NJ 11 04 Cover - neue-justiz.nomos.de · Roland Hefendehl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ....

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Aus dem Inhalt: P. Macke: »Des Glückes Unterpfand« trotz allem S. 481 Ch. Tetzlaff: Die überschuldete Fiskalerbschaft S. 485 H.-J. Mayer: Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen: Teil 3 VV (I) S. 490 R. Hefendehl: Vorne einsteigen, bitte! Zum Für und Wider technischer Prävention S. 494 K. W. Slapnicar: Liselotte Kottler (1909-2003) S. 497 Aus dem Rechtsprechungsteil: BVerfG: Verfassungswidrige Begrenzung der Arbeits- entgelte von DDR - Zusatz- und Sonderversorgten in staats-/systemnahen Funktionen S. 504 BGH: Abgrenzung von Kleingarten- und Erholungs- grundstücksanlagen S. 510 OLG Naumburg: Wertausgleich für Erben des Eigentümers eines restitutionsbelasteten Vermögens- gegenstands S. 517 BVerwG: Bindungswirkung des Rehabilitierungsbescheids im nachfolgenden Restitutionsverfahren S. 522 VG Potsdam: Sozialhilfeleistung für Brillengläser S. 526 BAG: Betriebsbedingte Änderungskündigung als unternehmerische Ermessensentscheidung S. 527 11 04 58. Jahrgang E 10934 N J Seiten 481-528 Nomos Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern Neue Justiz

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Aus dem Inhalt:

P. Macke: »Des Glückes Unterpfand« trotz allem S. 481

Ch. Tetzlaff: Die überschuldete Fiskalerbschaft S. 485

H.-J. Mayer: Die wichtigsten Neuerungen bei denRVG-Gebührentatbeständen: Teil 3 VV (I) S. 490

R. Hefendehl: Vorne einsteigen, bitte ! Zum Für und Wider technischer Prävention S. 494

K. W. Slapnicar: Liselotte Kottler (1909-2003) S. 497

Aus dem Rechtsprechungsteil:BVerfG: Verfassungswidrige Begrenzung der Arbeits-entgelte von DDR-Zusatz- und Sonderversorgten in staats-/systemnahen Funktionen S. 504

BGH: Abgrenzung von Kleingarten- und Erholungs-grundstücksanlagen S. 510

OLG Naumburg: Wertausgleich für Erben des Eigentümers eines restitutionsbelasteten Vermögens-gegenstands S. 517

BVerwG: Bindungswirkung des Rehabilitierungsbescheidsim nachfolgenden Restitutionsverfahren S. 522

VG Potsdam: Sozialhilfeleistung für Brillengläser S. 526

BAG: Betriebsbedingte Änderungskündigung als unternehmerische Ermessensentscheidung S. 527

11 0458. Jahrgang

E 10934

NJSeiten 481-528

Nomos

Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

Neue Justiz

RECHTSPRECHUNG

� 01 Verfassungsrecht

BVerfG:Verfassungswidrige Begrenzung der Arbeits-entgelte von DDR-Zusatz- und Sonderver-sorgten in staats-/systemnahen Funktionen (m. Anm. Brandt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504

BVerfG:Zulässige Begrenzung der Arbeitsentgeltevon Angehörigen des Sonderversorgungs-systems des MfS/AfNS (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507

LVerfG Mecklenburg-Vorpommern:Fraktionsmindeststärke in kommunalen Vertretungen und einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (bearb. v. Jutzi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507

� 02 Bürgerliches Recht

BGH:Kaufvertrag über GmbH-Geschäftsanteile und Gewinnverwendungsbeschluss zum Nachteil der Alt-Gesellschafter (bearb. v. Ehlers). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

BGH:Abgrenzung von Kleingarten- und Erholungsgrundstücksanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510

BGH:Zivilrechtliche Wirkungen der Anordnung des Sofortvollzugs eines Restitutionsbescheids(bearb. v. Kolb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512

S. 504

I

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in denNeuen Ländern

58. Jahrgang, S. 481-528

NJ 11/04

Herausgeber:

Prof. Dr. Marianne Andrae Universität Potsdam Prof. Dr. Ekkehard Becker-EberhardInstitut für Anwaltsrecht der Universität LeipzigDr. Michael BurmannPräsident der RechtsanwaltskammerThüringenDr. Bernhard Dombek Rechtsanwalt und Notar, BerlinPräsident derBundesrechtsanwaltskammerDr. Frank EngelmannPräsident der RechtsanwaltskammerBrandenburgDr. Margarete von GalenPräsidentin der RechtsanwaltskammerBerlin Lothar HaferkornPräsident der RechtsanwaltskammerSachsen-AnhaltGeorg Herbert Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gerhard Hückstädt Präsident des LandesverfassungsgerichtsMecklenburg-Vorpommern und Präsident des LG RostockDr. Günter KröberPräsident der RechtsanwaltskammerSachsenProf. Dr. Martin Posch Rechtsanwalt, Jena Dr. Erardo Cristoforo RautenbergGeneralstaatsanwalt des LandesBrandenburgDr. Axel Schöwe Präsident der RechtsanwaltskammerMecklenburg-VorpommernKarin Schubert Bürgermeisterin und Senatorin für Justizdes Landes BerlinProf. Dr. Horst Sendler Präsident des Bundesverwaltungs-gerichts a.D., BerlinManfred Walther Rechtsanwalt, Berlin Dr. Friedrich Wolff Rechtsanwalt, Berlin

In d iesem Hef t …

REZENSIONEN

Matthias Winkler:VorsorgeverfügungenVon Ingo Fritsche

S. 503

S. 499INFORMATIONEN

Bundesgesetzgebung / Gesetzesinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Neue Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500

Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

S. 481AUFSÄTZE

»Des Glückes Unterpfand« trotz allemPeter Macke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

Die überschuldete FiskalerbschaftChristian Tetzlaff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

KURZBEITRÄGE

Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen:Teil 3 Vergütungsverzeichnis (I)Hans-Jochem Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

Vorne einsteigen, bitte!Zum Für und Wider technischer PräventionRoland Hefendehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494

Liselotte Kottler (1909-2003) –Deutschlands längstens praktizierende AnwaltsnotarinKlaus W. Slapnicar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

S. 490

S. 502DOKUMENTATION

Petitionsbericht 2003

NJ-Abonnentenservice: Die Volltexte der kommentierten und im Leitsatz abgedruckten Entscheidungen können Sie inder Redaktion unter Angabe der Registrier-Nummer kostenlos bestellen. Fax (0 30) 22 32 84 33

II

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

58. Jahrgang, S. 481-528

NJ 11/04

Redaktion: Rechtsanwältin Adelhaid Brandt(Chefredakteurin)Barbara Andrä

Redaktionsanschrift:Französische Str. 13, 10117 BerlinTel.: (030) 22 32 84-0Fax: (030) 22 32 84 33E-Mail: [email protected]://www.nomos.de

Erscheinungsfolge: einmal monatlich

Bezugspreise 2004: Jahresabonnement 129,– €jeweils inkl. MwSt., zzgl. Porto undVersandkostenVorzugspreis: (gegen Nachweis) für Studenten jährlich 35,– €

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Einzelheft: 14,– € inkl. MwSt., zzgl. Porto und VersandkostenBestellungen beim örtlichen Buch-handel oder direkt bei der NOMOSVerlagsgesellschaft Baden-Baden. Abbestellungen bis jeweils 30. September zum Jahresende.

Verlag, Druckerei: Nomos VerlagsgesellschaftWaldseestr. 3-5, 76530 Baden-Baden,Tel.: (0 72 21) 21 04-0Fax: (0 72 21) 21 04-27Anzeigenverwaltung und Anzeigenannahme: sales˘friendlyBettina RoosReichsstr. 45-47, 53125 Bonn,Tel.: (0 2 28) 9268835Fax: (0 2 28) 9268836E-Mail: [email protected]

Urheber- und Verlagsrechte:Die in dieser Zeitschrift veröffentlich-ten Beiträge sind urheberrechtlichgeschützt. Das gilt auch für die veröf-fentlichten Gerichtsentscheidungenund ihre Leitsätze; diese sind geschützt, soweit sie vom Einsender oder vonder Redaktion erarbeitet und redigiert worden sind. Kein Teil dieser Zeit-schrift darf ohne vorherige schriftlicheZustimmung des Verlags verwendetwerden. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Bearbeitungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbei-tung in elektronischen Systemen.ISSN 0028-3231

Redaktionsschluss: 18. Oktober 2004

In d iesem Hef t …

BGH:Umdeutung eines nichtigen Gebäude-kaufvertrags in einen Kauf der Rechte nach dem SachenRBerG (bearb. v. Zank) . . . . . . . . 514

BGH:Unwirksame Gebührenvereinbarung eines Rechtsanwalts (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515

BGH:Angaben zu Einkünften der Unterhalts-berechtigten im Zwangsvollstreckungs-verfahren (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515

BGH:Rechtliches Interesse an Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Umfang der Insolvenzmasse (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515

BGH:Betriebskostennachforderung und Aufklärungspflicht des Vermieters (Leits.) . . . . . . . . 516

BGH:Abfindungsansprüche nach dem LwAnpG(Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516

OLG Jena:Räum- und Streupflicht zum Schutzdes Fußgängerverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516

OLG Naumburg:Wertausgleich für Erben des Eigentümerseines restitutionsbelasteten Vermögens-gegenstands (bearb. v. Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . 517

OLG Rostock:Insolvenzanfechtung bei inkongruenter Direktzahlung des Schuldners eines insolventen Schuldners an dessen Gläubiger (bearb. v. Biehl). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518

OLG Brandenburg:Erlassvertrag für Bürgschaftsansprüche und Insolvenzanfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

OLG Jena:Auskunfts- und Einsichtsrecht der GmbH-Gesellschafter (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

� 04 Verwaltungsrecht

BVerwG:Voraussetzungen eines Vorkaufsrechtsnach dem VermG (bearb. v. Gruber) . . . . . . . . . . . . 521

BVerwG:Bindungswirkung des Rehabilitierungs-bescheids im nachfolgenden Restitutions-verfahren (bearb. v. Keßler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522

BVerwG:Zuverlässigkeit von Flughafenbedienstetenund frühere MfS-Tätigkeit (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . 524

BVerwG:Planfeststellung und Entschädigung im nachfolgenden Enteignungsverfahren (Leits.). . . . 524

OVG Greifswald:Gewährung von Altersteilzeit in der Justiz . . . . . . . 524

OVG Bautzen:Ausbildungsförderung und Aufteilung des Freibetrags bei getrennt lebenden Ehegatten (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524

OVG Greifswald:Gebühr für Erteilung einer Abbruch-genehmigung (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525

OVG Weimar:Erstattungsansprüche nach fehlgeschla-gener Zweckverbandsgründung (Leits.) . . . . . . . . . 525

VG Potsdam:Sozialhilfeleistung für Brillengläser(bearb. v. Neubauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526

� 05 Arbeitsrecht

BAG:Betriebsbedingte Änderungskündigung als unternehmerische Ermessensent-scheidung (bearb. v. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

BAG:Zusage einer Versorgungszusage undUnverfallbarkeitsfrist (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528

BAG:Gewährung eines höheren Ortszuschlags nach BAT-O für geschiedene Angestellte (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528

LAG Erfurt:Schadensersatz wegen Mobbings am Arbeitsplatz (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528

LAG Halle/Saale:Abschluss eines Aufhebungsvertrags und Störung der Geschäftsgrundlage (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528

NJ aktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III

Buchumschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI

Veranstaltungstermine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt je ein Prospektdes C. H. Beck Verlages und der Nomos Verlagsge-sellschaft bei. Wir bitten freundlichst um Beachtung.

IIINeue Justiz 11/2004

NJ aktuell Heft 11/2004

ditisten einzuräumen. Alle noch lebenden Mitglieder der LPG, derenAdresse bekannt waren, wurden zu einer Vollversammlung eingela-den. Dort stimmten die Mitglieder dem Vertrag mit großer Mehrheitzu. Der Kl., der gegen den Beschluss gestimmt hatte, verlangt mit derKlage, dass der Beschluss für nichtig erklärt wird.Das OLG hat die Klage abgewiesen. Der BGH hob mit Urt. v. 20.9.2004(II ZR 334/02) dieses Urteil auf und verwies die Sache zur neuen Ver-handlung und Entscheidung an das OLG zurück.Den Haupteinwand des Kl., bei der Liquidation einer LPG sei derenVermögen grundsätzlich in Geld umzusetzen und jede Abweichungdavon bedürfe der Zustimmung sämtlicher LPG-Mitglieder, hat derBGH nicht gelten lassen. Denn im Rahmen der Abwicklung einerLPG i.L. ist es zulässig, das gesamte Vermögen auf eine KG zu übertra-gen, die dafür die Schulden der LPG übernimmt und deren MitgliedernKommanditbeteiligungen einräumt. Die Interessen der damit nichteinverstandenen LPG-Mitglieder sind ausreichend gewahrt, wenn derVertrag vorsieht, dass die Mitglieder von ihrem Vorkaufsrecht undihrem Recht zur Übernahme einzelner Vermögensgegenstände zumSchätzpreis gem. § 42 Abs. 2 LwAnpG Gebrauch machen könnten. Die Anfechtungsklage hatte aber im Ergebnis Erfolg, weil der Kl.behauptet hatte, zur LPG-Vollversammlung seien nicht alle Mitgliedereingeladen worden. Denn nach den allgemeinen Grundsätzen desVerbandsrechts wird eine Vollversammlung nur dann ordnungsgemäßeinberufen, wenn entweder sämtliche Mitglieder des Verbands ein-geladen wurden oder die Einladung durch Einrücken in öffentlicheBlätter bekannt gemacht wird. Weiter hatte der Kl. mit der BehauptungErfolg, ihm sei in der Vollversammlung das Wort entzogen und er seigehindert worden, Fragen zur Bewertung des LPG-Vermögens zustellen. Auch das wäre ein Verfahrensfehler gewesen, der zur Aufhe-bung des Beschlusses führen würde. Da die LPG die Behauptungen desKl. bestritten hat, muss nun das OLG darüber Beweis erheben.

(aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 106/04 v. 20.9.2004)

BGH: Zum Anscheinsbeweis beim ec-Kartenmissbrauch

Die Kl. unterhielt bei der bekl. Sparkasse ein Girokonto. Mit ihrerec-Karte wurden an Geldausgabeautomaten zweier Sparkassen unterEingabe der richtigen PIN im Sept. 2000 in drei Fällen insges. 2.000 DMabgehoben. Die Bekl. belastete das Girokonto der Kl. mit den abgeho-benen Beträgen. Die Kl. hat mit ihrer auf Zahlung von 2.000 DMgerichteten Klage geltend gemacht, ihr seien kurz vor der erstenAbhebung ihr Portemonnaie mit der ec-Karte entwendet worden. DerDieb müsse die persönliche Geheimzahl, die nicht schriftlich notiertgewesen sei, entschlüsselt oder Mängel des Sicherheitssystems derBekl. ausgenutzt haben. Das AG gab der Klage statt, das LG wies sie ab.Der BGH hat mit Urt. v. 5.10.2004 (XI ZR 210/03) die Revision der Kl.zurückgewiesen. Die Bekl. hat das Konto der Kl. zu Recht mit denabgehobenen Beträgen belastet. Das LG hat zwar festgestellt, dassdie Geldabhebungen durch einen unbefugten Dritten erfolgten. DieKl. haftet aber für die durch die missbräuchliche Verwendung ihrerec-Karte entstandenen Schäden, weil diese auf einer grob fahrlässigenVerletzung ihrer Sorgfalts- und Mitwirkungspflichten beruhen. Das LGhat zutreffend angenommen, zugunsten der hierfür beweispflichtigenBekl. spreche der Beweis des ersten Anscheins, dass die Kl. ihre Pflichtzur Geheimhaltung der persönlichen Geheimzahl verletzt habe,indem sie diese auf der ec-Karte vermerkt oder zusammen mit dieserverwahrt habe. Ein solches Verhalten stellt nach der Rspr. des Senatseine grobe Fahrlässigkeit des Karteninhabers dar.

Bundesgerichte

BGH: Dresdner »Modrow-Käufe« aus dem Jahre 1996 sind wirksam

Der BGH hat in einem Musterprozess mit Urt. v. 17.9.2004 (V ZR339/03) die klageabweisenden Entscheidungen des LG Dresden(NJ 2003, 379) und des OLG Dresden (NJ 2004, 132 [Leits.]) hinsicht-lich des von der Stadt Dresden mit den bekl. Eheleuten geschlossenenKaufvertrags nach dem sog. Modrow-Gesetz v. 7.3.1990 mit folgendenErwägungen bestätigt:Die Kaufverträge sind nicht an den engeren Maßstäben der Vorschrif-ten über die Veräußerung kommunalen Vermögens zu messen, weil dieStadt Dresden das Grundstück an die Bekl. aufgrund einer besonderenVerfügungsbefugnis verkauft hat. In Ausnutzung dieser Befugnisunterlag sie nicht den kommunalverfassungsrechtlichen Bindungen,sondern nur dem allgemeinen Grundsatz, dass der Staat nichts ver-schenken darf. Dieser Grundsatz ist nicht schon dann verletzt, wenndie Stadt die ihr 1994 durch das SachenRBerG eingeräumte Möglich-keit, den halben Bodenwert als Kaufpreis zu verlangen, nicht nutzt.Sittenwidrig ist ein Verkauf erst dann, wenn der Preisnachlass unterkeinem Gesichtspunkt als durch die Verfolgung legitimer öffentlicherAufgaben im Rahmen einer an den Grundsätzen der Rechtsstaatlich-keit orientierten Verwaltung gerechtfertigt angesehen werden kann. So liegt es hier nicht. Der Verkauf an die Bekl. diente der Beseitigungder Ungleichbehandlung, die die Bekl. – wie viele andere Bürger in denneuen Ländern auch – bei der Behandlung ihrer Kaufanträge nachdem Ges. v. 7.3.1990 erfahren haben. Diese sind von den zuständigenStellen nicht nach der Reihenfolge ihres Eingangs oder nach anderensachlichen, sondern nach nicht nachvollziehbaren Kriterien abgear-beitet worden. Durch einen nachträglichen Verkauf zu den damaligenBedingungen, den amtlich festgesetzten, aber sehr niedrigen Preisen,hat die Stadt Dresden (wie auch die anderen Kommunen in den neuenLändern) die Gleichbehandlung wieder herstellen wollen. Das ist einelegitime öffentliche Aufgabe, was sich auch daraus ergibt, dass diesePraxis von den obersten Kommunalaufsichtsbehörden stets gebilligtworden ist, und zwar auch nach dem In-Kraft-Treten des SachenR-BerG, demzufolge die Kommunen den halben Bodenwert hätten ver-langen können.

(aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 104/04 v. 17.9.2004)

Zur Kritik an der nunmehr vom BGH bestätigten Rechtsauffassung desLG Dresden siehe M. Kellner, NJ 2003, 345 ff.

BGH: Abwicklung einer LPG in den neuen Bundesländern

Die LPG, um die es in dem vorliegenden Verfahren geht, hatte Ende1990 ihr gesamtes Vermögen ungeteilt auf eine von ihr gegründeteGmbH & Co. KG übertragen. Das entsprach nicht dem LwAnpG undwurde deshalb vom BGH im Jahre 1997 für unwirksam erklärt. Danachbestand die LPG als »unerkannte« Liquidationsgesellschaft fort.Tatsächlich wurde der landwirtschaftliche Betrieb aber von der neuenGesellschaft geführt, die bereits Grundstücke hinzu erworben hatte.Um diesen Zustand zu bereinigen, schlossen die Liquidatoren der LPG1999 mit der neuen Gesellschaft einen Unternehmenskaufvertrag,wonach das gesamte Vermögen der LPG auf die neue Gesellschaftrückwirkend zum 1.1.1991 übergehen sollte. Als Gegenleistung ver-pflichtete sich die neue Gesellschaft u.a., sämtliche Schulden der LPGzu übernehmen und den LPG-Mitgliedern die Stellung von Komman-

Neue Justiz 11/2004IV

er die zunächst zur Insolvenzmasse gehörenden Grundstücke freige-geben, d.h. aus der Insolvenzmasse entlassen hat. Der Kl. ist Insolvenzverwalter über das Vermögen eines Unterneh-mens. Eine Untersuchung ergab einen Altlastenverdacht bzgl. mehre-rer zur Insolvenzmasse gehörender Grundstücke. Daraufhin ordnetedas Landratsamt an, dass der Kl. zur Sanierung dieser Grundstücke inAnspruch genommen werden könne und diese Verpflichtung wie eineMasseverbindlichkeit iSv § 55 InsO zu behandeln sei; daneben wurdeihm aufgegeben, ein Fachbüro mit einer Untersuchung zur abschlie-ßenden Gefährdungsabschätzung zu beauftragen. Der Kl. gab dieGrundstücke aus der Masse frei und erhob Klage gegen die Anordnungdes Landratsamts. Diese wies das VG ab, weil der Kl. als Inhaber derumfassenden Sachherrschaft unabhängig davon in Anspruch genom-men werden könne, zu welchem Zeitpunkt die von der Sache ausge-hende Gefahr entstanden sei. Diese Verantwortlichkeit dauere trotzder durch den Kl. zwischenzeitlich erklärten Freigabe der betroffenenGrundstücke aus der Masse fort. Das BVerwG hat das VG-Urteil aufgehoben und der Klage stattgegeben:Der Kl. durfte zwar für die Sanierung herangezogen werden, solangeihm als Insolvenzverwalter die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisüber die Insolvenzmasse zugestanden und er damit die tatsächlicheGewalt über die Grundstücke ausgeübt hat; mit der Freigabe derGrundstücke ist jedoch seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisentfallen. Dies hat zur Folge, dass er nach dem BBodSchG nicht mehrzur Gefahrenabwehr verpflichtet werden kann. Die Freigabe kann ent-gegen der Auffassung des VG auch nicht wie eine Eigentumsaufgabebehandelt werden, welche die bodenschutzrechtliche Sanierungs-pflicht unberührt lässt; denn der Kreis der Verantwortlichen ist imBBodSchG abschließend geregelt worden, und die Freigabe kommtauch in ihren Wirkungen einer Eigentumsaufgabe nicht gleich.

(aus: Pressemitteilung des BVerwG Nr. 56/04 v. 23.9.2004)

BVerwG: Daueraufenthaltsrecht trotz Sozialhilfebezugs der Eltern

Der Kl., ein 1982 geborener Iraner, lebt seit 1988 in Deutschland. Seit1991 erhielt er eine jeweils verlängerte Aufenthaltsbefugnis aufgrundeiner niedersächs. Bleiberechtsregelung für Flüchtlinge aus dem Iran.Die 2001 beantragte unbefristete Aufenthaltserlaubnis lehnte die bekl.Landeshauptstadt Hannover mit der Begründung ab, dass die Elterndes Kl., denen er zum Unterhalt verpflichtet sei, Sozialhilfe beziehen.Das VG wies die Klage ab. Der Kl. machte mit seiner – zugelassenen –Sprungrevision vor allem geltend, es könne nicht richtig sein, dassjunge Ausländer, deren Eltern Sozialhilfe in Anspruch nehmen müss-ten, nur dann Aussicht auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnishätten, wenn sie entweder selbst Großverdiener oder die Eltern ver-storben seien. Das BVerwG gab dem Kl. mit Urteil v. 28.9.2004 (1 C 10/03) imErgebnis Recht, hob das VG-Urteil auf und verwies die Sache zurück.Das VG muss noch klären, ob der Kl. die weiteren gesetzlichen Voraus-setzungen für eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis aus humanitärenGründen (nach § 35 Abs. 1 AuslG) erfüllt. Dem Kl. darf aber nicht mehrentgegengehalten werden, dass seine Eltern Sozialhilfe beziehen. Zwarsieht das AuslG vor, dass eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach§ 35 Abs. 1 dann nicht erteilt werden darf, wenn ein Ausweisungs-grund vorliegt. Dazu gehört auch der Bezug von Sozialhilfe durchAngehörige, denen der Ausländer zum Unterhalt verpflichtet ist (§ 35Abs. 1 Satz 1 AuslG iVm § 24 Nr. 6 und § 46 Nr. 6 AuslG). Dadurch willdas Gesetz aber nur sicherstellen, dass ein Daueraufenthaltsrecht fürAusländer, die sich seit mehr als acht Jahren legal in Deutschland auf-halten, nicht zusätzlich die Sozialsysteme belastet. Dieses fiskalischeInteresse wird indessen nicht berührt, wenn – wie hier – die inDeutschland lebenden Eltern zwar Sozialhilfe in Anspruch nehmen,aber ein eigenes Aufenthaltsrecht besitzen, das vom Aufenthaltsstatusdes Kl. unabhängig ist.

