerKlage erfolgreich. Auf die Berufung der Bekl. hat das OLG dieKlage insoweit abgewiesen, als Miete für den Zeitraum ab 1.7.2000geltend gemacht worden war.

Die Revision der Kl. hatte keinen Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Da die teilweise unterlegene Bekl. kein Rechtsmittel eingelegthatte, war auf die Revision der Kl. nur noch zu entscheiden,ob diese für die Zeit ab 1.7.2000 Miete verlangen können. Eskonnte daher auch dahinstehen, ob der Mietvertrag im Hinblickauf die wirksame Vertretung der Parteien beim Abschluss desVertrags wirksam zustande gekommen war. Der BGH konnte sichalso darauf beschränken, bei unterstelltem Zustandekommen desMietvertrags zu überprüfen, ob dieser wirksam gekündigt wurde.

Die Vereinbarung der zehnjährigen Vertragslaufzeit ist nachAuffassung des BGH unwirksam. Bei Abschluss des Vertrags ist dieSchriftform, die gemäß dem hier anwendbaren § 566 BGB aF zubeachten ist, nicht eingehalten worden, denn jedenfalls aufVermieterseite hat nur der Kl. zu 1) ohne einen Vertreterzusatzunterschrieben. Auf die Frage, ob die Kurdirektorin als Vertrete-rin der Stadt handelte, kommt es somit nicht an. Unter Hinweisauf seine frühere Rspr., insbes. das Urt. v. 16.7.2003 (NJW 2003,3053), führt der BGH aus, dass alle Vertragsparteien die Vertrags-urkunde unterzeichnen müssen und ein etwaiges Vertretungs-verhältnis durch einen dies anzeigenden Vertreterzusatz hinrei-chend deutlich zum Ausdruck kommen muss. Werden im Vertragbeide Kl. als Vermieter genannt, ist demnach die Unterschrifteines von ihnen alleine nicht ausreichend. Dieser Grundsatz giltgleichermaßen dann, wenn die Kl. den Mietvertrag als GbR

abschließen oder zwei Vermieter ohne gesellschaftsrechtliche Ver-bindung handeln. Es hätten also entweder beide Kl. unterschrei-ben oder der Kl. zu 1) seiner Unterschrift einen Hinweis beifügenmüssen, wonach er für den Kl. zu 2) als Vertreter unterschreibt.

Die Revision hatte gegenüber dieser schon vom OLG vertrete-nen Auffassung ausgeführt, auch ohne einen solchen Vertreter-zusatz sei der Urkunde mit hinreichender Sicherheit zu entneh-men, dass der Kl. zu 1) als Alleinvertretungsberechtigter für dieGbR unterschrieben habe. Diesen Einwand lässt der BGH nichtgelten, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei einer aus zweiPersonen bestehenden Gesellschaft alle Gesellschafter unter-zeichnen sollen und daher die Urkunde noch nicht alle erforder-lichen Unterschriften enthält.

Da die Schriftform nicht eingehalten worden ist, konnte dieBekl. das Mietverhältnis nach Ablauf eines Jahres unter Ein-haltung der gesetzlichen Kündigungsfrist (hier: § 565 Abs. 1aBGB aF) ordentlich kündigen. Die von der Bekl. erklärte Kündi-gung hat es zum 30.6.2000 beendet.

Ebenfalls nicht erfolgreich ist das Argument der Revision, dieBekl. verstoße gegen Treu und Glauben, indem sie sich auf dieFormunwirksamkeit des Vertrags beruft, gleichwohl aber dieMieträumlichkeiten in der Vergangenheit genutzt hat. Denn dieseRechtsprechung gilt nur für einen nichtigen Vertrag, nicht aberden – wie hier – vorzeitig kündbaren formunwirksamen befriste-ten Mietvertrag. Im Übrigen ist die Kündigung auch nicht deshalbtreuwidrig, weil der sich auf die Formunwirksamkeit berufendeVertragspartner über einen längeren Zeitraum nicht von derKündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht hat. Ebenso wenigspielt es eine Rolle, dass die Kl. die Mietsache zuvor von der bekl.Mieterin erworben und aufwendig saniert haben.

Kommentar:

Hätten die Kl. Kenntnis vom Urteil des BGH v. 16.7.2003 (NJW2003, 3053) gehabt, hätten sie sehr wahrscheinlich auf dieRevision verzichtet. Denn im dortigen Urteil hat derselbe Senatfür einen vergleichbaren Sachverhalt entschieden, dass dieUnterschrift eines von mehreren Gesellschaftern einer GbR ohneVertreterzusatz nicht erkennen lässt, ob die übrigen Gesellschaf-ter noch unterschreiben sollen und mithin ihre Unterschriften fürden Vertragsschluss noch fehlen. Daher konnten in der hiesigenUrteilsbegründung auch ganze Passagen des zuvor ergangenenUrteils übernommen werden.

Dieser Einwand zur fehlenden Unterschrift eines Gesellschaf-ters mag zwar etwas konstruiert klingen, ist aber tatsächlichnicht von der Hand zu weisen. Insbes. bei aus vielen Personenbestehenden Gesellschaften ohne ausdrücklich bestimmten geschäftsführenden Gesellschafter haben beide Vertragsparteienein berechtigtes Interesse daran, sicherzustellen, dass alle Gesell-schafter der vermietenden GbR namentlich genannt werden undden Vertrag unterzeichnen. Aus Mietersicht erleichtert dies z.B.die akzessorische Haftung der GbR-Gesellschafter für die Gesell-schaftsverbindlichkeiten. Zutreffend hat der BGH daher an diesenGrundsätzen festgehalten, auch vor dem Hintergrund der geän-derten Rspr. zur Rechtsfähigkeit der GbR, da diese die grundsätz-liche Gesamtvertretungsmacht nicht berührt. Aus diesem Grundist im Übrigen die Erwägung des BGH zutreffend, dass bei eineraus zwei Personen bestehenden Gesellschaft nicht davon ausge-gangen werden könne, dass beide jeweils alleinvertretungs-berechtigt für die GbR handeln dürfen.

Für Erbengemeinschaften als Vermieter gilt Entsprechendes.Es müssen für einen wirksamen Vertragsschluss sämtliche Mit-glieder im Mietvertrag namentlich erwähnt werden und alle denVertrag unterzeichnen bzw. die Vertretungsmacht der Unter-

Bürger l i ches Recht

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Neue Justiz 6/2004268

zeichner aus dem Vertrag selbst ersichtlich sein (BGH, NJW 2002,3389 = NJ 2003, 253 [bearb. v. Winkler] ).

Zutreffend ist die Auffassung des Senats, die Berufung auf denFormmangel nicht als Verstoß gegen § 242 BGB zu werten. Dennder Einwand einer unzulässigen, treuwidrigen Rechtsausübung istim Wesentlichen auf die Fälle beschränkt, in denen ein Vertragspart-ner den Formmangel bewusst herbeigeführt hat oder außerhalbdes formwidrigen Mietvertrags, z.B. aufgrund der Vertragsverhand-lungen, der geführten Korrespondenz o.ä., vollständige Kenntnisvon seinem formbedürftigen Inhalt hatte. Für derartige Erwägungenbietet der hier mitgeteilte Sachverhalt aber keinen Anlass, so dassder Einwand aus § 242 BGB zu Recht zurückgewiesen worden ist.

Vor diesem Hintergrund blieb für die Kl. nur ein Zahlungs-anspruch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist des § 565 Abs. 1BGB aF, d.h. bis Ende Juni 2000.

Rechtsanwalt Dr. Dirk Meyer-Harport, Berlin

� 02.3 – 6/04

Verfassungsmäßigkeit des Eigentumsverlusts nach Ablauf derAusschlussfrist bei Grundbucheintragung von Volkseigentum

BGH, Urteil vom 17. Oktober 2003 – V ZR 91/03 (OLG Jena)

EGBGB Art. 237 § 2 Abs. 2; GG Art. 14 Abs. 1

Die gesetzliche Regelung, nach der bei Eintragung von Volks-eigentum in das Grundbuch der wirkliche Eigentümer seinEigentum nach Ablauf einer Ausschlussfrist verliert, ist nichtverfassungswidrig.

Die Bekl. ist alleinige Erbin nach dem 1969 in Weimar verstorbe-nen P. A. L. Nach dessen Tod stellte das Staatliche Notariat durchBeschl. v. 17.8.1970 fest, dass – nachdem alle bekanntgewordenenErben die Erbschaft ausgeschlagen hätten – ein anderer Erbe alsdie DDR nicht vorhanden sei. Zum Nachlass von P. A. L. zähltenmehrere Grundstücke, für die am 3.10.1990 in das GrundbuchEigentum des Volkes in Rechtsträgerschaft einer LPG eingetragenwar. Am 19.6.1997 wurde das Eigentum auf Ersuchen des Präsi-denten der BvS auf die Kl. umgeschrieben.

Nachdem der Bekl. am 24.3.1999 ein Erbschein erteilt wordenwar, wurde mit Beschluss des AG v. 8.2.2001 der das Fiskuserb-recht betreffende Beschluss des Staatlichen Notariats v. 17.8.1970aufgehoben. Am 12.4.2001 wurde die Bekl. als Eigentümerin derGrundstücke in das Grundbuch eingetragen.

Die Kl. verlangte von der Bekl., zur Berichtigung des Grund-buchs ihrer Eintragung als Eigentümerin der Grundstücke zuzu-stimmen. Sie ist der Ansicht, sie habe als Abwicklungsberechtigtegem. Art. 237 § 2 Abs. 2 EGBGB das Eigentum an den Grund-stücken erworben.

Das LG hat der Klage stattgegeben, das OLG die hiergegengerichtete Berufung der Bekl. zurückgewiesen.

Die Revision der Bekl. hatte keinen Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen: I. Das BerufungsG bejaht einen Anspruch der Kl. auf Berichtigungdes Grundbuchs (§ 894 BGB). Sie habe als Abwicklungsberechtigteauf Grund des – auch im gegebenen Fall einer unwirksamenFiskuserbschaft anwendbaren – Art. 237 § 2 Abs. 2 EGBGB dasEigentum an den Grundstücken erworben. Zwar sei die Bekl. alsErbin Eigentümerin der Grundstücke gewesen, sie habe es aberversäumt, ihre Rechte in der vorgeschriebenen Form vor Ablaufder Ausschlussfrist gerichtlich geltend zu machen. Verfassungs-rechtliche Bedenken gegen Art. 237 § 2 Abs. 2 EGBGB seien nichtbegründet.

Dies hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.

II. 1. Das BerufungsG hat der Kl. zu Recht einen Anspruch aufGrundbuchberichtigung gem. § 894 BGB zugesprochen. DasGrundbuch ist unrichtig, weil es für die im Streit befindlichenGrundstücke entgegen der tatsächlichen Rechtslage die Bekl. undnicht die Kl. als Eigentümerin ausweist. Zwar ist die Bekl. nachden Feststellungen des BerufungsG zunächst Alleinerbin nachP. A. L. und damit auch Eigentümerin der zum Nachlass zählen-den Grundstücke geworden, sie hat ihr Eigentum jedoch mitAblauf der Ausschlussfrist nach Art. 237 § 2 Abs. 2 EGBGB an dieKl. als Abwicklungsberechtigte verloren.

a) Die Voraussetzungen des gesetzlichen Eigentumserwerbsnach dieser Vorschrift sind erfüllt. Zwar war zum Zeitpunkt desAblaufs der Ausschlussfrist im Grundbuch nicht Eigentum desVolkes vermerkt. Dies ist jedoch unschädlich, weil es der Anwen-dung des Art. 237 § 2 Abs. 2 EGBGB nicht entgegensteht, wennder Abwicklungsberechtigte, zu dessen Gunsten der Eigentums-erwerb erfolgt, selbst als Eigentümer in das Grundbuch einge-tragen ist (Senat, Urt. v. 14.3.2003, ZOV 2003, 171 = NJ 2003, 369[bearb. v. Kolb] ). Abwicklungsberechtigte ist hier die Kl. Wem diesePosition zukommt, bestimmt sich nach den einschlägigen Vor-schriften insbes. des VZOG (MünchKomm-BGB/Busche, 3. Aufl.,Art. 237 § 2 EGBGB Rn 14). Die Kl. ist als Tochtergesellschaft der… BvS von dieser mit der Verwaltung und Verwertung ehemalsvolkseigener landwirtschaftlicher Nutzflächen beauftragt (…).Ihr konnte mithin nach § 7 Abs. 5 VZOG das Eigentum für die hierumstrittenen Flächen zugeordnet werden (vgl. Senat, Beschl. v.27.3.2003, WM 2003, 1955 = NJ 2003, 432), was nach den in denTatsacheninstanzen getroffenen Feststellungen auch geschehenist.

b) Die Bekl. hat die Buchposition der Kl. bis zum Ablauf der Aus-schlussfrist am 30.9.1998 nicht durch Klage oder einen Antrag aufEintragung eines Widerspruchs angegriffen. Entgegen der Ansichtder Revision ist eine Ausnahme von der Ausschlussfrist zugunstender Bekl. unter keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt.

aa) Der Senat hat bereits die Aufhebung eines Beschlussesbetreffend das Fiskuserbrecht vor dem 30.9.1998 als nicht aus-reichend zur Fristwahrung angesehen (Urt. v. 14.3.2003, aaO).Vorliegend kann nichts anderes gelten, zumal diese Maßnahme– ebenso wie die Erteilung des Erbscheins zugunsten der Bekl. –hier sogar erst nach Ablauf der Ausschlussfrist erfolgt ist.

bb) Der von der Revision angesprochene Widerspruch zwischender Ausschlussfrist und einem etwaigen Restitutionsanspruchnach dem VermG besteht nicht, vielmehr sind insoweit dieRechte der Bekl. durch Art. 237 § 2 Abs. 4 Satz 2 EGBGB gewahrt.Hätte die Bekl. einen Anspruch nach dem VermG angemeldet undwäre dieses Verfahren noch nicht beendet, so wäre auf Grund dergenannten Vorschrift der Ablauf der Ausschlussfrist gehemmt.Für eine solche Ablaufhemmung lässt sich indessen auch denAusführungen der Revision … nichts entnehmen.

cc) Die gesetzlich geregelte Ausschlussfrist bedarf auch nichtetwa zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einerVerlängerung über den 30.9.1998 hinaus. Zwar durfte die Bekl. aufGrund der Senatsrspr. (BGHZ 132, 245 = NJ 1996, 313; 136, 228 =NJ 1997, 648) davon ausgehen, dass eine Ersitzung von Volks-eigentum jedenfalls nicht vor dem 1.1.2006 drohte. Das Vertrauenauf eine ungefährdete Eigentümerposition war aber spätestens mitVerkündung des WohnraummodernisierungssicherungsG (WoMod-SiG) am 23.7.1997 gegenstandlos geworden, das seither eine Hei-lung von Fehlern beim Erwerb zu Volkseigentum unter ersitzungs-ähnlichen Bedingungen ermöglicht. Dass der Bekl. im Anschlussdaran zur Wahrung ihrer Rechte nur noch wenig mehr als ein JahrZeit verblieb, erscheint nicht unverhältnismäßig, wenn im Blickbehalten wird, dass sie auch nach dem Beitritt der DDR zurBundesrepublik Deutschland auf Grund der unklaren Rechtslagekeine gesicherte und damit uneingeschränkt schützenswerteRechtsposition erlangen konnte (vgl. BVerfG, WM 1998, 1631,1633, für den Bestandsschutz nach Art. 237 § 1 Abs. 1 EGBGB).

dd) Schließlich steht auch der Gesetzeszweck der Herbeiführunginsbes. von Rechtssicherheit der Anwendung der Ausschlussfristim vorliegenden Fall nicht entgegen. …

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269Neue Justiz 6/2004

2. Die von der Revision vorgebrachten Bedenken hinsichtlichder Verfassungsmäßigkeit des Erwerbstatbestands aus Art. 237 § 2Abs. 2 EGBGB teilt der Senat nicht. Obwohl die Bestimmungentscheidungserheblich ist, kommt daher eine Vorlage an dasBVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht in Betracht.

a) Entgegen der Ansicht der Revision ist Art. 237 § 2 Abs. 2EGBGB nicht wegen Missachtung des Initiativrechts insbes. desBundesrats aus Art. 76 Abs. 1 GG formell verfassungswidrig.

aa) Zu Recht weist die Revision allerdings darauf hin, dass denFachausschüssen des Bundestags kein Gesetzesinitiativrechtzukommt. Sie dürfen daher eine ihnen zur Beratung zugewieseneGesetzesvorlage nicht in einer Weise umgestalten, die auf ein fakti-sches Initiativrecht hinausläuft und eine Beschneidung der inArt. 76 Abs. 1 GG geregelten Initiativrechte zur Folge hat (BonnerKomm-GG/Schmidt-Jorzig/Schürmann [Stand: Nov. 1996], Art. 76Rn 133; vgl. auch BVerfGE 72, 175, 189; 101, 297, 307 für denVermittlungsausschluss nach Art. 77 Abs. 2 GG). Zwar stellt eskeine Verletzung, sondern lediglich eine sachliche Beschränkungdes Initiativrechts dar, wenn eine Gesetzesvorlage nach denAusschussberatungen nur in wesentlich veränderter Form in dasPlenum gelangt (BVerfGE 1, 144, 155). Das weitreichende Umge-staltungsrecht der Fachausschüsse findet seine Grenze aber inÄnderungen, die zu einer »Denaturierung« der Gesetzesvorlageführen (BonnerKomm-GG, aaO, Art. 76 Rn 99; Bryde, JZ 1998,115, 117), weil diese in sachlicher und inhaltlicher Hinsicht nichteinmal mehr in ihren Grundzügen erhalten geblieben ist (…).Danach ist entscheidend, dass die Regelungsidee des Initiantengewahrt wird. Seine thematische Vorgabe, mithin die von demInitianten als regelungsbedürftig eingeschätzte Materie, darfnicht angetastet werden (BonnerKomm-GG, aaO, Art. 76 Rn 100).

bb) Die damit gezogene Grenze wurde jedoch – entgegen derAnsicht der Revision – während des Gesetzgebungsverfahrens, daszum Erlass des WoModSiG und in dessen Rahmen auch zur Einstel-lung des Art. 237 § 2 Abs. 2 in das EGBGB führte, noch eingehalten.

Träger der Gesetzesinitiative war der Bundesrat, der gem. Art. 76Abs. 1 GG den Entwurf eines NutzerschutzG einbrachte. Der nachdiesem Entwurf zu regelnde Sachbereich betraf Nachbesserungenauf dem Gebiet des Investitions- und Eigentumsrechts der neuenBundesländer. Es sollten die Situation der Nutzer von Immobilienund die Investitionsmöglichkeiten auf anmeldebelasteten Grund-stücken (vgl. § 3 Abs. 3 VermG) verbessert und durch Einfügungeiner Heilungsvorschrift auch Schutz vor den Folgen zivilrechtlichunwirksamer oder zumindest zweifelhafter Handlungen insbes.staatlicher Organe der DDR gewährt werden (Entw.Begr., BT-Drucks. 13/2022, S. 8, 14 f.). Die Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses, an den der Entwurf nach der ersten Lesung im Bun-destag überwiesen worden war, lautete dahin, den Gesetzentwurfdes Bundesrats – nicht hingegen die von der Revision weiter ange-führte Gesetzesvorlage der PDS – idF des WoModSiG anzunehmen(Beschlussempfehlung, BT-Drucks. 13/7275, S. 4). Auch dieserGesetzentwurf in der Ausschussfassung war nachfolgend Gegen-stand der zweiten und dritten Lesung des Bundestags, wurdein der Schlussabstimmung angenommen und schließlich – mitÄnderungen nach Anrufung des Vermittlungsausschusses – vomBundestag mit Zustimmung des Bundesrats als WoModSiGv. 17.7.1997 beschlossen.

Nach Auffassung der Mehrheit der Abgeordneten im Rechtsaus-schuss waren zwar Regelungen zugunsten der Nutzer von Grund-stücken in den neuen Bundesländern entbehrlich, weil derenInteressen durch die geltenden Vorschriften hinreichend Rechnunggetragen sei. Gleichwohl wurden aber Neuregelungen im Bereichdes Investitions- und Eigentumsrechts für notwendig gehalten,um insbes. Schwierigkeiten bei der Modernisierung von Wohn-raum auf anmeldebelasteten Grundstücken und Probleme imZusammenhang mit zivilrechtlichen Mängeln bei der Überfüh-rung in Volkseigentum einer Lösung zuzuführen (Bericht desRechtsausschusses, BT-Drucks. 13/7275, S. 17, 21, 35). Danach istim Zuge der Beratungen des Rechtsausschusses zwar die Absichteiner Verbesserung der Situation der Nutzer von Immobilien imBeitrittsgebiet aufgegeben worden, der zu regelnde Sachbereich

hat gleichwohl gegenüber dem Entwurf eines NutzerschutzGkeine entscheidende Veränderung erfahren. Weiterhin wird dieMaterie des Investitions- und Eigentumsrechts in den neuenBundesländern speziell auf den Sachgebieten der Aufwendungenzur Modernisierung von Wohnraum bzw. der Heilung zivil-rechtlicher Mängel geregelt, wobei der Verzicht auf das Ziel desNutzerschutzes lediglich zu inhaltlich weniger weitreichendenVorschriften führte. So wurden die nach dem Entwurf für einNutzerschutzG ohne inhaltliche Grenzen zulässigen Modernisie-rungen auf Fälle beschränkt, in denen der Anmelder das Objekttrotz entsprechenden Angebots nicht zurücknimmt, und fürModernisierungen im Erstattungsweg wurde eine betragsmäßigeObergrenze vorgesehen (…). Für die Heilung zivilrechtlicher Män-gel wurde die umfassende – allein an dem Vertrauen auf den Bestanddes Erwerbs in der DDR orientierte – Vorschrift des Entwurfs fürein NutzerschutzG (dort Art. 3 Nr. 2 lit. c, BT-Drucks. 13/2022)durch eine weniger weitgehende zweistufige Regelung in Formeines Bestandsschutzes mit Ausschlussfrist (Art. 2 Abs. 1 Nr. 3 u.Abs. 2 Nr. 3 der Ausschussfassung, BT-Drucks. 13/7275, später unterErweiterung des Bestandsschutzes als Art. 237 § 1 u. § 2 EGBGBGesetz geworden) ersetzt (Schmidt-Räntsch, VIZ 1997, 449, 452).

cc) Überdies würden die Veränderungen des Gesetzentwurfs desBundesrats selbst dann nicht zur Nichtigkeit des WoModSiGführen, wenn sie einen Mangel des Gesetzgebungsverfahrensbegründen könnten. Im Unterschied zu inhaltlichen Fehlern istein Gesetz bei Verfahrensverstößen mit Rücksicht auf die Rechts-sicherheit nur bei einem evidenten Mangel nichtig (BVerfGE 34,9, 25; 91, 148, 175). An der Evidenz fehlt es aber im vorliegendenFall, weil sich die hier aufgeworfene Frage einer etwaigen Dena-turierung der Gesetzesvorlage nur nach eingehender Prüfung desGesetzgebungsverfahrens beantworten lässt.

b) Art. 237 § 2 Abs. 2 EGBGB verstößt auch nicht seinem Inhaltnach gegen die Verfassung (MünchKomm-BGB/Busche, aaO,Art. 237 EGBGB Rn 20 f.; a.A. Horst, DtZ 1997, 183, 185 f.).

aa) Die Vorschrift steht insbes. mit Art. 14 Abs. 1 GG in Ein-klang. Bei Art. 237 § 2 Abs. 2 EGBGB handelt es sich nicht um eineEnteignung, sondern um eine Inhalts- und Schrankenbestim-mung des Eigentums iSd Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Regelungstellt im Unterschied zur Enteignung, nicht auf die zukünftigeVerwendung eines Objekts ab, sondern auf die tatsächliche undrechtliche Beziehung zu ihm (…). Die im Vergleich zur Bestands-schutzregelung des Art. 237 § 1 Abs. 1 EGBGB (vgl. zu deren Ver-fassungsmäßigkeit in Fällen zivilrechtlich fehlerhaften Ankaufszu Volkseigentum BVerfG, WM 1998, 1631, 1632 f.; Senat, Urt. v.10.10.1997, WM 1998, 81, 82 f. = NJ 1998, 429 [bearb. v. Maskow] )weniger einschneidende Ausschlussfrist ist als Inhalts- undSchrankenbestimmung durch besonders gewichtige Gründe desöffentlichen Interesses gerechtfertigt und genügt auch im Übri-gen den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. Es soll für dieFälle des faktischen Übergangs in Volkseigentum für Grund-buchklarheit, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden gesorgt werden(Senat, Urt. v. 14.3.2003, aaO, S. 172). Zur Erreichung dieserim besonderen öffentlichen Interesse liegenden Zwecke ist dieVorschrift geeignet, erforderlich und – mit Blick auf die bereitserwähnte ungesicherte Rechtsposition – den früheren Eigen-tümern auch zumutbar (vgl. BVerfG, WM 1998, 1631, 1633).

bb) Ebenso wenig wird der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3Abs. 1 GG) durch Art. 237 § 2 Abs. 2 EGBGB verletzt. Dem geregel-ten Sachbereich entspricht weder eine vergleichbare Rechtslage inden alten Bundesländern, noch war der Gesetzgeber durch dasFehlen sachlicher Gründe gehindert, die Regelung auf den aktuel-len Bestand der noch offenen Rechtsbeziehungen zu beschränken(vgl. BVerfG, WM 1998, 1631, 1633; Senat, Urt. v. 10.10.1997, aaO).