(aus: Pressemitteilung des BVerwG Nr. 57/04 v. 28.9.2004)

Die Grundsätze über den Beweis des ersten Anscheins greifen nurbei typischen Geschehensabläufen ein, d.h. in Fällen, in denen einbestimmter Sachverhalt feststeht, der nach allgemeiner Lebenserfah-rung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablaufals maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist.Spricht ein Anscheinsbeweis für einen bestimmten Ursachenverlauf,kann der Inanspruchgenommene diesen entkräften, indem er Tatsa-chen darlegt und ggf. beweist, aus denen sich die ernsthafte, ebenfallsin Betracht kommende Möglichkeit einer anderen Ursache ergibt. Nach diesen Maßstäben streitet in einem Fall der vorliegenden Art derBeweis des ersten Anscheins für ein grob fahrlässiges Verhalten desKarteninhabers. Das LG hat sachverständig beraten festgestellt, es seimathematisch ausgeschlossen, die PIN einzelner Karten aus den aufihnen vorhandenen Daten ohne vorherige Erlangung des zur Ver-schlüsselung verwendeten Institutsschlüssels zu errechnen. Ohne Rechtsfehler hat das LG ferner sog. Innentäterattacken keineeinem Anscheinsbeweis entgegenstehende Wahrscheinlichkeit zuge-messen. Der BGH hat aber deutlich gemacht, dass kartenausgebendeKreditinstitute verpflichtet sein können, in Zivilprozessen der vorliegen-den Art (im Rahmen berechtigter Geheimhaltungsinteressen) nähereAngaben über die von ihnen getroffenen Sicherheitsvorkehrungen zumachen, um ggf. auch deren Überprüfung durch Sachverständige zuermöglichen.

(aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 110/04 v. 5.10.2004)

BGH: Richterernennungen in Brandenburg wirksam

Im Rahmen einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revisionin einem Urteil des OLG Brandenburg hatten die Beschwerdef. u.a. dieRüge erhoben, ihr Verfahrensgrundrecht auf eine Entscheidung durchden gesetzlichen Richter sei verletzt, da die Richterstellen in Branden-burg seit 1993 ohne rechtliche Grundlage besetzt worden seien. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:In Brandenburg werden die Richter nach dem dortigen BbgRiG durcheinen Wahlausschuss gewählt. Diesem gehören neben acht Landtags-abgeordneten drei Richter und ein Rechtsanwalt an. Sämtliche Mit-glieder werden vom Landtag gewählt. Gewählt werden können nurRichter, die auf einer Vorschlagsliste benannt sind. Die dort aufzu-nehmenden Richter sind von den auf Lebenszeit ernannten Richternnach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu wählen. Die VO, diedas Wahlverfahren für die Vorschlagsliste näher regelt, sieht in Abwei-chung von dem höherrangigen BbgRiG jedoch die Persönlichkeits-wahl vor. Die Wahlen wurden entsprechend der VO nach den Grund-sätzen der Persönlichkeitswahl durchgeführt. Die Beschwerdef. haltendie VO wegen Verstoßes gegen das BbgRiG für nichtig, folgern daraus,dass der Richterwahlausschuss selbst nicht ordnungsgemäß besetzt sei,und leiten daraus als weitere Konsequenz die Unwirksamkeit der vondem Ausschuss vorgenommenen Richterwahlen ab.Der BGH hat in seinem Beschl. v. 16.9.2004 (III ZR 201/03) diese Rügefür unbegründet erachtet. Nach Bundesrecht wird der Richter durchdie Aushändigung einer Urkunde ernannt (§ 17 DRiG). Selbst wenndie gesetzlich vorgeschriebene Beteiligung eines Richterwahlausschus-ses gänzlich unterblieben ist, begründet dies lediglich einen Grund fürdie Rücknahme der Ernennung, und das auch nur, wenn der Richter-wahlausschuss die nachträgliche Bestätigung abgelehnt hat (§ 19Abs. 1 Nr. 2 DRiG). Um so weniger können die Unstimmigkeitenzwischen dem BbgRiG und der genannten VO zur Unwirksamkeit derErnennung der betreffenden Richter führen.

(aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 113/04 v. 11.10.2004)

BVerwG: Befreiungsmöglichkeit des Insolvenzverwalters von der Sanierungspflicht nach dem BBodSchG

Das BVerwG hat mit Urt. v. 23.9.2004 (7 C 22/03) entschieden, dassein Insolvenzverwalter nicht zur Sanierung schadstoffbelasteterGrundstücke nach dem BBodSchG herangezogen werden darf, wenn

BAG: Einheitliches Arbeitsentgelt in Berlin

Der Kl. ist seit 1992 bei der Bekl., einer Anstalt des öffentlichen Rechts,im Tarifrechtskreis Ost beschäftigt. Sein tariflicher Vergütungsanspruchbelief sich seit Jan. 2002 auf 90%, seit Jan. 2003 auf 91% der »West-vergütung«. Bereits seit dem 1.10.1996 erhielt er aufgrund des BerlinerEinkommensangleichungsG von 1994 die gleiche Vergütung wie dieArbeitnehmer im Tarifgebiet West. Danach wurde im Tarifgebiet Ost»die Bezahlungsquote für die Bezüge der Arbeitnehmer ... im öffent-lichen Dienst des Landes Berlin und der landesunmittelbaren Körper-schaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts« durchzusätzliche Zahlungen zunächst stufenweise, ab dem 1.10.1996 auf100% der Vergütung des Tarifrechtskreises West angehoben. Seit dem1.7.2002 sieht dieses Gesetz eine Kürzung der zusätzlichen Zahlungvon 1,41% der Gesamtvergütung vor. Dem liegt zugrunde, dass dieArbeitnehmer des Tarifgebiets West im Gegensatz zu denen des Tarif-gebiets Ost zu einem Eigenbeitrag in gleicher Höhe für ihre zusätzlicheAltersversorgung herangezogen werden. Demgegenüber wird die erst1997 eingeführte Zusatzversorgung der Arbeitnehmer des TarifgebietsOst ausschließlich durch Umlagen der Arbeitgeber finanziert. Der Kl. beruft sich auf eine stillschweigende vertragliche Zusage bzw.betriebliche Übung, dass ihm auch künftig 100% der Westvergütunggezahlt werde. Das BAG hat die auf Feststellung der vollen Zahlungspflicht (100%)gerichtete Klage mit Urt. v. 29.9.2004 (5 AZR 528/03) abgewiesen. ImGegensatz zu den Vorinstanzen hat es angenommen, dass der Kl. nichtdarauf vertrauen konnte, dass ihm unabhängig von der zugrundeliegenden gesetzlichen Regelung auf Dauer 100% der Westvergütunggezahlt wird. Ein derartiger Wille des Arbeitgebers lässt sich aus dervorbehaltlosen Zahlung nicht entnehmen. Vielmehr hätte der Kl.erkennen müssen, dass die Bekl. nur die Vorgaben des AngleichungsGumsetzen wollte. Das gilt unabhängig davon, ob das Gesetz die zusätz-liche Zahlung nur ermöglicht oder zwingend vorschreibt. Die begüns-tigten Arbeitnehmer mussten stets damit rechnen, dass der Zahlungeine gesetzliche Regelung zugrunde lag, die geändert werden konnte.Im Ergebnis fließt den Arbeitnehmern beider Tarifrechtskreise diegleiche Vergütung zu.

(aus: Pressemitteilung des BAG Nr. 67/04 v. 29.9.2004)

BAG: Wirksamer Widerspruch mehrerer Arbeitnehmer bei Betriebsübergang

Die Kl. ist bei der Bekl., einem Unternehmen des Zeitungs- und Ver-lagswesens, seit langen Jahren, zuletzt in der Abteilung Anzeigenver-kauf, beschäftigt. Auf ihr Arbeitsverhältnis ist ein Beschäftigungs-sicherungsTV anwendbar, der eine betriebsbedingte Kündigung biszum Ablauf des TarifV am 30.4.2003 ausschließt. Wegen wirtschaft-licher Schwierigkeiten beschloss die Bekl., die Aufgaben des Anzeigen-verkaufs an ein noch zu gründendes Unternehmen fremd zu vergeben.Die Kl. und 18 ihrer 20 Kollegen widersprachen dem Betriebsübergang.Daraufhin kündigte die Bekl. das Arbeitsverhältnis am 25.6.2002außerordentlich mit einer Auslauffrist zum 30.11.2002. Das BAG hat mit Urt. v. 30.9.2004 (8 AZR 462/03) den Widerspruchder Arbeitnehmer für wirksam gehalten und die der Kündigungs-schutzklage stattgebende Entscheidung des LAG Potsdam bestätigt.Nach § 613a Abs. 6 BGB kann ein Arbeitnehmer dem Übergang seinesArbeitsverhältnisses aufgrund eines Betriebsübergangs schriftlichwidersprechen. Ein sachlicher Grund ist dafür nicht erforderlich.Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn eine Mehrheit von einemTeilbetriebsübergang betroffener Arbeitnehmer gleichzeitig und mitgleich lautenden Schreiben widerspricht. Das Widerspruchsrechtunterliegt jedoch den allgemeinen Schranken der Rechtsordnung undsomit der Kontrolle des Rechtsmissbrauchs gem. § 242 BGB. In diesemZusammenhang kann es auf die Zweckrichtung oder Zielsetzung desWiderspruchs ankommen. Dient der kollektive Widerspruch lediglichals Mittel zur Vermeidung des Arbeitgeberwechsels, ist er wirksam.

(aus: Pressemitteilung des BAG Nr. 71/04 v. 30.9.2004)

Neue Justiz 11/2004 V

Landesgerichte

Thüringer VerfGH: § 130b ThürKO teilweise verfassungswidrig und nichtig

Mit ihren Verfassungsbeschwerden hatten sich die Landkreise Saale-Orla-Kreises und Sömmerda gegen Bestimmungen des mit Wirkungzum 1.4.2002 in die Thür. KommunalO (ThürKO) eingefügten § 130bgewandt, durch den die Aufgaben des Veterinärwesens und der Lebens-mittelüberwachung vom Land auf die Landkreise übertragen wurden.Die von den Beschwerdef. beanstandeten Abs. 8, 10 u. 11 des § 130bThürKO regeln die Personal- und Sachausstattung der kommunalisier-ten Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsämter sowie die Erstat-tung der den Landkreisen damit entstehenden Personal- und Sach-kosten. Hierdurch sehen sich die Beschwerdef. in ihrer Personal- undFinanzhoheit und in ihrem finanziellen Ausgleichsanspruch verletzt.Außerdem wurden sie zu dem erst im Laufe des Gesetzgebungsverfah-rens in § 130b ThürKO eingefügten Abs. 10 u. 11 nicht angehört. Der VerfGH hat auf die Verfassungsbeschwerde des Saale-Orla-Kreisesmit Urt. v. 12.10.2004 (16/02) § 130b Abs. 10 u. 11 ThürKO fürverfassungswidrig und nichtig erklärt, weil der Beschwerdef. vor Erlassdieser, erheblich in sein Selbstverwaltungsrecht eingreifenden Rege-lungen nicht angehört wurde. Soweit sich die Verfassungsbeschwerdegegen § 130b Abs. 8 ThürKO richtet, wurde sie zurückgewiesen. DieseRegelung, die – um überhaupt anwendbar zu sein – der Konkretisie-rung durch eine noch zu erlassende Rechtsverordnung bedarf, belastetzum jetzigen Zeitpunkt den Beschwerdef. nicht.Die Verfassungsbeschwerde des Landkreises Sömmerda (9/03) wurdeals unzulässig zurückgewiesen, da sie nicht rechtzeitig innerhalb einesJahres nach In-Kraft-Treten des § 130b ThürKO erhoben worden war.

(aus: Pressemitteilung des Thür. VerfGH v. 12.10.2004)

OLG Dresden: Dresden haftet nicht für alte Inhaberschuldverschreibungen

Die Stadt Dresden hatte im Jahre 1925 in New York eine Anleihe über5 Mio. US-Dollar aufgenommen; die Gelder wurden zum Ausbau desstädtischen Elektrizitätswerks sowie der Dresdner Straßenbahn ver-wendet. Die Anleihe war am 1.11.1945 zur Rückzahlung fällig. DieRückzahlungsverpflichtung ist in Teilschuldverschreibungen mit ver-schiedenen Nennwerten verbrieft. Der Kl. ist Inhaber eines solchenWertpapiers. Er hat die Landeshauptstadt Dresden auf Rückzahlung vonamerikanischen Goldmünzen, hilfsweise auf Zahlung von 14.465 €sowie von mehr als 11.000 € Zinsen verklagt. Das LG wies die Klageab, da die Landeshauptstadt Dresden mit der Stadt Dresden aus demJahre 1925 weder identisch noch deren Rechtsnachfolgerin sei. Diese Entscheidung hat das OLG mit Urt. v. 24.9.2004 (3 U 1049/03)im Ergebnis bestätigt und dazu ausgeführt: Die LandeshauptstadtDresden ist rechtlich nicht mit der Emittentin der Wertpapiere, derStadt Dresden aus dem Jahre 1925, identisch. Insbes. aus dem DDR-Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht von 1957 ergibt sich,dass die frühere Stadt Dresden »untergegangen« ist. Hieran hat sichdurch den EinigungsV nichts geändert. Die aus den Wertpapierenresultierende Schuld ist auch nicht durch die Übernahme von Vermö-gen, auf dem die Verbindlichkeit lastet (Verkehrs- und Versorgungs-betriebe), auf die Landeshauptstadt übergegangen. Die betreffendenBetriebe sind spätestens seit 1930 selbständige juristische Personengewesen, ohne die Verpflichtungen gegenüber den Inhabern derSchuldverschreibungen übernommen zu haben. Die streitgegen-ständliche Forderung ist deshalb nicht Bestandteil des »Negativ-vermögens», welches mit den Betrieben auf die Bekl. übergegangen ist.Im Übrigen war auch die Frist zur Einlösung der Schuldverschreibung(§ 801 BGB) bereits seit dem 1.11.1975 verstrichen. Die Revision wurde wegen höchstrichterlich nicht abschließend geklär-ter Fragen zur Einzelrechtsnachfolge und Vorlegungsfrist zugelassen.

(aus: Pressemitteilung des OLG Dresden Nr. 37/04 v. 24.9.2004)

W. Nordemann/A. Nordemann/J. B. NordemannWettbewerbsrecht und MarkenrechtNomos Verlagsgesellschaft, 10. Aufl., Baden-Baden 2004750 S., brosch., 58,– €. ISBN 3-8329-0919-2Die überarbeitete Auflage berücksichtigt die umfassende Reform desWettbewerbsrechts mit seinen im Juli 2004 in Kraft getretenen Neu-regelungen. In verständlicher Sprache geschrieben enthält der Bandzahlreiche Beispiele und Formularmuster für Abmahnschreiben,Schutzschriften, Anträge und Erklärungen. Im Preis enthalten ist derOnline-Zugang zu den wichtigsten BGH- und OLG-Entscheidungen.

Dirk LehrWettbewerbsrechtTipps und TaktikC. F. Müller Verlag, 2., neu bearb. Aufl., Heidelberg 2004186 S., kart., 29,– €. ISBN 3-8114-1932-3Das Buch bietet dem Benutzer einen Überblick über die besonderspraxisrelevanten Sachverhalte und ermöglicht dem Ratsuchendeneinen Einstieg in die Falllösung. Schlagwortartige Hinweise, Tipps undFallbeispiele aus der Rechtsprechung machen die Grundproblemeeinprägsam; Musterschreiben bieten Formulierungshilfen für dieaußergerichtliche und gerichtliche Korrespondenz.

Ursula Tschichoflos (Hrsg.)Das erfolgreiche ErbrechtsmandatDer Praxisleitfaden für den RechtsanwaltDeubner Verlag, Köln 2004Loseblattwerk, 1 Band, ca. 900 S. mit CD-ROM, 118,– €ISBN 3-88606-522-7Das Werk ist insbesondere für den auf Erbrecht nicht spezialisiertenAnwalt konzipiert. Wie ein praktischer Leitfaden orientieren sich dienach Mandaten unterteilten Kapitel am Arbeitsablauf eines Anwalts.Neben der Angabe grundlegender Gerichtsentscheidungen finden sichStrategietipps und Hinweise auf besondere Fallkonstellationen. DieCD-ROM enthält praktische Arbeitshilfen (Checklisten, Muster undFormulierungshilfen) zu den einzelnen Mandatsphasen.

Harald KinneMängel in MieträumenGrundeigentum-Verlag, 4., akt. u. erw. Aufl., Berlin 2004366 S., kart., 19,80 €. ISBN 3-926773-92-8Das Spektrum der in Wohnungen auftretenden Mängel ist denkbarbreit. Der Autor, Vors. Richter am LG Berlin, arbeitet die gesamte Recht-sprechung auf und berücksichtigt die bisherigen Reformen und Geset-zesänderungen. Besondere Praxisfreundlichkeit erfährt der Band durchzahlreiche sehr gut verständliche Fallbeispiele und eine umfangreicheaktualisierte Minderungsliste mit den durch die Gerichte zugebilligtenMinderungsquoten.

Klaus-Peter BeckerAlkohol im StraßenverkehrBußgeld und StrafverfahrenDeutscher Anwaltverlag, 4. Aufl., Bonn 2004453 S., brosch., 32,– €. ISBN 3-8240-0717-7Der Autor erläutert sämtliche Alkoholdelikte im Straßenverkehr, dieErmittlungshandlungen der Polizei, die Verfahren der Bußgeldbehördeoder der Staatsanwaltschaft, das gerichtliche Bußgeld- oder Strafver-fahren, die Vollstreckung und alle damit in Zusammenhang stehendenFragen wie Nachschulung oder Wiedererteilung der Fahrerlaubnis. Einweiterer Abschnitt behandelt die versicherungsrechtlichen Folgennach Alkoholfahrten. Der Anhang enthält zahlreiche Musterschreiben.

Hermann NeidhartBußgeld im AuslandDeutscher Anwaltverlag, 2. Aufl., Bonn 2004336 S., brosch., 29,90 €. ISBN 3-8240-0650-2Der Autor, Rechtsanwalt und Leiter des Bereichs Auslandsrecht in derJur. Zentrale des ADAC, gibt Anwälten, aber auch interessierten Kraft-fahrern kompetent und leicht verständlich Auskunft auf viele Fragenim Zusammenhang mit der Verfolgung von Verkehrsverstößen in denzehn wichtigsten europäischen Reiseländern. Ein Novum ist dabei dieZusammenstellung von Bußgeldern im Ausland.

VI Neue Justiz 11/2004

BuchumschauOVG Berlin: Erfolgreiche Anträge gegen Schließung des Flughafens Tempelhof

Mit Beschlüssen v. 23.9.2004 (1 S 45/004 u. 46/04) hat das OVG Berlinin zwei gegen die Stilllegung des Verkehrsflughafens Berlin-Tempelhofzum 31.10.2004 gerichteten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzeszugunsten der Ast. entschieden. Bei den Ast. handelt es sich um Flug-gesellschaften und Luftfahrtserviceunternehmen, die ihren Sitz odereine Betriebsstätte auf dem Flughafen Tempelhof haben. Gegenstand des Rechtsstreits war die für sofort vollziehbar erklärteEntscheidung der Berliner Luftverkehrsbehörde, die Berliner Flug-hafengesellschaft mit Wirkung v. 31.10.2004 von der Betriebspflichtfür den Flughafen Tempelhof zu entbinden. Ziel der Maßnahme ist, denrückläufigen Flugverkehr schon vor dem Ausbau des FlughafensSchönefeld zum Single-Standort Brandenburg Berlin International (BBI)auf die bestehenden Flughäfen Tegel und Schönefeld zu verlagern. ZurBegründung wurde u.a. angeführt, dass der Flughafen Tempelhof vonder Berliner Flughafengesellschaft, die im wirtschaftlichen Eigentumder Länder Berlin und Brandenburg sowie des Bundes steht, defizitärbetrieben werde und die durch die Stilllegung frei werdenden Mittelfür den Ausbau des Flughafens Schönefeld eingesetzt werden könnten. Das OVG hat die dadurch nur mittelbar betroffenen, allerdings bereitsim Verwaltungsverfahren angehörten Ast. als antragsbefugt angesehenund ihrem Interesse, von einer sofortigen Stilllegung des Flughafensverschont zu bleiben, das ausschlaggebende Gewicht beigemessen.Das Luftverkehrsrecht sieht keine Befugnis der Luftverkehrsbehördevor, einen genehmigten, planfestgestellten und betriebsbereiten Ver-kehrsflughafen auf unbestimmte Zeit durch bloße Befreiung desFlughafenunternehmers von der öffentlich-rechtlichen Betriebspflichtstillzulegen, um ihn für einen eventuellen künftigen Bedarf vorzuhal-ten und ggf. wieder in Betrieb setzen zu können.

(aus: Pressemitteilung des OVG Berlin Nr. 35/04 v. 23.9.2004)

VG Berlin: Klage gegen Versetzung zum Stellenpool erfolglos

Das VG Berlin hat mit Urt. v. 29.9.2004 (5 A 210/04) die Klage einerBeamtin gegen ihre Versetzung zum Stellenpool abgewiesen. Die Kl.war Leiterin des Standesamtes im Bezirk M. Da nach der Zusammen-legung der Bezirke M. und H. von vorher zwei Standesamtsleiterstel-len nur noch eine erhalten blieb, fand ein Auswahlverfahren zwischender Kl. und der bish. Leiterin des Standesamtes H. statt. Im Juli 2001wurde entschieden, die Stelle mit der bish. Leiterin des StandesamtesH. zu besetzen. Die Kl. erhielt daraufhin die Mitteilung, dass sie demPersonalüberhang zugeordnet werde. In der Folgezeit wurde sie mehr-fach umgesetzt und arbeitete zuletzt in einem Sozialamt. Mit Bescheidv. 7.6.2004 wurde die Kl. schließlich zum Zentralen Personalüber-hangmanagement (Stellenpool) versetzt. Das VG ging davon aus, dass die Versetzung zum Stellenpool wegender im StellenpoolG (StPG) getroffenen Regelungen einen justiziablenVerwaltungsakt darstellt. In der Sache handelt es sich um eine durchdas StPG modifizierte Versetzung, die vom Gericht lediglich daraufhinzu überprüfen war, ob die vorangegangene Zuordnung zum Personal-überhang rechtmäßig erfolgte. Der Anspruch des Beamten auf amts-angemessene Beschäftigung wird durch die Versetzung zu einem zen-tralen Stellenpool, der über keine eigenen Dienstposten verfügt, nichtverletzt. Gem. § 2 StPG bezweckt die Versetzung gerade, die Personal-überhangkräfte entsprechend ihrem statusrechtlichen Amt zu beschäf-tigen. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit der Versetzungzum Stellenpool die Vermittlung einer amtsangemessenen Beschäf-tigung effektiv gefördert und damit gegenüber dem Zustand bei einemVerbleib der Personalüberhangkräfte bei ihren bisherigen Beschäfti-gungsstellen verbessert wird. Ein Rechtsfehler bei der Zuordnung zumPersonalüberhang war nicht erkennbar.

(aus: Pressemitteilung des VG Berlin Nr. 40/04 v. 29.9.2004)

Zur Zuordnung und Versetzung von Beschäftigten des öffentlichen Diensteszu einem zentralen Stellenpool siehe R. Gottwald, NJ 2004, 197 ff.

VIINeue Justiz 11/2004

Urs KindhäuserStrafgesetzbuchLehr- und PraxiskommentarNomos Verlagsgesellschaft, 2., Aufl. Baden-Baden 20041.044 S., geb., 39,– €. ISBN 3-8329-0874-9Das Werk erscheint in neu bearbeiteter Auflage und zeichnet sichinsbesondere dadurch aus, dass es die Vorteile von Kommentar undHandbuch verbindet und durch Beispiele und Kurzfälle das Verständ-nis auch schwieriger dogmatischer Fragen fördert. Die kompakteDarstellung ermöglicht dem Strafverteidiger den schnellen Einstieg indie Probleme der täglichen Praxis.

Rolf Schaefer/Dagmar GöbelDas neue Kostenrecht in ArbeitssachenVerlag C. H. Beck, München 2004142 S., kart., 19,– €. ISBN 3-406-51963-6Die Autoren erläutern die Auswirkungen des am 1.7.2004 in Kraftgetretenen KostenrechtsmodernisierungsG auf die Kosten in Arbeits-sachen. Behandelt werden das RVG, die Änderungen des GKG unddas neue Justizvergütungs- und -entschädigungsG sowie die Beson-derheiten im Rahmen von arbeitsrechtlichen Streitigkeiten.

Wolfgang HamerPersonalvertretungsgesetz BrandenburgBasiskommentar mit Wahlordnung Bund Verlag, 3. Aufl., Frankfurt/M. 2004331 S., kart., 24,90 €. ISBN 3-7663-2772-0Der Basiskommentar betrachtet das BbgPersVG aus Sicht des Personal-rats. Die rechtlichen Fragestellungen werden dabei unter Beachtungder neuesten Rechtsprechung beantwortet. In vielen Teilen wurde dieKommentierung erheblich erweitert und eine argumentative Ausein-andersetzung mit anderen Kommentaren vorgenommen.

ISOR e.V. (Hrsg.)Wertneutralität des RentenrechtsStrafrente in Deutschland?Kai Homilius Verlag, Berlin 2004273 S., geb., 18,– €. ISBN 3-89706-881-8Mit der Sammlung von Beiträgen sollen der »strafrechtsähnlicheRentenentzug« für ehem. DDR-Bürger sowie das politische und juristi-sche Vorgehen des Vereins ISOR dagegen, die dabei erreichten Erfolge,aber auch die Niederlagen aufgezeigt werden. In diesem Sinne stellt diePublikation zugleich eine chronologische Wiedergabe der Bemühun-gen des Vereins um Rentengerechtigkeit dar und zeichnet ein eindrucks-volles Bild der Geschichte der wertneutralen Entwicklung des Renten-rechts in Deutschland

Deutscher Richterbund (Hrsg.)Handbuch der Justiz 2004R. v. Decker’s Verlag, 27. Jahrgang, Heidelberg 2004760 S., geb., 83,– €. ISBN 3-7685-0523-5Das Handbuch gewährleistet den schnellen Zugriff auf eine Fülle wich-tiger, sonst oft nur schwer einzuholender Informationen und bieteteinen vollständigen Überblick u.a. über Strukturen und personelleBesetzung der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Justizverwaltungenin Bund und Ländern. Enthalten sind Namen, Dienststellung und -altervon Richtern, Staatsanwälten und Beamten der Justizverwaltungen,aktuelle Postanschriften, Telefon- und Faxnummern, E-Mail-Adressensowie die Pressestellen der Behörden.

Weitere Neuerscheinungen:

Nomos Gesetze: Öffentliches Recht, Zivilrecht, Strafrecht3 Bände, Nomos Verlagsgesellschaft, 13. Aufl., Baden-Baden 2004.Ca. 4.600 S., brosch., 39,– €. ISBN 3-8329-0832-3.

Schadstoffe in WohnungenHygienische Bedeutung und rechtliche Konsequenzen. Von H.-J. Moriskeund R. Beuermann. Grundeigentum-Verlag, Berlin 2004. 124 S., kart.,19,80 €. ISBN 3-937919-08-2.

(ausführliche Rezensionen bleiben vorbehalten)

Die Evangelische Akademie Loccum veranstaltet vom 22. bis 24.November 2004 die Tagung

»Verschoben ist nicht aufgehoben …Die Umsetzung der Arbeitsmarktreform und

das Ende der Verschiebebahnhöfe«.Es sind u.a. folgende Themen vorgesehen:• Was bringt die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe

im Kontext der Arbeitsmarktreformen?Aktuelle Entwicklungen bei der Umsetzung (Ref.: Dr. Rolf Schmach-tenberg, Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit)Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt (Ref.: Dr. Ulrich Walwei,stv. Dir. des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg)

• Wege in den ersten Arbeitsmarkt? Einstiegsgeld und Zuverdienst(Ref. u.a.: Dr. Ulrich Cramer, Ministerium für Gesundheit und Sozia-les des Landes Sachsen-Anhalt; Gunter Schmalz, Geschäftsf. derSächsischen Aufbau- und Qualifizierungsgesellschaft mbH, Zwickau)

• Zusatzjobs, 1-Euro-Jobs – oder was? (Ref.: Dr. Stefan Hoehl, Bundes-vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin; BernhardJirku, Ver.di, Berlin; Jürgen Kühl, Ministerium für Wirtschaft, Tech-nologie und Arbeit, Erfurt)

• Die Zusammenarbeit zwischen der Bundesagentur für Arbeit und denKommunen Herausforderungen – Lösungsansätze – Perspektiven (Ref.: HeinrichAlt, Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg; Dr. Matthias Schulze-Böing,Ltr. des Amtes für Arbeitsförderung und Statistik, Offenbach)Fallmanagement: Aktivierung – Vermittlung – Hilfe? (Ref. u.a.: Burk-hard Walter, Sozialamt, Kassel)

• ARGE – Option – tertium (non) datur? Institutionelle Ausgestaltungund rechtliche Aspekte der Zusammenarbeit (Ref. u.a.: ChristianArmborst, Niedersächs. Ministerium für Soziales, Frauen, Familieund Gesundheit; Sonja Gartemann, Kreisrätin, Landkreis Osnabrück;Udo Glantschnig, Agentur für Arbeit, Essen)

• Wie kann die Beteiligung der Maßnahmeträger erfolgen? (Ref. u.a.:Katja Barloschky, Geschäftsf., bremer arbeit gmbH; Marc Hentschke,Geschäftsf., Neue Arbeit GmbH, Stuttgart)

Tagungsort: Ev. Akademie Loccum, 31545 Rehburg-LoccumTagungsgebühr: 120 € einschl. Übernachtung und VerpflegungWeitere Informationen und Anmeldung: Ev. Akademie Loccum, Postfach2158, 31545 Rehburg-Loccum. Tel.: (05766) 81-0, Fax: (05766) 81-900;E-Mail: [email protected]; Internet: www.loccum.de

*Das Kommunale Bildungswerk e.V. führt im Dezember 2004 in Berlinfolgendes Spezialseminar durch:

»Pacht- und Garagenverträge – Vertragsneuabschlüsse in den Liegenschaftsämtern«.

Schwerpunkte:• Grundzüge der Garagen- und Stellplatzmiete• Grundzüge des Pachtrechts• Pachtgegenstand und Inventarliste• Entgeltregelungen; Verzug• Kündigung und Beendigung der Pacht• Aufwendungsersatz und Entschädigung• Konsequenzen für den Grundstücksankauf und -verkaufTermin: 6.12.2004Dozent: Rechtsanwalt Uwe AderholdSeminargebühr: jeweils 175 €Weitere Informationen: Kommunales Bildungswerk e.V., Gürtelstr. 29 a/30,10247 Berlin. Tel.: (030) 293350-0, Fax: (030) 293350-39; E-Mail:[email protected]; Internet: www.kbw.de

*Juristische Seminare in Berlin veranstaltet im Nov./Dez. 2004 unterBerücksichtigung aktueller Gesetzesänderungen den Lehrgang

»Zwangsvollstreckungsrecht 2004Block II: Immobiliarvollstreckung«.

Kurs 6 (Aufbaukurs, praxisrelevante Spezialfragen): 8./9.11.2004Kurs 7 (Gläubigertaktik in d. Immobiliarvollstreckung): 29.11.2004Kurs 8 (Zwangsverwaltung): 6.12.2004Referent: Prof. Dieter Eickmann, BerlinTagungsort: Hotel Steigenberger, BerlinWeitere Informationen und Anmeldung: Juristische Seminare in Berlin,Karin Behr, Rackebüller Weg 2B, 12305 Berlin. Tel. u. Fax: (030) 743 19 36;E-Mail: [email protected]; Internet: www.behr-seminare.de

Veranstaltungstermine

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Chefredakteurin:Rechtsanwältin Adelhaid BrandtAnschrift der Redaktion:Französische Straße 13 • 10117 Berlin • Tel. (030) 2232840 • Fax (030) 22328433

Neue JustizZeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

Neue Justiz 11/2004

Anlässlich des Tages der Deutschen Einheit hat der Präsident des OLGBrandenburg am 3.10.2004 im Dom zu Brandenburg a.d. Havelin seiner Festrede ein paar Entwicklungen in unserem Staatswesenangesprochen, die er als ungut empfindet. Er sieht jedoch keinenAnlass zur Resignation: Einigkeit und Recht und Freiheit seien weiter-hin – mit den Worten der Nationalhymne – »des Glückes Unterpfand«.Die Rede wird im Folgenden unter Beibehaltung des Vortragstilswiedergegeben.

Sehnsucht nach dem Rechtsstaat

Am 3. Oktober 1990, heute vor 14 Jahren, wuchsen die beidendeutschen Staaten auch rechtlich wieder zusammen. Die Bürge-rinnen und Bürger der DDR, denen ihr eigener Staat, sichtbar anMauer, Stacheldraht und Reisebeschränkungen, nicht traute,hatten diesem Regime den Laufpass gegeben.

Die friedliche Revolution, die den Weg zur staatlichen Einheitbahnte, hatte verschiedene Ursachen. Die DDR war wirtschaftlicham Ende. Ihr Schutzschild, die UdSSR und das Lager der soziali-stischen Staaten, begann auseinander zu brechen. Die Menschenin der DDR wollten reisen können, auch in den Westen und ansMittelmeer, und sie wollten, wie es ihnen ja auch zustand, alsGegenwert für redliche Arbeit endlich auf ein Warenangebotzurückgreifen können, wie es in Westdeutschland und Westeuropalängst selbstverständlich war. Aber dies alles betrifft nur die äuße-ren Begleitumstände. Der Ursprung und eigentliche Beweggrundder friedlichen Revolution war der Sache nach die Sehnsuchtnach dem Rechtsstaat.

Damit sage ich nicht, dass die DDR durchgängig ein Unrechts-staat war – Rechtsstaat ist mehr als das Gegenteil von Unrechts-staat – und dass in der DDR alles und jedes schief gelaufen wäre.Das eine oder andere hätte man sich, bevor man alles sogleich überBord warf, ruhig etwas genauer anschauen sollen. Aber die DDRwar eben auch kein Rechtsstaat. Den Rechtsstaat kennzeichnet,dass die Grundrechte und Grundfreiheiten der Bürger obenanstehen, dass der Staat seinerseits an das Recht gebunden ist unddass er sich an diesem Maßstab messen lässt. Im Rechtsstaat gilt derPrimat des Rechts. Und das war in der DDR eben nicht gesichert.In der DDR galt der Primat der Politik. Die DDR setzte sich, wennes opportun erschien, über das Recht und zumal über die Grund-rechte und Grundfreiheiten ihrer Bürger hinweg, ohne hierfür vorGericht gezogen werden zu können.

Damit sollte, so der ursprüngliche und eigentliche Ansatz derfriedlichen Revolution, nun Schluss sein. Es sollte Schluss sein mitstaatlichen Gunsterweisen je nach Parteinähe. Die Devise solltefortan lauten: Recht und Gesetz für alle gleichermaßen ohneAnsehen der Person, ohne Bevorzugung oder Benachteiligung jenach Systemnähe, durchsetzbar vor Gericht, notfalls auch gegenden Staat selbst, und das Recht in der Hand von unabhängigenRichtern, unabhängig und deshalb frei von dem Verdacht, inihren Entscheidungen dann doch wieder dem Einfluss der Politikzu unterliegen. Insofern ist die Gewaltenteilung, ist eine unab-hängige Rechtsprechung als ebenbürtige Staatsgewalt für denRechtsstaat unentbehrlich.

Und das alles ist erreicht. Die Grundrechte gelten gleicher-maßen für jedermann unbeschadet seiner politischen Grundein-stellung. Es gilt gleiches Recht für alle. Das letzte Wort in allen

»Des Glückes Unterpfand« trotz allemDr. Peter Macke, Präsident des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, Brandenburg a.d. Havel

11 0458. Jahrgang • Seiten 481-528

Neue Justiz 11/2004482

Konflikten zwischen Staat und Bürger und im Verhältnis derBürger untereinander liegt bei den Gerichten. Die Richter sindunabhängig und unterliegen in ihrer Rechtsprechungstätigkeitkeinerlei Weisungen. Die Justiz genießt Vertrauen. Sie macht ihreSache ordentlich. Das gilt, gelegentlichen Unkenrufen zum Trotz,auch für das Land Brandenburg; bei jährlich rd. 150.000 Prozessenund rd. 400.000 anderweitigen Inanspruchnahmen der Gerichtevon der Grundbucheintragung bis zum Erbschein liegt derProzentsatz der Entscheidungen, in denen es Grund zur Aufregunggibt, nahe Null.

Das gemeinsame Haus der Deutschen ist der Rechtsstaat. Bisdahin also: Grund zur Genugtuung.

Sozialstaatsgarantie und Herstellung gleichwertigerLebensverhältnisse

Indes: Wir leben nicht im Paradies. Aktuell – und davon kannman sich auch am Tag der Einheit nicht freimachen – erleben wir,noch gestern in Berlin, massive Proteste gegen anstehendeVeränderungen im Sozialsystem, Stichwort Hartz IV. Für einedetailliertere Bewertung des Komplexes bietet dieser Festaktfreilich schon aus Zeitgründen keine Gelegenheit. Aber es wärefeige, dem Thema hier gänzlich auszuweichen.

Lassen Sie mich dazu an das Grundgesetz anknüpfen. Deutsch-land ist nach Art. 20 GG ein demokratischer und sozialer – ichwiederhole: auch ein sozialer – Rechtsstaat. Diese Festlegung aufden Sozialstaat hat teil an der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79GG. Selbst eine verfassungsändernde Mehrheit könnte sichüber die Sozialstaatsgarantie nicht hinwegsetzen. Das bedeutetzweierlei.

Zum einen: Hartz IV wäre unzulässig, wenn Deutschland alsFolge von Hartz IV kein sozialer Rechtsstaat mehr wäre. Das aberwird man schwerlich sagen können. Die Sozialhilfe, mit der dieArbeitslosenhilfe zusammengeführt wird, ist ihrerseits Ausweisdes Sozialstaats, vorbildlich in der Welt. Zum anderen gilt aberauch, dass die Sozialstaatsgarantie des Grundgesetzes der Durch-schlagskraft des so häufig gewordenen Hinweises auf wirtschaft-liche Zwänge, dem Hinweis darauf, dass der Sozialstaat nichtmehr bezahlbar sei, eine Grenze setzt. Diejenigen, die jetztMorgenluft wittern und immer neue Vorschläge zu immer neuenEinschnitten in das soziale Netz machen, dürfen deshalb denBogen nicht überspannen und mögen sich hüten, den innerenFrieden zu belasten. Sie können sich, wenn das so weitergeht,immer weniger und im Gegenzug können sich diejenigen, diesich dagegen wehren, eben angesichts der Sozialstaatsgarantie,immer mehr auf dem Boden des Grundgesetzes fühlen. Ich setzeauf Augenmaß auf beiden Seiten. Wer zündelt, darf sich nichtwundern, wenn ein Brand entsteht.

Eine Unstimmigkeit ist allerdings insofern unterlaufen, als dassog. Arbeitslosengeld II im Osten niedriger ausfällt als im Westen.Es geht dabei um 14 € im Monat, genau um 14 € im Monatinstinktlos und ohne Sinn und Verstand daneben gegriffen.Der lapidare Hinweis, die Löhne seien ja auch niedriger als imWesten, überzeugt nicht. Das Arbeitslosengeld II koppelt jagerade vom Arbeitseinkommen ab und will – ähnlich wie dieSozialhilfe – die Grundversorgung abdecken. Die Kosten hierfür,die Preise etwa für Nahrungsmittel und Kleidung im Supermarkt,sind aber in Ost und West offensichtlich dieselben. Demzufolgemuss auch das Arbeitslosengeld II gleich sein. Das gehört ausge-bügelt.

Soweit der Bundespräsident in diesen Wochen gemeint hat, inder Bundesrepublik bestünden »nun einmal große Unterschiede

in den Lebensverhältnissen« und wer sie einebnen wolle, zemen-tiere den Subventionsstaat, war damit ganz sicher nicht gemeint,dass es eine Ungleichbehandlung der Menschen je nach Region,wie sie uns bei diesen 14 € pro Monat beim Arbeitslosengeld IIentgegentritt, geben dürfe.

Auch diesbezüglich spricht das Grundgesetz eine klare Sprache.Niemand darf, so heißt es dort, wegen seiner Heimat und Herkunftbenachteiligt oder bevorzugt werden (Art. 3 Abs. 3). Das Grund-gesetz gibt dem Bund die Gesetzgebungskompetenz expressisverbis zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse imBundesgebiet (Art. 72 Abs. 2); und gleichwertig heißt gleichwertigund nichts anderes. Das Steueraufkommen, so das Grundgesetzan anderer Stelle, ist so auf Bund und Länder aufzuteilen, dass dieEinheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrtwird (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Ziff. 2).

Das Grundgesetz verbietet also in dieser Weise, standortgebun-den ungleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet hinzu-nehmen oder gar durch Minderleistungen noch zu verstärken.Es gebietet vielmehr zur Herstellung gleichwertiger Lebensver-hältnisse Solidarität und Ausgleichszahlungen zu Gunsten derje-nigen, die es unverschuldet in ihrer Region nicht so gut getroffenhaben; Solidarität und Ausgleichszahlungen, wie sie übrigens infrüheren Jahren der Bundesrepublik auch solche Bundesländer,die sich heute zögerlich zeigen und zu zieren beginnen, mit dergrößten Selbstverständlichkeit und ohne sich zu zieren ihrerseits inAnspruch genommen haben, als es ihnen noch nicht so gut ging.

Das Prinzip der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnissedurchzieht, wie ergänzend angemerkt sei, auch den Einigungs-vertrag. Es gab Anfang der 90er-Jahre keine Festveranstaltung, inder nicht die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse inOst und West geradezu als Leitmotiv der Wiedervereinigungimmer wieder von neuem beschworen worden wäre. Es wäreschofel, jetzt davon wieder abzurücken. Die Menschen habendarauf vertraut und vertrauen weiter darauf. Der Staat darfVertrauen, das er selbst gesät hat und das seine Bürger in ihngesetzt haben, nicht enttäuschen, wenn er nicht auf die Anklage-bank geraten will.

Recht und demokratischer Rechtsstaat

Auch ansonsten kann die Freude über die endlich wiedergewon-nene Einheit in Frieden und Freiheit nicht davon entbinden, sichGedanken zu machen über Entwicklungen und Tendenzen, dieunserem Staatswesen, wenn wir nicht aufpassen, einen Teil seinerAnziehungskraft nehmen könnten. Wie alles von Wert muss auchder Rechtsstaat gehegt und gepflegt werden. Da aber gibt es einpaar Punkte, die einen beunruhigen können.

Erosion des Rechtsbegriffs

Schon vom Wort her, erste Bemerkung, geht es beim Rechtsstaatums Recht, ist sein eigentliches Substrat das Recht. Ist es nicht einAlarmzeichen, dass dieser Topos – »Recht« – zunehmend unscharfgeworden ist, ja seinen Zauber und seinen Glanz eingebüßt hat?

In unserer Nationalhymne ist dieser Zauber noch lebendig.Da ist vom Recht als Unterpfand des Glücks für unser Vaterlanddie Rede. Das hat was. Und an solchem Maßstab gemessen wirktdas, was heutzutage in den Gesetzblättern als Recht daherkommt,meist eigenartig kleinkariert; und bürokratisch, umständlich undfür den Normalbürger, manchmal auch für den Juristen, weit-gehend unverständlich obendrein. Der Gesetzgeber überschlägtsich dabei gelegentlich bis an die Grenze des Kuriosen. Zum

Aufsätze Macke, »Des Glückes Unterpfand« t rotz a l lem

483Neue Justiz 11/2004

Beispiel ist das Einkommensteuergesetz in den letzten 14 Tagendes vergangenen Jahres neun Mal geändert worden, alles zum1.1.2004 in Kraft tretend. Die Vorstellung, dass sich die Leuteunterm Weihnachtsbaum mit Steuerrechtsänderungen befassenwürden, ist geradezu komisch.

Das Recht versinkt gewissermaßen in einem Regelungsbrei.Das verdunkelt die Rechtsidee, verspielt die Autorität des Rechtsund ist damit dem Rechtsstaat, der das Recht im Namen führt,höchst abträglich. Neuerdings wird gar die Forderung erhoben,alle Regelungen zeitlich, z.B. auf fünf Jahre, zu limitieren. Das istgefährlicher Unfug. Recht mit Verfallsdatum ist ein Widerspruchin sich selbst. Zum Recht gehört Unverbrüchlichkeit und Stetigkeit.Die Zehn Gebote lassen sich nicht limitieren. Unser BürgerlichesGesetzbuch ist in seinen tragenden Teilen seit mehr als 100 Jahrenin Kraft und prägt seither in segensreicher Weise unsere Rechts-und Wirtschaftsordnung. Recht braucht Vertrauen. Und Vertrauengewinnt nur, was vertraut ist. Recht mit Verfallsdatum ist daherdas falsche Rezept.

Ich hab’ gar nichts dagegen, den Normendschungel radikal zulichten. Noch besser wäre es gewesen, ihn gar nicht erst auf-wachsen zu lassen. Also: weg damit!, aber nicht mit der gleich-zeitigen Einladung, etwas anderes an die Stelle zu setzen nach derDevise »Macht ja nichts, tritt in fünf Jahren sowieso außer Kraftund dann fällt uns schon wieder was anderes ein«. Nein: Was denNamen Recht verdient, muss stehen bleiben und vom Dickichtbefreit umso markanter hervortreten. Und wo wirklich etwasneu geregelt oder geändert werden muss, hat das so treffend undso weise zu geschehen, dass es Fuß fassen und auf Jahre hinausBestand haben und Wirkung entfalten kann.

Besser als Recht mit Verfallsdatum wäre es, einmal eine Zeit-lang überhaupt keine neuen Gesetze mehr zu machen, um dieDinge sich setzen zu lassen. Dem Recht, seiner Vertrauenswür-digkeit, der Rechtskultur und der Rechtstreue würde eine solcheAtempause nur gut tun!

Ökonomieprinzip nicht Maß aller Dinge

Ein ungutes Gefühl, zweite Bemerkung, verbindet sich auch mitden immer deutlicher hervortretenden Rückwirkungen der – frei-lich angespannten und komplizierten – Wirtschaftslage auf Politikund Gemeinwesen. Das gilt nicht erst seit Hartz IV. Die allgemeineBewusstseinslage wird seit Jahr und Tag mehr und mehr, dieWertediskussion geradezu beiseite schiebend, von Sorgen wirt-schaftlicher und haushaltspolitischer Art in Anspruch genommen.Die Politik interessiert sich inzwischen in der Hoffnung aufkonjunkturelle Besserung mehr für den wirtschaftlichen Erfolgder Unternehmen als für die Rechte der wirtschaftlich Schwäche-ren. Das ist eine schwierige Gratwanderung.

Selbstverständlich brauchen wir eine solide wirtschaftlicheGrundlage. Und unser Staat braucht Steuern, die nur bei Ertragund Gewinn fließen; er braucht sie nicht zuletzt auch für Trans-ferleistungen innerhalb der Gesellschaft im Interesse der sozialenGerechtigkeit. Aber unbeschadet dessen: Das Ökonomieprinzipdarf nicht zum Maß aller Dinge werden, darf nicht dazu führen,dass Großunternehmen, und seien sie noch so erfolgreich undsteuerkräftig, immer noch größer werden und damit das wirt-schaftliche Ungleichgewicht im Lande noch zunimmt.