Anm. d. Redaktion: Zur Vorgeschichte des WoModSiG und zu dem dortin Art. 2 neu aufgenommenen Art. 237 § 2 siehe auch K. Twardawsky/G. Edler, NJ 1997, 570 ff. (574).

Bürger l i ches Recht

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Neue Justiz 6/2004270

� 02.4 – 6/04

Wirksame rechtsgeschäftliche Überführung von Grundstücken inVolkseigentum trotz fehlerhaften Vertrags

EGMR (Dritte Sektion), Urteil vom 20. Februar 2003 – Beschwerde Nr. 47316/99 (Forrer-Niedenthal ./. Deutschland)

EMRK Art. 6 Abs. 1, Zusatzprotokoll Nr. 1 Art. 1; EGBGB Art. 237 § 1

Die Regelung des Art. 237 § 1 EGBGB idF des WoModSiG zumBestandsschutz bei fehlerhaftem Grundstücksankauf zu Volks-eigentum verletzt nicht Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 EMRKsowie Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der damit verbundene Eingriff in dasgeschützte Recht auf Achtung des Eigentums war verhältnis-mäßig; er verfolgte nach der Wiedervereinigung Deutschlandsdie Wiederherstellung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden.(Leitsatz der Redaktion)

Anm. d. Redaktion: Die schweizerische Beschwerdef. ist Rechtsnachfol-gerin ihrer Großmutter als Erbin in einer ungeteilten Erbengemeinschaft,die ein in Halle/Saale belegenes Grundstück besaß, auf dem sich dieGebäude eines pharmazeutischen Unternehmens befanden. Die Groß-mutter der Beschwerdef. hatte die DDR 1946 verlassen. Mit notariellemVertrag v. 13.11.1959 war die in Liquidation befindliche Gesellschaft für180.650 M/DDR an das im Eigentum der DDR stehende Institut fürZucker- und Stärkeindustrie Halle-Trotha verkauft und ihr Grundstück am25.5.1960 als »Eigentum des Volkes« in das Grundbuch eingetragenworden, obwohl zwei Mitglieder der Erbengemeinschaft, darunter dieGroßmutter der Beschwerdef., beim Verkauf nicht ordnungsgemäßvertreten waren. Nach dem 3.10.1990 ging die Rechtsträgerschaft andem Grundbesitz auf das Institut für Zucker- und Stärkeindustrie, das sichinzwischen im Besitz der Bundesrepublik Deutschland befand, über.Auf die Revision der Beschwerdef. gegen zivilgerichtliche Entscheidungenentschied der BGH mit Urt. v. 10.10.1997 (NJ 1998, 420 [bearb. v.Maskow]), dass der gesetzlich angeordnete Bestandsschutz für einenfehlerhaften Grundstücksankauf zu Volkseigentum nicht verfassungs-widrig ist. Das BVerfG nahm mit Beschl. v. 3.7.1998 (NJ 1998, 474[Leits.]) die von der Beschwerdef. eingelegte Verfassungsbeschwerdenicht zur Entscheidung an; Art. 237 § 1 EGBGB sei angesichts des vomGesetzgeber nach der deutschen Wiedervereinigung verfolgten recht-mäßigen Ziels verfassungsgemäß.Die Individualbeschwerde der Beschwerdef. vor dem EGMR blieb ohneErfolg. Der EGMR hat die vom BVerfG vorgenommene Analyse für hin-länglich begründet erachtet und dazu ausgeführt:»In der Zeit der vereinigungsbedingten Rechtsunsicherheit wollte derGesetzgeber nämlich unter Wahrung der erworbenen Rechte entschei-den, ob die de-facto-Überführungen von Eigentum in ›Volkseigentum‹ inder DDR nur formale oder unbeachtliche Mängel aufwiesen. Art. 237 § 1EGBGB stellte hingegen sicher, dass solche Fehler zu beachten waren,wenn das Grundstück nach den allgemeinen Rechtsvorschriften, Verfah-rensgrundsätzen und der Verwaltungspraxis, die maßgeblich waren,nicht wirksam in Volkseigentum überführt werden konnte, oder wenn die›Überführung in Volkseigentum mit rechtsstaatlichen Grundsätzenschlechthin unvereinbar war‹. … Unter Berücksichtigung … insbes. deraußergewöhnlichen vereinigungsbedingten Umstände ist der Gerichtshofder Meinung, dass der bekl. Staat seinen Ermessensspielraum nicht über-schritten hat und in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel, einen›gerechten Ausgleich‹ zwischen den Interessen der Beschwerdef. unddem Allgemeininteresse der deutschen Gesellschaft zu erreichen, nichtverfehlt hat.«

� 02.5 – 6/04

Rechtsanwaltshaftung nach Zusammenschluss in Sozietät

BGH, Urteil vom 22. Januar 2004 – IX ZR 65/01 (Kammergericht)

BGB § 705; HGB § 28

Schließt sich ein Rechtsanwalt mit einem bisher als Einzelanwalttätigen anderen Rechtsanwalt zur gemeinsamen Berufsausübungin einer Sozietät in der Form einer Gesellschaft bürgerlichenRechts zusammen, so haftet er nicht entsprechend § 28 Abs. 1Satz 1 iVm § 128 Satz 1 HGB für die im Betrieb des bisherigenEinzelanwalts begründeten Verbindlichkeiten.

� 02.6 – 6/04

Enteignung durch Bodenreform

BGH, Urteil vom 8. Dezember 2003 – II ZR 135/01 (OLG Jena)

BGB § 985

Zur faktischen Enteignung nicht landwirtschaftlichen Inventarsim Zuge der sog. demokratischen Bodenreform.

Anm. d. Redaktion: Gegenstand des Rechtsstreits war ein Schreibsekre-tär Goethes und ein Damenschreibsekretär, den der Dichter Charlotte vonStein geschenkt hatte. Die Kl. (Erben eines Verwandten der Charlotte vonStein) verlangten die Herausgabe der Möbelstücke, die sich in der von derbekl. Stiftung verwalteten Goethe-Gedenkstätte Schloss Kochberg befin-den. Das Schloss war 1946 im Zuge der Bodenreform enteignet worden.Das LG hatte die Klage abgewiesen, das OLG gab ihr statt. Auf dieRevision der Bekl. hat der BGH das LG-Urteil wiederhergestellt.

� 02.7 – 6/04

Betriebskostenabrechung und Nachzahlungsanspruch bei Grund-stückseigentumswechsel

BGH, Urteil vom 3. Dezember 2003 – VIII ZR 168/03 (LG Berlin)

BGB § 571 aF

Nach einem Eigentumswechsel ist nicht der Erwerber, sondernder Veräußerer gegenüber dem Mieter bzgl. der zum Zeitpunktdes Wechsels im Grundstückseigentum abgelaufenen Abrech-nungsperiode zur Abrechnung der Betriebskosten verpflichtetund zur Erhebung etwaiger Nachzahlungen berechtigt; eskommt nicht darauf an, wann der Zahlungsanspruch fälliggeworden ist.

Anm. d. Redaktion: Zur Abrechnung von Betriebskosten bei Grund-stückseigentümerwechsel aufgrund Restitution vgl. BGH, Urt. v.14.9.2000, NJ 2001, 142 (bearb. v. Schmidt).

� 02.8 – 6/04

Verjährung von Ansprüchen wegen Veränderung oder Verschlech-terung der Miet-/Pachtsache

BGH, Urteil vom 19. November 2003 – XII ZR 68/00 (OLG Rostock)

BGB §§ 558 aF, 179 Abs. 1, 548 nF

a) Ersatzansprüche des Vermieters/Verpächters wegen Verände-rungen oder Verschlechterungen der Miet-/Pachtsache gegenden vollmachtlosen Vertreter des Mieters/Pächters (§ 179 Abs. 1BGB) verjähren in der kurzen Verjährungsfrist des 558 Abs. 1BGB aF/§ 548 Abs. 1 BGB nF.b) Zu den Voraussetzungen einer solchen Verjährung.c) Die »Rückgabe« der Miet-/Pachtsache iSv § 558 Abs. 1 BGB aF/§ 548 Abs. 1 BGB nF setzt grundsätzlich einen vollständigenBesitzverlust des Mieters/Pächters sowie die Kenntnis des Ver-mieters/Verpächters hiervon voraus (Bestätigung von Senatsurt.v. 7.2.2001, NJ 2001, 535 [bearb. v. Maskow]).

Rechtsprechung Bürger l i ches Recht

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271Neue Justiz 6/2004

� 02.9 – 6/04

Kein Polizeigewahrsam allein wegen Neigung zu Verstoß gegenVersammlungsrecht

OLG Jena, Beschluss vom 19. Januar 2004 – 6 W 579/03 (LG Gera)(rechtskräftig)

ThürPAG § 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c

Die Neigung zu einem Verstoß gegen das Versammlungsrechtallein rechtfertigt den Polizeigewahrsam nicht. Sie muss sichdurch eine der in § 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c ThürPAG bestimm-ten weiteren Verhaltensweisen zu einer Gefahr für die öffentlicheSicherheit verdichtet haben.

Problemstellung:

Die Beteil. zu 1) nahm den Beteil. zu 2) am 11.8.2000 in dessenWohnung vorläufig fest und beantragte die richterliche Entschei-dung über die Zulässigkeit und Fortdauer des Polizeigewahrsamsbis zum 20.8.2000. Der Beteil. zu 2) war zum damaligen Zeitpunktführendes Mitglied der NPD und stellvertr. Landesvorsitzenderder Jungen Nationalen Thüringen.

Die Beteil. zu 1) ging davon aus, dass es am 12.8.2000 in Jenaund vom 17.8.2000 bis zum darauf folgenden Wochenende zuGedenkveranstaltungen anlässlich des 13. Todestages von RudolfHess kommen könnte, zu dem es bundesweit in der Vergangen-heit regelmäßig neonazistische Aufmärsche und Gedenkveran-staltungen gab. Derartige Zusammenkünfte befürchtete die Beteil.zu 1) auch für das Jahr 2000, nachdem auf den Internetseiten der»Kameradschaft Jena« und des »Thüringer Heimatbundes«Ankündigungen eines »Rudolf-Hess-Marsches« am 17.8.2000erschienen waren. Weiter waren im Rahmen polizeilicher Über-prüfungen Propagandamaterial und Handzettel gefundenworden. Erkenntnisse über eine zentrale Veranstaltung sowie aufein »zentrales Vorbereitungskomitee« lagen für 2000 nicht vor.Bei einer Durchsuchung der Wohnung des Beteil. zu 2) wurdenneonazistisches Propagandamaterial und Aufkleber sichergestellt.Am 27.10. 2000 wurde der Beteil. zu 2) wegen Verstoßes gegen dasVersG verurteilt.

Das AG ordnete am 12.8.2000 die Fortdauer des Polizeige-wahrsams bis zum 20.8.2000 an. An diesem Tag wurde der Beteil.zu 2 ) aus dem Polizeigewahrsam entlassen.

Die am 12.8.2000 eingelegte sofortige Beschwerde wies das LGzurück.

Auf die weitere sofortige Beschwerde des Beteil. zu 2) stellte dasOLG unter Aufhebung der Entscheidungen des AG und LG fest,dass die angeordnete Fortdauer der polizeilichen Ingewahrsam-nahme des Beteil. zu 2) rechtswidrig war.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Die sofortige weitere Beschwerde ist nicht deshalb unbegründet,weil das LG die Erstbeschwerde hätte als unzulässig behandelnmüssen. Allein die Beendigung einer Freiheitsentziehungsmaß-nahme führt in Anwendung der Rspr. des BVerfG nicht dazu, dieZulässigkeit der Überprüfung der Maßnahme am Fehlen einesRechtsschutzbedürfnisses scheitern zu lassen. Ein bis zum Zeit-punkt des erledigenden Ereignisses (Aufhebung des Freiheits-entzugs) auf dieses gerichtetes Begehren setzt sich nach derHauptsachenerledigung grundsätzlich in dem Petitum des zuvorInhaftierten fort, die Rechtswidrigkeit des Freiheitsentzugs oderder ihm zu Grunde liegenden Anordnung festzustellen.

AG und LG haben die Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 Nr. 2ThürPAG nicht mit der im Hinblick auf den Grundrechtsschutzgebotenen Strenge bestimmt. Nach § 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c

ThürPAG kann die Polizei unter näher bestimmten Umständendie Person in Gewahrsam nehmen, d.h. sie in ihrer Bewegungs-freiheit massiv beschränken. Gegen den damit verbundenenGrundrechtseingriff bestehen keine Bedenken, wenn die gesetz-lichen Eingriffsvoraussetzungen klar, bestimmt und unter Wah-rung des Verhältnismäßigkeitsprinzips so festgelegt sind, dassder mit der Ingewahrsamnahme erstrebte Schutz der Allgemein-interessen/Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit undOrdnung wirkungsvoll erreicht wird. Diesen Anforderungen hält§ 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c ThürPAG stand.

§ 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c ThürPAG erlaubt, dass die Polizei einePerson in Gewahrsam nimmt, wenn dies unerlässlich ist, um eineunmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einerStraftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung fürdie Allgemeinheit zu verhindern. In einem 2. Halbsatz nennt§ 19 Abs. 1 Nr. 2 ThürPAG Sachverhalte, mit deren Vorliegen dieFeststellung der Eingriffsvoraussetzung im Einzelfall begründetwerden kann. Die Bejahung eines der in § 19 Abs. 1 Nr. 2 2. Halbs.Buchst. a-c ThürPAG genannten Fälle muss aber durch die Fest-stellung ergänzt werden, dass der Indizsachverhalt auf ein Tat-sachenumfeld trifft, das zur Bewahrung oder Wiederherstellungder öffentlichen Sicherheit oder Ordnung den Freiheitsentzugunerlässlich macht, weil sonst eine Straftat oder Ordnungswid-rigkeit von erheblicher Bedeutung begangen würde.

Zur Abwehr einer Straftat darf die Polizei danach den Freiheits-entzug nach § 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a-c ThürPAG nur einsetzen,wenn sich die Straftat als solche eindeutig bestimmen lässt undwenn nach der Art der Straftat oder aus sonstigen Tatsachenerkennbar ist, dass sie das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheiterheblich berühren würde. Gemessen daran hätten die Vorinstan-zen die Ingewahrsamnahme des Beteil. zu 2) nicht genehmigendürfen. Als dem Beteil. zu 2) zuzurechnende Straftat haben dieBeteil. zu 1) und die Vorinstanzen einen Verstoß gegen § 26Abs. 1 Nr. 2 VersG benannt. Danach müsste ein Sachverhalt vor-liegen, der es zumindest wahrscheinlich macht, dass der Beteil.zu 2) als maßgeblicher Veranstalter einer ungenehmigten öffent-lichen Versammlung oder eines ungenehmigten Aufzugs inErscheinung treten wird. Für eine solche Annahme haben dievon der Beteil. zu 1) in das Verfahren eingeführten Tatsachennicht ausgereicht. Der Beteil. zu 2) hat die Planung einer auf denHess-Geburtstag gerichteten Veranstaltung bestritten und plantezum fraglichen Zeitpunkt nach unwiderlegtem Vorbringen eineAuslandsreise.

Der Umstand, dass der Beteil. zu 2) in der Thüringer NPD einenicht unmaßgebliche Rolle spielt, kann zwar als Indiz für eineGeneigtheit zur Begehung versammlungsrechtswidriger strafbarerTaten oder Ordnungswidrigkeiten erheblichen Gewichts heran-gezogen werden. Nach § 19 ThürPAG genügt aber nicht dieNeigung zu einem solchen Verstoß. Diese Neigung muss sichvielmehr durch eine der in § 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c ThürPAGbestimmten weiteren Verhaltensweisen verdichtet haben. Einensolchen Tatbestand haben die Vorinstanzen nicht ermittelt.Mag die öffentliche Bekanntgabe eines Aufmarsch-Plans auf einerals rechtsextrem eingestuften Internet-Präsentation als Ankündi-gung der Tat iSd § 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c ThürPAG verstandenwerden, so muss der Urheber dieser Ankündigung doch eineGruppierung sein, in der der Inhaftierte so maßgeblichen Einflusshat, dass bei ihm über die bloße Teilnahmeabsicht hinaus dieBereitschaft zu organisatorisch bestimmter Einwirkung sehrwahrscheinlich ist. Dass der Beteil. zu 2) in dem für die Internet-Präsentation verantwortlichen »Thüringer Heimatschutz« einesolche Rolle spielt, lässt sich weder der Begründung des Inhaf-tierungsantrags noch den später durch die Beteil. zu 1) vorge-

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Neue Justiz 6/2004272

tragenen Umständen entnehmen. Der Beteil. zu 2) wurde auchnicht im Besitz offensichtlicher Tatwerkzeuge angetroffen.

Schließlich genügt auch die Biographie des Beteil. zu 2) nichtzur sicheren Annahme, dieser werde erneut als Störer in derÖffentlichkeit agieren. Es braucht nicht entschieden zu werden,wann die von § 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c ThürPAG vorausgesetz-te Wiederholungsgefahr vorliegt. Es reicht nämlich nicht eineeinmalige versammlungsrechtliche Auffälligkeit, diese Gefahr zubejahen. Vielmehr muss beim Störer ein beharrliches Sich-Bekennen zu der Störungshandlung feststellbar sein und dies ineiner Weise, dass in der Beharrlichkeit die Bereitschaft zu erneu-ter aktiver Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit undOrdnung zum Ausdruck kommt. Dass der Beteil. zu 2) eine derVerteilstellen für Klebezettel (»Rudolf Hess-Mord«) gewesen ist,lässt nicht auf eine Bereitschaft schließen. Mag auch deren Inhaltzweifellos anstößig sein, so begründet die Existenz im öffent-lichen Erscheinungsbild jedenfalls noch keine so nachhaltigeStörung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, dass von hierauf die unmittelbar bevorstehende Bereitschaft zu versamm-lungsrechtlichen Verhaltensweisen des Beteil. zu 2) geschlossenwerden kann.

Kommentar:

Die Entscheidung klärt erneut mit erfreulicher Deutlichkeit dieVoraussetzungen einer polizeilichen Standardmaßnahme, desPolizeigewahrsams. Der Begriff »Standardmaßnahme« weist fürsich genommen bereits darauf hin, dass hinsichtlich dieserspeziellen Eingriffsregelung nicht auf die allgemeine »polizei-rechtliche Generalklausel« zurückgegriffen werden darf. Der miteiner (u.U. längeren) Freiheitsentziehung verbundene massiveGrundrechtseingriff verlangt höhere Anforderungen an denEintritt einer Gefahr. Das zusätzliche zeitliche Kriterium der»unmittelbar bevorstehenden« Gefahr (vgl. BVerwGE 45, 51 [57])geht über eine »Schädigung in absehbarer Zeit« hinaus.

Dass eine begangene Straftat als Gefahr bei Vorliegen der wei-teren Voraussetzungen den Polizeigewahrsam begründen kann,ist unproblematisch (vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 2.8.1990, NVwZ1991, 664 [667]). Die im 2. Halbsatz des § 17 Abs. 1 Nr. 2 Thür-PAG angeführten – in den meisten Polizeigesetzen ähnlich gere-gelten – Beispiele stellen lediglich Auslegungshilfen dar, die – wiedas OLG zu Recht betont – an der Notwendigkeit der Bejahungdes Grundtatbestands nichts ändern (vgl. BayVerfGH, aaO; OLGHamburg, Beschl. v. 21.5.1997, NJW 1998, 2231). Die hier ein-schlägige »Störervergangenheit« iSd § 17 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. cThürPAG kann beispielhaft den Tatbestand des § 17 Abs. 1 Nr. 2begründen; allerdings sind strafrechtliche Vorverurteilungenlediglich ein Indiz, zu dem die weiteren Voraussetzungen hinzu-kommen müssen. Die Kriterien »aus vergleichbarem Anlass«sowie »zu erwartende Wiederholung« verlangen einschlägige,verdichtete Hinweise auf eine erneute Straftat und grenzen geradevor dem Hintergrund heute möglicher umfangreicher polizei-licher Datenerhebung die vorschnelle Annahme der Voraus-setzungen einer Ingewahrsamnahme ein. Sie verlangen stets einesowohl dem Eingriffstatbestand als auch dem Verhältnismäßig-keitsgrundsatz in besonderer Weise Rechnung tragende Einzelfall-entscheidung, die dem Problem einer »Vorverurteilung« geradeehemaliger Straftäter ebenfalls gerecht wird.

Damit werden große Anforderungen an die polizeiliche Tat-sachenermittlung gestellt. Diese Anforderungen hat das OLG inseiner Entscheidung noch einmal betont und damit die hohentatsächlichen und rechtlichen Hürden einer freiheitsentziehen-den Maßnahme als »ultima ratio« aufgezeigt.

RinVG Susanne Walter, Hamburg

� 02.10 – 6/04

Zulässige anwaltliche Werbung um Einzelmandate

OLG Naumburg, Urteil vom 10. Oktober 2003 – 1 U 17/03 (LG Halle)(Revision eingelegt; Az.: I ZR 235/03)

BRAO § 43b; UWG § 1; BDSG §§ 28, 35; GG Art. 12

1. Bei einer verfassungskonformen, insbesondere auch mit demGrundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 GG zu ver-einbarenden Auslegung des § 43b BRAO ist das Verbot derEinzelfallmandatswerbung restriktiv auszulegen. Es ist nichtgleichzusetzen mit der – zulässigen – Werbung um einzelne Man-danten und nicht schon immer dann verletzt, wenn der Anwaltsein Ziel, in einer konkreten Angelegenheit mandatiert zuwerden, zu erkennen gibt. Abzustellen ist auf die Bewertung derRelation zwischen der Intensität des konkreten Beratungsbedarfs(Notsituation) und der Intensität der anwaltlichen mandatsbezo-genen Werbung (Bedrängung, Nötigung, Überrumplung).2. Eine anwaltliche Werbung ist wettbewerbswidrig iSv § 1 UWG,wenn sie mit dem grundrechtlich geschützten Recht der Empfän-ger der Werbung auf informationelle Selbstbestimmung unver-einbar ist. Dies ist der Fall, wenn sich der Rechtsanwalt eines nach§ 28 und § 35 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BDSG in unzulässiger Weisebeschafften Anschriftenverzeichnisses bedient.

Die Kl. nehmen die Bekl. auf Unterlassung wegen unlauterer undstandeswidriger Werbemaßnahmen in Anspruch.

Der Kl. und die Bekl. sind Rechtsanwälte, die jeweils Mandatevon Kapitalanlegern in verschiedenen Immobilienfonds betreuen.Die Immobilienfonds waren spätestens im Jahre 2001 notleidendgeworden, so dass in den Fällen der kreditfinanzierten Kapital-anlage trotz ausbleibender Einnahmen aus dem Fonds Zinsen andas Kredit gewährende Unternehmen zu zahlen waren.

Die Kl. und die Bekl. betreuten jeweils u.a. auch Mandate, indenen es um das Kreditverhältnis zwischen einem Kapitalanlegerder Immobilienfonds und einer Bausparkasse ging. Mit Urt. v.13.12.2001 hatte der EuGH in einem in Deutschland geführtenRechtsstreit entschieden, dass auf Darlehensverträge, die nachdem 1.1.1991 in einer »Haustür«-Geschäftssituation geschlossenworden sind, entgegen § 5 HTürWG aF trotz der Anwendbarkeitdes VerbrKrG auch die Bestimmungen des HTürWG anwendbarsind und somit eine (weitere) Widerrufsmöglichkeit eröffnet ist.

Diese Entscheidung nahmen die Bekl. zum Anlass, unter dem20.12.2001 ein Informationsschreiben zu verfassen, in dem sieu.a. auf dieses EuGH-Urteil hinwiesen sowie darauf, dass deswe-gen nun Aussicht auf eine erfolgreiche erhebliche Reduzierungvon Darlehensverbindlichkeiten aus Kreditverträgen bestehe, dieaußerhalb der Geschäftsräume von Bank- bzw. Bausparkassen-niederlassungen zustande gekommen sind. Sie verwiesen auf zweivon ihnen bereits vertretene Mandanten, die als Kapitalanlegerder Immobilienfonds von der Bausparkasse auf Tilgung des zurKapitalanlagefinanzierung aufgenommenen Kredits in Anspruchgenommen wurden und sich hiergegen mit einem Angriff auf dieWirksamkeit des Kreditvertrags verteidigten.

Die Bekl. luden die Adressaten des Schreibens zu einer Infor-mationsveranstaltung ein, zu der die Teilnehmer u.a. eine Kopieihres eigenen Kreditvertrags sowie ggf. auch ihren damaligenAnlageberater mitbringen sollten. Das Schreiben wurde gezielt anca. 1.000 Gesellschafter der Immobilienfonds versandt. Dabei sol-len die Bekl. eine Anschriftenliste der Fondsgesellschafter benutzthaben, die aus Angaben der Gesellschafter im Rahmen der Anbah-nung der Kapitalanlageverträge (Vertrieb) erstellt wurde.

Nach Durchführung der Veranstaltungen im Jan./Febr. 2002versandten die Bekl. zwei inhaltsgleiche undatierte Schreiben an

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273Neue Justiz 6/2004

die Gesellschafter der Fonds. Darin fassten sie den Inhalt der aufden Veranstaltungen erteilten Informationen zusammen undlegten dar, was ihrer Ansicht nach von den Fondsgesellschaftern,die von ihrer finanzierenden Bank auf Darlehensrückzahlung inAnspruch genommen werden, zu veranlassen sei. Sie verwiesenauf einen anderen, namentlich bezeichneten Rechtsanwalt, dereine fehlerhafte bzw. zumindest unzweckmäßige Beratung undVertretung in gleich gelagerten Angelegenheiten anbiete. Sodannerklärten sie unter Herausstellung eigener besonderer Kenntnisse,dass sie eine außergerichtliche Lösung mit den finanzierendenBanken bzw. Bausparkassen anstrebten, deren erfolgreiche Umset-zung umso wahrscheinlicher sei, je größer die Gruppe der Betrof-fenen sei, die sich hierfür zusammenschließe.

Schließlich versandten die Bekl. unter dem 8.5.2002 einenweiteren »Zwischenbericht« über die Entwicklungen in der Rspr.Sie forderten die Adressaten auf, spätestens jetzt anwaltlicheBeratung zu suchen und den eigenen Kreditvertrag zu widerrufen(»Wer nun weiter zögert, muss sich später möglicherweisevorhalten lassen, das Recht auf Widerruf verwirkt zu haben.«).Das Schreiben schloss mit der Aufforderung zur Kontaktauf-nahme mit einem Rechtsanwalt aus der Sozietät der Bekl. (»Weralso nichts tut, kann auch nicht mit einer Lösung rechnen!«).

Das OLG Naumburg hatte mit Urt. v. 13.8.2002 (1 U 42/02) eineeinstweilige Verfügung erlassen, mit der es den Bekl. untersagte,gleichartige Rundschreiben zu versenden sowie Informationsver-anstaltungen wie die vorgenannten durchzuführen. Es sah in denSchreiben und Veranstaltungen gegen § 43b BRAO verstoßendeWerbemaßnahmen. Diese Entscheidung ist auf Kritik gestoßen(vgl. Huff, EWiR 2003, 411 f.; Dahns, BRAK-Mitt. 2003, 199 f.).

In seinem der Unterlassungsklage stattgebenden Urteil stütztesich das LG im Wesentlichen auf die Rechtsauffassung des OLGin seinem Urt. v. 13.8.2002.

Die Berufung der Bekl. hatte teilweise Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

Das erstinstanzliche Urteil wird mit der Einschränkung aufrecht-erhalten, dass den Bekl. nicht jegliche unaufgeforderte Werbe-rundschreiben an Nichtmandanten und insbes. nicht die Durch-führung von Informationsveranstaltungen untersagt wird, sondernlediglich die unaufgeforderte Kontaktaufnahme zu Nichtman-danten unter Verwendung von Anschriftenlisten, die den Bekl.unter Verletzung des Rechts der dort aufgeführten Personen aufinformationelle Selbstbestimmung überlassen worden sind.

1. Der Senat hält nicht an seiner im Urt. v. 13.8.2002 geäußer-ten Rechtsauffassung fest, dass die streitgegenständlichen Werbe-maßnahmen der Bekl. gegen das in § 43b 2. Alt. BRAO geregelteVerbot einer auf Erteilung eines Auftrags im Einzelfall gerichtetenWerbung verstoßen. …

Der Senat ist aufgrund einer Gesamtschau des streitgegen-ständlichen Verhaltens der Bekl. … davon überzeugt, dass dieBekl. zum Zeitpunkt des Versendens der Rundschreiben und derDurchführung der Informationsveranstaltungen davon ausgin-gen, dass sich eine große Zahl der Adressaten in einer gleicharti-gen, wirtschaftlich zumindest ungünstigen Situation befand, diedarin bestand, dass sie Zinszahlungen, ggf. auch Tilgungsleistun-gen auf die zur Kapitalanlagefinanzierung aufgenommenenDarlehensverbindlichkeiten zu entrichten hatten, ohne dass dem– wie ursprünglich erwartet – Einnahmen aus der Kapitalanlagegegenüberstanden. Aus dieser wirtschaftlich ungünstigen Situa-tion resultierte beim angesprochenen Personenkreis objektivauch konkreter rechtlicher Beratungsbedarf, der durch die Inaus-sichtstellung einer u.U. Erfolg versprechenden rechtlichen Bera-

tung und Vertretung weiter gesteigert wurde. Dies gipfelte in demim Schreiben v. 8.5.2002 geschilderten »Torschluss«-Szenario.

Bei einer verfassungskonformen, insbes. auch mit dem Grund-recht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 GG zu vereinba-renden Auslegung des § 43b BRAO ist das Verbot der Einzelfall-mandatswerbung jedoch restriktiv auszulegen (vgl. BVerfG, NJW1988, 191, sowie 2000, 1035; BGH, NJW 2001, 2087). Es ist nichtgleichzusetzen mit der – zulässigen – Werbung um einzelne Man-danten, die hier jedenfalls vorliegt, und nicht immer schon dannverletzt ist, wenn der Rechtsanwalt sein Ziel, in einer konkretenAngelegenheit mandatiert zu werden, zu erkennen gibt, wie dasdie Bekl. mit ihren Rundschreiben ebenfalls tun. Abzustellen istauf eine Bewertung der Relation zwischen der Intensität des kon-kreten Beratungsbedarfs (Notsituation) und der Intensität deranwaltlichen mandatsbezogenen Werbung (Bedrängung, Nötigung,Überrumplung – vgl. hierzu auch Hartung, MDR 2003, 485, 489).

Selbst wenn der Senat insoweit die bestrittenen Behauptungender Kl. zum Umfang der Versendung der Rundschreiben vollstän-dig als wahr unterstellte, so überschreiten die Werbemaßnahmender Bekl. unter dem Aspekt des Schutzes der freien und unbe-drängten Entscheidung eines rechtsuchenden Bürgers über dieBeauftragung eines Rechtsanwalts noch nicht die Grenze desZulässigen. Zwar zielten vor allem die Informationsschreiben vomFebr. 2002 aus den im Urt. v. 13.8.2002 genannten Gründen …schon deutlich auf die Anbahnung von Mandatsverhältnissen.Die Entscheidungsfreiheit der Umworbenen blieb gleichwohlgewährleistet, insbes. aufgrund der teilweisen erheblichen räum-lichen Entfernung zwischen werbendem Anwalt und umworbenemNichtmandanten und aufgrund der fehlenden physischen Präsenzder Bekl. während der Kontaktaufnahme durch Rundschreiben.

Hinsichtlich der von den Bekl. durchgeführten Informationsver-anstaltungen ist darauf zu verweisen, dass insoweit die Kontaktauf-nahme der Bekl. zu Nichtmandanten nicht unaufgefordert erfolgte,sondern die Teilnehmer der Veranstaltungen z.T. erhebliche Mühenund Kosten (Anreise etc.) auf sich genommen haben, um dieser Ver-anstaltung beizuwohnen. Die erteilten Informationen waren zudem… überwiegend sachlicher und berufsbezogener Natur und mehr aufdas Wecken und Steigern des konkreten Beratungsbedarfs der Teil-nehmer als bereits auf die unmittelbare Übertragung von Einzelman-daten auf die Bekl. gerichtet.

2. Die Versendung des Rundschreibens der Bekl. unter dem20.12.2001 an ca. 1.000 Nichtmandanten der Bekl. verstößt gegendas in § 1 UWG enthaltene und auch auf den Wettbewerb zwi-schen Rechtsanwälten anzuwendende Verbot des unlauterenWettbewerbs. …

2.1. Wettbewerbswidrig ist ein Verhalten nach § 1 UWG, wel-ches zu unterlassen ist, weil es gegen die guten Sitten verstößt.Hierbei gilt es, das von den Wettbewerbsteilnehmern zu verlan-gende Verhalten aus den Wertungen der Rechtsordnungen zuerschließen, wobei den Wertungen des GG eine besonders her-ausragende Stellung zukommt (vgl. Baumbach/ Hefermehl, Wett-bewerbsrecht, 22. Aufl. 2001, Einl. UWG Rn 71 mwN). Wettbe-werbshandlungen, die mit der Werteordnung der Grundrechteunvereinbar sind, halten sich grundsätzlich nicht im Rahmeneines lauteren Wettbewerbs, auch wenn die Grundrechte zwischenPrivatpersonen keine unmittelbaren Wirkungen haben (vgl. auchBaumbach/Hefermehl, aaO, Rn 93; sog. Ausstrahlwirkung).

Grundrechtlich geschützt ist die Individualsphäre, und zwar auchvor dem wirtschaftlichen Gewinnstreben. Das BVerfG hat hierfür denBegriff des grundrechtlich geschützten Rechts auf informationelleSelbstbestimmung geprägt. In Ausfüllung dieses Grundrechts will dasBDSG den Einzelnen davor schützen, dass er durch den Umgang mitseinen personenbezogenen Daten in seinem Persönlichkeitsrechtbeeinträchtigt wird. Es ist demgemäß wettbewerbswidrig, sich unterMissachtung der Individualsphäre Vorteile im Wettbewerb zu ver-schaffen, wenngleich nicht jeder Verstoß gegen die Bestimmungendes BDSG zugleich auch sittenwidrig iSv § 1 UWG ist (…).

Bürger l i ches Recht

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Neue Justiz 6/2004274

2.2. Der Senat geht davon aus, dass die gezielte Versendung vonWerbepost an zahlenmäßig viele, bundesweit verstreut wohnendeGesellschafter geschlossener Immobilienfonds, wie hier gesche-hen, voraussetzt, dass der Absender, hier also die Bekl., über einAnschriftenverzeichnis der Gesellschafter verfügt, wie es nur diemit dem Vertrieb, der Verwaltung und/oder mit dem Verkaufbefassten Unternehmen auf der Grundlage der personenbezoge-nen Daten der Kapitalanleger aufzustellen vermögen. Die Datenüber die Gesellschafter eines Immobilienfonds sind nicht allge-mein zugänglich.

2.3. Der Senat geht weiter davon aus, dass aus Sicht des Ver-triebsunternehmens bzw. des Verkäufers der Fondsanteile, vondem die von den Bekl. verwendete Anschriftenliste stammt, eineÜbermittlung dieses Anschriftenverzeichnisses an die Bekl. nichtin Übereinstimmung mit den Vorschriften des BDSG erfolgt ist.

Die von den Kapitalanlegern im Rahmen des Fondsanteils-erwerbs an den Veräußerer bzw. das Vertriebsunternehmenpreisgegebenen personenbezogenen Daten dürfen von diesenUnternehmen lediglich für eigene Zwecke gespeichert und genutztwerden; eine Datenübermittlung an Dritte, z.B. zu Werbe-zwecken, ist nach § 28 Abs. 1, 2 BDSG grundsätzlich unzulässig.Ein Erlaubnistatbestand nach § 28 Abs. 2 BDSG bzw. außerhalbdes BDSG ist hier nicht erfüllt. Es besteht ein schutzwürdigesInteresse der Kapitalanleger an einem Ausschluss der Übermitt-lung der im Rahmen des Vertragsschlusses notwendig offen zulegenden personenbezogenen Daten (Name, Vorname, Anschrift;Art und Umfang der erworbenen Fondsanteile). Die Bekl. habenauch nicht etwa dargelegt, dass die ca. 1.000 Adressaten desSchreibens unter dem 20.12.2001 in eine Übermittlung ihrer per-sonenbezogenen Daten zu Werbezwecken eingewilligt hätten.Hierzu wären sie jedoch nach den Grundsätzen der sekundärenDarlegungslast verpflichtet gewesen, weil den Kl. eine prozess-ordnungsgemäße Darlegung fehlender Einwilligungen ohne vor-herige nähere Angaben der Bekl. nicht möglich ist und weil denBekl. diese Angaben hierzu zuzumuten sind (vgl. Greger, in:Zöller, ZPO, 23. Aufl. 2002, vor § 284 Rn 34, 34a).

2.4. Indem die Bekl. das in unzulässiger Weise an sie übermit-telte Anschriftenverzeichnis verwendet haben, haben sie selbstgegen datenschutzrechtliche Vorschriften verstoßen. Denn eineVerletzung der Zulässigkeitsregelung in § 28 Abs. 1 oder 2 BDSGbzgl. der Übermittlung, wie hier durch den »Lieferanten« desAnschriftenverzeichnisses der Bekl., hat zur Folge, dass die Spei-cherung und Verwendung der so übermittelten Daten beimEmpfänger, hier bei den Bekl., unzulässig ist und dass diese Datensofort gelöscht werden müssen, § 35 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BDSG (vgl.auch Auernhammer, BDSG, 3. Aufl. 1993, § 28 Rn 62). …

2.5. Die vorgenannten Verstöße gegen datenschutzrechtlicheBestimmungen, hier insbes. auch der Verstoß der Bekl. gegen § 35Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BDSG, verletzen unmittelbar das grundrecht-lich geschützte Recht der Kapitalanleger auf informationelleSelbstbestimmung und sind nicht wettbewerbsneutral.

Das Interesse des Kapitalanlegers, dass die Geheimnisse seinerwirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, die er einer Bank,Bausparkasse oder einem Kapitalanlagevermittler anvertraut,gewahrt bleiben, überwiegt mangels anderslautender vertrag-licher Abreden das Interesse der Bekl., eine effektive Werbung fürihre anwaltliche Tätigkeit betreiben zu können, bei weitem.

Die Bekl. verschaffen sich zudem durch ihr rechtswidriges Ver-halten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber denjenigen anwalt-lichen Kollegen, die sich auf gleichem Rechtsgebiet betätigen undnicht auf ein nur in unzulässiger Weise zu erlangendes Anschrif-tenverzeichnis von Kapitalanlegern zurückgreifen.

Anmerkung:

Rechtsanwalt Dr. Michael Kleine-Cosack, Freiburg i.Br.

Das Werberecht der rechtsberatenden Berufe hat in den letztenJahren bedingt vor allem durch die Rspr. des BVerfG eine erheb-liche Liberalisierung erfahren. Im Wesentlichen gilt auch für dieseFreiberufler nur noch das Wettbewerbsrecht. Das Berufsrecht ent-hält in den Berufsgesetzen und in den ergänzenden Berufsord-nungen – bei Rechtsanwälten sind es die §§ 43b BRAO und die§§ 6-10 BORA – nur noch wenige darüber hinausgehende, z.T.schlicht verfassungswidrige Bestimmungen (vgl. zum GanzenKleine-Cosack, Das Werberecht der rechts- und steuerberatendenBerufe, 2. Aufl. 2004). Während bei den maßgeblichen gesetz-lichen Bestimmungen wie dem § 43b BRAO die Bedeutungslosig-keit der Schranken der Berufsbezogenheit und der Sachlichkeit inerheblichem Umfang zwischenzeitlich deutlich geworden ist,wird über die Reichweite der bisher tabuisierten dritten Begren-zung noch erheblich gestritten. Danach ist dem Anwalt eineWerbung untersagt, wenn sie auf die Erteilung eines Mandats imEinzelfall gerichtet ist.

Das Urteil des OLG verdient im Hinblick auf den Kurswechselbei der Auslegung des § 43b BRAO und der darin enthaltenenSchranke des Verbots einer Einzelmandatswerbung volle Zustim-mung. Die von der bisher h.A. noch immer vertretene restriktiveInterpretation unter schlichter Berufung auf den Wortlaut istoffensichtlich unhaltbar. Die unverzichtbare verfassungskon-forme Auslegung am Maßstab des Art. 12 GG erlaubt auch bei die-ser Schranke nur das Verbot einer gemeinwohlschädlichen Wer-bung. Da in Fällen des konkreten Bedarfs im Einzelfall nicht selteneine Notsituation auf der Seite des Umworbenen vorliegt, darfeine Werbung keinesfalls aufdringlich sein. Das Recht auf freieAnwaltswahl – vgl. auch § 3 Abs. 3 BRAO – muss gewahrt bleiben.Eine Überrumpelung, Bedrängung oder Nötigung sind – was imEinzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu prüfen ist –untersagt.

Diese Begrenzung ergibt sich eigentlich schon aus dem Wett-bewerbsrecht, das u.a. die Fallgruppe des Kundenfangs kennt;berufsrechtlich deckt sich diese Begrenzung der Einzelmandats-werbung auch mit dem Sachlichkeitsgebot des § 43b BRAO, sodass streng genommen die dritte Alternative des § 43b BRAOüberflüssig ist oder zumindest weitgehend nur deklaratorischeFunktion hat. Diese – verfassungskonforme und vereinzelt seitüber einem Jahrzehnt geäußerte Ansicht (vgl. Kleine-Cosack,BRAO, 4. Aufl. 2004, § 43 Rn 59 a.E., u. Voraufl.) – wird zwi-schenzeitlich auch vermehrt in der Lit. vertreten (vgl. nur Hirte, ZZP2003, 135 ff., 153 ff.; Römermann, in: Hartung/Holl, AnwaltlicheBerufsordnung, 2. Aufl. 2002, zu § 43b BRAO; Huff, NJW 2003,3525 ff.; restriktiv hingegen noch Eylmann, in: Henssler/Prütting,BRAO, 2. Aufl. 2004, zu § 43b BRAO). Das Urteil des OLG Naum-burg liegt auf der Linie vergleichbar liberaler Entscheidungenneueren Datums wie des OLG Düsseldorf (NJW 2003, 362), desAG Schwerte (NJW-RR 2002, 1146), aber auch des BGH (Urt.v. 25.2.2003 – stbSt [R] 2/02).

Das OLG hat jedoch die Revision nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1ZPO zugelassen im Hinblick auf die sich im vorliegenden Fallebenfalls stellende Rechtsfrage, ob das unaufgeforderte Versen-den anwaltlicher Werberundschreiben an Nichtmandanten stetsschon dann eine unlautere wettbewerbliche Maßnahme dar-stellt, wenn es unter Verwendung einer Anschriftenliste erfolgt,die der Versender unter Verletzung datenschutzrechtlicherBestimmungen erlangt hat. Die zu diesem Punkt vom OLG ver-tretene Ansicht ist – so auch Huff, aaO – gravierenden Bedenkenausgesetzt: Schließlich sind die fraglichen Bestimmungen desBDSG nicht ohne weiteres wettbewerbsrechtlich relevant. Zudem

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275Neue Justiz 6/2004

ist fraglich, ob es sich bei der umstrittenen Anschriftenliste umeine Datei iSd § 1 Abs. 2 Nr. 3 BDSG handelt; außerdem stellt sichdie Problematik der Beweislast im Hinblick auf die Herkunft derListe, nachdem das OLG sich mit der bloßen Behauptung der Kl.zufrieden gab.

Der BGH erhält damit Gelegenheit, sich zu diesem Problem-komplex zu äußern und vor allem in Bezug auf die Fallgruppe derWerbung um konkrete Einzelmandate seine Rspr. nach denGrundsatzentscheidungen (NJW 2001, 2087 u. 2886) zu präzisie-ren und auch zu korrigieren.

Anm. d. Redaktion: Zum Berufs- und Wettbewerbsrecht bei Online-Auftritten von Rechtsanwälten siehe auch St. Haupt/R. Schmidt, S. 245 ff.(248), in diesem Heft.

� 02.11 – 6/04

LPG-Umwandlung und Gründung einer Aktiengesellschaft

OLG Dresden, Urteil vom 18. Februar 2004 – 2 U 1846/03 (LG Dresden)(Revision nicht zugelassen)

LwAnpG §§ 42, 44, 69

1. Die umwandlungsrechtlichen Bestimmungen des LwAnpGhindern das fehlerfreie Entstehen einer ab dem 1.1.1992 gegrün-deten Aktiengesellschaft selbst dann nicht, wenn eine LPG Grün-dungsaktionärin ist und als Sacheinlage ihr Betriebsvermögeneinzubringen hat.2. Dem Liquidator einer LPG kommt nicht die organschaftlicheBefugnis zu, über das Betriebsvermögen durch Einbringung ineine Aktiengesellschaft zu verfügen. Vielmehr ist für die Einlagen-leistung angesichts des Schutzzwecks von §§ 42, 44 LwAnpG dasEinvernehmen der Mitglieder erforderlich.3. Dem Dividendenanspruch eines Aktionärs kann zwar gem.§ 273 BGB entgegengehalten werden, dass die übernommeneEinlage nicht erbracht ist. Jedoch lässt sich ein Zurückbehal-tungsrecht nicht darauf stützen, dass sich der Aktionär, der seineRechtsstellung von einer LPG erworben hat, nach einer geschei-terten Sacheinlagenerbringung weigert, an die Aktiengesellschaftseinen Anpruch auf Auszahlung des ihm aus der Liquidation derLPG zustehenden Erlöses abzutreten.