Wirtschaftsmacht hat als solche keine demokratische Legiti-mation. Die Wirtschaft muss sich vielmehr ihrerseits in denDienst des Gemeinwohls stellen. Eigentum verpflichtet, seinGebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen, sosagt es das Grundgesetz. Das gilt der Sache nach für Wirtschafts-potential schlechthin. Auch Wirtschaftspotential verpflichtet und

muss zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Wir wollendarauf achten, dass das nicht in Vergessenheit gerät.

Verwischung von Verantwortlichkeiten

Unbehagen, so die dritte Bemerkung, bereitet ferner, dass immerhäufiger wichtige und wichtigste Angelegenheiten im Verantwor-tungsbereich von Parlament und Regierung als den eigentlichzuständigen demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern inirgendwelche Ausschüsse, Kommissionen, »Pakt«-Gremien undKonsensrunden vorverlagert werden. Hinter der dort gefun-denen Lösung steht dann, weil es sich um einen Kompromisshandelt, niemand mehr vollen Herzens; jeder versteckt sichdahinter, dass mehr halt nicht durchzusetzen gewesen sei. Aberes kommt auch niemand mehr davon herunter und der eigent-lich berufene Verantwortungsträger, Parlament oder Regierung,ist »politisch« kaum mehr Herr seiner Entschlüsse. Das läuft aufeine fragwürdige Verantwortlichkeitsverwischung im Staatehinaus.

Das Leitbild des Grundgesetzes ist nicht der paktierende Staat,in dem sich einer hinter dem anderen versteckt, sondern ein Staatder geschichteten Verantwortlichkeit, ein Staat, in dem die jeweilszuständige Staatsgewalt, und zwar nicht nur formal, sondernkraft eigener Kompetenz und aus eigener Überzeugung, zu ihrerVerantwortung zu stehen hat. Entscheidungskompetenz undVerantwortung gehören zusammen.

Die Verantwortungsdiffusion, die wir stattdessen erleben, trägtzur Staatsverdrossenheit bei. Sie verstärkt das Gefühl, dass in derPolitik alle unter einer Decke stecken und für Pleiten ja dochniemand haftbar gemacht werde.

Mehr Vorsicht bei Privatisierungen

Mehr Vorsicht geboten scheint mir auch, vierte Bemerkung,gegenüber dem fast schon zur fixen Idee gewordenen Ruf nachPrivatisierung staatlicher Aufgaben. Richtig ist, dass nicht allesund jedes in die Hand des Staates gehört. Der totalitaristischeStaat hat abgewirtschaftet. Aber der demokratische Staat bleibt,und zwar auch für den Fall von Krisenzeiten, der Gesamtheitseiner Bürger verpflichtet und darf die Mittel zur Wahrnehmungdieses Auftrags nicht leichtfertig aus der Hand geben.

Es war durch das Mittelalter hindurch und bis in das 19. Jahr-hundert hinein, Preußen auch in dieser Hinsicht durchaus alsMotor, ein mühsamer Prozess, die private und für diesen Fallnaheliegenderweise Privatinteressen – meist von Adelsfamilienund Kaufmannsdynastien – verfolgende Regie in Angelegen-heiten von allgemeinem Interesse zurückzudrängen und demunkontrollierten Handeln auf eigene Faust einen Riegel vorzu-schieben, z.B. Privatfehden und Selbstjustiz zu unterbinden,privat aufgebotenen Söldnertrupps das Handwerk zu legen undfür die Allgemeinheit bedeutsame Belange wie das Verkehrs- undPostwesen oder auch die Steuereintreibung dem privatnützigenRegalienwesen zu entziehen und – aus Gemeinwohlgründensowie zur Sicherstellung fairer Bedingungen für alle – in staatlicheObhut zu nehmen.

Inzwischen ist der Staat in breiter Front auf dem Rückzug undgibt das Zepter gewissermaßen wieder aus der Hand, wenn auchnicht mehr an den Adel, so doch, jedenfalls meistens, an Groß-konzerne. Das geht gut, solange es gut geht. Aber es ist nichtungefährlich. Der Staat kann in die Abhängigkeit der Geister gera-ten, die er da gerufen hat. Er muss ja daran interessiert sein, dassdie ausgelagerten Bereiche reibungslos funktionieren, weil davondie Zufriedenheit der Bürger und Wähler abhängt, und er wird

Macke, »Des Glückes Unterpfand« t rotz a l lem

Neue Justiz 11/2004484

damit ein Stück weit für Pressionen der privaten Träger empfäng-lich. Und wenn es bei diesen privaten Trägern aus wirtschaft-lichen oder anderen Gründen dann doch einmal zu Ausfällenkommt, kann er ja nicht mir nichts dir nichts das Kommandozurückübernehmen und sieht sich dann womöglich einem Chaosgegenüber. Nicht dass es uns eines Tages einmal leid tut, den Staatdurch allzu weitgehende Privatisierung aus seiner Verantwortungentlassen zu haben.

Übrigens scheint mir auch noch keineswegs ausgemacht, dassPrivate wirklich preiswerter sind. Sie sind legitimerweise aufGewinn aus und geben ihre Kosten, ihr Personal meist besserbezahlend als der öffentliche Dienst, über die Preise weiter. Nichtganz selten begegnet man dem früheren Dezernatsleiter derBehörde bei verdoppeltem Gehalt als Geschäftsführer der neuenGmbH wieder. Das zahlt dann, wie gesagt, der Verbraucher.

Auszug der Politik in die Medien

Als problematisch empfinde ich, letzte meiner besorgten Bemer-kungen für heute, etwa auch den zunehmenden Auszug derPolitik aus dem Parlament in die Medien. Das geht inzwischenin bedenklicher Weise zu Lasten des Stellenwerts der Demokratieim allgemeinen Bewusstsein und hat geradezu Züge einer Medio-kratie: »Mediokratie statt Demokratie«, heißt es schon.

Bitte vergegenwärtigen Sie sich, dass auch die Presse und dieanderen Medien, so wichtig eine freie Presse und die freie Bericht-erstattung für eine freie Gesellschaft sind, aus sich selbst herausjedenfalls keine demokratische Legitimation haben. Dahinterstehen Private, stehen Verleger, Sendeanstalten, Herausgeber,Redakteure und Journalisten, sie alle mit privaten Interessen undprivaten Ambitionen, interessiert an Auflagenhöhe und Einschalt-quoten, an Berufserfolg und an Berufsrenommee, untereinanderin Konkurrenz stehend und in ihren Mitteln allzu oft nichtwählerisch, um es milde auszudrücken.

Die Politik muss sich der Presse und den Medien stellen, selbst-verständlich, aber sie darf sich davon nicht wie von einer Drogeabhängig machen. Das Forum der politischen Auseinanderset-zung in einer parlamentarischen Demokratie ist das Parlament.Das aber muss sich inzwischen einiges gefallen lassen. Die großenpolitischen Themen werden, jedenfalls gewinnt man bisweilendiesen Eindruck, nurmehr als verspätete Pflichtübung imDeutschen Bundestag erörtert, nachdem sich die tonangeben-den Politiker zuvor schon längst in Zeitungsinterviews und vorallem in Fernseh-Talkshows positioniert und damit zugleichdie eigene Fraktion ungefragt schon mit festgelegt haben. DieZeiten, in denen man gebannt einer Parlamentsdebatte am Radiooder im Fernsehen folgte und dabei noch was Neues hörte,sind weitgehend Vergangenheit – ein trauriger Befund, wie ichfinde.

Einigkeit und Recht und Freiheit

Trotz allem, meine Damen und Herren, besteht kein Grund zurResignation. Bitte verstehen Sie die vorangegangenen besorgtenBemerkungen als eine verdeckte Liebeserklärung für den Staat,in dem wir leben. Das ist wie bei einem Menschen, den manschätzt. Man wünscht ihm, dass er gesund bleibt. Genausomüssen wir uns wünschen, dass unser Gemeinwesen, weil schät-zenswert, gesund und stabil und vor Fehlentwicklungen bewahrtbleibt.

Der Rechtsstaat des Grundgesetzes hat sich, trotz allem, durchJahrzehnte bewährt. Das Recht ist und bleibt die gemeinsame

Klammer. Das Recht gibt der staatlichen Einheit, zu der wirendlich wiedergefunden haben, den äußeren Rahmen und deninneren Halt. Und erst das Recht sichert die Freiheit. Auch dieFreiheit stünde nur auf dem Papier und wäre nichts wert, wennsie nicht auch rechtlich und gerichtlich durchsetzbar wäre.Insofern ist und bleibt das Recht die eigentliche Grundlage fürdas Zusammenleben im Staate in Einheit und Freiheit. Es ist ein– natürlich zunächst nur der Sprachrhythmik geschuldeter, dannaber eben doch eine Botschaft enthüllender – schöner Zufall(auch Zufälle sprechen ja manchmal ihre eigene Sprache), dass inunserer Nationalhymne das Recht seinen Platz in der Mittezwischen Einigkeit und Freiheit findet und damit in diesemDreiklang von Einigkeit und Recht und Freiheit das verbindendeElement bildet.

Lassen Sie mich an diesem unserem Nationalfeiertag abschlie-ßend aus der Präambel des Grundgesetzes in der Fassung von Mai1949 zitieren. Dort heißt es, formuliert in einer Zeit, als sichDeutschland nach einem von Deutschland selbst zu verantwor-tenden verheerenden Krieg gerade erst aus Schutt und Asche undSchmach und Verzweiflung zu erheben begann, unter den dama-ligen Verhältnissen fast irreal anmutend und geradezu Prophetiein Anspruch nehmend sowie in einer Sprache, wie sie eindrucks-voller nicht sein kann, dass sich Deutschland dieses Grundgesetzgebe – ich zitiere wörtlich –

»im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Men-schen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatlicheEinheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem ver-einten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«.

Und nach einem Hinweis auf die damalige deutsche Teilung folgtsodann, was die Älteren unter uns ein zu Ende gehendes Lebenlang begleitet hat, ich zitiere wiederum wörtlich:

»Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgerufen, in freier Selbst-bestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«.

Das alles, meine Damen und Herren, ist wunderbarerweise wahrgeworden.

Ich habe noch die Worte meines Vaters im Ohr, als er vor denrauchenden Trümmern unserer Kreisstadt meinte: »Aus diesemLand wird nie mehr was«. Es ist anders gekommen. Die Wunsch-träume der Präambel des Grundgesetzes sind wahr geworden.Die nationale und staatliche Einheit ist gewahrt. Unser Land istgleichberechtigtes Glied in einem zusammenwachsenden Europa.

Und dieses politisch zusammenwachsende Europa ist größer alsman es sich 1949 vorstellen konnte. Dass z.B. Polen dabei ist, istGrund zu tief empfundener Freude und stellt unser Land Branden-burg, als daran angrenzend, gleichsam in vorderster Linie in diehistorische Mission, den Ausgleich nach Osten ebenso unum-kehrbar zu machen, wie es nach Westen hin gelungen ist.Deutschland dient, auch das ist wahr geworden und trägt zugleichzu unserer inneren Einheit bei, dem Frieden in der Welt, so gut eskann.

Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, ist die Selbstver-pflichtung der Präambel des Grundgesetzes eingelöst, die Einheitund Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu voll-enden. Den entscheidenden Anteil daran hatten die Bürgerinnenund Bürger der DDR mit der friedlichen Revolution des Jahres1989, die die Voraussetzungen für die dann am 3. Oktober 1990vollzogene Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter derGeltung des Grundgesetzes geschaffen hat, an die der heutige Tagder Deutschen Einheit erinnert.

Einigkeit und Recht und Freiheit bleiben des Glückes Unter-pfand trotz allem. Wir sollten darum bemüht bleiben, brüderlich,so brüderlich wie möglich, und mit Herz und Hand.

Aufsätze Macke, »Des Glückes Unterpfand« t rotz a l lem

485Neue Justiz 11/2004

Der Fiskus ist nicht selten gesetzlicher Erbe überschuldeter Nachlässe.Dies birgt Risiken der Haftung in sich. Der Autor gibt einen Überblicküber das Nachlassinsolvenzverfahren als ein Mittel der Haftungs-begrenzung.

I. Einleitung

In den einzelnen Bundesländern und auf Bundesebene beschäf-tigen sich unterschiedliche staatliche Stellen mit Erbschaften, diedem Fiskus nach § 1936 BGB zugefallen sind, weil keine anderenErben vorhanden sind oder weil alle vor dem Fiskus in Fragekommenden Erben die Erbschaft ausgeschlagen haben.

Neben den (Einzel-)Fällen, in denen dem Fiskus über § 1936BGB ein Millionenerbe zufällt, haben sich die zuständigen Behör-den vor allem auch mit Nachlässen zu beschäftigen, die ganz klarüberschuldet sind oder bei denen nicht feststeht, ob eine Über-schuldung vorliegt. Häufig wird die Abwicklung dieser Nachlässedadurch erschwert, dass sich Vermögenswerte des Erblassers nurschwer ermitteln lassen (z.B. Erblasser verstirbt in Sachsen, diegrundpfandrechtlich belasteten Eigentumswohnungen befindensich im Ruhrgebiet) oder dass sich der Wert von Bestandteilen desVermögens des Erblassers nur schwer feststellen lässt (z.B. Ermitt-lung des Wertes von Gesellschaftsanteilen, wenn der ErblasserGesellschafter einer GmbH oder Kommanditist einer KG war).1

Nicht selten sind schwierige gesellschafts- und insolvenzrecht-liche Fragen zu lösen (z.B. Kombination der Fiskalerbschaftmit der Insolvenz einer Gesellschaft, bei welcher der ErblasserGesellschafter war; hier sind Auseinandersetzungen mit demInsolvenzverwalter über Eigenkapitalersatzrecht denkbar).2

Der Fiskus als Erbe muss sich diesen Problemen stellen, da er– anders als andere Erben – nicht die Option hat, die Erbschaftnicht anzutreten. Der Fiskus kann als gesetzlicher Erbe dieErbschaft nicht ausschlagen (vgl. § 1942 Abs. 2 BGB) und nach§ 2346 BGB auch nicht darauf verzichten. Durch den Ausschlusseines Ausschlagungsrechts für den Fiskus wollte der Gesetzgeberverhindern, dass Erbschaften herrenlos werden.3

Da der Fiskus damit keine Möglichkeiten hat, eine nach § 1967BGB bestehende unbeschränkte Haftung als Erbe für die Nach-lassverbindlichkeiten durch die Ausschlagung der Erbschaftabzuwehren, muss er seine Haftung nachträglich beschränkenkönnen. Ohne die nachträgliche Limitierung der Haftung würdeder Fiskus nicht nur mit dem Wert des Nachlasses für die Nach-lassverbindlichkeiten haften, sondern auch mit dem eigenen, alsodem gesamten Vermögen des Fiskus. Um das Risiko einer eigenenHaftung möglichst zu minimieren, ist es für den Fiskus besonderswichtig, das Vorliegen von Insolvenzgründen zu erkennen unddarauf ggf. mit der Einleitung von haftungsbeschränkendenMaßnahmen zu reagieren. Gibt es hier Verzögerungen, so könnensich daraus Schadensersatzpflichten des Fiskus ergeben.

II. Möglichkeiten für eine Haftungsbeschränkungdurch den Fiskus

Der Fiskus als gesetzlicher Erbe kann seine Haftung gegenübereinzelnen Gläubigern oder gegenüber der Gesamtheit der Nach-

lassgläubiger nachträglich beschränken.4 Die Einrede des Auf-gebots der Nachlassgläubiger (§§ 1970-1973 BGB, §§ 989 ff. ZPO)wirkt nur gegenüber den Gläubigern des Nachlasses, die im Auf-gebotsverfahren nach § 1973 BGB ausgeschlossen worden sind.Letztlich kann das Aufgebotsverfahren nur dazu dienen, demErben Aufschluss über die zum Nachlass gehörenden Vermö-genswerte und die Höhe der Nachlassverbindlichkeiten zu geben,um ihm den Entschluss über die Beantragung eines Nachlass-insolvenzverfahrens oder einer Nachlassverwaltung und dieErrichtung eines Inventars zu ermöglichen.

Der Erbe kann in der Folge die Anordnung der Nachlassver-waltung beim Nachlassgericht beantragen. Das Verfahren derNachlassverwaltung dient der geordneten Tilgung der Nach-lassverbindlichkeiten eines nicht überschuldeten Nachlasses.Beim Nachlassinsolvenzverfahren wird das gleiche Ziel verfolgt,allerdings steht hier fest, dass der Nachlass überschuldet ist.Das Nachlassinsolvenzverfahren (und natürlich auch die Nach-lassverwaltung) werden nur durchgeführt, wenn die Erbmasseausreicht, um die Kosten für die Durchführung des jeweiligenVerfahrens zu bezahlen.5

Liegt eine überschuldete Fiskalerbschaft vor, so taugt dieNachlassverwaltung nicht als Mittel zur Abwicklung des Nach-lasses, da durch die Anordnung der Nachlassverwaltung nicht dasInstrumentarium zur Verfügung gestellt wird, um einen Gläubi-gerwettlauf zu verhindern. So sind auch nach Anordnung derNachlassverwaltung Zwangsvollstreckungen einzelner Gläubigerin den Nachlass möglich.6 Erst im Nachlassinsolvenzverfahrenwerden Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen nach § 89 InsOausgeschlossen und Zwangsvollstreckungen für einzelne Nach-lassgläubiger nach Eintritt des Erbfalls, die diesen Nachlass-gläubigern ein Sicherungsrecht (Absonderungsrecht) verschaffthaben, werden nach § 321 InsO für unwirksam erklärt.

Kommt es zur Durchführung des Nachlassinsolvenzverfahrens,so haftet der Erbe nach der Schlussverteilung und der Aufhebungdes Verfahrens nur dann unbeschränkt (mit seinem eigenenVermögen), wenn er sein Recht zur Haftungsbeschränkung

Die überschuldete FiskalerbschaftRechtsanwalt Dr. Christian Tetzlaff, Düsseldorf*

* Der Autor ist Rechtsanwalt bei Buchalik – Brömmekamp Rechtsanwälte/Steuerberater in Düsseldorf. Der Beitrag geht auf eine Seminarveranstaltungzurück, die er für Mitarbeiter des Staatsbetriebes Sächs. Immobilien- undBaumanagement im Febr. 2004 in Dresden durchgeführt hat. Der Autordankt den Seminarteilnehmern für die anregende Diskussion.

1 Diese Gesellschaftsanteile sind nicht am freien Markt handelbar. Für dieErmittlung des Wertes muss häufig das Gutachten eines Wirtschaftsprüferseingeholt werden. Oft ist im Gesellschaftsvertrag vorgesehen, dass einneuer Gesellschafter nur mit Zustimmung der anderen Gesellschafter auf-genommen werden kann.

2 Hat der Erblasser als Gesellschafter der notleidenden Gesellschaft stattEigenkapital ein ihm gehörendes Grundstück mietweise zur Verfügunggestellt, so kann nach den Regeln der eigenkapitalersetzenden Nutzungs-überlassung der Insolvenzverwalter der Gesellschaft die Mietzahlungenvom Erben zurückfordern und das Grundstück ohne Mietzahlung weiternutzen, vgl. dazu: v. Gerkan/Hommelhoff (Hrsg.), Hdb. des Kapitalersatz-rechts, 2. Aufl. 2002, Teil 8.

3 Palandt-Edenhofer, BGB, 63. Aufl. 2004, § 1942 Rz 3.4 Zu den Möglichkeiten einer Haftungsbeschränkung für einen »normalen«

Gläubiger vgl. Firsching/Graf, Nachlassrecht, 7. Aufl. 1994. Zu den Privile-gien für den Fiskus als gesetzlichen Erben vgl. § 2011 BGB (keine Inven-tarfrist für den Fiskus), § 780 Abs. 2 ZPO (Beschränkung der Haftung desErben bei Verurteilung in einem ursprünglich gegen den Erblasser geführ-ten Prozess).

5 Vgl. § 1988 Abs. 2 BGB für die Nachlassverwaltung und § 26 InsO für dasNachlassinsolvenzverfahren.

6 Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1984 Rz 5.

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verwirkt hat (§§ 1989, 2013 Abs. 1 BGB). Beim Fiskus kann dieserFall praktisch (nahezu) nicht eintreten, da bei ihm keine unbe-schränkte Haftung aufgrund der Versäumung der Errichtung einesInventars oder einer falscher eidesstattlicher Versicherung undeiner Inventaruntreue in Betracht kommt.7 Der Fiskus haftet dannalso beschränkt auf den Nachlass und kann sich auf die § 1989iVm § 1973 BGB berufen. Das bedeutet, dass er die Erfüllung dernoch offenen Nachlassverbindlichkeiten insoweit verweigernkann, als der Nachlass durch das Insolvenzverfahren erschöpftwird, vgl. § 1973 Abs. 1 BGB.8 Diese sog. Dürftigkeitseinrede aus§ 1973 BGB greift auch dann ein, wenn wegen fehlender Kosten-deckung ein Nachlassinsolvenzverfahren (oder eine Nachlass-verwaltung) nicht eröffnet werden kann.

III. Haftungsrisiken bei der Übernahme eines überschuldeten Nachlasses

Gegen den Fiskus können aber Schadensersatzansprüche geltendgemacht werden, wenn er ein Nachlassinsolvenzverfahren zu späteinleitet. Werden trotz vorliegender Überschuldung aus demNachlass an einzelne Gläubiger Zahlungen geleistet, so muss derFiskus diese Zahlungen in einem späteren Insolvenzverfahrenan die Masse erstatten (§ 1978 Abs. 1 BGB iVm Auftragsrecht).Machen einzelne Gläubiger gegenüber dem Nachlass Ansprüchegeltend und wird nicht erkannt, dass noch eine große Anzahlweiterer Verbindlichkeiten existiert und der Nachlass nicht für dieBefriedigung aller Forderungen ausreicht, und wird der Nachlassweitgehend dafür aufgebraucht, um diese Gläubiger zu befriedi-gen, so dass für die Befriedigung der Gläubigergesamtheit keineMittel zur Verfügung stehen, so kann der Insolvenzverwalter vomFiskus als Erben eine Erstattung dieser Zahlungen verlangen.9

Steht das Erbrecht des Fiskus fest, so ist es ratsam, eine Vermö-gensübersicht zu erstellen, um anhand dieser auch das Vorliegenvon Insolvenzgründen prüfen zu können. Ist kein Know-how fürdie Erstellung dieser Übersicht vorhanden bzw. fehlen die finan-ziellen Mittel für eine Hinzuziehung von externem Sachverstand(z.B. zur Ermittlung des Wertes eines Gesellschaftsanteils, Beur-teilung der rechtlichen Wirksamkeit von Forderungen/Verpflich-tungen), so kann dies grundsätzlich den Fiskus nicht im Hinblickauf seine Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags bei Vorliegenvon Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung entlasten.10 § 1980Abs. 2 BGB ordnet ausdrücklich an, dass der Kenntnis der Zah-lungsunfähigkeit oder der Überschuldung die auf Fahrlässigkeitberuhende Unkenntnis gleichsteht.

Bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht aus § 1980 BGBbesteht eine Schadensersatzpflicht gegenüber den Nachlassgläu-bigern, wenn diese durch die verspätete Antragstellung Schädenerlitten haben. In einem späteren Nachlassinsolvenzverfahrenwerden diese Schäden teilweise als Gesamtschaden durch denInsolvenzverwalter nach § 92 InsO geltend gemacht, teilweisekönnen die geschädigten Gläubiger selbst die Schadensersatz-ansprüche verfolgen.11 Im Einzelnen bedeutet dies in der Praxis,dass Gläubiger, die in Unkenntnis des Vorliegens von Insolvenz-gründen mit dem Nachlass Geschäfte gemacht haben (z.B. Auf-trag des Fiskus an Bewachungsunternehmen zur Sicherung vonzum Nachlass gehörenden Immobilien) und durch die Einleitungder Insolvenz Schäden erlitten haben (Ansprüche des Bewachungs-unternehmens können nur zur Insolvenztabelle angemeldet wer-den), Ansprüche als sog. Neugläubiger geltend machen können.Die Gläubiger, welche Ansprüche gegenüber dem Nachlass hattenund die infolge der verzögerten Einleitung des Insolvenz-verfahrens mit einer geringeren Quote rechnen müssen, habenebenfalls einen Schaden in Form der geringeren Quote erlitten.