� 02.12 – 6/04

Sonderkündigungsrechte bei Landpachtverträgen

OLG Naumburg, Urteil vom 8. Januar 2004 – 2 U (Lw) 9/03 (AG Stendal)(Revision eingelegt; Az.: LwZR 2/04)

BGB §§ 133, 157, 566, 581, 586, 985; AGBG § 5

Ein in einem Landpachtvertrag vereinbartes Kündigungsrechtdes Verpächters für den Fall, dass der Verpächter oder einMitglied seiner Familie beabsichtigt, die Pachtflächen selbst zubewirtschaften, steht im Zweifel nur dem ursprünglichen Ver-pächter zu, nicht demjenigen, der bei Veräußerung der Pacht-sache als neuer Eigentümer in das Pachtverhältnis eintritt.

Anm. d. Redaktion: Der erkennende Senat hat die Revision wegengrundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen und dazu aus-geführt: »Sonderkündigungsrechte der im vorliegenden Fall verwendetenArt werden bei Abschluss von langfristigen Landpachtverträgen häufigvereinbart. Eine Auslegung allein aufgrund der Umstände des Einzel-falls kommt – wie auch im vorliegenden Fall – i.d.R. nicht in Betracht,weil die ursprünglichen Parteien des Pachtvertrags die Bestimmung vorVertragsschluss nicht erörtert haben. Einheitliche Maßstäbe für die

Auslegung solcher Klauseln erscheinen daher – auch über den Bereichdes Landes Sachsen-Anhalt hinaus – im Interesse der Rechtseinheitlich-keit und Rechtssicherheit erforderlich.«

� 02.13 – 6/04

Verjährungsbeginn für Schadensersatzansprüche falsch beratenerAnleger

LG Berlin, Urteil vom 9. Oktober 2003 – 21 O 118/03 (Berufung eingelegt; Az.: 19 U 71/03)

WertpapierhandelsG § 37a

Die dreijährige Verjährungsfrist des § 37a WpHG beginnt imFalle fehlerhafter Beratung bzgl. Fondsanlagen mit dem Kauf derFondsanteile. (Leitsatz des Bearbeiters)

Problemstellung:

Mit der bei Gericht am 1.3.2003 eingegangenen Klage begehrtder Kl. aus abgetretenem Recht der Frau … wegen bestrittenenAufklärungs-/Beratungsverschuldens Schadensersatz in Höhe desseit dem Kauf verschiedener Fondsanteile am 8.2.2000 bis zum31.12.2002 eingetretenen Gesamtverlusts von 24.771,52 €.

Der Kl. behauptet, der Berater der Zedentin hätte dieser aufkeinen Fall den Ankauf der streitgegenständlichen Risikofonds-anlagen empfehlen dürfen, da ihre Vorgaben, wie sie sich aus derKundenberatungskarte und dem persönlichen Vermögens-Checkergaben, nur zur Empfehlung anlagesicherer Wertpapiere hättenführen dürfen. Der Berater habe noch nicht einmal auf die Risi-ken von Kursschwankungen bis zum Totalverlust hingewiesen.Die Schadensersatzansprüche seien auch im Lichte des § 37aWpHG noch nicht verjährt, weil in dem Schreiben der Bekl. v.5.2.2001, das auf ein Schreiben der Zedentin v. 30.1.2001 erwi-dert, ein Gesprächsangebot enthalten sei, das zur Hemmung derVerjährung führe.

Die Bekl. erhebt die Einrede der Verjährung und behauptet, dassdie Zedentin anlageerfahren sei und außerdem vor Erwerb derFondsanteile u.a. sowohl über die Kursrisiken als auch über dieeinseitige Branchenausrichtung aufgeklärt worden sei.

Das LG hat die Klage abgewiesen.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Das LG hält etwaige Schadensersatzansprüche – sei es aus c.i.c.bzw. pVV bzw. aus § 823 Abs. 2 BGB iVm §§ 31, 32 WpHG – fürunbegründet, da sie jedenfalls verjährt sind.

Die Einführung des § 37a WpHG sollte die bisher in diesemBereich vorherrschende Regelverjährung von 30 Jahren ein-schränken. Die Verjährung beginnt mit dem Zeitpunkt, in demein Schadensersatzanspruch wegen Beratungsverschuldens ein-geklagt werden kann. Das ist hier der Zeitpunkt des Ankaufs derFondsanteile am 8.2.2000. Damit wäre der mit der bestrittenbehaupteten Pflichtverletzung verursachte Schaden eingetreten,nämlich die Fehlinvestition von Geld, das ohne das Beratungs-verschulden gerade nicht, zumindest aber nicht so angelegtworden wäre; der Schadenersatzanspruch zielt somit in solchenFällen auf die komplette Vertragsrückabwicklung einschließl.anderweitig entgangenen Gewinns ab. Die dreijährige Verjäh-rungsfrist endete deshalb mit Ablauf des 8.2.2003.

Die Verjährung nach § 37a WpHG ist auch in Hinblick aufmögliche Ansprüche aus Delikt vorrangig, da für eine (bedingt)vorsätzliche Pflichtverletzung keine greifbaren Anhaltspunkteersichtlich sind und auch keine diesbezügliche Vermutung fürden Kl. streitet.

Bürger l i ches Recht

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Neue Justiz 6/2004276

Die Verjährung ist auch nicht durch das im Schreiben v.5.2.2001 unterbreitete Gesprächsangebot nach § 242 BGBgehemmt, denn in diesem Schreiben war eine Einstandspflichteindeutig abgelehnt worden. Das Gesprächsangebot bezog sichauf die Suche nach Möglichkeiten zur Abwendung weitererfinanzieller Schwierigkeiten.

Kommentar:

Das Urteil entspricht im Ergebnis der wohl h.M. in der Lit.

Schäfer plädiert in einem anscheinend aus der Sicht der Wert-papierdienstleistungsunternehmen geschriebenen Aufsatz(FS für Schimansky, Köln 1999, S. 699) eindeutig dafür, dassim Fall der Anschaffung von Wertpapieren der Verjährungs-beginn bereits mit Abschluss des Vertrags eintritt und nicht erstmit dessen sachenrechtlicher Erfüllung und schon gar nicht erstmit Eintritt des Kursverlusts (S. 710 f.). Auch die Verjährungs-regelung des § 852 BGB (nunmehr §§ 195 u. 199 BGB nF) solljedenfalls dann durch § 37a WpHG verdrängt werden, wennes um Ansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB iVm §§ 31, 32 WpHGgeht, also um die Fälle, in denen das WpHG als ein denSchutz eines anderen bezweckendes Gesetz verletzt wordenist, was auch fahrlässig geschehen kann. Lediglich bei vorsätz-licher Schädigung, wie sie im Fall des § 826 BGB tatbestands-mäßig ist, soll die deliktische Verjährungsfrist zum Zuge kom-men.

Koller (in: Assman/Schneider WpHG, Köln 2003, S. 1138 ff.)stellt auf den Zeitpunkt des Entstehens des Schadensersatz-anspruchs ab, definiert diesen aber dergestalt, dass bei der Anlage-beratung der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses maßgebend istund bei der Anlagevermittlung der Zeitpunkt der Erteilung desAuftrags.

Beide Autoren kommen zu diesem Zeitpunkt des Beginns derVerjährung durch eine m.E. exzessive Auswertung der Entschei-dung des BGH v. 26.9.1997 (ZIP 1998, 154 = NJ 1998, 147 [bearb.v. Winkler] ), die einen ganz anderen Fall behandelt hat.

Jedoch bezieht Koller die Verjährungsregelung des § 37aWpHG auf die vertragliche und vorvertragliche Haftung undlässt daneben die Verjährung für deliktische Ansprüche, alsoauch für fahrlässige Pflichtverletzungen nach § 823 Abs. 2 BGB,bestehen. In diesem Fall ist Voraussetzung für den Beginn derVerjährung nicht nur, dass der Anspruch entstanden ist, son-dern auch, dass der Gläubiger von dem den Anspruch begrün-denden Umständen und der Person des Schuldners Kenntniserlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müs-sen (§ 199 Abs. 1 BGB). Ob das den Geschädigten bei der weitenFassung des Begriffs der Anspruchsentstehung, wie sie auchKoller vornimmt, wirklich nützt, ist fraglich. Allerdings ist derBeginn der Verjährungsfrist für den Geschädigten regelmäßiggünstiger, weil dafür auf den Schluss des maßgebenden Jahresabgestellt wird.

Das LG Berlin scheint hier eher der Ansicht zuzuneigen, dassdie für deliktische Ansprüche geltende Verjährungsfrist nur beizumindest bedingt vorsätzlichen Pflichtverletzungen zum Zugekommt. Für die Entscheidung des LG spricht, dass der Beginn derVerjährung ohne große Probleme feststellbar ist und vermiedenwird, dass der Geschädigte auf Kosten des Wertpapierdienst-leistungsunternehmens spekuliert.

Im Ergebnis muss also Geschädigten dringend geraten werden,ihre Ansprüche innerhalb von drei Jahren nach Vertragsabschluss(bei Anlageberatung) bzw. Auftragserteilung (bei Anlagevermitt-lung) geltend zu machen.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Dietrich Maskow, Berlin

03 STRAFRECHT

� 03.1 – 6/04

Auswirkungen einer überlangen Verfahrensdauer in Strafverfahren

LG Potsdam, Urteil vom 15. Dezember 2003 – 27 Ns 182/01 (AG Potsdam)(rechtskräftig)

EMRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1; GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2; LV Bbg. Art. 52Abs. 4; WPflG §§ 1, 3; StGB §§ 78 ff.; StPO § 153 Abs. 2

1. Welche Verfahrensdauer als angemessen lang anzusehen ist,hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere vonder Schwere des Tatvorwurfs, dem Umfang und der Schwierig-keit des Verfahrens, der Art und Weise der Ermittlungen, derBelastung des Angeklagten durch das Verfahren und von demeigenen Verhalten des Angeklagten.2. Für die Frage, wann die Dauer eines Verfahrens als übermäßiglang anzusehen ist, bieten die Vorschriften über die Verfol-gungsverjährung gem. §§ 78 ff. StGB einen Anhaltspunkt.3. Eine übermäßig lange Verfahrensdauer hat grundsätzlich keinVerfahrenshindernis zur Folge und ist regelmäßig nur als Straf-zumessungsgesichtspunkt zu berücksichtigen. Ausnahmen geltenjedoch dann, wenn eine angemessene Berücksichtigung derVerfahrensdauer im Rahmen einer Sachentscheidung nicht inBetracht kommt. Insbesondere bei Vergehen, die zu einer nichtschwerwiegenden Bestrafung führen würden, kann die langeVerfahrensdauer zu einer Verneinung des öffentlichen Interessesan der Strafverfolgung führen.

Das AG hat den Angekl. im Mai 1998 wegen Dienstflucht zu einerGeldstrafe verurteilt. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Angekl. fertigte bereits als 16-Jähriger Eingaben gegen die Pro-duktion von Kriegsspielzeug in der DDR. Am 1.9.1989 gabe er eineTotalverweigerungserklärung gegenüber dem Wehrkreiskommandound dem Verteidigungsministerium der DDR ab und verweigerte auchdie Tätigkeit im sog. Bausoldatendienst. Er setzte seine politischenAktivitäten nach der politischen Wende fort und war Mitbegründerder Berliner Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär.Seinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer erkanntedas Bundesamt für den Zivildienst mit Bescheid v. 25.7.1991 an undforderte den Angekl. auf, Einwendungen gegen den Zivildienst unver-züglich geltend zu machen. Den Hinweis des Angekl., dass er auchden Zivildienst verweigere, fasste das Bundesamt als Antrag aufNichtheranziehung zum Zivildienst auf und lehnte das Begehren am26.2.1993 ab.

Mit Einberufungsbescheid v. 26.3.1993 wies das Bundesamt fürden Zivildienst den Angekl. für die Zeit vom 1.9.1993 bis zum30.1.1994 den Grünanlagen der Stadt Potsdam zur Ableistung desZivildienstes zu. Der dagegen eingelegte Widerspruch des Angekl.wurde mit Bescheid v. 25.8.1993 zurückgewiesen. Der Angekl. erklärte,den Dienst auf Dauer verweigern zu wollen. Am 2.9.1993 forderte dasBundesamt den Angekl. erneut zum Dienstantritt auf und wies auf diestrafrechtlichen Sanktionen hin. Der Angekl. trat auch in der Folge-zeit seinen Dienst nicht an.

Mit Schreiben v. 23.11.1993 lud die Staatsanwaltschaft den Angekl.zur Beschuldigtenvernehmung. Dieser erschien nicht, gab jedoch eineschriftliche Stellungnahme ab. Am 10.2.1994 erhob die Staatsanwalt-schaft Anklage. Eine erste Hauptverhandlung v. 8.2.1996 setzte dasAG aus. In der Hauptverhandlung v. 29.5.1998 erging das Urteil.

Gegen dieses Urteil legte der Angekl. Berufung ein. In einemersten Berufungstermin hat das LG am 19.3.1999 das Verfahrenausgesetzt und eine Entscheidung des BVerfG dazu eingeholt,dass die allgemeine Wehrpflicht gem. § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 WPflGund die darauf beruhende Strafbarkeit der Dienstflucht gem. § 53ZDG mit dem GG unvereinbar und deshalb ungültig sei (NJ 1999,660 [Leits.]). Das BVerfG verwarf mit Beschl. v. 20.2.2002(BVerfGE 105, 61 = NJ 2002, 362) die Vorlage als unzulässig.

Nach erneuter Verhandlung über die Berufung des Angekl.stellte das LG das Strafverfahren wegen überlanger Dauer ein.

Rechtsprechung

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277Neue Justiz 6/2004

Aus den Entscheidungsgründen:

III. Der Angekl. hat sich durch sein Verhalten der Dienstfluchtgem. § 53 Abs. 1 ZDG schuldig gemacht. Er ist dem bestands-kräftigen Einberufungsbescheid v. 26.3.1993 vorsätzlich nichtgefolgt und hat seinen Zivildienst nicht angetreten. …

Die Kammer sieht keinen Anlass, die Frage der Verfassungs-mäßigkeit der Wehrpflicht und der hierauf fußenden Pflichtzur Leistung des Zivildienstes (erneut) dem BVerfG vorzulegen.Vielmehr hegt die Kammer keinen Zweifel daran, dass die Nor-men, auf denen die Verpflichtung zur Leistung des Zivildienstesberuht (§§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 WPflG und § 19 ZDG), mit dem GGvereinbar sind. (wird ausgeführt)

Zugunsten des Angekl. greifen auch keine Rechtfertigungs- oderEntschuldigungsgründe ein, die zu einem Freispruch des Angekl.führen könnten. Auch für den Fall, dass verfahrensrechtlicheHindernisse bestehen, wären Umstände, die einen Freispruch zurFolge hätten, vorrangig zu berücksichtigen (Meyer-Goßner, StPO,46. Aufl., § 260 Rz 44 mwN). Derartige Umstände sind jedoch imvorliegenden Fall nicht zu erkennen. Insbes. kollidiert ein Zivil-dienst bei den Grünanlagen der Stadt Potsdam in keiner Weise mitder Gewissensentscheidung des Angekl., den Kriegsdienst an derWaffe zu verweigern. …

Das Verfahren war jedoch gem. § 153 Abs. 2 StPO einzustellen,da angesichts der langen Verfahrensdauer ein öffentlichesInteresse an der Strafverfolgung nicht mehr besteht. Durch dieüberlange Dauer des Verfahrens wird der Anspruch des Angekl.gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG iVm demRechtsstaatsprinzip und gem. Art. 52 Abs. 4 LV Bbg. auf Behand-lung der Strafsache in einer angemessenen Frist verletzt.

Welche Verfahrensfrist als angemessen anzusehen ist, hängtvon den Umständen des Einzelfalls ab, insbes. von der Schweredes Tatvorwurfs, dem Umfang und der Schwierigkeit des Verfah-rens, der Art und Weise der Ermittlungen, der Belastung desAngekl. durch das Verfahren und von dem eigenen Verhalten desAngekl. (allg. Rspr.; vgl. EGMR, NJW 1986, 647; BVerfG, NJW1984, 967; 2003, 2225, und zuletzt v. 25.7.2003 – 2 BvR 153/03;BGH, NJW 1996, 2739, und wistra 2002, 428; VerfG Bbg., DVBl.2001, 912 = NJ 2001, 364, und NJ 2003, 418; BayObLG, NStZ-RR2003, 119; OLG Stuttgart, MDR 1993, 680; OLG Düsseldorf, StV1995, 400; LG Köln, StraFo 2000, 173; vgl. auch Meyer-Goßner,aaO, Art. 6 EMRK Rz 7a mwN). Bisweilen wird hierbei eine Ver-fahrensdauer von mehr als zehn Jahren generell als übermäßigangesehen (Meyer-Goßner, aaO, Art. 6 EMRK Rz 7a …), bisweilenwird eine Orientierung an der Obergrenze des Regelstrafrahmensvorgeschlagen (OLG Stuttgart, MDR 1993, 680).

Für diese Frage, wann die Dauer eines Verfahrens als übermäßiglang anzusehen ist, bieten die Vorschriften über die Verfolgungs-verjährung gem. §§ 78 ff. StGB einen Anhaltspunkt. Für einDelikt, das – wie die Dienstflucht – mit Freiheitsstrafe bis zu fünfJahren bedroht ist, sieht § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB eine fünfjährigeVerjährungsfrist ab dem Zeitpunkt der Vollendung der Tat (§ 78aStGB) vor. Hierin kommt zum Ausdruck, dass das öffentlicheInteresse an der Ahndung einer solchen Straftat durch den Ablaufdieser Frist an Gewicht verliert. Auch wenn im vorliegenden Fallmit Rücksicht auf § 78c Abs. 3 Satz 3 iVm § 78b Abs. 3 StGBdie Verjährung nicht eingreift, zeigen die Verjährungsregelninsgesamt, dass das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung– abhängig von der Bedeutung der Straftat – immer stärker zurück-tritt, je mehr Zeit seit der Straftat verstrichen ist. Die Verjäh-rungsregelungen können jedoch nur eine allgemeine Orientie-rung bieten, da sie als Institut des materiellen und prozessualenRechts ein Verfahrenshindernis normieren, jedoch – im Unter-

schied zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK – kein subjektives Recht aufein zügiges Verfahren in den Blick nehmen.

Da das Recht auf zügige Durchführung des Verfahrens an dieBelastungen anknüpft, die von dem Verfahren für den Beschul-digten oder Angeklagten ausgehen, beginnt die hierfür maßgeb-liche Frist – im Unterschied zu den Verjährungsregeln – mit demZeitpunkt, an dem der Beschuldigte Kenntnis von dem Ermitt-lungs- oder Strafverfahren erlangt, und endet erst mit dem voraus-sichtlichen rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens (Meyer-Goß-ner, aaO, Art. 6 EMRK Rz 8 mwN; vgl. auch BGH, NJW 1996, 2739;LG Köln, StraFo 200, 173).

Eine übermäßig lange Verfahrensdauer hat grundsätzlich keinVerfahrenshindernis zur Folge und ist regelmäßig nur als Straf-zumessungsgesichtspunkt zu berücksichtigen (BGH, NJW 1996,2739; Meyer-Goßner, aaO, Art. 6 EMRK Rz 9 mwN). Ausnahmengelten jedoch dann, wenn eine angemessene Berücksichtigungder Verfahrensdauer im Rahmen einer Sachentscheidung nicht inBetracht kommt. Insbes. bei Vergehen, die zu einer nicht schwer-wiegenden Bestrafung führen würden, kann die lange Verfahrens-dauer zu einer Verneinung des öffentlichen Interesses an der Straf-verfolgung führen (BGHSt 24, 239; 35, 137, und wistra 2002, 428;Meyer-Goßner, aaO, Art. 6 EMRK Rz 9).

Ein solcher Fall ist nach Auffassung der Kammer vorliegendgegeben. Im hiesigen Strafverfahren ist der Tatvorwurf nichtschwerwiegend. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gem. Art. 4Abs. 1 GG setzt den gegen einen Gewissenstäter zu verhängendenSanktionen enge verfassungsrechtliche Schranken. Das Grund-recht wirkt sich deshalb als allgemeines »Wohlwollensgebot«gegenüber Gewissenstätern aus, deren Verhalten auf einer acht-baren, durch ernste innere Auseinandersetzungen gewonneneEntscheidung beruht (BVerfGE, 23, 127; … OLG Bremen, StV 1996,378; OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1996, 90; OLG Koblenz, NStZ-RR1997, 149; OLG Stuttgart, NJW 1993, 3251); insbes. sind general-präventive Gesichtspunkte außer Betracht zu lassen. Im vor-liegenden Fall kommt die Bedeutung des Tatvorwurfs in demStrafmaß des erstinstanzlichen Urteils zum Ausdruck, das demunteren Bereich des Strafrahmens entnommen ist. …

Weiterhin ist durch die Tat kein Schaden angerichtet worden.Ferner droht keine Wiederholung der Tat. Überdies ist das Ver-fahren zwar in tatsächlicher Hinsicht nicht schwierig, da derRechtsverstoß des Angekl. außer Streit steht; es hat jedoch dadurchan Umfang und Schwierigkeit gewonnen, dass im Rahmen desStrafverfahrens der Versuch einer grundsätzlichen verfassungs-rechtlichen Klärung unternommen worden ist. Die gesellschaft-liche Diskussion um die Notwendigkeit der militärischen Vertei-digung und die damit verbundene Dienstpflicht, die noch denVorlagebeschluss beeinflusste, hat durch die Entwicklung derletzten Jahre – insbes. durch das zunehmende Gewicht der Bun-desrepublik Deutschland in der Völkergemeinschaft – eine andereRichtung bekommen.

Da der Tatvorwurf nicht schwerwiegend war, dem Angekl. jedochbei seiner beruflichen Entwicklung – etwa bei seiner zwischenzeit-lich erfolgten Rechtsanwaltszulassung – Probleme bereiten konnte,bestand bereits im April 2002 – nach mehr als acht Jahren Ver-fahrensdauer – kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgungmehr. Angesichts der nunmehr verstrichenen Frist von nahezuzehn Jahren, die seit der ersten Anhörung des Angekl. im Rahmendes Ermittlungsverfahrens verstrichen ist, besteht erst recht keinöffentliches Interesse an der Strafverfolgung mehr.

(mitgeteilt von RiLG Axel Gerlach, Potsdam)

Anm. d. Redaktion: Zur überlangen Verfahrensdauer siehe auch denBeitrag von B. Klose, NJ 2004, 241 ff., in diesem Heft.

Straf recht

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Neue Justiz 6/2004278

04 VERWALTUNGSRECHT

� 04.1 – 6/04

DDR-Grenzgrundstücke als Verwaltungsvermögen des Bundes

BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2003 – 3 C 50/02 (VG Potsdam)

EinigungsV Art. 21 Abs. 1 u. 2, 22 Abs. 1; LandeskulturG/DDR § 14

1. Von der ehem. DDR für Sperranlagen und Grenzkontrollengenutzte Grundstücke an der seinerzeitigen innerdeutschenGrenze und an der Grenze zu Berlin (West) wurden ungeachtetder Umgestaltung der innerdeutschen Beziehungen nach dem1.10.1989 am 3.10.1990 Verwaltungsvermögen des Bundes.2. Die Erklärung eines Grenzgrundstücks zum Naherholungs-gebiet nach § 14 des DDR-LandeskulturG v. 14.5.1970 durch dieVolksvertretung einer Gemeinde führte mangels Entwidmungdurch den verfügungsbefugten Verwaltungsträger nicht zumVerlust der Zugehörigkeit des Grundstücks zum Verwaltungs-vermögen des Bundes.