Dieser Schaden der sog. Altgläubiger wird durch den Insolvenz-verwalter geltend gemacht.12

Bei der Erstellung der Vermögensübersicht, aus der dann derÜberschuldungsstatus erstellt werden kann, ist zu beachten, dassaktuelle und realistische Werte bei den einzelnen Vermögens-gegenständen zugrunde gelegt werden müssen. Sind einzelneVermögensgegenstände mit Sicherungsrechten zugunsten einzel-ner Gläubiger belastet, so sind diese ebenfalls zu berücksichtigen.

Beispiel: Gehört zum Nachlass ein bebautes Grundstück und exis-tiert ein Verkehrswertgutachten aus dem Jahre 1992, das den Ver-kehrswert der Immobilie mit 500 TDM beziffert, so muss überlegtwerden, ob dieser Verkehrswert auch noch heute erzielt werden kann.Ggf. muss ein neues Gutachten eingeholt werden oder – falls dies zuhohe Kosten verursacht – zumindest ein aktueller Wert unter Berück-sichtigung von Bodenrichtwerten ermittelt werden.

Ist das Grundstück mit Grundpfandrechten zugunsten einer Bankbelastet, so muss ermittelt werden, wie hoch die zu sichernde Forde-rung valutiert. Ist eine Grundschuld mit einem Nennbetrag von200 TDM eingetragen, wird der (aktuelle) Verkehrswert des Grund-stücks mit 320 TDM ermittelt und valutiert die zu sichernde Forde-rung bei 80 T€, so kann davon ausgegangen werden, dass die gesamtezu sichernde Forderung aus dem Erlös aus der Verwertung des Grund-stücks zurückgeführt werden kann und dass ein Restbetrag dem Nach-lass zusteht. Vom Verkehrswert des Grundstücks i.H.v. 320 TDMmüsste die zu sichernde Forderung i.H.v. 80 T€ abgezogen werden.U.U. wären noch weitere Abschläge vorzunehmen, wenn nicht zuerwarten ist, dass der Verkehrswert bei einer Verwertung erlöstwerden kann.

Die Werte in den Vermögensaufstellungen müssen bei Bedarfauch durch den Erben an die veränderten Umstände angepasstwerden.

Stellt sich z.B. heraus, dass ein Grundstück, das ursprünglich in derVermögensaufstellung mit 1 Mio. € angesetzt worden war, nur für700 T€ veräußert werden kann, so sind die Werte bei den Aktiva undauch bei den Passiva (nicht durch Grundpfandrechte abgedeckter Teildes valutierenden Darlehens) zu aktualisieren. Möglicherweise kannes dadurch auch zu einer Überschuldung kommen.

Aus der Vermögensaufstellung lässt sich ohne weiteres einÜberschuldungsstatus ableiten. Nicht in den Überschuldungs-status aufzunehmen sind die Verbindlichkeiten aus Vermächt-nissen und Auflagen.13

IV. Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens

Ein Nachlassinsolvenzverfahren ist zu eröffnen, wenn ein Insol-venzgrund (vgl. §§ 17 ff. InsO) vorliegt und eine die Kosten fürdie Abwicklung des Insolvenzverfahrens ausreichende Massevorhanden ist (vgl. § 26 InsO).

Als Eröffnungsgrund kommen im Nachlassinsolvenzverfahren– wie im »normalen« Insolvenzverfahren – die Insolvenzgründeder Zahlungsunfähigkeit, der drohenden Zahlungsunfähigkeitund der Überschuldung in Frage.

Bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit wird gem. § 17 Abs. 2InsO untersucht, ob die im Nachlass vorhandenen Mittel aus-reichen, um die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Bei einem

Aufsätze Tetz laf f , D ie überschuldete F i ska lerbschaft

7 Palandt-Edenhofer, ebenda, § 2011 Rz 1. In Betracht kommt aber eineunbeschränkte Haftung nach §§ 25, 27 HGB, wenn der Fiskus ein Handels-geschäft des Erblassers fortführt, vgl. dazu: MünchKomm-HGB/Lieb, 1996,§ 27 Rz 18 ff., 49 ff.

8 MünchKomm-InsO/Siegmann, 2003, Vor §§ 315-331 Rz 14.9 Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1979 Rz 4.

10 Vgl. dazu Palandt-Edenhofer, ebenda, § 1980 Rz 4. Im Einzelnen ist strei-tig, ob die Insolvenzantragspflicht schon dann verletzt ist, wenn der zurAntragstellung Verpflichtete durch Organisationsmängel keine Kenntnisvom Vorliegen eines Insolvenzgrundes erhält – vgl. dazu BGHZ 75, 96.

11 Zu Behandlung von Gesamtschäden und Individualschäden, von Altgläu-bigern und Neugläubigern vgl. ausführl.: Uhlenbruck-Hirte, InsO, 12. Aufl.2003, § 92 Rz 10.

12 BGHZ 138, 211 = NJW 1998, 2667.13 Viniol, in: Beck/Depre, Praxis der Insolvenz, 2003, § 30 Rz 22.

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Nachlassinsolvenzverfahren bleiben also die Vermögensverhält-nisse des Erben außer Betracht.14 Reichen die vorhandenenflüssigen Mittel nicht aus, um alle fälligen Verbindlichkeiten zuerfüllen, kann aber innerhalb weniger Wochen15 dieser Zustandbehoben werden (z.B.: ein Grundstück des Nachlasses wirdveräußert und aus dem Erlös können die Verbindlichkeitenbeglichen werden), so liegt nur eine Zahlungsstockung vor undes muss ebenfalls kein Insolvenzantrag wegen Zahlungsunfähig-keit gestellt werden.16 Kann nur ein sehr geringer Teil der fälligenVerbindlichkeiten nicht beglichen werden, so besteht ebenfallskeine Insolvenzantragspflicht. Der Insolvenzgrund der Zahlungs-unfähigkeit wird allerdings schon dann bejaht, wenn nur 5% derfälligen Verbindlichkeiten nicht bezahlt werden können.17

Der Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit liegtdann vor, wenn im Rahmen einer Prognose ermittelt wird, dassin der Zukunft eine Zahlungsunfähigkeit vorliegen wird (vgl. § 18Abs. 2 InsO). Dies ist dann der Fall, wenn zu erwarten ist, dassgrößere Verbindlichkeiten zukünftig fällig werden, schon jetztaber abzusehen ist, dass im Nachlass nicht die notwenigen finan-ziellen Mittel zur Bezahlung der Verbindlichkeiten zur Verfügungstehen werden.18 Bei Vorliegen des Insolvenzgrundes der drohen-den Zahlungsunfähigkeit besteht keine Pflicht zur Stellung einesInsolvenzantrags.19

Eine Überschuldung liegt dann vor, wenn das Vermögen diebestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (vgl. § 19 Abs. 2InsO). Für das Nachlassinsolvenzverfahren gelten folgendeModifikationen: Dem Wert des Nachlasses zum Zeitpunkt derVerfahrenseröffnung ist der Wert der ermittelten Nachlassver-bindlichkeiten gegenüber zu stellen. Bei der Anfertigung einesÜberschuldungsstatus sind die Verbindlichkeiten aus Vermächt-nissen und Auflagen nicht in den Status aufzunehmen.20

Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Überschuldung ergebensich insbesondere dann, wenn (im weitesten Sinne) wirtschaft-liche Unternehmungen zum Nachlass gehören: Bei einem Unter-nehmen ist im Wege einer zweistufigen Prüfung zu ermitteln, obeine Überschuldung vorliegt.21 Vereinfacht dargestellt wirdzunächst eine Fortbestehensprognose gestellt. Fällt diese Prog-nose negativ aus, so sind im Überschuldungsstatus Liquidations-werte anzusetzen. Diese Liquidationswerte (auch: »Zerschla-gungswerte«) liegen regelmäßig unter den bisher bilanziertenWerten, weil bei einer kurzfristigen Veräußerung aller Aktivageringere Werte erlöst werden als bei einer Fortführung desUnternehmens. Fällt die Fortbestehensprognose hingegen positivaus, so können im Überschuldungsstatus Fortführungswerteangesetzt werden. Auf dieser Grundlage ist dann zu ermitteln,ob eine Überschuldung vorliegt.22

Ein Nachlass ist natürlich nicht mit einer Gesellschaft gleich-zusetzen, bei der die eben dargestellte zweistufige Überschul-dungsprüfung durchgeführt werden muss. Trotzdem kommendie gleichen Überlegungen in vereinfachter Form auch bei derPrüfung einer Überschuldung des Nachlasses zum Tragen.

Beispiel: Gehört zum Nachlass ein sog. Bauträgerprojekt, d.h., hattesich der Erblasser gegenüber einem Käufer verpflichtet, ein schlüssel-fertiges Haus auf einem von ihm, dem Bauträger, erworbenen Grund-stück zu erstellen, so muss ermittelt werden, ob aus diesem ProjektVerluste auf den Nachlass zukommen und ob deshalb eine Über-schuldung eintreten könnte.

Im Beispiel hatte der Erblasser den Ankauf des Grundstücks mitBankkrediten finanziert. Außerdem hatte er mit Handwerkern Ver-träge für den Bau des Hauses abgeschlossen. Die Handwerker habenTeile ihrer Leistungen erbracht und auch schon Abschlagszahlungenerhalten. Der Käufer hat an den Erblasser (nach Baufortschritt)ebenfalls erste Zahlungen geleistet. Das Projekt ist so kalkuliert, dassder Bauträger aus diesem Geschäft einen Gewinn i.H.v. 25 T€ reali-sieren kann. Bis zum Tod des Erblassers gab es bei der Abwicklungdes Projekts auch keine ernsthaften Schwierigkeiten. Betrachtet

man die bereits erbrachten Leistungen und die vom Käufer erhal-tenen Anzahlungen, so stellt sich das Projekt bisher als positiv dar.Wird allerdings nicht weitergebaut, so kann der Käufer erheblicheAnsprüche gegenüber dem Bauträger geltend machen, die das positiveErgebnis in ein »Minusgeschäft« verkehren. Wurden nach dem Toddes Erblassers (des Bauträgers) die Maßnahmen am Bau eingestelltund droht jetzt der Käufer mit dem Rücktritt vom Kaufvertrag und derGeltendmachung von Schadensersatzansprüchen, so kann keinepositive Fortbestehensprognose abgegeben werden. Hieraus kann eineÜberschuldung des Nachlasses resultieren.

Dieses »Bauträgerprojekt« kann realistischerweise nur mit Zerschla-gungswerten im Überschuldungsstatus berücksichtigt werden. Fort-führungswerte könnten nur dann angesetzt werden, wenn durch densofortigen Weiterbau gewährleistet werden könnte, dass der Käufersein Rücktrittsrecht nicht ausübt. Die Zugrundelegung von Zerschla-gungswerten führt dazu, dass bei den Aktiva das Grundstück mit derim Rohbau befindlichen Immobilie erheblich abgewertet werdenmuss und bei den Passiva die Schadensersatzansprüche des Käufers zuberücksichtigen sind.

Der Erbe kann wegen aller drei oben beschriebenen Insolvenz-gründe (Zahlungsunfähigkeit, drohende Zahlungsunfähigkeit,Überschuldung) einen Antrag auf Eröffnung des Nachlass-insolvenzverfahrens stellen. Nachlassgläubiger können wegen derInsolvenzgründe Zahlungsunfähigkeit und ÜberschuldungInsolvenzantrag stellen, vgl. § 320 InsO. Für Nachlassgläubigergilt eine Antragsfrist, vgl. § 319 InsO.

Hat der Erbe Kenntnis vom Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeitoder Überschuldung des Nachlasses erlangt, so hat er unverzüg-lich, also ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB), einen Insolvenz-antrag zu stellen.

Bei der Stellung des Insolvenzantrags sind keine besonderenFormalitäten zu beachten: Zuständig für die Einleitung des Insol-venzverfahrens ist das Insolvenzgericht. Welches Insolvenz-gericht örtlich zuständig ist, ergibt sich aus § 315 InsO. Da dieFiskalerbschaft dem Bundesland zufällt, in dem der Erblasser sichniedergelassen hatte,23 und § 315 InsO auf den allgemeinenGerichtsstand/den Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit desErblassers abstellt, muss z.B. das Land Sachsen als Erbe den Antragbei dem für den Bezirk örtlich zuständigen Insolvenzgericht inSachsen stellen. In dem Insolvenzantrag ist der Insolvenzgrundzu nennen und es muss deutlich werden, dass der Fiskus als Erbedie Eröffnung eines Nachlassinsolvenzverfahrens beantragt.Dem Insolvenzantrag sollten Unterlagen beigefügt werden, ausdenen sich das Vorliegen eines Insolvenzgrundes ergibt.

In jedem Fall müssen dem Insolvenzverwalter (zunächst demvom Insolvenzgericht bestellten Gutachter bzw. vorläufigenInsolvenzverwalter) Unterlagen zu den Vermögenswerten, diesich im Nachlass befinden, ausgehändigt werden. Den Fiskus alsErben treffen die üblichen Auskunfts- und Mitwirkungspflichtennach § 97 InsO, d.h., der Erbe ist verpflichtet, dem Insolvenz-gericht, dem Insolvenzverwalter und den Gläubigerorganen überalle das Insolvenzverfahren betreffenden Fragen Auskunft zugeben. Die Erfüllung dieser Verpflichtungen kann nach § 98 InsOauch erzwungen werden.

Tetz la f f , D ie überschuldete F i ska lerbschaft

14 Viniol (Fn 13), § 30 Rz 21.15 In Rspr. und Lit. ist streitig, wie lange dieser Zeitraum dauern darf, vgl. BGH,

WM 2001, 2181, 2182 (ein Monat oder kürzer); Burger/Schellberg, KTS1995, 563, 567 (zwei bis drei Wochen); weitere Nachw. bei Uhlenbruck-Uhlenbruck (Fn 11), § 17 Rz 9.

16 Uhlenbruck-Uhlenbruck, ebenda, § 17 Rz 9.17 AG Köln, NZI 2000, 89, 91; Uhlenbruck-Uhlenbruck (Fn 11), § 17 Rz 10.18 Uhlenbruck-Uhlenbruck, ebenda, § 18 Rz 3 ff.19 Vgl. den Wortlaut des § 1980 Abs. 1 BGB.20 Viniol (Fn 13), § 30 Rz 22.21 MünchKomm-InsO/Drukarczyk/Schüler, 2001, § 19 Rz 42 ff. und Abb. 2

auf S. 343.22 Ausführl. dazu die Kommentierung des § 19 InsO von Drukarczyk/Schüler,

in: MünchKomm-InsO, 2001.23 Vgl. dazu Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1936 Rz 5.

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V. Ablauf eines Nachlassinsolvenzverfahrens

1. Überblick

§ 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO bestimmt, dass über »einen Nachlass« einInsolvenzverfahren eröffnet werden kann. Für die Abwicklungeines Nachlassinsolvenzverfahrens gelten die allgemeinen Bestim-mungen der InsO, soweit nicht in den §§ 315 ff. InsO Abwei-chendes geregelt ist.

Die Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens unterschei-det sich nicht wesentlich von der eines »normalen« Insolvenz-verfahrens:24 Nach der Stellung eines Insolvenzantrags setzt dasInsolvenzgericht eine mit der Abwicklung von Insolvenzverfah-ren vertraute Person als Gutachter ein. Dieser Gutachter prüft dasVorliegen von Insolvenzgründen und nimmt zu der Frage Stel-lung, ob die vorhandenen Mittel ausreichen, um die Kosten desVerfahrens zu decken. Teilweise ordnet das Gericht noch zusätz-liche Sicherungsmaßnahmen an, um Vermögensverschiebungenund Zwangsvollstreckungen einzelner Gläubiger zu unterbinden.Dazu wird dann häufig ein vorläufiger Insolvenzverwalter einge-setzt, der in der Praxis personengleich mit dem Gutachter ist.

Kommt dieser Gutachter zu dem Ergebnis, dass keine dieKosten des Verfahrens deckende Masse vorhanden ist, so emp-fiehlt er die Nichteröffnung des Verfahrens. Weist daraufhin dasInsolvenzgericht den Insolvenzantrag mangels Masse nach § 26Abs. 1 InsO ab, so steht dem Fiskus als Erben die »Dürftigkeits-einrede« oder auch »Erschöpfungseinrede« des § 1973 BGB zu.Seine Haftung beschränkt sich auf den Nachlassüberschuss.25 Diesändert allerdings nichts daran, dass der Fiskus als Erbe weiterhinEigentümer von nicht verwertbaren Grundstücken bleibt unddort für ordnungsgemäße Zustände sorgen muss.

Empfiehlt der Gutachter die Eröffnung des Insolvenzverfah-rens, so wird das Insolvenzgericht einen Nachlassinsolvenzver-walter bestellen. Auf diesen geht die Verwaltungs- und Verfü-gungsbefugnis über den Nachlass über, § 80 InsO.

Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens greift ein Vollstreckungs-schutz (vgl. §§ 88, 89, 321 InsO). Das bedeutet, dass es für einzelneGläubiger nicht mehr möglich ist, sich durch Einzelzwangsvoll-streckungsmaßnahmen vor allen anderen Gläubigern zu befrie-digen (z.B. Eintragung einer Sicherungshypothek auf einem zumNachlass gehörenden Grundstück, nachfolgende Zwangsverwer-tung und Befriedigung aus dem Erlös). Es gilt ein Vollstreckungs-verbot für Gläubiger. Zwangsvollstreckungen einzelner Gläubigerinnerhalb bestimmter Zeiträume vor der Einleitung des Insol-venzverfahrens werden für unwirksam erklärt, ohne dass es einerInsolvenzanfechtung durch den Verwalter bedarf.

Mit Verfahrenseröffnung treten folgende weitere wichtigeRechtswirkungen ein:

Nach § 240 ZPO werden laufende Prozesse unterbrochen; der Ver-walter erhält so die Möglichkeit zu prüfen, ob diese Rechtsstreitig-keiten für die Masse vorteilhaft sind. Ist absehbar, dass die Prozesseverloren gehen werden, kann der Insolvenzverwalter diese beenden,ohne dass weitere Kosten auf die Masse zukommen.

Nach §§ 81, 82 InsO sind Verfügungen des Schuldners unwirk-sam; an den Schuldner kann nicht mehr schuldbefreiend geleistetwerden.

Den Insolvenzverwalter trifft nach § 148 InsO die Pflicht zurInbesitznahme der Insolvenzmasse. Er hat allerdings die Möglichkeit,nicht verwertbare Gegenstände aus der Insolvenzmasse freizugeben.26

Nach einer Freigabe ist wiederum der Fiskus für die freigegebenenGegenstände/Grundstücke verantwortlich.

Auf den Insolvenzverwalter gehen die handels- und steuerrecht-lichen Pflichten über, § 155 InsO.

Aufträge und Vollmachten erlöschen automatisch mit Verfah-renseröffnung (§§ 115 ff. InsO).

Der Insolvenzverwalter kann auf vom Schuldner (hier: Erb-lasser und Erbe) vorgenommene Rechtshandlungen einwirken:

Bei von beiden Seiten nicht vollständig erfüllten Verträgen kann erdie Erfüllung oder die Nichterfüllung wählen (§ 103 InsO). Bei ungün-stigen Verträgen kann er Nichterfüllung wählen und die Masse damitvor weiteren wirtschaftlichen Verlusten, die bei der Abwicklung desVertrags entstehen würden, bewahren. Der andere Vertragspartner kannwegen Beendigung des Vertrags entstehende Schadensersatzansprü-che nur als Insolvenzforderungen gegenüber der Masse geltend machen.

Der Insolvenzverwalter kann u.a. die Sonderkündigungsrechte nach§ 109 InsO (Mietverhältnisse mit Nachlass als Mieter) und § 113 InsO(Dienstverhältnisse mit Nachlass als Arbeitgeber) ausüben. Es geltenkürzere Kündigungsfristen als außerhalb des Insolvenzverfahrens.

Der Insolvenzverwalter kann Rechtshandlungen des Erblassers unddes Erben anfechten (§§ 129 ff., 322 InsO).

2. Sonderregelungen im Nachlassinsolvenzverfahren

Im eröffneten Verfahren ist es die Aufgabe des Nachlassinsolvenz-verwalters, das gesamte Nachlassvermögen zu verwerten und denErlös gleichmäßig unter den Gläubigern zu verteilen. Als Beson-derheit gegenüber dem »normalen« Insolvenzverfahren (Verfah-ren über das Vermögen einer natürlichen Person oder einerGesellschaft) hat das Nachlassinsolvenzverfahren die Aufgabe,eine Trennung der zeitweilig vermischten Vermögensmassen desErblassers und des Erben herbeizuführen. Da den Nachlass-gläubigern eine Befriedigung aus dem ungeschmälerten Nachlassgewährt werden soll, versucht das Gesetz, rückwirkend auf denZeitpunkt des Erbfalls eine Trennung des Nachlasses vom übrigenVermögen des Erben herbeizuführen.27 Vereinfacht gesagt: Hatder Erbe etwas von dem Vermögen des Erblassers in sein Vermö-gen überführt, so muss er es wieder herausgeben. Hat der Erbeunter Einsatz von Mitteln aus seinem Vermögen Verpflichtungendes Erblassers erfüllt, so muss geregelt werden, welche Ansprücheder Erbe in der Insolvenz des Nachlasses geltend machen kann.

Die maßgeblichen Regelungen finden sich nicht nur in derInsO, sondern auch im BGB (u.a. §§ 1976 ff.).

Wiederherstellung erloschener Rechte, insbesondere Unwirksamkeitvon Aufrechnungen (§§ 1976, 1977 BGB): War der Erbe Schuldnerund gleichzeitig Gläubiger des Erblassers, so fielen Gläubiger- undSchuldnerrolle mit der Feststellung der Erbschaft des Fiskus in derPerson des Fiskus zusammen. Es muss die Rechtslage wie zumZeitpunkt des Erbfalls wiederhergestellt werden.

Haftung des Erben für die bisherige Verwaltung (§ 1978 BGB):Im Falle der Eröffnung des Nachlassinsolvenzverfahrens haftetder Erbe den Nachlassgläubigern für die von ihm vorgenommeneVerwaltung. Diese Haftung richtet sich nach den Grundsätzen desAuftragsrechts. Umgekehrt steht dem Erben Aufwendungsersatznach den Regeln des Auftragsrechts zu.

Berichtigung von Nachlassverbindlichkeiten (§ 1979 BGB): Solangeder Erbe davon ausgehen darf, dass der Nachlass zur Berichtigungaller Nachlassverbindlichkeiten ausreicht, darf er diese Verbind-lichkeiten berichtigen.

Haftung des Erben wegen verspäteter Insolvenzantragstellung (§ 1980BGB): Verletzt der Erbe die Insolvenzantragspflichten, so haftet erden geschädigten Gläubiger zivilrechtlich auf Schadensersatz.

Aufsätze Tetz laf f , D ie überschuldete F i ska lerbschaft

24 Bei den »normalen« Insolvenzverfahren gilt es zu unterscheiden zwischenUnternehmensinsolvenzen und Insolvenzen über das Vermögen natür-licher Personen. Für die Abwicklung von Insolvenzverfahren natürlicherPersonen mit dem Ziel der Schuldbefreiung gibt es Sonderregelungen. Auchbei Unternehmensinsolvenzen können besondere Verfahren zur Anwen-dung kommen, z.B. die Eigenverwaltung oder das Insolvenzplanverfahren.

25 Vgl. dazu Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1973 Rz 2 ff.26 BGH, ZIP 2002, 1043; Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der

Insolvenz, 2002, Rz F 1 ff. mwN.27 Viniol (Fn 13), § 30 Rz 25 ff.

489Neue Justiz 11/2004

Die Regelungen in den §§ 315 ff. InsO modifizieren die allge-meinen Vorschriften zur Abwicklung von Insolvenzverfahren.Teilweise werden im Nachlassinsolvenzverfahren auch andereBegrifflichkeiten benutzt.

Im Insolvenzverfahren sind folgende wichtige Gläubigergrup-pen zu unterscheiden: Gläubiger von Massekosten (§ 54 InsO),Gläubiger von Masseverbindlichkeiten (§ 55 InsO u.a.), Insol-venzgläubiger (§ 38 InsO) und nachrangige Insolvenzgläubiger(§ 39 InsO).