Problemstellung:

Die beiden in Potsdam-Babelsberg am Griebnitzsee gelegenenGrundstücke waren in den 60er-Jahren in Volkseigentum über-führt worden. Sie befanden sich im Grenzgebiet der ehem. DDRzu Westberlin und wurden für Sperranlagen und zur Durch-führung von Grenzsicherungskontrollen genutzt.

1990 erklärte die Stadtverordnetenversammlung der StadtPotsdam auf der Grundlage von § 14 Abs. 2 LandeskulturG/DDRdie Grundstücke zu Erholungsgebieten zur ausschließlichen Nut-zung für Radfahrer und Fußgänger.

1992 beantragte die Stadt die Zuordnung der Grundstücke inihr kommunales Eigentum. Die beigeladene Bundesrepublikstellte 1994 den Antrag auf Zuordnung dieser Grundstücke alsVerwaltungsvermögen des Bundes. Die bekl. Behörde ordnete dieGrundstücke der Bundesrepublik zu, da sie als Verwaltungs-vermögen gem. Art. 21 Abs. 1 EV Eigentum der BundesrepublikDeutschland (Bundesfinanzverwaltung) geworden seien.

Die hiergegen gerichtete Klage der Stadt Potsdam wies das VGab.

Die Revision der Kl. hatte keinen Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Die Grundstücke gehören zum Verwaltungsvermögen des Bundes.Nach Art. 21 Abs. 1 EV wird das Vermögen der DDR, das unmit-telbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient (Verwaltungsver-mögen), Bundesvermögen, sofern es nicht nach seiner Zweckbe-stimmung am 1.10.1989 überwiegend für Verwaltungsaufgabenbestimmt war, die nach der Kompetenzordnung des GG von Län-dern, Gemeinden (Gemeindeverbänden) oder sonstigen Trägernöffentlicher Verwaltung wahrzunehmen sind. Die Zuordnung derGrundstücke an die Bundesrepublik erweist sich dann als recht-mäßig, wenn sie neben ihrer überwiegenden unmittelbaren Nut-zung für Verwaltungsaufgaben des Bundes am 1.10.1989 auchnoch am 3.10.1990 als Verwaltungsvermögen im Sinne dieserRegelung einzustufen waren.

Die Grundstücke wurden am 1.10.1989 für Verteidigungs- undGrenzsicherungsaufgaben iSv Art. 7 Verf./DDR 1968 genutzt.Sowohl die Aufgaben der Verteidigung als auch des Grenzschutzeswaren nach den Art. 87a und b, 87 GG auf den Bund bzw. denBundesgrenzschutz übergegangen. Auch der Abbau der Grenzan-lagen nach der Wiedervereinigung am 3.10.1990 gehörte alsAnnex noch zu den Verwaltungsaufgaben des Bundes. DieseAnnexaufgaben waren am 3.10.1990 auch noch nicht abge-

schlossen. Vielmehr wurde in der Verwaltungsvereinbarung, diezwischen dem Bundesministerium der Verteidigung und der Bun-desfinanzverwaltung hinsichtlich in Potsdam belegener Grund-stücke des ehem. Grenzstreifens geschlossen wurde, als Zeitpunktfür den (nur bundesinternen) Übergang von Besitz, Nutzungenund Lasten der Grundstücke auf das Bundesvermögensamt erstder 16.7.1993 festgelegt.

Im Übrigen kann ein Vermögensgegenstand seine Zugehörig-keit zum Verwaltungsvermögen nur dann verlieren, wenn derinsoweit verfügungsbefugte Verwaltungsträger eine »hieraufgerichtete definitive Entscheidung« getroffen hat (BVerwG, Beschl.v. 25.5.2001 – 3 B 30/01 – Buchholz 111 Art. 21 EV Nr. 45). Dieentsprechende Verwaltungsaufgabe war von der BundesrepublikDeutschland aber »mit der Zielrichtung der Abwicklung« auchüber den 3.10.1990 hinaus fortgeführt worden. Hieran vermag auchder Beschluss der Stadtverordnetenversammlung der Kl. von 1990,mit dem die Grundstücke zum Erholungsgebiet erklärt wurden,nichts zu ändern; denn die Kl. war nicht verfügungsbefugt.

Die Stadt Potsdam hatte mit dem Bundesvermögensamt imJahr 1996 eine »Nutzungsvereinbarung« u.a. über die streitge-genständlichen Grundstücke getroffen mit dem Inhalt, dass derBund »als Eigentümer und Verwalter dieser Flächen« der Kl. dieGrundstücke zum einstweiligen Besitz überlässt, um planerischeund grünpflegerische Vorbereitungen für einen öffentlichenUferwanderweg durchzuführen. Auch hieraus lässt sich ableiten,dass die Kl. nicht die erforderliche Verfügungsbefugnis über dieGrundstücke hatte.

Ist wegen der fehlenden Entwidmung durch den verfügungs-befugten Verwaltungsträger und der Nutzung der Grundstücke fürVerwaltungszwecke des Bundes am 3.10.1990 von Verwaltungs-vermögen des Bundes auszugehen, steht einer Zuordnung vonFinanzvermögen schon entgegen, dass Art. 22 EV im Verhältniszu Art. 21 EV als Auffangtatbestand anzusehen ist (vgl. BVerwGE92, 215, 218 = NJ 1993, 279).

Eine entsprechende Anwendung von Art. 21 u. 22 EV, wie es beiVerwaltungs- bzw. Finanzvermögen des MfS/AfNS geschieht,kommt ebenfalls nicht in Betracht, da insoweit keine vergleich-baren Sachverhalte vorliegen. Zwar sollte ehem. Stasi-Vermögenin bestimmten Fällen für Gemeinwohlzwecke nutzbar gemachtwerden (BVerwGE 97, 295, 298 = NJ 1995, 544). Bei Grenzgrund-stücken fand jedoch in der hier maßgeblichen Zeit bis zum3.10.1990 keine neue Nutzung statt, da »zunächst noch eineBeseitigung vorhandener Sperranlagen erfolgen musste«. Auchder Gesetzgeber selbst ist von einer fehlenden »Vergleichbarkeit«ausgegangen, wie das MauergrundstücksG v. 15.7.1996 belegt.Denn diesen Regelungen liegt die Annahme zugrunde, dass dieehem. Mauergrundstücke Verwaltungsvermögen des Bundesgeworden sind (vgl. BT-Drucks. 13/120 S. 5; 13/3734, S. 1, 7).

Kommentar:

Die Achillesferse der Entscheidung sind die Ausführungen desBVerwG zu der Frage, ob der Bund nach dem 3.10.1990 seineVerfügungsbefugnis an den Grundstücken aufgegeben hatte. DasBVerwG geht davon aus, dass der Bund eine »hierauf gerichtetedefinitive Entscheidung« nicht getroffen hat. An anderer Stelleresümiert das BVerwG, dass von einer »fehlenden Entwidmungdurch den verfügungsbefugten Verwaltungsträger« auszugehen ist.

M.E. gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Bundesrepublik sehrwohl Anstalten getroffen hatte, die auf einen Verlust der Zuge-hörigkeit zum Verwaltungsvermögen hindeuten: 1993 sind miteiner Verwaltungsvereinbarung »Besitz, Nutzungen und Lastender Grundstücke« vom Bundesministerium der Verteidigung aufdas Bundesvermögensamt übergegangen. Das BVerwG argumen-

Rechtsprechung

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279Neue Justiz 6/2004

tiert, dass dieser Übergang der Grundstücke »nur bundesintern«erfolgt war. Die Übertragung betreffe ein und denselben Verwal-tungsträger. Diese Auslegung stellt zu sehr auf eine formelleBetrachtungsweise des identischen Rechtsträgers ab.

In der Sache selbst kommt die Übertragung der Grundstückeeiner Funktions- und Besitzaufgabe gleich. Grenzsicherung undVerteidigungsaufgaben begründen gem. Art. 87, 87a und b GG dieZugehörigkeit zum Verwaltungsvermögen. Mit der Besitz- undLastenübertragung gibt die Bundeswehr bzw. der Bundesgrenz-schutz jedoch gerade diese genuine Aufgabe auf. Das Bundes-vermögensamt als Vertreter der Bundesfinanzverwaltung hat injedem Fall mit diesen Pflichten nichts mehr im Sinn! Es soll fürden Bundesfinanzminister vielmehr Geld in die leeren Bundes-kassen »spülen« und versucht deshalb u.a., Liegenschaften desBundes zu verkaufen bzw. zu verpachten. Das verdeutlicht auchdie 1996 geschlossene Nutzungsvereinbarung zwischen der StadtPotsdam und dem Bundesvermögensamt. 1996 hatte der Bunddemnach keinen anderen Verwaltungs- und Verwendungszweckmehr für die Grundstücke, als sie zu veräußern bzw. wirtschaft-lich einem Dritten, meist zum wirtschaftlichen Vorteil des Bun-des, zu überlassen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss deshalbdavon ausgegangen werden, dass der Bund mit einer »definitivenEntscheidung« seine Grundstücke entwidmet hatte.

Der Hinweis des BVerwG, dass in der Nutzungsvereinbarungvon 1996 der Bund als »Eigentümer und Verwalter dieser Flächen«bezeichnet wird, lässt m.E. unberücksichtigt, dass zu diesemZeitpunkt sich die Stadt Potsdam als auch der Bund vor derZuordnungsbehörde darum stritten, wem das Eigentum an denGrundstücken nun zuzuordnen sein würde. Immerhin hat diebekl. Zuordnungsbehörde erst 1997 über den Prätendentstreit derbeiden entschieden. Die Stadt Potsdam wäre gut beraten gewesen,die Nutzungsvereinbarung unter den Vorbehalt einer Entschei-dung der Zuordnungsbehörde zu stellen.

Es gibt übrigens Beispiele, dass die Zuordnungsfrage nach demVZOG auch ohne Streit erfolgen kann: So hatten das Bundesver-mögensamt und eine Kommune sich zur Frage der Zuordnung(einvernehmlich) geeinigt. In einem sich anschließenden Rechts-streit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Berech-tigten nach dem MauergrundstücksG sprang die Kommune demBund sogar als Streithelfer bei (BGH, Urt. v. 4.4.2003, NJ 2003,433)! RD Udo Michael Schmidt, Sächs. Staatsministerium des Innern, Dresden

� 04.2 – 6/04

Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Revisionsinstanz

BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2004 – 6 PKH 15/03

VwGO §§ 60, 67 Abs. 1; ZPO §§ 117, 121

Im sog. Anwaltsprozess gehört die Benennung eines Rechtsan-walts ihrer Wahl (vgl. § 121 Abs. 1 ZPO) ebenso zu den Pflichteneiner PKH beantragenden Partei wie die Erklärung über ihre per-sönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach § 117 Abs. 2ZPO. Die Benennung kann jedoch im Unterschied zu dem ord-nungsgemäßen PKH-Antrag, der innerhalb der Klage- bzw.Rechtsmittelfrist zu stellen ist, noch innerhalb der durch die PKH-Bewilligung ausgelösten Wiedereinsetzungsfrist (§ 60 Abs. 2Satz 1 VwGO) nachgeholt werden.

Anm. d. Redaktion: Mit dieser Entscheidung hat das BVerwG dem Kl. ineiner Kriegsdienstverweigerungssache PKH für seine beabsichtigteBeschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in einem Urteil desVG Potsdam bewilligt.

� 04.3 – 6/04

Verdienstausfallentschädigung auch für länger als zwei Jahrearbeitslos gewesenen Wehrpflichtigen

BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2003 – 6 C 6/03 (OVG Berlin)

UnterhaltssicherungsG (USG) §§ 10, 13

Eine im Kalendermonat vor der Einberufung bereits seit mehr alszwei Jahren anhaltende Arbeitslosigkeit steht der Gewährungeiner Verdienstausfallentschädigung nach §§ 10 Abs. 3, 13 Abs. 3USG nicht entgegen.

� 04.4 – 6/04

Restitutionsausschluss wegen Verwendung der Grundstücke imkomplexen Wohnungsbau und gerichtliche Aufklärungspflicht

BVerwG, Urteil vom 13. November 2003 – 7 C 12/03 (VG Berlin)

EinigungsV Art. 22 Abs. 4; VermG §§ 1 Abs. 6, 5 Abs. 1 Buchst. aund c

1. Die Verwendung eines Grundstücks im komplexen Wohnungs-bau begründet den Rückübertragungsausschluss nach § 5 Abs. 1Buchst. c VermG ohne Rücksicht darauf, ob die mit dem Restitu-tionsantrag angestrebte konkrete Eigentumszuordnung geeig-net wäre, den entstandenen Nutzungsverbund zu wahren.2. Die Veräußerung im komplexen Wohnungsbau verwendeterGrundstücke lässt den Rückübertragungsausschluss nach § 5Abs. 1 Buchst. c VermG nicht entfallen, wenn sie im Rahmen derVorgaben des Art. 22 Abs. 4 Satz 4 u. 5 EV und der Vorschriftendes AltschuldenhilfeG durchgeführt wird.

Anm. d. Redaktion: Zu den besonderen Restitutionsausschlussgründendes § 5 Abs. 1 VermG und den Anforderungen an die Verwendung einesGrundstücks im komplexen Wohnungsbau siehe BVerwGE 100, 70 =NJ 1996, 383; E 100, 77 = NJ 1996, 436; BVerwG, Urteile v. 6.12.1996,NJ 1997, 269; v. 11.4.2002, NJ 2002, 607 (bearb. v. Gruber), undv. 6.6.2002, NJ 2002, 611 (Leits.).

� 04.5 – 6/04

Keine pauschalen Mietobergrenzen in Sanierungsgebieten

OVG Berlin, Urteil vom 30. Januar 2004 – 2 B 18/02 (VG Berlin) (Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt)

BauGB §§ 136 ff., 140, 145, 172 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1, 180;MHG §§ 2, 3, 5; GG Art. 14

1. Kennzeichnendes Merkmal der durch das Land Berlin festge-legten Mietobergrenzen ist ihre Herleitung aus statistischen Mit-telwerten bzgl. der Einkommensverhältnisse, die typisierendeFestlegung einer für einen Durchschnittshaushalt zumutbarenMietbelastungsobergrenze sowie die pauschale Geltung für alleprivaten Sanierungsmaßnahmen im Sanierungsgebiet unabhän-gig davon, ob die jeweiligen Wohnungen vermietet sind oderleer stehen und ohne Rücksicht auf die konkrete Einkommens-situation der einzelnen Bewohner oder der neuen Mieter. 2. In dieser Ausgestaltung finden die festgelegten Mietober-grenzen keine Grundlage in der gesetzlichen Regelung über diestädtebaulichen Sanierungsmaßnahmen; sie sind nach Art undvorgesehener Wirkungsweise unvereinbar mit dem den Vor-schriften in §§ 136 ff. BauGB zugunde liegenden Regelungs-system und den der systematischen Sanierung zugedachtenAufgaben. (Leitsätze der Redaktion)

Anm. d. Redaktion: Siehe dazu die Information in NJ 3/2004, VI.

Verwaltungsrecht

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Neue Justiz 6/2004280

� 04.6 – 6/04

Ausnahmsweise Streitwerterhöhung aufgrund einer Honorar-vereinbarung und Streitwert bei Baueinstellungsverfügungen

OVG Bautzen, Beschluss vom 7. Januar 2004 – 1 E 179/03 (VG Chemnitz)(rechtskräftig)

BRAGO § 3 Abs. 1; GKG §§ 13 Abs. 1, 25

1. Eine im Namen des obsiegenden Beteiligten erhobeneStreitwertbeschwerde, die auf eine Erhöhung des Streitwertsgerichtet ist, ist ausnahmsweise zulässig, wenn zwischen demBeteiligten und ihrem Prozessbevollmächtigten eine Honorarver-einbarung gem. § 3 Abs. 1 BRAGO besteht und der obsiegendeBeteiligte danach aufgrund einer höheren Streitwertfestsetzungbei seinem Prozessgegner einen höheren Betrag liquidieren kann.2. Die Höhe des Streitwerts bei Baueinstellungsverfügungenkann sich an der auf der Grundlage der Baukosten ermitteltenRendite des Bauvorhabens messen.

(mitgeteilt von VorsRiOVG Michael Raden, Bautzen)

� 04.7 – 6/04

Beitrag für Verbesserung der Schmutzwasserbeseitigung

OVG Frankfurt (Oder), Urteil vom 3. Dezember 2003 – 2 A 733/03(VG Frankfurt [Oder]) (rechtskräftig)

AO §§ 38, 169, 170, 171; KAG Bbg. §§ 8 Abs. 2 Satz 1, Abs. 7,12 Abs. 1 Nr. 2b u. 4b

1. Eine beitragsfähige Verbesserungsmaßnahme der zentralenSchmutzwasserbeseitigung setzt grundsätzlich eine qualitativeVeränderung der bestehenden öffentlichen Entsorgungsein-richtung zum Vorteil der daran angeschlossenen Grundstückevoraus. 2. Der Bau einer Kläranlage, die erstmals eine biologischeReinigung des Abwassers ermöglicht, kann – vorbehaltlich derAbgrenzung zum Herstellungsbeitrag – die Erhebung einesVerbesserungsbeitrags rechtfertigen. 3. Der Aufwand für die Erstellung bestimmter technischer Anla-gen einer leitungsgebundenen herstellungsbeitragspflichtigenEinrichtung, die sich qualitativ als vorteilsrelevante Verbesserungder Einrichtung darstellen, kann durch Herstellungs- und Ver-besserungsbeiträge finanziert werden. a) Eine Finanzierung dieses Aufwands durch Erhebung vonBeiträgen für die Herstellung der Einrichtung insgesamt erfolgtvon dem Zeitpunkt an, von dem an die Erstellung der betreffen-den technischen Anlagen zu dem zu realisierenden Gesamt-konzept der Einrichtung gehört. b) Für Grundstücke, für die die Herstellungsbeitragspflicht vordiesem Zeitpunkt entstanden ist, erfolgt die Finanzierung durchVerbesserungsbeiträge. c) Gehört die Errichtung der betreffenden technischen Anlagenschon in dem Zeitpunkt zum Herstellungskonzept der herstel-lungsbeitragspflichtigen Einrichtung, in dem erstmals die sach-liche Beitragspflicht für die Herstellung der Einrichtung entstand,scheidet die Erhebung von Verbesserungsbeiträgen aus. Das giltauch dann, wenn die satzungsgemäß zu erhebenden Herstellungs-beiträge verjährt sind.

� 04.8 – 6/04

Abwägungserhebliche Interessen von Anwohnern bzgl. Lärm-belästigung bei Planfeststellung eines Straßenbauvorhabens

OVG Weimar, Urteil vom 2. Dezember 2003 – 1 N 290/99(Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt)

BauGB §§ 1 Abs. 1, 3, 5 u. 6, 2 Abs. 1, 9 Abs. 1, 214 Abs. 3,215a Abs. 1; BImSchG §§ 41, 42, 43; 16. BImSchV §§ 1 u. 2;FStrG § 17 Abs. 1 u. 3; ThürStrG §§ 3, 38 Abs. 1 u. 4

1. Ist die Verwirklichung eines in einem Bebauungsplan festge-setzten Straßenbauvorhabens adäquat kausal für die Verlagerungdes Verkehrsstroms auf eine andere Straße und eine damit ein-hergehende Erhöhung der Verkehrsbelastung, so sind die davonBetroffenen antragsbefugt iSd § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, auchwenn sich ihre Grundstücke außerhalb des Plangebiets befinden.2. Die Planung einer Straße durch Bebauungsplan erweist sich alsabwägungsfehlerhaft, wenn die Gemeinde das abwägungserheb-liche Interesse von Anwohnern einer außerhalb des Plangebietsliegenden Straße, von einer (weiteren) Zunahme des Straßen-verkehrs und der damit verbundenen erhöhten Lärmbelästigugals Folge einer »Anbindung« an die neu geplante Straße ver-schont zu bleiben, im Planaufstellungsverfahren nicht berück-sichtigt hat, obwohl es sich ihr hätte aufdrängen müssen.

� 04.9 – 6/04

Wählbarkeit zum Amt des ehrenamtlichen Bürgermeisters trotzMfS-Tätigkeit

OVG Weimar, Urteil vom 14. Oktober 2003 – 2 KO 495/03 (VG Weimar)(rechtskräftig)

ThürBG § 8 Abs. 3; Thür. KommunalwahlG §§ 12 Abs. 3, 24 Abs. 3,31 Abs. 2, 32 Abs. 2; ThürVerf. Art. 91 Abs. 1, 96 Abs. 2

1. Die Wählbarkeit zum Amt des ehrenamtlichen Bürgermeistersfehlt solchen Personen, die aufgrund ihrer Tätigkeit für das MfSin der ehem. DDR belastet sind und bei denen die Vermutungihrer persönlichen Ungeeignetheit nicht widerlegbar ist. Diegesetzliche Regelung des § 24 Abs. 3 Satz 2 ThürKWG iVm § 8Abs. 3 ThürBG ist verfassungsgemäß. 2. Die Entscheidung nach § 8 Abs. 3 ThürBG verlangt zum einendie Feststellung einer belastenden Tätigkeit im Sinne dieserBestimmung, aus der grundsätzlich die gesetzliche Vermutungder persönlichen Ungeeignetheit des Betroffenen folgt. Zumanderen ist eine nur beschränkt durch das Gericht überprüfbarePrognoseentscheidung zu treffen, ob trotz der Belastung desBetroffenen sein zukünftiges Verhalten erwarten lässt, dass er dieTreue zur verfassungsgemäßen Ordnung gewährleistet. 3. Bei der Prognoseentscheidung über die Verfassungstreuekommt dem Zeitfaktor eine immer stärker werdende Bedeutungzu. Je länger die Belastung durch die besondere Verstrickung indie Machtstrukturen der DDR zurückliegt, desto mehr sind dieAspekte einer zwischenzeitlichen Bewährung zu gewichten.

Anm. d. Redaktion: Das OVG hat die Bürgermeisterwahl 1999 in derGemeinde Oldisleben bestätigt und ist dem VG im Ergebnis, nicht aberin der Begründung gefolgt. Im vorliegenden Fall dauerte die vom Kl. (seit1995 Bürgermeister) offen gelegte MfS-Tätigkeit von Mai 1984 bis Nov.1989. Siehe zu dieser Problematik auch VerfGH Sachsen, NJ 1997, 303, undim Anschluss daran OVG Bautzen, NJ 1998, 664 (bearb. v. Wolnicki).

� 04.10 – 6/04

Ernennung eines Hochschulprofessors zum Landesbeamten (hier:nach Überschreiten der Altersgrenze)

VG Chemnitz, Urteil vom 9. Dezember 2003 – 6 K 2013/02 (rechtskräftig)

SächsBG § 7a Abs. 1

Allein das Interesse an der Gewinnung sog. wissenschaftlicherSpezialkräfte aus anderen Bundesländern als dem Freistaat

Rechtsprechung Verwaltungsrecht

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281Neue Justiz 6/2004

Sachsen kann eine Ungleichbehandlung mit bereits im FreistaatSachsen beschäftigten Wissenschaftlern im Rahmen einer Ermes-sensentscheidung über die Ernennung zum sächsischen Landes-beamten unter Befreiung von den beamtenrechtlichen Höchst-altersgrenzen nicht rechtfertigen.

Problemstellung:

Der Kl., seit 1988 ordentlicher Professor an einer TechnischenUniversität im heutigen Freistaat Sachsen und 1991 auf derGrundlage eines Änderungsvertrags in den öffentlichen Dienstdes Freistaates übernommen, begehrte unter Aufhebung der ent-gegenstehenden Bescheide des Staatsministeriums für Wissen-schaft und Kunst (SSWK) eine erneute Entscheidung der Behördeüber seinen Antrag v. 24.10.1994 auf Ernennung zum Beamtendes Freistaates Sachsen.

Das SSWK hatte die Ernennung des Kl. im Wesentlichen mit derBegründung abgelehnt, wegen seiner Tätigkeit als Parteigruppen-organisator und als Mitglied des Kreispropagandaaktivs der SEDsowie seines Besuchs der SED-Bezirksparteischule sei gem. § 6Abs. 3 SächsBG zu vermuten, dass sein Verhalten in der DDR alssystemkonform und systemunterstützend zu werten sei. Einesolche Einstellung schließe die Annahme der Eignung für dieErnennung zum Landesbeamten aus.

Der hiergegen erhobenen Klage gab das VG Chemnitz mit Urt.v. 11.3.1997 statt und verpflichtete den bekl. Freistaat Sachsen,SSWK, den Antrag des Kl. auf Verbeamtung unter Beachtung derRechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Zur Begrün-dung wurde u.a. ausgeführt, das SSWK habe die Verwaltungs-vorschrift der Sächs. Staatsregierung zur Prüfung der persönlichenEignung im Beamtenverhältnis (Sächs. ABl. v. 19.1.1995, S. 41) imHinblick auf die Prüfung des Begriffs »herausgehobene Position«in Bezug auf den Kl. falsch angewendet. Die gegen dieses Urteileingelegte Berufung des Bekl. wurde mit Urteil des Sächs. OVG(2 B 110/00) v. 5.7.2000 (rechtskräftig seit 5.9.2000) zurück-gewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt,eine Berufung in das Beamtenverhältnis könne ausnahmsweiseauch noch nach Vollendung des 50. Lebensjahres erfolgen (§ 7aAbs. 1 Satz 2 SächsBG). Das OVG stellte auch fest, dass der Kl.keine herausgehobene Funktion in der SED iSv § 6 Abs. 3 Satz 1SächsBG innegehabt hatte und die Parteifunktion des Kl. auchkeine iSv § 6 Abs. 3 Satz 1 SächsBG nicht ausdrücklich aufgeführteherausgehobene Funktion darstellte.

Nach einem Briefwechsel des SSWK mit dem Staatsmin. derFinanzen (SSF) über die Frage einer (gem. § 48 SächsHOerforderlichen) Einwilligung in die Verbeamtung des Kl. lehntedas erstgenannte Ministerium mit Bescheid v. 18.1.2001 denAntrag des Kl. im Wesentlichen mit der Begründung ab, der Kl.habe die Altersgrenze des § 7a Abs. 1 Satz 3 SächsBG (das vollen-dete 50. Lebensjahr) überschritten. Eine Ausnahme könne nichtgemacht werden, da die notwendige Voraussetzung – ein beson-deres öffentliches Interesse an der Ernennung des Kl. – nichtgegeben sei. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies das SSWKzurück. Zur Begründung ergänzte es insbes., ein öffentlichesInteresse bestehe allenfalls bei der erstmaligen Ernennung einerwissenschaftlichen Spezialkraft, nicht jedoch unter den hiervorliegenden Gegebenheiten.

Die Klage hatte Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Die Kammer erklärte die Klage für begründet, weil das SSWK mitseinem Widerspruchsbescheid den Antrag des Kl. auf Ernennungzum Beamten zu Unrecht und ermessensfehlerhaft abgelehnt hat.Wegen Fehlens der notwendigen Spruchreife war der Bekl. unter

Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zu verpflichten,den Antrag des Kl. unter Beachtung der Rechtsauffassung desGerichts erneut zu bescheiden.

Die Ermessensfehlerhaftigkeit des Widerspruchsbescheidsergibt sich aus einer falschen Anwendung des unbestimmtenRechtsbegriffs des öffentlichen Interesses, welches Voraussetzungeiner Ausnahmeentscheidung gem. § 7a Abs. 1 Satz 2 SächsBG ist.Nach dieser Vorschrift kann ein Hochschulprofessor auch nachdem Überschreiten des 50. Lebensjahres zum Beamten aufLebenszeit ernannt werden, wenn die Oberste Dienstbehörde mitZustimmung des Landespersonalausschusses eine Ausnahmezulässt. Das SSWK will allenfalls bei der erstmaligen Ernennungeiner wissenschaftlichen Spezialkraft ein öffentliches Interesseanerkennen, wobei ein solches Gewinnungsinteresse bei Profes-soren, die bereits Angestellte des Freistaates sind, nach Meinungdes SSWK nicht besteht. Das SSWK sieht also nur dann die Mög-lichkeit einer Ausnahme von der regelmäßigen Altersgrenze füreine Verbeamtung, wenn ein Professor als sog. wissenschaftlicheSpezialkraft aus einem anderen Land als Sachsen übernommenwerden soll. Diese Ermessenserwägungen sind unter mehrerenAspekten ermessensfehlerhaft.

Das SSWK hat die Frage des verfassungsrechtlich abgesichertenFunktionsvorbehalts für Beamte (Art. 33 Abs. 4 GG, Art. 91 Abs. 1SächsVerf.) nicht berücksichtigt. Es hat nicht geprüft, ob dieVerbeamtung des Kl. aufgrund des Funktionsvorbehalts bzw. einerbeabsichtigten Übertragung von hoheitlichen Befugnissen not-wendig ist. Außerdem hat es nicht geprüft, ob eine Übernahmedes Kl. in ein Beamtenverhältnis auf Zeit möglich ist, obwohl § 39Abs. 1 SächsHG diese Möglichkeit vorsieht und das Problem derVersorgungslast in diesem Fall weniger schwer wiegen dürfte.

Die Argumentation des SSWR im Hinblick auf die Gewinnungvon Spezialkräften beruht auf aus dem Zusammenhang gerissenenAusführungen des Komm. zum Sächs. BeamtenG von Woydera/Summer/Zängl. Diese können die Ermessensausübung des SSWKnicht rechtfertigen. Vielmehr verstößt die Bejahung eines öffent-lichen Interesses nur bei einer erstmaligen Einstellung von wissen-schaftlichen Spezialkräften aus anderen Ländern der Bundesrepu-blik als dem Freistaat Sachsen gegen den Vorbehalt des Gesetzes,den Vorrang des Gesetzes und das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3GG, Art. 18 SächsVerf.). Ein Malus zu Lasten bereits im FreistaatSachsen Beschäftigter ist ohne gesetzliche Grundlage nicht zuläs-sig. Bei jeder Ermessensentscheidung über eine Verbeamtung,auch diejenige einer Person nach Überschreiten der regelmäßigenAltersgrenze, müssen die Grundsätze der Gleichbehandlung unddes gleichen Zugangs zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 GG, Art. 91Abs. 2 SächsVerf.) einbezogen werden. Im Übrigen konnte auch inder mündlichen Verhandlung nicht geklärt werden, unter welchenErmessensgesichtspunkten im Freistaat Sachsen überhaupt eineVerbeamtung von Hochschulprofessoren vorgenommen wird.

Für die Ermessensentscheidung des SSWK war von vordring-licher Bedeutung, welche Kostenlast auf den Freistaat Sachsen imFalle der Verbeamtung einer Person nach Überschreiten derAltersgrenze zukommt. Es ist aber fraglich, ob dieser finanzielleGesichtspunkt für die Verneinung eines öffentlichen Interessesdurch das SSWK maßgeblich sein darf, denn gem. § 48 SächsHOist das SSF zur alleinigen und abschließenden Entscheidung überdiese Frage berufen.

Es liegt im öffentlichen Interesse iSv § 7a Abs. 1 Satz 2 SächsBG,die Vorgeschichte der Ablehnung der Verbeamtung des Kl.,nämlich die rechtswidrige Heranziehung nicht zulässiger Ermes-senskriterien und die dadurch verursachte Überschreitung derbeamtenrechtlichen Höchstaltersgrenze, in die Einzelfallent-scheidung mit einzustellen, zumal die Bindung der Verwaltung

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Neue Justiz 6/2004282

an Recht und Gesetz ein verbindlicher Verfassungsgrundsatz ist(Art. 20 Abs. 3 GG).

Einer erneuten Entscheidung des SSWK über die Ernennung desKl. zum Beamten steht eine Versagung der gem. § 48 SächsHOnotwendigen Einwilligung des SSF nicht entgegen, denn einesolche Versagung ist bisher nicht erfolgt.

Kommentar:

Die Entscheidung der Kammer verdient grundsätzlich Zustim-mung, auch wenn sie nur in sehr zurückhaltender Form bemühtist, das Staatsministerium zu einer Ernennung des Kl. zum Beam-ten zu bewegen. Dem Kl. war, um das Geschehen in einem Satzzusammenzufassen, unter unrichtiger Würdigung seines Ver-haltens in der DDR eine Verbeamtung solange verweigert worden,bis er (im Juli 1998) das 50. Lebensjahr vollendet hatte und demMinisterium damit ein neuer Ablehnungsgrund zur Verfügungstand. Diesen handhabte das Ministerium – für den Kl. glück-licherweise – juristisch so ungeschickt, dass es der Kammer leichtfiel, die Bescheide als ermessensfehlerhaft aufzuheben.

Dem Laien wird es nicht einleuchten, dass sich die Behörde zuLasten des Kl. auf einen von ihr selbst rechtswidrigerweise herbei-geführten Umstand berufen können soll. Tatsächlich würde es demRechtsempfinden entsprechen, die Behörde für verpflichtet zuhalten, über den Antrag des Kl. ungeachtet dieses Umstands desÜberschreitens der Altersgrenze von 50 Jahren zu entscheiden, dieBestimmung des § 7a Abs. 1 SächsBG (Altersgrenze für die Berufungin das Beamtenverhältnis) also nicht anzuwenden. Doch steht demdie Bindung der Verwaltung an das (jeweils geltende) Gesetz ent-gegen. Es blieb der Kammer nichts anderes übrig als darzutun, dasseine Verbeamtung ausnahmsweise gem. § 7a Abs. 1 Satz 2 SächsBG(»Ausnahmen kann die oberste Dienstbehörde mit Zustimmungdes Landespersonalausschusses zulassen«) noch möglich ist.

Problematisch erscheint die Gewichtung der Gründe der Ermes-sensfehlerhaftigkeit der Bescheide durch die Kammer. An ersterStelle rügte die Kammer die fehlende Berücksichtigung des sog.Funktionsvorbehalts für Beamte (Art. 33 Abs. 4 GG, Art. 91 Abs. 1SächsVerf.). Damit hat sie einen Gesichtspunkt betont, den dasMinisterium womöglich ohne Schwierigkeiten gegen den Kl.wenden wird. Denn § 39 Abs. 1 des Ges. über die Hochschulen imFreistaat Sachsen v. 11.6.1999 (SächsGVBl. S. 294) stellt für dieBeschäftigung von Hochschulprofessoren den Beamtenstatusgleichwertig neben das Angestelltenverhältnis, und die Ausübungspezifisch hoheitsrechtlicher Befugnisse durch den Kl. erscheintfraglich. Wie die Kammer selbst festgestellt hat, hat der FreistaatSachsen mit der genannten Regelung mit einer in den westlichenBundesländern üblichen Tradition der automatischen Verbeam-tung von Hochschulprofessoren gebrochen.

An zweiter Stelle setzte sich die Kammer mit der Argumentationdes Staatsministeriums in Bezug auf die Gewinnung wissen-schaftlicher Spezialkräfte auseinander. Mit Recht rügte sie, dassdiese Argumentation – die offenbar die Verwaltungspraxis wieder-gibt – als Benachteiligung sächsischer Angehöriger des öffent-lichen Dienstes verfassungs- und gesetzeswidrig ist.

Erst an dritter und letzter Stelle nannte die Kammer den Gesichts-punkt einer Berücksichtigung der Vorgeschichte der Ablehnungbei der Ausfüllung des Begriffs des öffentlichen Interesses (Aus-legung des § 7a Abs. 1 Satz 2 SächsBG). Es müsse, so heißt es indem Urteil, wohl im öffentlichen Interesse liegen, »die Vorge-schichte der Ablehnung der Verbeamtung des Kl., nämlich dierechtswidrige Heranziehung nicht zulässiger Ermessenskriterienund die dadurch verursachte Überschreitung der beamtenrecht-lichen Höchstaltersgrenze, in die Einzelfallentscheidung mit ein-zustellen«. Diesen Gesichtspunkt hätte die Kammer m.E. stärker

hervorheben sollen. Denn die Behörde hatte, wie in den Urteilendes VG Chemnitz v. 11.3.1997 und des Sächs. OVG v. 5.7.2000rechtskräftig festgestellt worden ist, dem Kl. eine Verbeamtung zuUnrecht verwehrt, indem sie ihr Ermessen durch eine falsche Wür-digung der Mitgliedschaft bzw. Tätigkeit in der SED fehlerhaft aus-geübt hatte. Dies hätte sie bei einer erneuten Entscheidung überdieselbe Frage der Verbeamtung des Kl. berücksichtigen müssen.

Weyreuther schrieb in seinem maßgeblichen Gutachten für denDeutschen Juristentag über Folgenbeseitigung und -entschädigung:

»Die Folgenbeseitigungslast wird wirksam als Bindung bei einerspäteren Entscheidung, soweit sie in die Freiheit der zuständigenBehörde gestellt ist. (…) Sie führt dazu, dass die Behörde bei ihrerEntscheidung fehlerfrei nur dann handelt, wenn sie bei derAbwägung zugunsten der Betroffenen die vorangegangenewiderrechtliche Beeinträchtigung angemessen berücksichtigt. Fehltes gegenüber der Folgenbeseitigungslast an durchgreifenden Gegen-gründen, kann die Entscheidungsfreiheit der Behörde zugunsten desBetroffenen aufgehoben, die Behörde also verpflichtet sein, ihreEntscheidung zu seinen Gunsten zu treffen.« (Vgl. Verhandlungendes 47. DJT, 1968, Bd. I, Teil B, S. 134; vgl. auch Richter/Schuppert/Bumke, Casebook Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2000, S. 302 f.)

Die Folgenbeseitigungslast tritt ein, wenn dem Bürger eine Leis-tung zu Unrecht verwehrt worden und sein Leistungsanspruch(etwa durch eine Veränderung der Gesetzeslage) später unter-gegangen ist. In diesem Falle kommt es zu einer Einschränkungdes Ermessensspielraums der Verwaltung bei einer erneutenSachentscheidung. Vorliegend griffe der Grundsatz zugunsten desKl. ein, wenn ihm zur Zeit seines Antrags auf Ernennung zumBeamten im Jahre 1994 ein Anspruch auf Ernennung zugestandenhätte und dieser mit der Überschreitung der Altersgrenze fürBerufungen in das Beamtenverhältnis im Jahre 1998 bzw. mit demIn-Kraft-Treten des Sächs. HochschulG im Jahre 1999 unter-gegangen wäre. Dies wäre dann der Fall, wenn das MinisteriumAnträgen von Hochschullehrern auf Verbeamtung in gleicherSituation regelmäßig stattgegeben hätte, die Verbeamtung des Kl.also nur unter (wie sich herausgestellt hat: unrichtigem) Rückgriffauf § 6 Abs. 3 SächsBG (fehlende Eignung ehem. Mitarbeiter oderAngehöriger der SED in herausgehobener Funktion für die Beru-fung in das Beamtenverhältnis) abgelehnt hätte.

Mit dieser Problematik hat sich das Staatsministerium in sei-nem Bescheid v. 18.1.2001 und seinem Widerspruchsbescheid v.5.11.2002 nicht auseinandergesetzt und insoweit den Inhalt desBegriffs des öffentlichen Interesses als Voraussetzung einerAusnahmeentscheidung gem. § 7a Abs. 1 Satz 2 SächsBG ver-kannt. Bei seiner nunmehr erforderlichen erneuten Entscheidungist dem Staatsministerium Gelegenheit gegeben, das Versäumtenachzuholen. Falls tatsächlich ursprünglich ein Anspruch des Kl.auf Ernennung zum Beamten bestand und – neue – durchgrei-fende Gegengründe nicht eingreifen, führt die im Rechtsstaats-prinzip gründende Folgenbeseitigungslast bei der Entscheidungüber die Zulassung einer Ausnahme von der Altersgrenze gem.§ 7a Abs. 1 Satz 2 SächsBG zu einer Ermessensreduzierung aufNull. Aus diesen Erwägungen folgt auch, dass das SSWK und – beiseiner Entscheidung über die Einwilligung gem. § 48 SächsHO –das SSF bei der Würdigung des Verhältnisses zwischen dervoraussichtlichen Dauer eines Beamtenverhältnisses und der zuerwartenden Versorgungslast dem Kl. nicht den durch das rechts-widrige Verwaltungshandeln eingetretenen Zeitablauf zur Lastlegen dürften. Schließlich müsste auch das SSF bei seiner Ent-scheidung gem. § 48 SächsHO ein sich aus dem Grundsatz derFolgenbeseitigungslast ergebendes überwiegendes öffentlichesInteresse an einer Ernennung des Kl. zum Beamten berücksich-tigen, dürfte seine Entscheidung über eine Einwilligung also nichtallein von fiskalischen Erwägungen leiten lassen.

Dr. Bardo Fassbender, LL.M., Humboldt-Universität zu Berlin

Rechtsprechung Verwaltungsrecht

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283Neue Justiz 6/2004

06 SOZIALRECHT

� 06.1 – 6/04

Kriterien für Kürzung der Entschädigungsrente eines NS-Opferswegen Teilhabe am Systemunrecht des SED-Staates

BSG, Urteil vom 23. Oktober 2003 – B 4 RA 52/02 R (LSG Chemnitz)

EntschRG § 5 Abs. 1

1. Bei der Frage, wann eine Entschädigungsrente nach § 5 Abs. 1EntschRG aberkannt oder gekürzt wird, kommt es stets auf diekonkreten Umstände des Einzelfalls an. Das gilt auch für das Maßder Teilhabe an der Verantwortlichkeit für das Systemunrecht desSED-Staates. 2. Für NS-Opfer, die beruflich im Dienst des SED-Staates standenund gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaat-lichkeit verstoßen haben, ist zwischen fünf, sich aus dem hierar-chischen Gefüge der Machtzuweisungen ergebenden Verant-wortungsebenen zu unterscheiden, bei denen im RegelfallKürzungen und ggf. auch die Aberkennung der Entschädigungs-rente geboten sind. (Leitsätze der Redaktion)

Die Kl. ist die Witwe des H. J. Dieser war seit 1929 Mitglied derKPD und weiterer kommunistischer Organisationen gewesen.1933 wurde er wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 15 JahrenZuchthaus verurteilt. Nach seiner Befreiung aus der Haft wurde erwieder Mitglied der KPD und 1946 der SED. Er arbeitete ab Mai1954 als hauptamtlicher Mitarbeiter im MfS auf Bezirks- undKreisebene jeweils in der Abt. VIII (Beobachtung und Ermittlung).Ende März 1968 schied er aus Gesundheitsgründen aus.

H. J. war 1949 als Verfolgter des Naziregimes (VdN) anerkanntworden. Bis zu seinem Tode 1986 bezog er eine Ehrenpension.Nach seinem Tode wurde der Kl. eine Witwenpension zuerkannt,die sie bis zum 30.4.1992 bezog. Ab 1.5.1992 trat an deren Stelleeine (Witwen-)Entschädigungsrente i.H.v. monatl. 800 DM.

Auf Vorschlag der beigeladenen Kommission erkannte die Bekl.der Kl. im Bescheid v. 2.2.1998 das Recht auf Entschädigungsrentemit sofortiger Wirkung ab, ohne die Kl. selbst vorher noch ein-mal gehört zu haben.

Sie stützte ihre Entscheidung darauf, dass es auf Grund der dienst-lichen Beurteilungen über ihren Ehemann aus den Jahren 1961-1964einschl. der Beförderungs- und Prämierungsvorschläge erwiesensei, dass sich dessen Aufgabenbereich auf weit mehr als die Ermittlungvon Brandstiftern erstreckt habe. Im Zusammenhang mit der»Beobachtungssache Lux« habe er mit seinem Hinweis auf eineGrenzschleuse das DDR-Grenzsicherungssystem gefestigt, welches alssolches bereits gegen die Grundsätze der Menschlichkeit undRechtsstaatlichkeit verstoßen habe. Gleiches gelte für die Festnahmedes »Schmierers von Feindparolen«; durch dessen Verhaftung sei dasRecht eines DDR-Bürgers auf Meinungsfreiheit verletzt worden. Einweiterer Verstoß sei in seiner Tätigkeit für die Durchsuchungsabtei-lung zu sehen; diese sei bei Würdigung der damaligen Umständeregelmäßig darauf gerichtet gewesen, unter Verletzung des Rechts aufSchutz der Wohnung und der Privatsphäre Beweise über Regime-kritiker zu sammeln.

Das SG wies mit Urt. v. 26.9.2000 die Anfechtungsklage ab.Während des Berufungsverfahrens hat die Bekl. die Kl. angehörtund mit Bescheid v. 13.12.2001 das Recht auf Witwenentschädi-gungsrente erneut mit sofortiger Wirkung aberkannt.

Das LSG hat die Berufung der Kl. als unbegründet zurück-gewiesen und deren Anfechtungsklage gegen die zweite Aberken-nung abgewiesen.

Die Revision der Kl. hatte teilweise Erfolg. Das BSG hat das LSG-Urteil im Wesentlichen dahingehend neu gefasst, dass dermonatl. Wert der Entschädigungsrente für Bezugszeiträume ab1.1.2002 um 40 v.H. zu kürzen war.

Aus den Entscheidungsgründen:

1. Unbegründet ist das Revisionsbegehren der Kl., mit dem sie dieAufhebung des Urteils des LSG insoweit beantragt, als dieses ihreBerufung gegen das Urteil des SG v. 26.9.2000 zurückgewiesenhat. Das LSG hat der Berufung zwar im Ergebnis zu Recht nichtstattgegeben, allerdings hätte es die Berufung als unzulässig ver-werfen müssen (§ 158 SGG), nicht aber als unbegründet zurück-weisen dürfen. Denn das Rechtsmittel war während des Beru-fungsverfahrens gegenstandslos und damit unstatthaft geworden.

Gegenstand der erstinstanzlichen Entscheidung war die Aberken-nungsentscheidung im Bescheid der Bekl. v. 2.2.1998 (…). Dieser Ver-waltungsakt (wie im Übrigen auch die Entscheidung, eine Kürzungreiche nicht aus) ist während des Berufungsverfahrens durch eineAufhebungs- und neue Aberkennungsentscheidung im Bescheid v.13.12.2001 ersetzt worden (§ 96 SGG). Damit ist der Verwaltungsakt,der Gegenstand des Klageverfahrens war, vor Eintritt der Rechtskraftder erstinstanzlichen Entscheidung unwirksam geworden (§ 39 Abs. 2SGB X). Hierdurch ist zugleich auch das Urteil des SG, das ausschließ-lich über die isolierte Anfechtungsklage gegen den nunmehr aufgeho-benen Verwaltungsakt entschieden hat, gegenstandslos und somitunwirksam geworden. Das LSG konnte schlechthin nicht mehr über-prüfen, ob das Urteil des SG Bestand haben durfte. Denn eine statthafteBerufung setzt eine wirksame erstinstanzliche Entscheidung voraus.

Die Kl. hätte dieser veränderten prozessualen Lage durch Rück-nahme der Berufung Rechnung tragen und ihr Begehren allein mit derAnfechtungsklage gegen die zweite Aberkennungsentscheidung(sowie die zweite Entscheidung, eine Kürzung reiche nicht aus) imBescheid v. 13.12.2001 verfolgen können. Die unstatthafte Berufung istals unzulässig zu verwerfen (§ 158 SGG).