Zu den Massekosten zählen die Gerichtskosten und die Vergütungund die Auslagen des Insolvenzverwalters. Masseverbindlichkeiten sindvor allem Verbindlichkeiten, welche der Insolvenzverwalter nachEröffnung des Insolvenzverfahrens begründet (z.B. Weiternutzungeiner gemieteten Immobilie – Verpflichtung zur Zahlung der Miete).Beide Gläubigergruppen erhalten im Regelfall 28 vollständige Befrie-digung. Insolvenzgläubiger sind alle diejenigen Gläubiger, deren For-derungen bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründetwaren. Im Insolvenzverfahren können diese Gläubiger ihre Forde-rungen zur Insolvenztabelle anmelden und im besten Fall mit einerQuote auf ihre Forderung rechnen. Nachrangige Insolvenzgläubigerrangieren noch nach dem Insolvenzgläubiger und erhalten imRegelfall keine Befriedigung. Zu den nachrangigen Insolvenzgläubi-gern gehören z.B. auch die Gesellschafter einer insolventen Gesell-schaft; weiterhin fallen unter § 39 InsO auch Geldstrafen, Geldbußenund Zinsansprüche.

Im Nachlassinsolvenzverfahren sind folgende Gläubigerkate-gorien zu unterscheiden:

– Nachlassinsolvenzgläubiger, § 325 InsO (vergleichbar mit denInsolvenzgläubigern),

– Nachrangige Nachlassinsolvenzgläubiger: Im Range nach denNachlassinsolvenzgläubigern und nach den nachrangigenInsolvenzgläubigern (§ 39 InsO) können gem. § 327 InsO diePflichtteilsberechtigten, die Gläubiger aus vom Erblasser ange-ordneten Vermächtnissen und Auflagen u.a. ihre Ansprüchegeltend machen,

– Massegläubiger: Der Katalog der Masseverbindlichkeiten wird in§ 324 InsO über die in den §§ 54, 55 InsO bezeichnetenVerbindlichkeiten hinaus wesentlich erweitert. Zu nennen sindinsbes. die durch den Erbfall ausgelösten Verbindlichkeiten.

Daneben gibt es aussonderungsberechtigte Gläubiger (z.B. Lea-singgeber), die Gegenstände aus der Insolvenzmasse herausver-langen können, und absonderungsberechtigte Gläubiger, die anbestimmten Gegenstände Sicherungsrechte geltend machen(z.B. Sicherungsabtretung von Forderungen, Sicherungsüber-eignung von Maschinen, Grundpfandrechte aus Grundstück desSchuldners) und daher in der Insolvenz abgesonderte Befriedi-gung aus dem Erlös der Verwertung dieser Gegenstände bean-spruchen können.

Das bedeutet bspw., dass eine Bank, die dem Schuldner/Erblassereinen Kredit i.H.v. urprünglich 650 T€ gegeben und diesen durch eineGrundschuld von nominal 650 T€ zzgl. dinglichen Zinsen abgesi-chert hat, bei einer Verwertung des Grundstücks aus dem Versteige-rungserlös von angenommen 550 T€ einen Anteil von 400 T€ erhält,wenn der Kredit nunmehr i.H.v. 400 T€ valutiert.29

Hinsichtlich der Geltendmachung und Verwertung vonSicherungsrechten (Aus- und Absonderungsrecht, vgl. §§ 47 ff.,165 ff. InsO) sind im Nachlassinsolvenzverfahren keine Beson-derheiten zu beachten.

3. Ansprüche des Fiskalerben im Nachlassinsolvenzverfahren

In der Praxis besteht im Falle der Einleitung eines Nachlassinsol-venzverfahrens ein großes Interesse des Fiskus, eine möglichstumfassende Befriedigung der von ihm verauslagten Mittel für dieAbwicklung des Nachlasses im Nachlassinsolvenzverfahren zuerhalten. Die Chancen für eine vollständige Erstattung der Kostensind dann gegeben, wenn diese als Masseverbindlichkeiten zu

klassifizieren sind. Allerdings werden Masseverbindlichkeiten imNachlassinsolvenzverfahren nur dann vollständig befriedigt,wenn keine Masseunzulänglichkeit vorliegt. Im Fall der Masse-unzulänglichkeit (vgl. §§ 208 ff. InsO) kommen die Sonder-bestimmungen des § 209 Abs. 1 InsO zur Anwendung. Das bedeutet,dass nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit (ursprüngliche)Masseverbindlichkeiten zu Altmasseverbindlichkeiten (§ 209Abs. 1 Nr. 3 InsO) herabgestuft werden. Altmassegläubigerkönnen nur mit einer anteiligen (quotalen) Befriedigung ihrerForderung rechnen.30

Die Verbindlichkeiten, die über den Katalog des §§ 54, 55 InsOund der Vorschriften des »Allgemeinen Teils« hinaus im Nachlass-insolvenzverfahren als Masseverbindlichkeiten geltend gemachtwerden können, sind in § 324 InsO aufgeführt.

Im nachfolgenden Beispielsfall soll exemplarisch gezeigt werden,wie Forderungen des Fiskalerben im Nachlassinsolvenzverfahrenzu klassifizieren sind.

a) Der Fiskus als gesetzlicher Erbe hat nach Feststellung seinergesetzlichen Erbenstellung alte Steuerrückstände des Erblassersaus der Zeit vor dem Erbfall beim Finanzamt (also bei sich selbst)bezahlt.

Einschlägig ist auf den ersten Blick § 326 Abs. 2 InsO: Bei denalten Steuerrückständen handelte es sich um eine Nachlass-verbindlichkeit. Es würde darauf ankommen, ob bei Befriedigungder Nachlassverbindlichkeit der Erbe annehmen durfte, dass derNachlass zur Berichtigung aller Nachlassverbindlichkeiten aus-reicht (vgl. § 1979 BGB). Unterstellen wir, dass hier die Voraus-setzungen des § 1979 BGB vorlagen,31 so wäre zu prüfen, ob derErbe die Nachlassverbindlichkeit mit Nachlassmitteln getilgt oderaus eigenen Mitteln bezahlt hat. Erfolgte eine Tilgung mit Nach-lassmitteln, so könnte der Erbe den vollen Betrag dem Nachlassals Ausgabe in Rechnung stellen; zur Erstattung wäre er bei Vor-liegen der Voraussetzungen des § 1979 BGB nicht verpflichtet,d.h., es würde bei der Befriedigung der Nachlassverbindlichkeitverbleiben und er könnte vom Insolvenzverwalter deshalb nichtin Anspruch genommen werden. Hätte der Erbe eigene Mittel zurTilgung der Nachlassverbindlichkeiten eingesetzt, so wäre derErbe mit seinem Erstattungsanspruch ohne Rücksicht auf denRang des Gläubigers, den er befriedigt hat, nach § 324 Abs. 1 Nr. 1InsO Massegläubiger.32

Dieses Ergebnis ist aber zu korrigieren, da im vorliegenden Fallder Fiskus als Erbe bei der Befriedigung der alten Steuerrückständeals Schuldner und als Gläubiger gehandelt hat. Hier findet derRechtsgedanke des § 1976 BGB Anwendung. Die Vorschrift des§ 1976 BGB regelt allerdings nicht unmittelbar die Wirksamkeitder vom Erben vorgenommenen Verfügungen.33 Das bedeutet,dass der Fiskus, wenn er aus seinen eigenen Mitteln die alten

Tetz la f f , D ie überschuldete F i ska lerbschaft

28 Ausnahme: masseunzulängliches Verfahren, vgl. §§ 208 ff. InsO. Steht fest,dass die Insolvenzmasse nicht ausreicht, alle Masseverbindlichkeiten zubefriedigen, so werden nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch denInsolvenzverwalter die schon bestehenden Masseverbindlichkeiten zuAltmasseverbindlichkeiten herabgestuft. Die Altmassegläubiger erhaltendann nur eine quotale Befriedigung ihrer Forderungen. Massegläubiger mitneuen Forderungen, die nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit begrün-det wurden, erhalten auf ihre Neumasseverbindlichkeiten im Regelfall einevollständige Befriedigung, vgl. Smid, Grundzüge des Insolvenzrechts,4. Aufl. 2002, § 23.

29 Vgl. zum Absonderungsrecht auch: Smid, ebenda, § 2 Rz 28 ff.30 Ausführl. dazu: MünchKomm-InsO/Siegmann (Fn 8), § 324 Rz 2, 13.31 Im vielen Fällen wird bei einer nachträglichen Einleitung eines Nachlass-

insolvenzverfahrens davon auszugehen sein, dass der Erbe keine ordnungs-gemäße Prüfung vorgenommen hat, ob der Nachlass zulänglich ist. Vgl. zuden Rechtsfolgen in diesem Fall: Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1979 Rz 2 ff.,u. MünchKomm-InsO/Siegmann, ebenda, § 326 Rz 6.

32 MünchKomm-InsO/Siegmann (Fn 8), § 326 Rz 5.33 MünchKomm-BGB/Siegmann, 3. Aufl. 1997, § 1976 Rz 10.

Neue Justiz 11/2004490

Steuerrückstände bezahlt hat, keinen Ersatz seiner Aufwendungenals Massegläubiger beanspruchen kann, sondern der Fiskus seineSteuerforderungen nur wie jeder andere Nachlassgläubiger zurInsolvenztabelle anmelden kann. Bei einer Befriedigung der altenSteuerrückstände aus Nachlassmitteln haftet der Fiskus als Erbenach § 1978 BGB.34

b) Nach Feststellung des gesetzlichen Erbrechts des Fiskusbeauftragt dieser eine Firma damit, im Winter den Schnee voreiner zum Nachlass gehörenden Immobilie zu räumen.

Im Nachlassinsolvenzverfahren sind die vom Fiskalerben an dieFirma geleisteten Zahlungen wirksam; hat der Fiskalerbe dieZahlungen an die Firma aus eigenen Mitteln geleistet, so ist er imNachlassinsolvenzverfahren Massegläubiger iSd § 324 Abs. 1 Nr. 1InsO.35

c) Nach Feststellung des gesetzlichen Erbrechts des Fiskuskommt es zu keiner Prüfung des Vorliegens von Insolvenzgrün-den beim Nachlass. Der Mitarbeiter der für Fiskalerbschaftenzuständigen Behörde bezahlt wahllos alte Rechnungen mit Mit-teln des Nachlasses, obwohl offensichtlich ist, dass der Nachlassnicht für die Befriedigung aller Nachlassverbindlichkeiten aus-reicht. Nach einem halben Jahr übernimmt ein neuer Mitarbeiterdie Bearbeitung der Erbschaft. Er stellt aufgrund der vorliegendenÜberschuldung den Antrag auf Einleitung eines Nachlassinsol-venzverfahrens.

Der Insolvenzverwalter stellt fest, dass der Nachlass von Anfangan überschuldet war.

Der Fiskus haftet in diesem Fall nach § 1978 Abs. 1 BGB iVmAuftragsrecht.36 Schadensersatzansprüche kann der Insolvenz-verwalter geltend machen, vgl. auch § 1978 Abs. 2 BGB.

Erstattet der Fiskus der Insolvenzmasse die entgegen § 1979BGB aus dem Nachlass entnommenen Beträge, so kann ergem. § 326 Abs. 2 InsO die (ursprünglich von ihm befriedigten)Forderungen der anderen Gläubiger im Insolvenzverfahren alsNachlassgläubiger geltend machen.37

VI. Resümee

Teilweise wird heute die Möglichkeit der Einleitung einesNachlassinsolvenzverfahrens bei den mit der Abwicklung vonFiskalerbschaften betrauten Mitarbeitern nicht als eine Hand-

lungsalternative wahrgenommen, sondern tatsächlich über-schuldete bzw. zahlungsunfähige Nachlässe werden weiterabgewickelt. Dadurch werden personelle Kapazitäten des Fiskusgebunden und häufig müssen noch eigene Mittel des Fiskus(also nicht Mittel aus dem Nachlass) für Sicherungsmaßnahmenetc. aufgewandt werden.

Durch die Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrenskönnen diese negativen Auswirkungen dann verhindert werden,wenn die vorhandene Masse ausreicht, um die Kosten für dieDurchführung eines Insolvenzverfahrens aufzubringen. Im eröff-neten Nachlassinsolvenzverfahren können in der Vergangenheitdurch den Erblasser vorgenommene Vermögensverschiebungenviel effizienter angegriffen und rückgängig gemacht werden alsaußerhalb der Insolvenz. Die Fälle, in denen Vermögensver-schiebungen des Erblassers zugunsten Dritter rückgängig gemachtwerden müssen, sind durchaus praxisrelevant (z.B. Erblasserüberträgt Vermögenswerte auf Erben, Erben schlagen Erbschaftaus, Fiskus erbt den überschuldeten Nachlass). Auch bei mitSicherungsrechten belasteten Vermögensgegenständen, die zumNachlass gehören, kann häufiger im Insolvenzverfahren eineschnellere und wirtschaftlichere Lösung herbeigeführt werden.

Bei der Abwicklung von überschuldeten Fiskalerbschaften isteine Vielzahl von rechtlichen Fragen zu lösen, insbesondere sindvertiefte Kenntnisse des Insolvenzrechts und des Nachlassrechtserforderlich. Diese Spezialkenntnisse sind regelmäßig bei Rechts-anwälten, die als Insolvenzverwalter tätig sind, vorhanden.

Darüber hinaus besteht selbstverständlich auch die Pflicht desFiskus zur Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens beiVorliegen von Insolvenzgründen. Der Fiskus als Erbe sollte dafürSorge tragen, dass das Vorliegen von Insolvenzgründen überprüftund ggf. zeitnah ein Nachlassinsolvenzverfahren eingeleitet wird.Wurde dieser Zeitpunkt versäumt und ist zu einem späterenZeitpunkt die Stellung des Insolvenzantrags unausweichlich,so können aufgrund der verzögerten Einleitung des Nachlass-insolvenzverfahrens erhebliche Schadensersatzforderungen aufden Fiskus zukommen.

Kurzbe i t räge Tetz laf f , D ie überschuldete F i ska lerbschaft

34 § 1978 BGB verweist auf das Auftragsrecht. Gehaftet wird also wegenSchlechterfüllung eines Auftrags.

35 Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1978 Rz 5.36 Ebenda, § 1979 Rz 4.37 Ebenda, § 1979 Rz 4.

Die wichtigsten Neuerungen beiden RVG-Gebührentatbeständen: Teil 3 Vergütungsverzeichnis (I)Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungs- und Arbeitsrecht, Bühl*

Teil 3 des Vergütungsverzeichnisses fasst insbesondere die Gebühren-tatbestände für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, Verfahren der freiwil-ligen Gerichtsbarkeit und der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeitenzusammen. Im ersten Teil seiner Erläuterungen behandelt der Autorneben dem Geltungsbereich vor allem die Grundsätze der mit dem RVGneu gestalteten Terminsgebühr.

1. Systematik und Geltungsbereich

a) Systematik

Ein gesetzgeberisches Ziel bei der Entwicklung des Kostenrechts-modernisierungsG war es, die gesetzlichen Bestimmungen überdie Vergütung anwaltlicher Tätigkeiten zu vereinfachen, transpa-renter zu gestalten und dem Aufbau anderer Kostengesetze anzu-gleichen. In Umsetzung dieser Zielvorgaben werden nunmehr

* Der Autor ist zusammen mit L. Kroiß Herausgeber des Handkomm. zum RVG,Baden-Baden 2004, und des monatlich erscheinenden RVG-Letters,München/Baden-Baden. Zu Teil 1 u. 2 VV siehe Mayer, NJ 2004, 398 ff.,445 ff.

491Neue Justiz 11/2004

in Teil 3 VV die Gebührentatbestände für bürgerliche Rechts-streitigkeiten einschließlich der Verfahren vor den Gerichten inArbeitssachen, Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, derVerwaltungs-, Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit und ähnlicherVerfahren zusammengefasst. Teil 3 VV bestimmt die Vergütungfür alle anwaltlichen Tätigkeiten im gerichtlichen Verfahren,die nicht in den Teilen 4 (Strafsachen), 5 (Bußgeldsachen) und6 (sonstige Verfahren) geregelt sind.

Allgemeine Grundlagen für die Vergütungsberechnung findensich in den Abschnitten 1 bis 4 des RVG; darüber hinaus könnenin den in Teil 3 VV eingeordneten Verfahren die allgemeinenGebühren aus Teil 1 VV entstehen.

b) Sachlicher Geltungsbereich

Neben den bereits genannten Verfahren gilt Teil 3 VV auch fürVerfahren der Zwangsvollstreckung, der Vollziehung der Arreste,einstweiligen Verfügungen und einstweiligen Anordnungen.

Auch die Gebühren in Angelegenheiten der freiwilligenGerichtsbarkeit bestimmen sich nunmehr nach Teil 3 VV. Unterder Geltung der BRAGO richteten sich diese Gebühren imgerichtlichen Verfahren weitgehend nach § 118 BRAGO. Imgerichtlichen FGG-Verfahren fallen somit nach dem RVG keineSatzrahmengebühren mehr an.

Der Gesetzgeber erhofft sich durch diese Neuregelung einerseitseine Zeitersparnis für Richter, Rechtspfleger und auch Rechts-anwälte, da nun auch in FGG-Verfahren bei der Kostenfestsetzungaufgrund des Wegfalls der Rahmengebühren die Prüfung derErmessenskriterien nach § 14 RVG entfällt. Andererseits erwarteter von dieser Änderung eine Entlastung der Gerichte von Vergü-tungsstreitigkeiten, da jetzt auch in FGG-Verfahren die Vergütungim Vergütungsfestsetzungsverfahren gegen den eigenen Mandan-ten nach § 11 RVG ohne Einschränkung festsetzbar ist, weil keineSatzrahmengebühren mehr anfallen.

c) Persönlicher Geltungsbereich

Die in Teil 3 VV geregelten Gebührentatbestände gelten zunächstfür die Verfahrensbevollmächtigten der Parteien der in diesemTeil des VV genannten Verfahren. Darüber hinaus bestimmtAbs. 1 der Vorbem. 3, dass auch der Rechtsanwalt als Beistand füreinen Zeugen oder Sachverständigen in den in diesem Teil des VVgeregelten Verfahren die gleichen Gebühren wie ein Verfahrens-bevollmächtigter erhält.

Die Tätigkeit des Anwalts muss darin bestehen, als Beistand füreinen Zeugen oder Sachverständigen tätig zu werden. Zeuge isteine am Verfahren nicht selbst als Partei oder als gesetzlicherVertreter einer Partei unmittelbar beteiligte Auskunftsperson,welche durch Aussage über Tatsachen oder tatsächliche VorgängeBeweis erbringen soll.1 In Abgrenzung zum Zeugen, der über seineeigene Wahrnehmung von Tatsachen und tatsächlichen Vor-gängen berichtet, unterstützt der Sachverständige das Gericht beider Auswertung vorgegebener Tatsachen, indem er aufgrundseines Fachwissens subjektive Wertungen, Schlussfolgerungenund Hypothesen bekundet.2

Absatz 1 der Vorbem. 3 betrifft nur die Tätigkeit des Rechts-anwalts als Beistand für einen Zeugen oder Sachverständigen in Ver-fahren, für die sich die Gebühren nach Teil 3 VV bestimmen. EineRegelung über die Vergütung der Tätigkeit als Beistand in anderenVerfahren ist in Vorbem. 4 Abs. 1 für Strafsachen, in Vorbem. 5Abs. 1 für Bußgeldsachen sowie in Vorbem. 6 Abs. 1 für diesonstigen Verfahren und in Abs. 2 der Vorbem. 2 für die außer-

gerichtlichen Tätigkeiten einschließlich der Vertretung in Verwal-tungsverfahren zu finden.

Nach Abs. 1 der Vorbem. 3 erhält der als Beistand für einenZeugen oder Sachverständigen tätige Rechtsanwalt in einemVerfahren nach Teil 3 VV die gleichen Gebühren wie ein Verfah-rensbevollmächtigter in dem entsprechenden Verfahren.

Nach Auffassung des Gesetzgebers ist die Gleichstellung mit dem Ver-fahrensbevollmächtigten gerechtfertigt, weil sich die Höhe der Gebüh-ren nach dem Gegenstandswert richtet. Maßgeblich sei nicht derGegenstandswert des Verfahrens, in dem der Zeuge aussagt oder in demder Sachverständige herangezogen wird, denn Gegenstand dieses Ver-fahrens sei nicht der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit, vielmehrbestimme sich der anzusetzende Wert nach § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG.3

2. Neue Gebührentatbestände

Das RVG hat die bisherige Unterscheidung von Prozess-, Verhand-lungs-, Erörterungs- und Beweisgebühr aufgegeben und kenntnur noch zwei Gebührentatbestände, nämlich die Verfahrens-und die Terminsgebühr.

a) Verfahrensgebühr

Nach Vorbem. 3 Abs. 2 entsteht die Verfahrensgebühr für dasBetreiben des Geschäfts einschließlich der Information; sieentspricht damit dem Abgeltungsbereich der bisherigen Prozess-gebühr nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO. Die Gebühr wird nun alsVerfahrensgebühr bezeichnet, weil sie auch in FGG-VerfahrenAnwendung finden soll.4 Der Anspruch auf die Verfahrensgebührentsteht, sobald der Rechtsanwalt von einer Partei zum Verfah-rensbevollmächtigten bestellt worden ist und eine unter dieVerfahrensgebühr fallende Tätigkeit ausgeübt hat; im Regelfallentsteht die Verfahrensgebühr mit der Entgegennahme der erstenInformation nach Erteilung des Auftrags.5

b) Terminsgebühr

Die Terminsgebühr, die in jedem Rechtszug einmal entstehenkann, ist ein Herzstück des neu konzipierten RVG und soll zusam-men mit der Verfahrensgebühr den Wegfall der Beweisgebührkompensieren. Die neue Terminsgebühr ist nicht lediglich eineandere Bezeichnung für die bisherige Erörterungs- bzw. Verhand-lungsgebühr nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 u. 4 BRAGO, sondern sowohl derHöhe nach als auch vom Anwendungsbereich her neu gestaltet.

Vertretung in einem Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin

Nach Abs. 3 der Vorbem. 3 entsteht die Terminsgebühr für dieVertretung des Auftraggebers in einem Verhandlungs-, Erörterungs-oder Beweisaufnahmetermin. Voraussetzung für das Entstehender Terminsgebühr ist in den drei genannten Entstehungsvarian-ten lediglich, dass ein Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweis-aufnahmetermin stattfindet und der Anwalt den Auftraggeber indiesem Termin vertritt. Irgendwelche inhaltlichen Anforderun-gen an die Tätigkeit des Rechtsanwalts anlässlich der Vertretungseines Auftraggebers in den genannten Terminen werden vomGebührentatbestand nicht gestellt. Allein schon die Termins-wahrnehmung löst den Gebührentatbestand aus, die Termins-gebühr hat insoweit den Charakter einer Anwesenheitsgebühr.

Mayer, Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen …

1 Zöller-Greger, ZPO, 24. Aufl., § 373 Rn 1.2 Ebenda, § 402 Rn 1.3 BT-Drucks. 15/1971, S. 209.4 Ebenda.5 Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, RVG, Komm., 16. Aufl. 2004, VV Vorb. 3 Rn 29.