2. Die Anfechtungsklage gegen die zweite Aberkennungsent-scheidung (Bescheid v. 13.12.2001) ist begründet, soweit die Bekl.das Recht auf Witwenentschädigungsrente mit sofortiger Wir-kung aberkannt hat. …

3. … Der Kl. stand ab 1.5.1992 gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 EntschRGein gegen die beigeladene BfA gerichtetes subjektives Recht aufeine Witwenentschädigungsrente zu. In dieses Recht hat die Bekl.durch das Bundesversicherungsamt (BVA) als ihr Organ einge-griffen und es ersatzlos vernichtet.

a) Einzige Ermächtigungsgrundlage für diesen Eingriff ist § 5Abs. 1 EntschRG. Die Norm ist mit GG und Völkerrecht vereinbar(dazu: Urteile des Senats v. 30.1.1997, BSGE 80, 72, 81 ff. = SozR3-8850 § 5 Nr. 2 = NJ 1997, 609 (Fall Hager); v. 24.3.1998, SozR3-8850 § 5 Nr. 3 [S. 61 ff.] = NJ 1999, 109 (Fall Axen).

Nach § 5 Abs. 1 EntschRG sind Entschädigungsrenten nicht zubewilligen (Regelung 1), zu kürzen (Regelung 2) oder abzuerken-nen (Regelung 3), wenn der Berechtigte oder derjenige, von demsich die Berechtigung ableitet, gegen die Grundsätze der Mensch-lichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen (Unwürdigkeitstat-bestand bzw -klausel) oder in schwerwiegendem Maße seine Stel-lung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbrauchthat (Missbrauchstatbestand). …

Im vorliegenden Fall hat die Bekl. nur Entscheidungen iSdRegelungen 2 u. 3 getroffen und sich dabei allein auf den Unwür-digkeitstatbestand gestützt.

b) Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung sind zwei imBescheid v. 13.12.2001 enthaltene Verwaltungsakte, nämlichdie Aberkennungsentscheidung und die Entscheidung, eine– »bloße« – Kürzung des Rentenwertes reiche nicht aus.

§ 5 Abs. 1 EntschRG ermächtigt die Bekl., die Gegenrechtedurch Verwaltungsakt durchzusetzen. Im Bescheid v. 13.12.2001hat die Bekl. keine Entscheidung iSd Regelung 1, sondern derRegelungen 2 u. 3 getroffen.

Zum einen hat sie der Kl. das Recht auf Witwenentschädigungs-rente aberkannt. Zum anderen hat sie auch darüber befunden, dasseine Kürzung des Wertes dieses Rechts nicht ausreiche, also der Schwereder angenommenen Verstöße nicht gerecht werde … Die Kommission

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hatte geprüft, ob ein »Totalentzug« oder nur ein »teilweiser Entzug« dieangemessene Rechtsfolge in Anbetracht der festgestellten Verstöße sei;nach entsprechender Abwägung hat sie den »Totalentzug« vorge-schlagen. Indem sich die Bekl. die Erwägungen der Kommission aus-drücklich zu Eigen gemacht hat, hat sie damit auch eine Entscheidungüber eine mögliche Kürzung getroffen, und zwar in dem Sinne, dasssie – wie die Kommission – diese nicht für ausreichend angesehen hat.

Der Bescheid v. 13.12.2001 enthält damit zwei Verwaltungsakte(§ 31 SGB X).

c) Die beiden Verwaltungsakte im Bescheid der Bekl. v.13.12.2001 sind verfahrensfehlerfrei ergangen. …

d) Gegenstand der sachlichen Überprüfung durch das Gerichtsind allein die im Bescheid der Bekl. genannten Eingriffsgründe. …

e) Nur einer der im Bescheid v. 13.12.2001 genannten Lebens-sachverhalte ist geeignet, einen – allerdings nur wertkürzenden(dazu unter f.) – Eingriff in das subjektive Recht der Kl. auf Wit-wenentschädigungsrente zu rechtfertigen.

Die Bekl. hat die von ihr geltend gemachten Eingriffstat-bestände zum einen durch einen zeitlichen Rahmen begrenzt;sie stützt sich nur auf dienstliche Beurteilungen über den Ehe-mann der Kl. einschließlich der Beförderungs- und Prämierungs-vorschläge aus der Zeit von 1961 bis 1964. Zum anderen hat sieeine weitere Einschränkung dadurch vorgenommen, dass sie sichauf folgende vier Sachverhalte gestützt hat (wird ausgeführt unddargelegt, dass drei Sachverhalte den Eingriffstatbestand iSd § 5 Abs. 1EntschRG nicht erfüllen)

dd) Zu Recht hat die Bekl. hingegen die Mitwirkung des Ehe-mannes der Kl. in der »Beobachtungssache Lux« als hinreichen-den Grund angesehen, in das Recht der Kl. auf Witwenentschä-digungsrente einzugreifen.

Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163SGG) … hatte der Ehemann der Kl. im Rahmen seiner dienstlichenTätigkeit im Jahre 1962 »wertvolle Verbindungen« festgestellt undeinen Hinweis auf eine Grenzschleuse in B. gegeben. Bereits dieserTatbeitrag begründete einen Verstoß iSd § 5 Abs. 1 EntschRG. Es ist nichtnotwendig, dass der Betreffende den Grundsatzverstoß eigenhändigbewirkt. Es reicht aus, wenn er einen derartigen konkret festgestelltenVerstoß anderer durch Rat und Tat oder durch sonstige Handlungenim Rahmen der ihm eingeräumten Gewalt oder seiner Dienststellunggefördert hat (Senatsurt. v. 30.1.1997, BSGE 80, 72, 86 f.). …

Mit seiner Tat hat er zur Stabilisierung des Grenzregimes und damiteines Systems beigetragen, das bereits als solches eine schwere Ver-letzung der Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeitdarstellte (hierzu im Einzelnen: BSGE 80, 72, 89 ff.; BSG, Urt. v.24.3.1998, SozR 3-8850 § 5 Nr. 3 [S. 53 ff.]). Der durch sein Handelnbewirkte Verletzungserfolg ist demzufolge darin zu sehen, dass diesesmenschenverachtende und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeitverhöhnende »Grenzsicherungssystem« im Sinne einer Undurchläs-sigkeit und Unüberwindlichkeit fortbestehen konnte. …

f) Der von der Bekl. im Bescheid v. 13.12.2001 angegebeneEingriffstatbestand bzgl. der »Beobachtungssache Lux« rechtfertigtnicht die Aberkennung des der Kl. zuerkannten Rechts auf Entschä-digungsrente, wohl aber die Kürzung seines Wertes um 40 v.H.

§ 5 Abs. 1 EntschRG benennt keine exakten Maßstäbe, an denensich messen lässt, wann eine dem Entschädigungsberechtigten bzw.der Person, von der sich die Berechtigung ableitet, objektiv und sub-jektiv zuzurechnende Verletzungshandlung zur Aberkennung desRechts oder zur Kürzung seines Wertes – und dann ggf. in welchemUmfang – ermächtigt. Einziger Anknüpfungspunkt ist der ethischeSchuldvorwurf, auf dem das Konzept der Gegenrechte beruht,und zwar hier im Sinne einer Unwürdigkeitsklausel. Ausschlag-gebend für die individuelle Würdigung sind damit drei Aspekte: – Schwere und Intensität der eingetretenen Rechtsbeeinträchtigung,

– der Unwert der Verletzungshandlung und des individuellen Beitragshierzu, den der Entschädigungsberechtigte bzw. die Person, von dersich die Berechtigung ableitet, geleistet hat, und

– der Grad der individuellen Vorwerfbarkeit.

Es kommt stets auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an.Abzuwägen sind die Häufigkeit der festgestellten Verstöße, dieBedeutung der verletzten Rechte, Art und Ausführung des Versto-ßes, Ausmaß und Schwere der eingetretenen Schäden und diepersönlichen Umstände.

Bei Prüfung und Würdigung der Vorwerfbarkeit ist jedoch auchdas objektive Maß an Verantwortlichkeit und Gestaltungsmög-lichkeiten im staatlichen System zu beachten, das den Rahmender individuellen Vorwerfbarkeit bildet; denn in erster Liniehandelt es sich hier um systembedingtes Unrecht. Wer im »SED-System« größeren Einfluss hatte, hat im Regelfall auch höhereVerantwortung für die begangenen Verstöße gegen Grundsätzeder Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit zu übernehmen.

Anhaltspunkte für die Abstufung von Ebenen objektiver Ver-antwortlichkeit ergeben sich aus dem hierarchischen Gefüge derMachtzuweisungen. Daher ist die Stellung des Verletzers imMachtapparat mit einzubeziehen, also die Verantwortungsebene,auf der er tätig war. Denn je größer die Verantwortung und damitdie Machtbefugnisse des Einzelnen waren, umso schwerer wiegtim Regelfall sein Tatbeitrag. Dabei rechtfertigt ein Verstoß iSd § 5Abs. 1 EntschRG, den ein Mitglied der leitenden Ebene des »SED-Systems« begangen hat, i.d.R. die Aberkennung, während unter-halb dieser Ebene bei den niederen, mittleren, gehobenen undhöheren Ebenen zumeist eine – abgestuft anteilige – Kürzungangemessen sein wird. Stets muss (bei Aberkennung oder Kür-zung) feststehen, dass aus besonderen Gründen des Einzelfallskein geringerer oder stärkerer Eingriff in das Recht geboten ist.Dies ist nur der Fall, wenn die besonderen Umstände so schwerwiegen, dass sie eine Ausnahme, d.h. ein Abweichen von der imRegelfall vorzunehmenden Würdigung, rechtfertigen.

Für Verletzer, die beruflich im Dienst des Staates (DDR) standen(Staatsrat, Regierung, Volkskammer, Verwaltung, Gerichte, sog.bewaffnete Organe etc.), ist nach Ausbildung und Aufgabenkreiszwischen fünf Verantwortungsebenen zu unterscheiden, beidenen im Regelfall folgende Kürzungen und ggf. auch die Aber-kennung geboten sind: – 1. Ebene: einfacher Dienst, Kürzung um 20 v.H.

– 2. Ebene: mittlerer Dienst, Kürzung um 40 v.H.

– 3. Ebene: gehobener Dienst,Kürzung um 60 v.H.

– 4. Ebene: höherer Dienst, Kürzung um 80 v.H.

– 5. Ebene: Leitende Funktionen im Ministerialdienst und höher,Kürzung um 100 v.H.;

damit sind zugleich auch die Voraussetzungen für eine Aberken-nung gegeben.

Bei einer Beschäftigung oder Tätigkeit des Verletzers in Parteien,staatlichen Einrichtungen oder gesellschaftlichen Organisatio-nen ist entsprechend auf dieses Verantwortungsgefüge abzustel-len. Bei den sog. bewaffneten Organen der DDR ist, soweit dortwie beim MfS militärische Dienstgrade verwandt wurden, zwi-schen Mannschaftsdienstgraden (1. Ebene), Unteroffiziersgraden(2. Ebene), Offiziersgraden (3. Ebene), Stabsoffizieren (4. Ebene)und der Generalität sowie übergeordneten Stellen (5. Ebene) zuunterscheiden und im Regelfall die o.a. angegebene Kürzung ent-sprechend vorzunehmen.

Innerhalb einer Verantwortungsebene erfolgen keine weiterenUnterteilungen und keine entsprechenden zusätzlichen abgestuf-ten Kürzungen. Denn die Ebenen spiegeln jeweils vergleichbareVerantwortlichkeiten wider, sodass Nuancen außer Betracht blei-ben können. Die Verwendung eines solchen der groben Orientie-rung dienenden Rasters sichert eine Gleichbehandlung der Betrof-fenen. Da letztlich jedoch der individuelle ethische Schuldvorwurfdas Ausmaß des Eingriffs begründen und begrenzen muss, sindimmer zusätzlich die Besonderheiten des Einzelfalls zu beachten.

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Demzufolge erlaubt ein geringer Tatbeitrag mit entsprechendgeringem ethischen Schuldvorwurf eine Kürzung auf niedrigererEbene, ggf. sogar den Ausschluss einer Kürzung, dagegen einschwerwiegender Beitrag mit entsprechend schwerem Schuldvor-wurf die Kürzung auf einer höheren Ebene, ggf. sogar die Aber-kennung des Rechts (z.B. bei exzessiven Verletzungshandlungen).Um festzustellen, ob ein von der jeweiligen Verantwortungsebeneeindeutig abweichender Verstoß vorliegt, muss in jedem Fallgeprüft werden, ob ein Unrechtsexzess geschah, ob also dasNS-Opfer die »Norm« seiner »normalen« Unrechtsaufgaben»übererfüllt« hat, oder ob ein minder schwerer Verstoß gegebenist, weil er konkret zur Minderung des Unrechts beigetragen hat,z.B. durch einen Rücktritt von Unrechtshandlungen, durch täti-ge Reue, durch aktive Schadensbegrenzung oder Schadensmin-derung. Dabei trägt der Entschädigungsberechtigte die Darle-gungs- und objektive Beweislast für ihm günstige Umstände, dieBekl. trägt sie für Umstände, die eine belastende Abweichung vonder Regelkürzung rechtfertigen sollen.

Für die Bereiche zwischen den durch die Verantwortungsebe-nen vorgegebenen Kürzungsstufen sind keine weiteren prozen-tualen Kürzungen festzusetzen. Eine solche »Verfeinerung« ließesich in rational nachvollziehbarer Weise kaum begründen. Lässtsich ein konkreter Tatbeitrag nicht unter den Regelfall der an sichzu berücksichtigenden Verantwortungsebene subsumieren, ist aufdie Kürzungsquote der entsprechenden höheren oder niedrigerenVerantwortungsebene zurückzugreifen, die dem ethischen Schuld-vorwurf gerecht wird.

aa) Die dem Ehemann der Kl. zuzurechnende Verletzungs-handlung gebietet keine Aberkennung ihres Rechts auf Witwen-entschädigungsrente. …

Der Ehemann der Kl. hatte im Jahre 1962 die im Prämierungs-vorschlag v. 7.12.1962 genannte Verletzungshandlung (Tätigkeit inder »Beobachtungssache Lux«) im Rang eines Leutnants verübt. Er istdamit der 3. Ebene iSd o.a.Verantwortlichkeitsstufen zuzuordnen. ImRegelfall, also in dem Fall, dass schwerwiegende Gründe nicht die Kür-zung entsprechend einer höheren oder niedrigeren Verantwortungs-ebene rechtfertigen, wäre danach eine Kürzung des Rentenwertes um60 v.H. geboten. Die von der Bekl. verfügte Aberkennung als derschwerste Rechtseingriff, zu dem § 5 Abs. 1 EntschRG ermächtigt,erfordert demzufolge die Feststellung eines besonders gravierendenTatbeitrages, der einen besonders schweren ethischen Schuldvorwurfbegründet; denn nur dann wäre ein stärkerer Rechtseingriff im Ver-gleich zu demjenigen gerechtfertigt, der ohnehin mit der hier an sichzu beachtenden Kürzung auf der 3. Ebene verbunden ist. Die vomEhemann der Kl. begangene Verletzungshandlung und der sich daraufstützende ethische Schuldvorwurf sind aber eher einem unterenBereich zuzuordnen … . Damit übersteigt ihr Unrechtsgehalt jeden-falls nicht den des Regelfalls und rechtfertigt nicht die von der Bekl.ausgesprochene Aberkennung.

bb) Die Entscheidung der Bekl., eine Kürzung reiche nicht aus,ist für Bezugszeiten vor dem 1.1.2002 in vollem Umfang und fürnachfolgende Bezugszeiten mit der Maßgabe aufzuheben, dassder Wert des Rechts ab 1.1.2002 um 40 v.H. zu kürzen ist. …

Der Verstoß des Ehemannes der Kl. gegen Grundsätze derMenschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit war nicht so schwer-wiegend, dass er eine dem Regelfall der 3. Verantwortungsebeneentsprechende Kürzung um 60 v.H. rechtfertigen könnte.

Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163SGG) hat der Ehemann der Kl. mit der Feststellung »wertvoller Ver-bindungen« und einem Hinweis zur Schließung einer Grenzschleusebeigetragen. Damit steht allein fest, dass er einen für den Eintritt desVerletzungserfolgs (Stabilisierung eines perfiden »Grenzsicherungs-systems«) mitursächlichen Beitrag geleistet hat. Nicht bekannt ist dage-gen die Art der festgestellten »wertvollen Verbindungen« und desHinweises, ferner nicht, ob diese eine überragende oder untergeord-nete, wenn auch die Mitursächlichkeit nicht beseitigende Bedeutungfür den »operativen Erfolg« hatten, auf welche Weise der Ehemannseine Erkenntnisse erlangt hat und ob in diesem Zusammenhangweitere Rechtsverletzungen erfolgt sind. Des Weiteren konnten die

näheren Umstände der Schließung der Grenzschleuse durch die»Einsatzgruppe« nicht mehr aufgeklärt werden, insbes. auch nicht, obes in diesem Zusammenhang zu weiteren Rechtsbeeinträchtigungen(z.B. Körperverletzungen, Festnahmen und/oder Verurteilungen)gekommen ist. In Anbetracht der lückenhaften Feststellungen ist demTatbeitrag des Ehemannes eher eine untergeordnete Rolle im Rahmender »Aktion« beizumessen.

Bei der vorzunehmenden Würdigung fällt erschwerend insGewicht, dass die Verletzungshandlung des Ehemannes zurStabilisierung eines menschenverachtenden Grenzsystems beige-tragen hat. Andererseits ist der Tatbeitrag, so wie er festgestellt wor-den ist, nach Schwere und Intensität eher dem unteren Bereich imVerantwortungsgefüge zuzuordnen. Der Senat hält deshalb eineKürzung auf der 3. Ebene, also i.H.v. 60 v.H., nicht für angemessen.Vielmehr wird eine Kürzung auf der 2. Ebene i.H.v. 40 v.H. demUnrechtsgehalt der begangenen Verletzungshandlung gerecht.

Anmerkung:

Rechtsanwalt Dr. Willi Vock, Dresden

Die Entscheidung des BSG nimmt sowohl zu formellen als auchzu materiellen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Anwen-dung des EntschRG Stellung.

In formeller Hinsicht stellt es klar, dass ein angefochtener undnoch nicht rechtskräftiger Verwaltungsakt, der von der Behördein der Berufungsinstanz aufgehoben wird, damit gegenstandsloswird und sich folglich die Berufung nicht mehr gegen diesen Ver-waltungsakt richten kann. Wenn die Behörde den aufgehobenenBescheid durch einen neuen Bescheid ersetzt, so wird dieser zwarGegenstand des Verfahrens (§ 96 SGG), jedoch nur insoweit, alsdass dieser ggf. mit einer Klage anzufechten wäre. Die Berufunggegen das erstinstanzliche Urteil, das den unterdessen aufgeho-benen Verwaltungsakt zum Gegenstand hatte, ist demgegenübergegenstandslos und unstatthaft. Daher hat das BSG die Berufungauch als unzulässig verworfen (§ 158 SGG).

In materieller Hinsicht unterstrich das BSG, dass eine Aberken-nung oder Kürzung der Witwenentschädigungsrente als Eingriffin die Rechte nur dann gerechtfertigt ist, wenn eine konkreteRechtsverletzung vorliegt, mit der gegen die Grundsätze derMenschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen worden ist.Diese lag in einem einzigen Fall vor (»Beobachtungssache Lux«).Hier gab es entsprechende Hinweise in Form von Beurteilungen,wonach der Ehegatte subjektiv zurechenbar Hinweise auf eineGrenzschleuse gab und damit zur Sicherung des »Grenzsiche-rungssystems« beitrug.

Wegen des Fehlens exakter Maßstäbe in § 5 Abs. 1 EntschRGdarüber, wann eine objektiv und subjektiv zuzurechnende Ver-letzungshandlung zur Aberkennung des Rechts oder zur Kürzungseines Wertes ermächtigt, hat das BSG in anzuerkennender Artund Weise eine entsprechende Regelung versucht abzuleiten.

Ausgangspunkt ist dabei der ethische Schuldvorwurf, den dasBSG insbes. an der Schwere und Intensität der eingetretenenRechtsverletzung, an dem Unwert der Verletzungshandlung unddem Grad der individuellen Vorwerfbarkeit symbolisiert. Dabeibezog das BSG fünf Verantwortungsbereiche im System der DDRein und wog ethischen Schuldvorwurf und jeweiligen Verant-wortungsbereich ab. Dieses Zusammenspielen zwischen objekti-vem Maß an Verantwortungsmöglichkeiten in der jeweiligenEbene und subjektiver Schuld rechtfertigen letztlich den Schluss,dass Aberkennung des Rechts bzw. Kürzungen des Wertes niemalsstatisch, sondern immer auf den Einzelfall bezogen durchgeführtwerden können.

Auch insoweit ist das vorliegende Urteil eine gerechte Ent-scheidung.

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� 06.2 – 6/04

Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente bei Übersiedlung desUnterhaltspflichtigen in die alten Bundesländer vor Beitritt

BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003 – B 5 RJ 50/02 (LSG Erfurt)

SGB VI §§ 243, 243a

Seit In-Kraft-Treten des IPR-NeuregelungsG v. 25.7.1986 am1.9.1986 ist bei in der DDR geschiedenen deutschen Ehegattenfür einen Unterhaltsanspruch als Voraussetzung einer Geschie-denenwitwenrente bundesdeutsches und nicht das Recht, das imBeitrittsgebiet gegolten hat, maßgebend, wenn der unterhalts-pflichtige geschiedene Ehegatte vor dem 3.10.1990 in dieBundesrepublik übergesiedelt ist und der letzte wirtschaftlicheDauerzustand nach dem 31.8.1986 liegt (Anschluss an und Fort-führung von BGHZ 124, 57 = NJ 1994, 171).

Die 1946 geschlossene Ehe der Kl. mit dem Versicherten wurde1968 in der DDR rechtskräftig geschieden. Der Versicherte verzogkurz danach in die alten Bundesländer, wo er 1987 verstarb.

Die Kl. begehrt aus der Versicherung ihres früheren EhemannesGeschiedenenwitwenrente. 1999 beantragte sie die Überprüfungfrüher ablehnender Bescheide, mit denen die Bekl. einen Anspruchverneint hatte. Ihr Antrag blieb im Klage- und Berufungsverfah-ren ohne Erfolg.

Das LSG hat ausgeführt, die Rspr. des BGH (BGHZ 124, 57), wonachabweichend vom Personalstatut für den nachehelichen Unterhalt beiin der DDR geschiedenen deutschen Ehegatten seit In-Kraft-Treten desIPR-NeuregelungsG v. 25.7.1986 (BGBl. I S. 1142) zum 1.9.1986 dasim Bundesgebiet geltende Recht maßgeblich sei, wenn der unterhalts-pflichtige Ehegatte vor dem 3.10.1990 aus der DDR in die Bundesrepu-blik übergesiedelt sei, habe keine rentenrechtlichen Konsequenzen fürdie Geschiedenenwitwenrente. Der BGH habe nur über Unterhalts-ansprüche nach §§ 1569 ff. BGB entschieden; die erst 1977 mit denBestimmungen über den Versorgungsausgleich im Rentenrecht ein-geführt worden seien. §§ 243, 243a SGB VI bezögen sich aber auf daszuvor geltende Unterhaltsrecht nach den Bestimmungen des EheG.Die Rspr. des BGH könne daher nicht dazu führen, nachträglich fürdie Zeit vom Sept. 1986 bis Okt. 1990 einen Unterhaltsanspruch iSd§ 243 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI festzustellen.

Die Revision der Kl. hatte im Sinne der Zurückverweisung desRechtsstreits Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die zulässige Revision der Kl. ist begründet. …1. Nach § 243 Abs. 1 SGB VI in der hier maßgeblichen, bis

31.12.2000 gültigen, weitgehend unveränderten Fassung des Renten-reformG v. 18.12.1989 (BGBl. I S. 2261) besteht, wenn der Versichertedie allgemeine Wartezeit erfüllt hat und nach dem 30.4.1942 verstor-ben ist, Anspruch auf kleine Witwenrente auch für geschiedeneEhegatten, deren Ehe vor dem 1.7.1977 geschieden ist, die nichtwieder geheiratet haben und die im letzten Jahr vor dem Tod desgeschiedenen Ehegatten (Versicherter) Unterhalt von diesem erhaltenhaben oder im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dessen Todeinen Anspruch hierauf hatten.

Nach § 243 Abs. 2 SGB VI besteht Anspruch auf große Witwen- oderWitwerrente auch für geschiedene Ehegatten, bei denen die in Abs. 1genannten Voraussetzungen gegeben sind und die entweder ein eige-nes Kind oder ein Kind des Versicherten erziehen oder das 45. Lebens-jahr vollendet haben oder berufsunfähig oder erwerbsunfähig sind(§ 243 Abs. 2 Nr. 4 SGB VI). Auch ohne Vorliegen der genanntenUnterhaltsvoraussetzungen besteht nach § 243 Abs. 3 SGB VIAnspruch auf große Witwen- oder Witwerrente für geschiedene Ehe-gatten, die im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tod desVersicherten einen Unterhaltsanspruch wegen eines Arbeitsentgeltsoder Arbeitseinkommens aus eigener Beschäftigung oder selbststän-diger Tätigkeit oder entsprechender Ersatzleistungen oder wegen desGesamteinkommens des Versicherten nicht hatten und im Zeitpunktder Scheidung entweder ein eigenes Kind oder ein Kind des Versi-cherten erzogen haben oder das 45. Lebensjahr vollendet hatten,wenn sie entweder ein eigenes Kind oder ein Kind des Versichertenerziehen oder berufs- oder erwerbsunfähig sind oder das 60. Lebens-

jahr vollendet haben, und wenn auch vor Anwendung der Vorschrif-ten über die Einkommensanrechnung auf Renten wegen Todes einAnspruch auf Hinterbliebenenrente für eine Witwe oder einen Wit-wer des Versicherten aus dessen Rentenanwartschaften nicht besteht.

Ob die Voraussetzungen für einen dieser Anspruchstatbeständebei der Kl. vorliegen, hat das LSG nicht geprüft, sondern sich wieschon die Bekl. und das SG für die Ablehnung eines Anspruchs derKl. auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früherenEhemannes auf § 243a SGB VI berufen, wonach die Anwendungvon § 243 SGB VI ausgeschlossen ist, wenn sich der Unterhalts-anspruch nach dem Recht richtet, das im Beitrittsgebiet gegoltenhat. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Denn die Ausschluss-regelung des § 243a SGB VI greift im vorliegenden Fall nicht ein.

Bei allen Fallgestaltungen des § 243 SGB VI kommt es nebenden jeweiligen sonstigen Voraussetzungen für den Rentenan-spruch des früheren Ehegatten darauf an, dass dieser im letztenwirtschaftlichen Dauerzustand zumindest einen Unterhaltsan-spruch gegenüber dem Versicherten hatte, wobei es für den Ren-tenanspruch nach § 243 Abs. 3 SGB VI insoweit ausreicht, dass derUnterhaltsanspruch dem Grunde nach zustand, der Versicherteaber mangels Bedürftigkeit des anderen Ehegatten oder mangelseigener Leistungsfähigkeit nicht verpflichtet war, Unterhalt zuzahlen. Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tod desVersicherten kennzeichnet die Verhältnisse, die ohne den Tod desVersicherten und ohne die damit zusammenhängenden Ereig-nisse wahrscheinlich fortbestanden hätten.

Die Antwort auf die Frage nach dem für einen Unterhalts-anspruch der Kl. in diesem Zeitraum geltenden Recht ergibt sichaber nicht schon daraus, dass deren Ehe mit dem Versichertennach dem Recht der DDR geschieden worden ist. Da der Versi-cherte nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutsch-land bundesdeutschem Recht unterlag, ist das für die Scheidungs-folgen und damit auch für den nachehelichen Unterhaltmaßgebliche Recht vielmehr … anhand des einschlägigen inner-deutschen Kollisionsrechts zu klären, das für das deutsch-deut-sche Verhältnis in Anlehnung an das internationale Privatrechtentwickelt worden ist (st.Rspr. vgl. … Senatsurt. v. 11.6.2003 – B 5RJ 22/02 R, NJ 2004, 192 unter Verfahrensfortgang). Wie nach-folgend unter 2. im Einzelnen dargelegt, beurteilt sich danachentgegen der Auffassung des LSG der Unterhaltsanspruch der Kl.für den maßgeblichen Zeitraum vor dem Tod ihres früheren Ehe-mannes im Febr. 1987 jedoch nicht nach dem damaligen Rechtder DDR, sondern nach dem damaligen bundesdeutschen Recht.

2. Seit der Reform des deutschen internationalen Privatrechtsdurch das IPR-NeuregelungsG unterliegen im Bereich des inter-nationalen Rechtsverkehrs gem. Art 220 Abs. 2 EGBGB die Wir-kungen familienrechtlicher Rechtsverhältnisse ab 1.9.1986 denVorschriften des Zweiten Kapitels des Ersten Teils des EGBGB, d.h.den Art. 3 bis 38 EGBGB. Zu den Wirkungen familienrechtlicherVerhältnisse zählen auch Bestehen und Ausmaß einer Unterhalts-pflicht gem. Art. 18 EGBGB hinsichtlich der nach diesem Zeit-punkt fällig gewordenen Ansprüche; insoweit kommt es nichtdarauf an, dass die Ehe – wie hier – schon lange vor dem 1.9.1986geschieden worden ist (BGH, NJW 1991, 2212, 2213 mwN; Palandt-Heldrich, BGB, 62. Aufl., 2003, Art. 220 EGBGB Rn 7 mwN).

Art. 18 EGBGB enthält für die Bestimmung des Unterhalts-statuts eine abgestufte Regelung, die das Ziel hat, eine dem Unter-haltsberechtigten günstige Rechtsordnung zu berufen (vgl. Palandt-Heldrich, aaO, Art. 18 EGBGB Rn 7). Dieser Gesichtspunkt istdaher auch bei ihrer entsprechenden Anwendung im innerdeut-schen Kollisionsrecht zu berücksichtigen. Nach Art. 18 Abs. 4EGBGB ist für die Unterhaltspflichten zwischen den geschiedenenEhegatten, wenn die Ehescheidung im Bundesgebiet ausgespro-

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chen worden ist, zeitlich unbeschränkt das für die Scheidungangewandte Recht maßgebend. Ferner ist nach Art. 18 Abs. 5 EGBGBdeutsches Recht anzuwenden, wenn sowohl der Berechtigte alsauch der Verpflichtete Deutsche sind und der Verpflichtete seinengewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Diese Regelung ist nachder Rspr. des BGH (BGHZ 124, 57 = NJ 1994, 171; Urt. v. 8.12.1993,FamRZ 1994, 824, und v. 2.2.1994, FamRZ 1994, 562 = NJ 1994, 270,bestätigt durch Urt. v. 21.9.1994, FamRZ 1994, 1582 = NJ 1995,86) im innerdeutschen Kollisionsrecht analog anzuwenden. …

An dieser analogen Anwendung des Art. 18 Abs. 5 EGBGB ist– im Anschluss an die zitierte Rspr. des BGH – festzuhalten (…).Es ist nicht ersichtlich, inwiefern diese Rechtswirkung des IPR-NeuregelungsG für das Vorliegen eines Unterhaltsanspruchs alsVoraussetzung eines Rentenanspruchs nach § 243 SGB VI keineBedeutung haben sollte.

a) Zwar ist von der höchstrichterlichen Rspr. unter dem vor In-Kraft-Treten des IPR-NeuregelungsG geltenden Kollisionsrecht imdeutsch-deutschen Verhältnis der Unterhaltsanspruch nach demRecht desjenigen der beiden deutschen Staaten beurteilt worden,in dem die Eheleute ihren letzten gemeinsamen Wohnsitzwährend der Ehe hatten, solange einer der Ehegatten den Wohn-sitz in diesem Gebiet beibehielt, und ein Wandel des Schei-dungsfolgenstatuts ist erst für den Fall angenommen worden,dass auch der andere Ehegatte in die Bundesrepublik Deutschlandübersiedelte (vgl. BGHZ 91, 186; BSGE 69, 203 = SozR 3-2200§ 1265 Nr. 6, S. 23 mwN, u. Senatsurt. v. 11.6.2003 – B 5 RJ 22/02R, aaO, mwN [zum Anspruch nach § 243 SGB VI auf Geschie-denenwitwenrente für die frühere Ehefrau eines 1968 bzw 1977in der DDR verstorbenen Versicherten, die nach der in der DDRerfolgten Scheidung ihren Wohnsitz in der BundesrepublikDeutschland hatte]). Doch hätte diese Auffassung unter derGeltung des IPR-NeuregelungsG zur Folge, dass die Anwendungdes bundesdeutschen nachehelichen Unterhaltsrechts strenge-ren Anforderungen unterworfen wäre als dies nach § 18 Abs. 5EGBGB im Verhältnis zum Ausland der Fall ist (so bereits BGHZ124, 57, 62).

Bedenkt man, dass die Regelungen des internationalen Privat-rechts im deutsch-deutschen Verhältnis nur deswegen nicht unmit-telbar anwendbar waren, weil die DDR aus bundesdeutscher Sichtkein Ausland und die dort geschaffene Staatsangehörigkeit kolli-sionsrechtlich nicht wie eine ausländische Staatsangehörigkeit zubehandeln war (vgl. BGHZ 85, 16, 22 mwN), wäre ein solchesErgebnis nicht zu rechtfertigen. Vielmehr muss davon ausgegan-gen werden, dass sich mit In-Kraft-Treten des IPR auch im inner-deutschen Kollisionsrecht eine Änderung ergeben hat, derzufolgebei in der DDR geschiedenen Ehegatten für die Anwendung desbundesdeutschen Unterhaltsrechts ausreicht, dass der Verpflich-tete vor dem Beitritt in das Gebiet der damaligen BundesrepublikDeutschland übergesiedelt ist (BGH, Urt. v. 21.9.1994, aaO,S. 1583 mwN).

b) Entgegen der Auffassung des LSG lässt sich die analoge Anwen-dung von Art. 18 Abs. 5 EGBGB zur Bestimmung des maßgeblichenRechts nicht nur auf Unterhaltsansprüche nach §§ 1569 ff. BGBbeziehen. Abgesehen davon, dass die angeführte Rspr. des BGHausdrücklich auch Fallgestaltungen betrifft, in denen es um Unter-haltsansprüche nach §§ 58 ff. EheG geht (vgl. BGH, Urt. v.8.12.1993, aaO), verkennt das LSG die Wirkung der Übergangsvor-schrift in Art. 12 Nr. 3 Abs. 2 des 1. EheRG, wonach §§ 58 ff. EheGfür den nachehelichen Unterhalt weiterhin anzuwenden sind,wenn die Ehe vor dem 1.7.1977 geschieden worden ist. Dabei ist zuberücksichtigen, dass – wie von der Rspr. des BGH klargestellt –Unterhaltsansprüche für die Zeiträume, in denen ihre Voraus-setzungen vorliegen, jeweils neu entstehen (vgl. BGH, NJW 1991,

2212, 2213 mwN; Palandt-Heldrich, aaO, Art. 220 Rn 7; Sonnen-berger, in: MünchKomm zum BGB, 3. Aufl., 1999, Art. 220 Rn 23).

Im Fall der Kl. ist insoweit hier als Voraussetzung für einen Ren-tenanspruch nach § 243 SGB VI ein nach dem in Art. 220 Abs. 2EGBGB genannten Stichtag (1.9.1986) – möglicherweise – entstan-dener und ohne den Tod des Versicherten über den 22.2.1987hinaus bestehender Unterhaltsanspruch zu betrachten (…).Das für diesen Anspruch nach Art. 18 Abs. 5 EGBGB anwendbarebundesdeutsche Recht ergibt sich gem. Art. 12 Nr. 3 Abs. 2 des1. EheRG aus §§ 58 ff. EheG, weil die Ehe der Kl. vor dem 1.7.1977geschieden wurde. Dagegen ist es für das Bestehen eines Unter-haltsanspruchs iSv § 243 SGB VI unerheblich, ob der Anspruchauch hätte durchgesetzt werden können (…).

c) Die Wirkung eines vor dem Beitritt bestehenden Unterhalts-anspruchs ist durch § 243a SGB VI für einen Rentenanspruch nach§ 243 SGB VI ebenso wenig beseitigt worden, wie sich am Fortbeste-hen des Unterhaltsanspruchs ohne den Tod des Versicherten etwasdurch den Beitritt geändert hätte. Denn Art. 234 § 5 Satz 1 EGBGB,wonach für den Unterhaltsanspruch eines Ehegatten, dessen Ehevor dem Wirksamwerden des Beitritts geschieden worden ist, das bis-herige Recht maßgebend ist, kann, wie der BGH der Kritik an seinerRspr. (vgl. Dieckmann, FamRZ 1994, 1073; Siehr, IPrax 1994, 360)zu Recht entgegengehalten hat, nicht so verstanden werden, dasssich die unterhaltsrechtlichen Beziehungen von Ehegatten, die vordem Beitritt in der ehem. DDR geschieden worden sind und dortdem Unterhaltsrecht der DDR unterstanden, nach dem EinigungsVin allen Fällen nach dem Recht der DDR bestimmen sollten.

Vielmehr ist die Frage des »bisherigen Rechts« iSv Art. 234 § 5EGBGB als intertemporärer Übergangsvorschrift (so bereits BGH,Urt. v. 23.9.1992, FamRZ 1993, 43, 44 = NJ 1993, 131) weiterhinunter Anwendung bundesdeutschen interlokalen Kollisionsrechtszu beantworten (BGH, Urt. v. 21.9.1994, aaO, S. 1583; allgemeinzur Anwendung des innerdeutschen Kollisionsrechts der altenBundesrepublik BGHZ 124, 270).

Wenn danach für die Frage, ob nach dem Beitritt ein in der DDRgeschiedener und dort verbliebener Ehegatte gegen den vor demBeitritt (3.10.1990) in die Bundesrepublik Deutschland über-gesiedelten anderen Ehegatten einen Unterhaltsanspruch hat,darauf abzustellen ist, ob für einen nach dem In-Kraft-Treten desIPR-NeuregelungsG 1986, aber vor dem Beitritt erhobenen Unter-haltsanspruch bundesdeutsches Recht anzuwenden gewesenwäre, so kann die Antwort für einen Unterhaltsanspruch imRahmen der §§ 243, 243a SGB VI nicht anders ausfallen.

Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Rspr. desBGH zur analogen Anwendung von Art. 18 Abs. 5 EGBGB erst nachdem Beitritt ergangen ist. Eine der Auffassung des BGH entgegen-stehende Rspr. lag nicht vor. Die von der höchstrichterlichen Rspr.nach den früheren Grundsätzen des innerdeutschen Kollisionsrechtsentschiedenen Fälle betrafen sämtlich Unterhaltsansprüche für Zeit-räume vor dem Stichtag des IPR-NeuregelungsG. Insofern kann auchnicht die Rede davon sein, dass mit der hier vertretenen Auffassungentgegen dem in § 243a SGB VI zum Ausdruck kommenden Willendes Gesetzgebers (vgl. auch BT-Drucks. 12/405, S 124) Unterhalts-ansprüche nachträglich konstruiert würden.

3. Nach den hier anwendbaren §§ 58 ff. EheG kommt für einenUnterhaltsanspruch der Kl. der Verschuldensfrage wesentlicheBedeutung zu. Da das hier nach dem FGB der DDR ergangeneScheidungsurteil keinen Schuldausspruch enthält, ist diese Fragevom LSG im Rahmen der Entscheidung über den Unterhalts-anspruch zu klären (BGHZ 85, 16, 31, und Urt. v. 8.12.1993, aaO),wobei sich Anhaltspunkte für die Beantwortung der Schuldfrageallerdings auch aus dem Scheidungsurteil ergeben können (…).Zu klären ist ferner, ob die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind,von denen § 243 SGB VI einen Anspruch auf Geschiedenen-witwenrente abhängig macht … .

Sozia l recht

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Neue Justiz 6/2004288

� 06.3 – 6/04

Sperrzonenzuschlag in DDR kein Arbeitsentgelt iSd AAÜG

BSG, Urteil vom 29. Januar 2004 – B 4 RA 19/03 R (LSG Neubranden-burg)

SGB IV § 14 Abs. 1; AAÜG § 8 Abs. 1

Nach § 14 Abs. 1 SGB IV sind Arbeitsentgelte alle laufenden odereinmaligen Einnahmen aus einer oder im Zusammenhang miteiner Beschäftigung ohne Rücksicht auf deren Bezeichnung.Dazu zählt der in der DDR gewährte sog. Sperrzonenzuschlagnicht. (Leitsatz der Redaktion)

Anm. d. Redaktion: Die Kl. war von 1969 bis 1991 hauptamtlich beimFDGB beschäftigt und bezog bis Mai 1987 zusätzlich zu ihrem Gehalteinen sog. Sperrzonenzuschlag. Dieser wurde nach einer am 1.6.1952in Kraft getretenen AO der in der Sperrzone wohnenden Bevölkerung alsAusgleich für die erschwerten Lebensbedingungen gewährt. Zur richtigenHandhabung der Zahlung der Sperrzonenzuschläge erließ das Präsidiumdes Ministerrats der DDR eine Richtlinie v. 22.9.1962. Die Kl. hat in denVorinstanzen erfolglos die Berücksichtigung des Sperrzonenzuschlags alsArbeitsentgelt bei der versorgungsrechtlich relevanten Beschäftigungbeantragt. Ihre Revision blieb ebenfalls erfolglos. Das BSG bestätigt die Auffassung des LSG, dass nach der o.g. Richtlinieder Sperrzonenzuschlag keinen Lohncharakter hat. Denn er wurde nichtwegen der ausgeübten Beschäftigung, sondern wegen der allgemeinenErschwernisse im Sperrgebiet gezahlt und hat sich nur der Höhe nach amArbeitslohn orientiert. Die bekl. BfA als Versorgungsträger für die Zusatz-versorgungssysteme war daher aus § 8 Abs. 1 Satz 2 AAÜG nichtverpflichtet, bei der Rentenberechnung den Sperrzonenzuschlag alsArbeitsentgelt aus der Beschäftigung der Kl. festzustellen.

� 06.4 – 6/04

Arbeitslosengeld für abhängig beschäftigte Ehefrau im zu DDR-Zeiten erworbenen Handwerksbetrieb

BSG, Urteil vom 9. Dezember 2003 – B 7 AL 22/03 R (LSG Potsdam)

SGB X § 44; AFG §§ 100, 168; FGB/DDR § 13; EGBGB Art. 234 Abs. 4

Ein in der DDR während der Ehe mit gemeinschaftlichen Mittelngegründeter Gewerbebetrieb stellt im Regelfall nur danngemeinschaftliches Eigentum dar, wenn beide Ehegatten unter-nehmerisch tätig gewesen sind. Bestand – wie hier – keine zumin-dest hälftige Beteiligung der Ehefrau und war diese im Betriebtätig, steht dieser nach den Kriterien einer abhängigen Beschäf-tigung Arbeitslosengeld zu. (Leitsatz der Redaktion)

Anm. d. Redaktion: Die Kl. begehrte im Rahmen des Überprüfungsver-fahrens nach § 44 SGB X Arbeitslosengeld für die Jahre 1996-1998. DerEhemann der Kl. führte bereits zu DDR-Zeiten einen Installationsbetrieb,in dem die Kl. von Aug. 1990 bis 1996 Büroarbeiten verrichtete; aus demgezahlten Gehalt wurden SV-Beiträge und Lohnsteuer abgeführt. DasGrundstück mit Wohnhaus und Betriebsstätte gehörte beiden Ehegatten.Die Bekl. lehnte die Gewährung von Arbeitslosengeld ab, da die Kl. nichtin einem Beschäftigungsverhältnis gestanden habe, sondern Mitinha-berin des Betriebs gewesen sei. Dies ergebe sich aus § 13 FGB, wonachgrundsätzlich die während der Ehe erworbenen Gegenstände gemein-

schaftliches Eigentum der Eheleute geworden sind. Das SG wies die Klageder Kl. ab, das LSG verurteilte die Bekl. zur Rücknahme der ablehnendenBescheide. Die Revision der Bekl. blieb erfolglos. Dazu führte das BSG aus: Bereits nach DDR-Recht gehörte ein Hand-werksbetrieb i.d.R. nicht zum gemeinschaftlichen Vermögen der Eheleute,sondern fiel in das Alleineigentum des Handwerkers. Nach Art. 234 § 4EGBGB galt zwischen der Kl. und ihrem Ehemann seit dem 3.10.1990 derGüterstand der Zugewinngemeinschaft; das zu DDR-Zeiten begründetegemeinschaftliche Vermögen nahm an der seitherigen Entwicklung desBetriebs nicht mehr teil. Damit konnte die Kl. am Betrieb nicht in gleicherWeise beteiligt bleiben wie ihr Ehemann. Bestand keine zumindest hälf-tige Beteiligung der Kl., war sie bei ihrem Ehemann abhängig beschäftigt.

� 06.5 – 6/04

Keine Rücknahme des Verwaltungsakts im Arbeitsförderungsrechtwegen Änderung der BAG-Rechtsprechung zum Betriebsübergang

BSG, Urteil vom 16. Oktober 2003 – B 11 AL 20/03 (LSG Berlin)

SGB X § 44; SGB III § 330; AFG § 141b

Eine im Arbeitsförderungsrecht die rückwirkende Aufhebungeines Verwaltungsakts ausschließende geänderte ständige Recht-sprechung, die nach dessen Erlass entstanden ist, liegt nicht nurdann vor, wenn das BSG seine Rechtsprechung ändert, sondernauch dann, wenn ein anderer oberster Gerichtshof des Bundes(hier: das BAG) seine Rechtsprechung zur Auslegung einerVorschrift geändert hat. (Leitsatz der Redaktion)

Anm. d. Redaktion: Das Arbeitsamt hatte 1998 einen Anspruch des Kl.auf Konkursausfallgeld abgelehnt. Es ging davon aus, dass der Betrieb desMetropol-Theaters und damit das Arbeitsverhältnis des Kl. nach Kündi-gung des Pacht- und Überlassungsvertrags vom Pächter auf das LandBerlin als Verpächter übergegangen sei. Diese Entscheidung war unrich-tig, denn nach der seit 1999 geltenden Rspr. des BAG liegt kein Betriebs-übergang vor, wenn der Betrieb wie hier vom bisherigen Verpächter nichtweitergeführt wird (BAG, Urt. v. 23.9.1999 – betr. Metropol-Theater,NJ 2000, 441, unter Bezug auf Urt. v. 18.3.1999 – BAGE 91, 121).Die Klage des Kl. auf Rücknahme des Bescheids über die Ablehnung vonKonkursausfallgeld blieb in allen Instanzen erfolglos. Das BSG führte aus,dass im Arbeitsförderungsrecht gem. § 330 SGB III die rückwirkendeAufhebung eines Bescheids nach § 44 SGB X ausgeschlossen ist, soweitdessen Unrichtigkeit auf einer geänderten st.Rspr. beruht. Nach der bis1999 geltenden Rspr. des BAG war ein Betriebsübergang anzunehmen.

� 06.6 – 6/04

Sonderkündigungsrecht auch bei Beitragserhöhung infolge einerKrankenkassenfusion

LSG Halle/Saale, Urteil vom 16. Dezember 2003 – L 4 KR 33/00 (SG Magdeburg) (rechtskräftig)

SGB V §§ 173 Abs. 1, 175 Abs. 4 Satz 1 u. 3; SGG § 55 Abs. 1 Nr. 1

Eine Beitragserhöhung, die zu einer Kündigung der Mitglied-schaft berechtigt, kann auch dann vorliegen, wenn eine Kranken-kasse, die durch den Zusammenschluss zweier bisher selbständigerKrankenkassen entstanden ist, ihren Beitrag erstmals festsetzt.

(mitgeteilt von Vizepräsident des LSG Erhard Grell, Halle/Saale)

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