Neue Justiz 11/2004492

Bei der neuen Terminsgebühr kommt es nicht mehr darauf an,ob Anträge gestellt werden oder die Sache erörtert wird. Vielmehrgenügt es für das Entstehen der Gebühr, dass der Rechtsanwalteinen Termin wahrnimmt. Unterschiede zwischen einer streitigenoder nicht streitigen Verhandlung, ein- oder zweiseitiger Erörte-rung sowie zwischen Verhandlung zur Sache oder nur zur Pro-zess- oder Sachleitung sollten nach dem Willen des Gesetzgebersweitgehend entfallen.6

Allerdings ist eine vertretungsbereite Anwesenheit in einemsolchen Termin erforderlich. Der Rechtsanwalt verdient die Ter-minsgebühr also nur dafür, dass er an dem Termin teilnimmt undwillens ist, im Interesse seines Mandanten die Verhandlung,Erörterung oder Beweisaufnahme zu verfolgen, um – falls dieserforderlich wird – einzugreifen. Bloße Anwesenheit des Anwaltsohne Vertretungsbereitschaft, bspw. wenn er erklärt, dass er nichtauftrete oder dass er an der Erörterung nicht teilnehmen werdeoder dass er nur seine Mandatsniederlegung mitteilen wolle, lösendie Terminsgebühr nicht aus, und zwar auch dann nicht, wennder Rechtsanwalt im Termin anwesend bleibt.7

Ist ein Termin als ein Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweis-aufnahmetermin vorgesehen, handelt es sich um einen Verhand-lungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin iSd Vorbem. 3Abs. 3 VV unabhängig davon, was in dem Termin tatsächlichpassiert. Es ist also nicht Voraussetzung für das Entstehen derTerminsgebühr in dieser Variante, dass dann auch tatsächlichverhandelt, erörtert oder ein Beweis erhoben wird; entscheidendist nur, dass es sich bei Aufruf der Sache noch um einen der dreigenannten Termine handelt.8

Wahrnehmung eines von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten Termins

Nach Abs. 3 der Vorbem. 3 entsteht die Terminsgebühr ferner,wenn der Anwalt einen von einem gerichtlich bestellten Sach-verständigen anberaumten Termin wahrnimmt. Voraussetzungfür das Entstehen der Gebühr in dieser Variante ist, dass der Sach-verständige gerichtlich bestellt ist,9 z.B. im Zuge der Beweisauf-nahme in einem gerichtlichen Verfahren oder im Rahmen einesselbständigen Beweisverfahrens nach den §§ 485 ff. ZPO. DesWeiteren muss der gerichtlich bestellte Sachverständige einenTermin, bspw. zur Erhebung der für seine gerichtliche Aufgabeerforderlichen Tatsachen, angeordnet haben; ferner fordert derGebührentatbestand in dieser Variante, dass der Anwalt einensolchen vom gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaum-ten Termin wahrgenommen hat.

Eine weitergehende inhaltliche Tätigkeit über die Wahrneh-mung des Termins hinaus fordert der Gebührentatbestand vomRechtsanwalt ebenfalls nicht. Die Gebühr entsteht bereits mitseiner Anwesenheit im Termin.10 Zwar spricht das Gesetz in Abs. 3der Vorbem. 3 bei den Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweis-aufnahmeterminen von einer »Vertretung« durch den Rechts-anwalt, während bei dem vom Sachverständigen anberaumtenTermin von einer »Wahrnehmung« des Termins durch denRechtsanwalt die Rede ist; eine unterschiedliche Tätigkeitsqualitätwird hierdurch aber nicht zum Ausdruck gebracht.11

Mitwirkung an auf die Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen ohne Beteiligung des Gerichts

Schließlich entsteht die Terminsgebühr nach Abs. 3 der Vorbem. 3auch dann, wenn der Anwalt an auf die Vermeidung oder Erledi-gung des Verfahrens gerichteten Besprechungen ohne Beteiligungdes Gerichts mitwirkt; sie entsteht allerdings nicht für Bespre-chungen mit dem Auftraggeber.

Diese Entstehungsvariante der Terminsgebühr ist die bedeu-tendste Neuerung bei der durch das RVG neu geschaffenen undgestalteten Terminsgebühr.

Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung das Ziel verfolgt, dassder Anwalt nach seiner Bestellung zum Verfahrens- oder Prozess-bevollmächtigten in jeder Phase zu einer möglichst frühen, derSach- und Rechtslage entsprechenden Beendigung des Verfahrensbeitragen soll. Er hat es deshalb für das Entstehen der Termins-gebühr genügen lassen, wenn der Rechtsanwalt an auf die Erledi-gung des Verfahrens gerichteten Besprechungen ohne Beteiligungdes Gerichts mitwirkt, insbesondere wenn diese auf den Abschlussdes Verfahrens durch eine gütliche Regelung zielen.

Solche Besprechungen waren unter der Geltung der BRAGO nichthonoriert worden. Dies hatte in der Praxis dazu geführt, dass eingerichtlicher Verhandlungstermin angestrebt wurde, in dem ein aus-gehandelter Vergleich nach »Erörterung der Sach- und Rechtslage« pro-tokolliert wurde, so dass die Verhandlungs- bzw. Erörterungsgebührnach § 31 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Nr. 4 BRAGO entstand. Mit dem erweiter-ten Anwendungsbereich der Terminsgebühr will der Gesetzgeber denParteien ein oft langwieriges und kostspieliges Verfahren ersparen.12

Der Gebührentatbestand in dieser Entstehungsvariante erfor-dert zunächst, dass eine auf die Vermeidung oder Erledigung einesVerfahrens gerichtete Besprechung stattfindet. Dies ist auf jedenFall dann erfüllt, wenn ein in Teil 3 VV genanntes Verfahrengerichtlich anhängig ist. Da jedoch bereits die Zielrichtung derVermeidung eines solchen Verfahrens genügt, ist es ausreichend,wenn die Besprechung dazu dienen soll, ein unter Teil 3 VVfallendes Verfahren zu vermeiden, und dem Anwalt zumindestein Prozessauftrag erteilt worden ist.13

Der Gebührentatbestand erfordert jedoch in dieser Entstehungs-variante, dass der Anwalt bei der Besprechung »mitwirkt«. Durchdie unterschiedliche Formulierung bei den einzelnen Entstehungs-varianten der Terminsgebühr, Vertretung bzw. Wahrnehmungeinerseits und Mitwirkung andererseits, macht das Gesetz deut-lich, dass – anders als in den übrigen Entstehungsvarianten – beider Terminsgebühr eine inhaltliche Anforderung an die Tätigkeitdes Rechtsanwalts bei der Besprechung gestellt wird, die über diebloße Teilnahme oder die bloße Anwesenheit bei der Besprechunghinausgeht.

Allerdings lässt der Begriff der »Mitwirkung« völlig offen, inwelcher Weise der Anwalt sich bei der Besprechung beteiligt.Deshalb genügt bereits jede über die bloße passive Teilnahmehinausgehende Tätigkeit bei einer auf die Vermeidung oderErledigung eines Verfahrens gerichteten Besprechung als »Mit-wirkung«.

So kann bspw. die Mitwirkung darin bestehen, dass derAnwalt die ihm unterbreiteten Vergleichsvorschläge als abwegigablehnt. Auch ist nicht erforderlich, dass ein streitiges Gesprächstattfindet.

Kurzbe i t räge Mayer, Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen …

6 BT-Drucks. 15/1971, S. 209.7 Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 59 f.; AnwK-RVG/

Gebauer, 2004, VV Vorb. 3 Rn 91 f., der insoweit zwischen passiver undaktiver Anwesenheit unterscheidet.

8 Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, ebenda, Vorb. 3 VV Rn 57.9 Mayer/Kroiß-Mayer, RVG, Handkomm., Vorb. 3 Teil 3 Rn 29; Gerold/

Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 79.10 Mayer/Kroiß-Mayer, ebenda, Vorb. 3 Teil 3 Rn 29 f.; Gerold/Schmidt-

Müller-Rabe (Fn 5) VV Vorb. 3 Rn 80 – »vertretungsbereite Teilnahme«.11 AnwK-RVG/Gebauer, VV Vorb. 3 Rn 116.12 BT-Drucks. 15/1971, S. 209.13 Mayer/Kroiß-Mayer (Fn 9), Vorb. 3 Teil 3 Rn 33; Gerold/Schmidt-Müller-

Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 91; Hansens/Braun/Schneider, Praxis des Vergü-tungsrechts, 2004, Teil 7 Rn 300; Bischof/Jungbauer/Podlech-Trappmann,Kompaktkomm. RVG, 2004, VV RVG, S. 499; a.A. AnwK-RVG/Gebauer,VV Vorb. 3 Rn 127 f., der zumindest Klageeinreichung fordert, so dass fürGespräche zwischen Klageauftrag und Klageeinreichung keine gesonderteTerminsgebühr anfällt.

493Neue Justiz 11/2004

Ruft der Rechtsanwalt den Verfahrensgegner an und unter-breitet ihm mündlich ein Einigungsangebot, das dieser sofortannimmt, fällt die Terminsgebühr an. Allein ausschlaggebend ist,ob das Gespräch mit dem Ziel geführt wurde, das Verfahren zuvermeiden oder zu erledigen.14

Die Besprechung kann mündlich oder fernmündlich15 erfol-gen. Der Gebührentatbestand erfordert in dieser Entstehungs-variante nur, dass eine Besprechung, die auf die Vermeidung oderErledigung eines Verfahrens gerichtet ist, stattfindet. Da lediglichBesprechungen mit dem Auftraggeber ausgenommen sind, ist esausreichend, wenn eine Besprechung mit der Zielsetzung derVermeidung oder Erledigung eines Verfahrens mit einem Dritten,bspw. mit einem in Betracht kommenden Zeugen oder einemSachverständigen, stattfindet. Aus der Formulierung des Gebüh-rentatbestands ergibt sich nicht, dass die Besprechung mit demaktuellen oder potentiellen Verfahrensgegner durchgeführt wer-den muss.16

Eine ausdrückliche Regelung der Frage, ob Voraussetzung fürdie Entstehung der Terminsgebühr in dieser Variante ist, dass dieauf Vermeidung oder Erledigung eines Verfahrens gerichteteBesprechung vorher geplant worden sein muss – also ein Terminfür die Besprechung vorher vereinbart wurde – oder ein zufälligesZusammentreffen aus anderem Anlass genügt, bei dem das Ver-fahren nebenbei besprochen und ggf. einer gütlichen Einigungzugeführt wird, findet sich im Gesetz nicht.

Die Bezeichnung der Gebühr als Terminsgebühr und auch derUmstand, dass die anderen Entstehungsvarianten der Termins-gebühr – nämlich die Vertretung in einem Verhandlungs-, Erör-terungs- oder Beweisaufnahmetermin oder die Wahrnehmungeines von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anbe-raumten Termins – jeweils immer einen vorher festgelegtenTermin voraussetzen, sprechen dafür, auch bei der Entstehungs-variante der Besprechung ohne Beteiligung des Gerichts zufordern, dass diese Besprechung vorher terminiert worden ist.

Andererseits fordert aber der Wortlaut des Abs. 3 der Vorbem.3 nicht diese strenge Auslegung. Das Gesetz spricht ausdrücklichlediglich von »Besprechungen« und nicht von »Besprechungs-terminen«. Der Begriff einer Besprechung setzt ebenfalls nichtvoraus, dass diese vorher geplant und ein Termin für die Bespre-chung vereinbart wurde, sondern beschreibt lediglich, dass einMeinungsaustausch über einen bestimmten Sachverhalt statt-finden muss. Auch der Wille des Gesetzgebers, mit dem weitenAnwendungsbereich der Terminsgebühr den Anwalt zu animie-ren, möglichst schnell zu einer Beendigung des Verfahrensbeizutragen, spricht eindeutig dafür, einen großzügigen Maßstabanzulegen und auch zufällige Besprechungen, die die Ver-meidung oder Erledigung eines Verfahrens zum Gegenstandhaben, für das Entstehen der Terminsgebühr ausreichen zulassen.17

3. Neue Anrechnungsvorschrift für Geschäftsgebühr

Absatz 4 der Vorbem. 3 enthält eine neue Anrechnungsvorschriftfür die Geschäftsgebühr nach den Nr. 2400 bis 2403 VV. Gemäߧ 118 Abs. 2 BRAGO war die für eine außergerichtliche Vertre-tung angefallene Geschäftsgebühr auf die entsprechendenGebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördlichesVerfahren anzurechnen. Absatz 4 der Vorbem. 3 bestimmt nun-mehr, dass, soweit wegen desselben Gegenstands eine Geschäfts-gebühr nach den Nr. 2400 bis 2403 VV entstanden ist, dieseGebühr zur Hälfte, höchstens jedoch mit einem Gebührensatzvon 0,75 auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrensanzurechnen ist.

Sind in derselben Angelegenheit mehrere Geschäftsgebührenentstanden, so soll nach Vorbem. 3 Abs. 4 Satz 2 die zuletztentstandene Gebühr maßgebend sein. Nach Vorbem. 3 Abs. 4Satz 3 erfolgt die Anrechnung nach dem Wert des Gegenstands,der in das gerichtliche Verfahren übergegangen ist. Die Begren-zung der Anrechnung trägt dem Umstand Rechnung, dass inNr. 2400 VV nur noch eine einheitliche Gebühr mit einem weitenRahmen für die vorgerichtliche Tätigkeit des Anwalts vorgesehenist. Weitere Differenzierungen hat der Gesetzgeber aus Gründender Vereinfachung nicht mehr vorgesehen.

Strittig ist, ob die Begrenzung der Anrechnung auf den Gebüh-rensatz von 0,75 auch dann gilt, wenn die Geschäftsgebührdurch den Mehrvertretungszuschlag nach Nr. 1008 VV erhöht ist.Eine ausdrückliche Regelung hierfür findet sich im RVG nicht.

Teilweise wird daher die Auffassung vertreten, dass der Höchst-satz der Anrechnung für jeden weiteren Auftraggeber um 0,15erhöht wird.18 Eine tragfähige Grundlage für diese Auffassungist jedoch ebenso wenig erkennbar wie eine Rechtfertigung desErhöhungssatzes von 0,15 je weiterem Auftraggeber bei derAnrechnungsobergrenze. Zu Recht geht daher die überwiegendeMeinung davon aus, dass die Geschäftsgebühr auch bei mehrerenAuftraggebern in den in der Vorbem. 3 Abs. 4 genannten Grenzen,also maximal mit einem Gebührensatz von 0,75, auf die Verfah-rensgebühr anzurechnen ist.19

Eine weitere, derzeit sehr aktuelle Streitfrage ist die Anrechnungder Geschäftsgebühr in den Übergangsfällen, in denen nochunter der Geltung der BRAGO eine Geschäftsgebühr nach § 118Abs. 1 Nr. 1 BRAGO entstanden ist, bei denen jedoch der Prozess-auftrag erst nach In-Kraft-Treten des RVG erteilt wurde, so dass fürdas gerichtliche Verfahren das RVG gilt.

Im Schrifttum wird insoweit teils die Auffassung vertreten,dass die Anrechnung nach der BRAGO vorzunehmen ist, so dassdie Geschäftsgebühr des § 118 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO vollständigauf die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV anzurechnen ist.20

Da sich die Vergütung im gerichtlichen Verfahren jedoch nachdem RVG richtet, ist auch die Anrechnungsvorschrift des RVG– zumal sie gesetzessystematisch in die Vorbem. 3 des Teils 3 VV,also des Teils, der sich den gerichtlichen Verfahren widmet,eingeordnet ist – zur Anwendung zu bringen, so dass in diesenFällen die nach der BRAGO entstandene Geschäftsgebühr nur zurHälfte, höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75, anzurech-nen ist.21

(wird im nächsten Heft mit Erläuterungen zu den wichtigstenGebührentatbeständen in Teil 3 VV fortgesetzt)

Mayer, Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen …

14 Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 95.15 Mayer, RVG-Letter 2004, 2; Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3

Rn 87; AnwK-RVG/Gebauer, VV Vorb. 3 Rn 122.16 Mayer/Kroiß-Mayer (Fn 9), Vorb. 3 Teil 3 Rn 37; Hansens/Braun/Schneider

(Fn 13), Teil 7 Rn 318; a.A. offenbar Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5),VV Vorb. 3 Rn 96 ff., der fordert, dass der Gesprächspartner aus dem Lagerdes Gegners kommt.

17 Mayer, RVG-Letter 2004, 2; Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3Rn 90.

18 AnwK-RVG/Hembach, VV Vorb. 3 Rn 188; Schneider/Mock, Das neueGebührenrecht für Anwälte, 2004, § 14 Rn 60.

19 Mayer/Kroiß-Dinkat (Fn 9), Nr. 1008 VV Rn 6; Mayer, RVG-Letter 2004,86 f.; Enders, RVG für Anfänger 12. Aufl., Rn 507; Hansens/Braun/Schnei-der (Fn 13), Teil 7 Rn 176; Hansens, RVGreport 2004, 95; unentschieden indieser Frage Drasdo, MDR 2004, 428 f.

20 Mayer/Kroiß-Klees (Fn 9), § 61 Rn 1; Schneider/Mock (Fn 18), § 34 Rn 27;AnwK-RVG/Hembach, VV Vorb. 3 Rn 190; Hansens, RVGreport 2004, 12;Hansens/Braun/Schneider (Fn 13), Teil 7 Rn 194 ff.

21 So auch Enders (Fn 19), Rn 20; Bischof/Jungbauer/Podlech-Trappmann(Fn 13), § 61 Rn 19 f.

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Vorne einsteigen, bitte!Zum Für und Wider technischer PräventionProf. Dr. Roland Hefendehl, Universität Dresden

1. Worum geht es?

Seit dem 5.4.2004 gilt bei der Berliner BVG: Eingestiegen wird nurnoch vorne. Das geht dann ganz einfach, wenn nur Fahrgästeeinsteigen wollen, dann bleiben die anderen Türen schlichtgeschlossen, was die Einsteigewilligen nach einigen Sekundenschon realisieren. Steigen indes – wie meistens – auch welche aus,so können die trotz aller Hinweisschilder Unwissenden der neuenRegelung durchaus in den Bus hineinschlüpfen, werden dann abervom Fahrer per Lautsprecherdurchsage gnadenlos nach vornegepfiffen. So ganz genau wissen sie nicht, warum, machen esaber, um dann erleichtert i.d.R. die Monatskarte vorzuzeigen.

Die Akzeptanz unter den Fahrgästen scheint groß zu sein. Eineempirische Begleitforschung zur Rush-Hour auf dem Ku’dammmuss indes noch erfolgen. Wenn 30 Fahrgäste statt an drei Türennur noch an einer Tür einsteigen dürfen, scheinen Verzögerungenunausweichlich zu sein. Wie intensiv wird der Fahrer die Ausweiseund Fahrkarten in dieser Konstellation überhaupt überprüfenkönnen? Was ist schließlich mit den fünf Fahrgästen, die dochdurch die beiden hinteren Türen einstiegen? Müssen sie sich nunden Weg durch die Massen bahnen oder drückt der Fahrer einAuge zu? – Erste eigene Erkenntnisse gehen dahin, dass dieSuppe nicht so heiß gegessen wird, wie sie gekocht wurde: DemFahrer reicht es, wenn er schlicht einen Fahrschein vorgezeigtbekommt, ohne dass er den Stempel akribisch untersucht. Wenneinige Fahrgäste hinten einsteigen, so »übersieht« er dies schoneinmal.

2. Hell- und Dunkelfeld beim Schwarzfahren

a) Schwarzfahren gehört zu denjenigen Delikten, die viele vonuns schon begangen haben oder begehen.1 Die Motivationenmögen unterschiedliche sein: schlichtes Geldsparen, Empörungüber die hohen Fahrpreise oder Bequemlichkeit werden ganzvorne auf der Liste stehen. Dass es dabei um strafbares Verhaltengeht, scheint vielen nicht offensichtlich zu sein. Es handelt sichum ein Massendelikt, das innerhalb der gut 870.000 in der Polizei-lichen Kriminalstatistik 2003 erfassten Betrugsfälle mit 176.000Fällen zu Buche schlägt. Als ein Kontrolldelikt par excellenceeignet sich das Erschleichen von Leistungen hervorragend, dieStatistiken in die »gewünschte« Richtung zu »trimmen«.

So wurden 2003 in Berlin 43,4% (14.458 Fälle) weniger Schwarz-fahrten ausgemacht. Der vermerkte Rückgang der Gesamtkrimi-nalität um 20.115 Fälle oder 3,4% ist zu einem nicht unerheb-lichen Teil auf diesen Befund zurückzuführen. »Offensichtlichwirken sich die durch die BVG verstärkt durchgeführten Kontrollenbereits abschreckend aus«, heißt es in der Statistik optimistisch.

Der innenpolitische Sprecher der sächsischen PDS-Landtags-fraktion, Steffen Tippach, beleuchtet eine zweite Möglichkeit dermedialen Funktionalisierung:

»Die sog. Leistungserschleichung wird unter Innenminister Raschzur Quotenerschleichung. Da beim Kontrolldelikt Schwarzfahrendie Zahl der Täter identisch mit der Zahl der aufgeklärten Straftatenist, liegt hier die Aufklärungsquote bei 100% und gleichzeitig auchdas Geheimnis für Raschs Jubelzahlen. Der Anstieg dieser Delikts-gruppe um 77% hat somit auch die Aufklärungsquote dramatischverbessert. Mit ernsthafter Kriminalitätsbekämpfung hat dies jedochnichts zu tun.«2

b) Von einem erheblichen Dunkelfeld beim Erschleichen vonLeistungen3 ist auszugehen. Zu gering scheint die Kontrolldichte,zu wenig scheint – trotz aller Bemühungen der Verkehrsbetriebe(»Wer schwarz fährt, liegt anderen auf der Tasche«; rote Scham-Männchen auf Plakaten) – das dann auch handlungsleitendeUnrechtsbewusstsein in weiten Teilen der Bevölkerung ausge-prägt zu sein. Es geht in deren Augen eben um ein erhöhtesBeförderungsentgelt, das man zähneknirschend zu zahlen hat,nicht um strafrechtliches Unrecht. Die feinsinnigen Differenzie-rungen, dass man einerseits zivilrechtlich, andererseits aber auchstrafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden könnte, werdenin aller Regel nicht nachvollzogen. Man zahlt entweder gleichoder gibt seine Personalien an, um später zu überweisen, ohneeinen Kontakt mit der Staatsanwaltschaft zu befürchten. Einsolcher droht regelmäßig erst nach dem dritten Erwischtwerden.

3. Was ist das Kreuz mit dem Strafrecht?

Das Strafrecht hat bei der Beförderungserschleichung gleich ausmehreren Gründen einen schweren Stand:

a) Zunächst einmal ist der nicht unwesentliche Umstand zuberücksichtigen, dass trotz aller Entscheidungen der Obergerichtebeim schlichten Schwarzfahren in den Verkehrsmitteln, in denenkeinerlei Eingangs- oder Ausgangskontrollen4 stattfinden, voneinem Erschleichen keine Rede sein kann. Eine reine Wortlaut-auslegung schließt somit richtigerweise die Anwendbarkeit des§ 265a StGB aus.5

b) Ein derartiges Ergebnis schreit auch nicht etwa nach demGesetzgeber, sondern verbucht kriminalpolitische Konsistenz fürsich. Sicherlich entstehen den Beförderungsbetrieben durch dasunbefugte Verhalten hohe Vermögensverluste. Dies aber ist ein inerster Linie zivilrechtlich erheblicher Umstand. Der Strafgesetz-geber hat mit guten Gründen darauf verzichtet, jede Herbei-führung eines Vermögensschadens zu pönalisieren, und diesbei § 265a StGB durch das Handlungsmoment des Erschleichensmanifestiert. Was derzeit geschieht, ist – in den Worten vonP. A. Albrecht – der (freilich nicht sehr erfolgreiche – R. H.) Einsatzder Kriminalisierung als Instrument betriebswirtschaftlichrationaler Kundenkontrolle.6

c) Würde man nach der Strafbarkeit des Schwarzfahrens fragen,wäre das Ergebnis mit großer Wahrscheinlichkeit sehr disparat.Nicht umsonst wird in Supermärkten explizit darauf hingewiesen,dass jeder Ladendiebstahl unnachgiebig zur Anzeige gebrachtwerde. Bei den Plakaten, die das Schwarzfahren thematisieren, istetwas weicher von einer derartigen Möglichkeit die Rede. Teil-weise fühlt man sich an die Regel »Three strikes and you’re out«in einer gemäßigten kontinentaleuropäischen Variante erinnert.Zu schleichend scheinen hier die Übergänge von Zivilrecht undStrafrecht, zu unvollkommen scheint die Norm vor dem Hinter-grund internalisiert zu sein, eine solche Rechtsgutsverletzung zubegehen, die nur noch die Ultima Ratio des Strafrechts zulässt.Die Menschen haben ein Gespür dafür, wann es tatsächlich umelementares Unrecht geht und wann zumindest ein Graubereichbesteht. Vielleicht wird dieses Gespür auch dadurch befördert,dass Zweifel an der Strafwürdigkeit aufkommen, wenn der Trägereines Rechtsguts geradezu einlädt, sich an diesem Rechtsgut zuvergehen.

1 Siehe Kreuzer u.a., Jugenddelinquenz in Ost und West, 1993, S. 98 ff. 2 Presseinform. der PDS 81/04.3 BMI/BMJ (Hrsg.), Erster Periodischer Sicherheitsbericht, 2001, S. 130:

Es wird von einer Dunkelfeldquote von 1:33 bis 1:50 ausgegangen. 4 Hierzu krit. P.-A. Albrecht, Kriminologie, 2. Aufl. 2002, S. 323.5 Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl. 2004, § 265a Rn 6 mwN.6 P.-A. Albrecht (Fn 4), S. 323.

495Neue Justiz 11/2004

d) Führt man sich die Entwicklung öffentlicher Beförderung imTatsächlichen vor Augen, wird deutlich, dass die Norm des § 265aStGB vielleicht einmal ihren legitimen, dogmatisch gesichertenAnwendungsbereich hatte, ihn nun aber verlor. Die Möglichkeit,sich ohne jede Kontrolle in Bus oder Bahn zu begeben, gab esfrüher nicht, stets waren Kontrollen oder Schranken zu über-winden. Sie machten das Erschleichen manifest.

4. Von der Kontrolle zur Aufhebung der Kontrolle zur Kontrolle

a) Warum aber kam es zu einer derartigen Entwicklung, dienunmehr ein Roll-back erfährt? Sie ist auch für das weite Felddes Betrugs wie seiner Kranzdelikte (etwa den Subventions- oderden Kreditbetrug) ausgemacht worden. Über diese Normenwerde eine strafrechtlich sanktionierte Pflicht zu wahrheits-gemäßen Bekundungen gegenüber dem Staat und Privatperso-nen erreicht. Mit dieser Wahrheitspflicht gegenüber Privatenwerde vom Wahrheitspflichtigen ein Handeln gegen seine eige-nen Interessen verlangt. Zudem erspare sich der übermächtigeVertragspartner die im Grunde ihm obliegende Ermittlung desSachverhalts. Tradition hätte ein derartiges Modell im Zoll- undSteuerrecht. Nach diesem Muster werde die Pflicht zur Mit-teilung selbstschädigender Tatsachen aber auf immer neue Sach-verhalte erstreckt. Dem »Betrüger« werde von seinem »Opfer«eine umfassende Erklärungspflicht zugemutet. Gleichzeitig bauedas Opfer seine Kontrollen ab. Scheck- und Kreditkarten würdengroßzügig ausgegeben, Kredite großzügig gewährt. Oft werde miteinem Verzicht auf Kontrollen sogar geworben (»keine lästigenFormalitäten«). Zugleich werde der Vertragsgegner (d.h. derpotenzielle Betrüger) formularvertragsmäßig mit Anzeigepflich-ten belastet.7

b) Bei den abgebauten Kontrollen in den Verkehrsbetriebenwird die Intention eine ähnliche sein, auch wenn die Erklä-rungspflicht des Fahrgastes hier extrem einfach strukturiertist. Dass man sich deshalb die Kontrollen abzubauen traut,weil das Strafrecht ja nach wie vor in der Hinterhand seineWirkung entfalte, erscheint dabei allerdings naiv. Denn eben istgezeigt worden, dass erstens die Norminternalisierung in diesemBereich sehr unvollständig ausfällt und zweitens es mit einerabschreckenden Wirkung des Strafrechts nicht weit her ist.8

Es geht vielmehr allein um ökonomische Motive: beim Bus-fahren um einen Personalabbau, vielleicht auch eine größereAttraktivität der unkompliziert zu benutzenden öffentlichenVerkehrsmittel, bei Selbstbedienungsläden um Kaufanreize,wenn bestimmte Waren – allerdings keine teuren Markenpro-dukte, die sich nach wie vor in Glasvitrinen befinden – wie aufeinem Präsentierteller angeboten werden.

c) Während der wirtschaftliche Gewinn bei Selbstbedienungs-geschäften nun aber auf der Hand liegt, ist dies in Bussen nichtin gleicher Weise der Fall. Der Busfahrer soll ja die zusätzlicheKontrollaufgabe übernehmen, ferner wird man sich allein durchdie Notwendigkeit, vorne einzusteigen und seinen Fahrausweisvorzuzeigen, in aller Regel nicht anderer Verkehrsmittel besin-nen. Und daher propagiert man in Berlin die Kontrollen ebenwieder.

5. Technische Prävention als Stein der Weisen?

a) Theoretisch ist das Gebot, nur noch vorne bei einem Vorzeigendes gültigen Fahrausweises einzusteigen, als eine Maßnahme dersituativen9 oder der technischen10 Prävention zu interpretieren.Eine solche scheint sogar zunehmend als der Stein der Weisengesehen zu werden. Wenn das Strafrecht oder das Zivilrecht nichtdie erhofften präventiven Wirkungen bringen, dann aber viel-

leicht die scheinbar alternativlose situative bzw. technischePrävention. Um ein Beispiel anzuführen: Ist die elektronischeWegfahrsperre nicht zu überwinden, so wird der Wagen ebennicht gestohlen. Dieses Beispiel erklärt zugleich die etwas ver-wirrende Begrifflichkeit: Die Prävention setzt an bestimmtenSituationen an. Sie blendet damit von vornherein die jeweiligenMotivationen zur Begehung einer Tat vollkommen aus bzw. siesind ihr egal. Ob der Wagen aus Gewinnsucht oder deshalbgestohlen werden soll, weil jeder in einer Jugendgang eineMutprobe zu bewältigen hat, spielt keine Rolle. »Technisch« istdiese Prävention vielleicht in ihrem Ausgangspunkt, so bei derWegfahrsperre oder bei schusssicheren Scheiben in Banken.Das Vier-Augen-Prinzip in der Verwaltung würde aber gleichfallshierunter fallen.

b) Auch wenn die scheinbar so effiziente Vermeidung vonStraftaten ein unschätzbarer Gewinn zu sein scheint, drängen sichBedenken auf.

Ist es tatsächlich so, dass eine Wegfahrsperre kriminelles Ver-halten zweifelsfrei verhindert, oder weicht man auf ältere Modelleaus, stiehlt – so vor allem Jugendliche – Mopeds oder betrügtAutovermieter?11 Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dassnicht jeder Täter bei einem nicht möglichen Diebstahl bereitwäre, das Verbrechen eines Raubes zu begehen, denkbar ist einesolche Eskalation indes schon.

Fast noch beunruhigender sind die theoretischen und gesell-schaftlichen Implikationen, die hinter der technischen Präven-tion stehen: Wird die Motivation zur Begehung einer Straftat aus-geblendet, so geht man davon aus, dass sie ohnehin vorhandenund nicht abänderbar sei. Hieraus folgt ja gerade die Fokussierungauf die Tat und die Situation.12 Damit wird aber gleichzeitigdie Last von den Anstrengungen genommen, kostspielige undzeitaufwändige Maßnahmen der sog. primären Prävention zuergreifen. Eine Erziehung in einem intakten sozialen Umfeldwird plötzlich aus kriminalpräventiven Gründen belanglos. Diesbedeutet aber zugleich auch, dass die Realisierung der Motivationüber die technische Prävention permanent verhindert werdenmuss. Dem grundsätzlich gefährlichen Individuum wird mitMisstrauen begegnet, es ist permanent zu kontrollieren. Hierdurchkann sich eine Culture of Control ausprägen, die durch dieAbschaffung bzw. Minimierung möglicher Tatgelegenheitenversucht, diese Motivation zu neutralisieren.13

Die Erfahrung lehrt indes, dass diese Neutralisierung nicht soeinfach ist. Vielleicht lassen sich durch die Maßnahmen techni-scher Prävention noch einige Gelegenheitstäter abhalten, nichtaber in aller Regel gezielt vorgehende Täter. Diese eruieren immerneue Möglichkeiten, die Maßnahmen situativer Prävention zuumgehen, bspw. durch eine örtliche Verschiebung, taktischeVeränderungen oder das Aussuchen eines anderen Zielobjekts.14

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7 Arzt/Weber, Strafrecht, Bes. Teil, 2000, § 20 Rn 11 f.8 Tunnell, Choosing Crime, 1992; Schöch, Jescheck-FS, 1985, S. 1081, 1102;

Schumann u.a., Jugendkriminalität und die Grenzen der Generalpräven-tion, 1987; vgl. ferner die Nachw. bei Eisenberg, Kriminologie, 5. Aufl.2000, § 41 Rn 11 ff.; Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 31 Rn 34 ff.;Kunz, Kriminologie, 3. Aufl. 2001, § 30 Rn 7 ff.

9 S. Clarke, in: Tonry/Farrington (Hrsg.), Building a Safer Society, StrategicApproaches to Crime Prevention, Crime and Justice: A Review of Research,Vol. 19 (1995), S. 91 ff.

10 Hassemer, StV 1995, 483, 489 f.11 Webb, in: Clarke (Hrsg.) Situational Crime Prevention, Successful Case

Studies, 1996, S. 46 ff.; BMI/BMJ (Fn 3), S. 123 f.12 Clarke (Fn 9), S. 91 ff.13 Das Problem der Kontrolle wird auch angesprochen von White, in: Homel

(Hrsg.), The Politics and Practice of Situational Crime Prevention, CrimePrevention Studies, Vol. 5 (1996), S. 97 ff.

14 Zur Verdrängung vgl. Coleman/Norris, Introducing Criminology, 2000,S. 156 f.

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An dieser Schraube kann man nun endlos drehen, sich also aufdie neuen Vorgehensweisen der Täter einstellen. Die Gefahr einersich krakenhaft ausbreitenden Kontrollgesellschaft entsteht.Sie nimmt Raster potenzieller Risiken zum Anlass, diese möglichstauszuschließen. Ob es sich dabei tatsächlich um ein Risikohandelt, bleibt irrelevant. Die Shopping Malls machen es vor:Wer schäbig aussieht, wird zur Sicherheit gar nicht erst hereinge-lassen, womit sich zugleich die Ziele von der Kriminalpräventionzur sozialen Exklusion15 verschieben.

6. Speziell: Vor- und Nachteile technischer Prävention in Bussen

a) Die situative oder technische Prävention ist es also nicht, derStein der Weisen. Wie steht es nun aber mit den soeben genann-ten Vor- und Nachteilen speziell bei den verschärften Zugangs-kontrollen in Bussen? Zunächst: Das Risiko der Eskalationbesteht nicht, allenfalls dasjenige des offenen Protests durch dasEinsteigen an einer der nicht kontrollierten Türen. Kritischangemerkt worden ist, durch diese Maßnahme würde jeder alspotenzieller Schwarzfahrer angesehen werden.16 Aber dies wirdman wie beim Theater- und Kinobesuch mit Fassung zu tragenwissen.17

b) Wie steht es mit dem Argument, durch diese Maßnahmetechnischer Prävention bestünde überhaupt nicht mehr dieChance, schwarz zu fahren. Theoretisch sei es aber für die Ver-kehrsbetriebe am günstigsten, möglichst viele illegal mitfahren zulassen, diese dann zu erwischen und von ihnen das erhöhteBeförderungsentgelt einzutreiben.18 Dieser Umstand wird es mitSicherheit nicht gewesen sein, dass die Verkehrsbetriebe dieursprünglich bestehenden Schranken abbauen ließ. Denn erstensbestehen aus den o.g. Gründen nach wie vor Möglichkeiten, sichdurch täuschende Manöver am Fahrer vorbeizuschmuggeln,zweitens müsste die Dichte der Kontrollen so gesteigert werden,dass der Aufwand dadurch wieder erheblich stiege, und drittensist es keineswegs gesagt, dass das erhöhte Beförderungsentgeltauch eingetrieben werden kann.

c) Am beachtlichsten wird das Risiko einzuschätzen sein, durchdiese neue Art von Kontrollen Fahrgäste zu vertreiben. Das Bus-fahren werde zu einer aufwändigen Angelegenheit, zumindestjedoch unbequem. Diese Gefahr ist aber vielleicht doch nicht alsausschlaggebend anzusehen, weil die Betreiber der Kontrollengerade ein vitales Interesse daran haben, die ökonomischen undsonstigen Rahmenbedingungen für die Kunden nicht entschei-dend zu verschlechtern. So bestünde für die Verkehrsbetriebe keinAnlass, die Fahrgäste durch den Fahrer weiter kontrollieren zulassen, wenn dadurch so viele Fahrgäste abspringen würden, dasssich die zurückgehende Quote der Schwarzfahrer nicht rentiert.Die Initiatioren der technischen Prävention werden also einwaches Auge darauf haben, wie sich diese Maßnahme bewährenwird.

7. Allgemeine Erkenntnisse zur technischen Prävention

Reizvoll erscheint es, abschließend den Versuch einer allgemei-nen Aussage zu wagen, wann eine Maßnahme situativer odertechnischer Prävention erwogen werden sollte und wann dieRisiken überwiegen werden.

a) Maßnahmen der technischen Prävention sind immer dannmit Skepsis zu begegnen, wenn Eskalationsszenarien und Ver-meidungsstrategien plausibel erscheinen. Würde sich eine Kon-trollgesellschaft etablieren, bei der »zur Sicherheit« weit mehrPersonen als nötig ausgeschlossen wären, würde man sich nichtmehr auf die Ursachen delinquenten Verhaltens besinnen, son-

dern schlicht Mauern errichten. Hier wäre von Maßnahmen einertechnischen Prävention Abstand zu nehmen.

b) Die Rechtsgutträger, die Methoden technischer Präventionetablieren können, stehen teilweise in einer sozialen Verantwor-tung. Sie folgt zum einen daraus, dass bestimmte Rechtsgüter– wie das Vertrauen in die Unbestechlichkeit des Beamtenappa-rats – gerade auf Kommunikation mit der Allgemeinheit angelegtsind. Ein hochwirksames System der Überwachung der Beamtendarf nicht zur Folge haben, dass der Außenkontakt mit dem Bür-ger substanzielle Einbußen erleidet. Zum anderen bemächtigensich die Privaten zunehmend des öffentlichen Raums, dürfen sichdann aber nicht mehr allein an ökonomischen Interessen orien-tieren. Wenn also etwa eine Einkaufspassage auch Funktionen desöffentlichen Raums wie die der Kommunikation übernimmt,kann die technische Prävention die Zutrittsberechtigen nichtmehr nach ökonomischen Rastern bestimmen. Daher ist dieVideoüberwachung mit den aus ihr gezogenen Folgerungengleichfalls kritisch zu beurteilen.19

c) Auch das Problemfeld der »Städte in den Städten«20 ist inerster Linie ein ökonomisch definiertes. Zwar geht es hier nicht– wie etwa bei den Shopping Malls – um den Ausschluss der-jenigen Teile der Bevölkerung, die entsprechend den Rastern ehernicht den Konsum befördern werden, wohl aber um derenExklusion aus scheinbaren Sicherheitsbedürfnissen heraus.

d) Immer dann, wenn es um ein klar definiertes ökonomischesZiel geht – Verkauf von Waren oder Dienstleistungen –, bestehengegen Maßnahmen der technischen Prävention keine Bedenken,sofern Wettbewerb oder Alternativen existieren. Wer Uhren ver-kauft, kann diese allesamt in sicheren Safes aufbewahren und nurauf Verlangen präsentieren. Ein derartiges relativ sicheres Systemwird sich schon ökonomisch nicht rentieren, wenn in anderenGeschäften die Ware ohne Aufwand unmittelbar in Augenscheingenommen werden kann. Bei der Beförderung kann man zwarnur in Maßen von Konkurrenz sprechen. Sofern aber dieBedingungen für die Allgemeinheit extrem unkomfortabel bzw.zeitaufwändig sind, werden zunehmend Alternativen erwogenwerden. Zudem existieren bei Massenleistungen stets wirkungs-mächtige Interessenverbände, die Verschlechterungen für dieAllgemeinheit thematisieren werden. Wenn also in den Zügen derDeutschen Bahn AG seit kurzem nicht mehr mit ec-Karten gezahltwerden darf, weil das Missbrauchsrisiko angeblich zu groß sei, soliegt hierin eine Maßnahme der technischen Prävention. Sie wirdin aller Regel nicht dazu führen, dass man auf eine Fahrt mit derBahn verzichtet, so dass allenfalls Druck über Interessenverbändeaufgebaut werden kann.

e) Und es geht weiter: In Düsseldorf sollen zum Jahreswechsel100 Stellen für Langzeit-Arbeitslose als Schaffner in Straßen-bahnen geschaffen werden. Die Landeshauptstadt hat derBahngesellschaft für die Stellen zusätzlich Geld in Aussichtgestellt. Die Rheinbahn erhofft sich von diesem Pilotprojekteinen Rückgang des Vandalismus und der Schwarzfahrer-Quote.21

Was vor dem Hintergrund der technischen Prävention als eineweitere Verbesserung anmutet, erweckt arbeitsmarktpolitischArgwohn.

Kurzbe i t räge Hefendehl , Vorne e inste igen, b i t te !

15 Hefendehl, FR v. 19.1.2004, S. 816 Matuschek (PDS), Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucks. 15/3767.17 Strieder (SPD), Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucks. 15/3767.18 Zu derartigen Modellrechnungen vgl. Heinrich, Dresdner Morgenpost

v. 13.8.2003, S. 4 f.19 Stolle/Hefendehl, KrimJ 2002, 257 ff. mwN.20 Dazu Wehrheim, KrimJ 2000, 108 ff.21 Meldung in der SZ v. 21./22.8.2004, S. 5.

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Liselotte Kottler (1909-2003) – Deutschlands längstens praktizie-rende AnwaltsnotarinProf. Dr. Klaus W. Slapnicar, Fachhochschule Schmalkalden*

Die Biographie der ThüringerAnwaltsnotarin Dr. LiselotteKottler ist ein seltenes persona-lisierbares Beispiel für allemenschlich erfahrbaren Statio-nen der jüngeren deutschenGeschichte. Als Juristin, diesechs politische Staatsformenerlebte, hat sie für Gerechtigkeitgewirkt und sich nicht durchwechselnde Ideologien verein-nahmen lassen. Sie ist damit zueinem Vorbild für ihren Berufs-stand geworden.

Auf ein der Gerechtigkeit gewidmetes Leben in sechs Staatsfor-men blicken wir zurück. Aufrecht und paragraphensicher sowiein lebendiger Verwirklichung preußischer Pflichterfüllung ist diein Thüringen und auch in Ost- und Nordhessen bekannte, über60 Jahre beruflich tätige Juristin weit über die Grenzen ihrerHeimatstadt zu einem Wahrzeichen und Symbol der Hoffnunggeworden. Sie war zwar nicht die älteste Juristin Deutschlands,wohl aber die am längsten praktizierende. Ihre Vita spiegeltein außergewöhnliches Leben der wechselvollen deutschenGeschichte wider; vom Kaiserreich über die erste Republik, denNationalsozialismus und die DDR bis zur Wiedervereinigungist sie beharrlich der praktischen Rechtswissenschaft verpflichtetgeblieben.

Jugend im Kaiserreich

Am 26.6.1909 wurde Liselotte als Luise Charlotte, Älteste von vierKindern in die Familie des Lehrers, späteren Rektors des Gymna-siums und schließlichen Bürgermeisters der Stadt Schmalkalden,Karl Schirmer, geboren. Ihr Vater, ein Liberaler in Deutschlandserster Demokratie, hat in der Erziehung seiner Kinder die Idealeund Erwartungen grundgelegt, die später seiner Tochter Chancenund Möglichkeiten für eine zu damaligen Zeiten außergewöhn-liche Karriere eröffneten. Nicht um Ruhmes oder Geldes willen,sondern um die Aufgabe, die sie auf Erden zu erfüllen hatte, lebtedie Verstorbene getreu des Kant’schen Imperativs: »Es ist nichtnötig, dass ich lebe, aber erforderlich, dass ich meine Pflicht tue.«1

Dieses preußische Pflichtbewusstsein war ihr lebenslanges Leit-motiv, das sie nicht nur in Worten für sich bejahte, sondern durcheigenes Beispiel wirkend in ihrer forensischen Tätigkeit vollzogund somit justicia in concreto umsetzte.

Ihren Bildungsweg begann Liselotte Schirmer im Kaiserreich ineiner Mädchenschule mit Kindern aus allen Bevölkerungs-schichten, »weil es der Vater so wollte«.2 Es folgte die höhereTöchterschule mit dem Lehrplan eines Lyzeums, die Oberreal-schule mit den Schwerpunkten Mathematik und Physik, »nebenzehn Jungen waren wir drei ›zutrauliche‹ Mädchen«.3 Das Abiturlegte Liselotte Schirmer 1928 ab. Das Vorbild, Verantwortung fürandere zu tragen, hatte der Vater seiner Tochter als Bürgermeistervorgelebt. Er wurde am 2.5.1933 von den Nationalsozialistenseines Amtes enthoben; einen Tag zuvor hatte er noch den Mai-Umzug angeführt.

Studium in der Weimarer Republik

In der ersten deutschen Republik entschied sich Liselotte Kottlerzunächst gegen die damals übliche Mutterrolle und dafür, als»Blaustrumpf« Rechtswissenschaften zu studieren. Es folgtenStudiensemester zunächst in Marburg bei Franz Leonhard im römi-schen Recht mit Pandektenexegese, danach in München, späterin Frankfurt/M. beim großen Arbeitsrechtler Kurt Sinzheimer undzuletzt in Jena. Auch während ihres Studiums gehörte LiselotteSchirmer zu einer kleinen Anzahl weiblicher Studierender; inJena hatte sie nur noch zwei Kommilitoninnen. Während ihrerJenenser Zeit erlebte die Jura-Studentin bei einer Rede im Volks-saal Adolf Hitler. Die sonst faszinierende Wirkung auf Frauenblieb bei ihr aus. Seine Demagogie hielt die junge Intellektuellefür verabscheuungswürdig. Sie dachte aufgrunddessen nie ernst-haft daran, sich der nationalsozialistischen Ideologie zu nähern.

Ihre erste Staatsprüfung legte die Rechtskandidatin aus Schmal-kalden vor dem gemeinschaftlichen Thüringischen Oberlandes-gericht am 13.2.1932 mit dem Prädikat »vollbefriedigend« ab.Während des Referendariats, das sie als einzige Frau am heimat-lichen Amtsgericht absolvierte, promovierte sie im Febr. 1933 amstrafrechtlichen Lehrstuhl von Prof. Gerland in Jena mit derDissertation zum Thema: »Die Beschränkung des Rechtsmittelsder Berufung auf das Strafmaß« zum Dr. juris utriusque, beiderleiRechts, des weltlichen und kirchlichen Rechts.

Systematische Frauendiskriminierung in der NS-Zeit

Die große zweite Staatsprüfung legte die nun schon promovierteLiselotte Schirmer am 2.12.1935 mit dem herausragenden Prädikat»gut« ab und erhielt am Nikolaustag 1935 ein von Dr. Otto Palandt,dem damaligen Präsidenten des Reichsjustizprüfungsamtes,4

unterschriebenes Zeugnis.

Trotz glänzender Examina und wissenschaftlicher Qualifikationkonnte die junge Volljuristin ihren angestrebten Beruf als Anwäl-tin nicht aufnehmen. »Ihrem Antrag auf Übernahme in denanwaltlichen Probedienst hat nicht entsprochen werden können«,war die lapidare ohne Rechtsmittelbelehrung versehene Antwortdes Reichministers der Justiz am 16.9.1936. Nach nationalsozia-listischer Anschauung gehörten Frauen nach Hause an denKochtopf. Dass sie keine akzeptierten »Rechtswahrer« nach derkrausen Ideologie des »Dritten Reiches« sein konnten,5 hattebereits Palandt in seinem Kommentar zur JAO 1934 wetterleuch-tend dargelegt.6 Dadurch war die junge Assessorin gezwungen,sich zunächst ihren Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeitenzu verdienen, bis sie im Herbst 1936 eine Stelle bei der Landes-kreditkasse in Kassel antreten konnte. Trotz staatlicher Vorbehaltegegenüber einer Frau in Leitungsfunktion verdankte Dr. Schirmerihren Arbeitsplatz der Fürsprache zweier früherer Kommilitonen,die dem Direktor von ihren juristischen Fähigkeiten und ihremDurchsetzungsvermögen gegenüber den altgedienten »mittlerenBeamten« überzeugend berichteten.

* Gekürzter und um Fußnoten ergänzter Vortrag aus Anlass der Dr. Kottlergewidmeten Gedächtnisfeier am 26.6.2004 in der FH Schmalkalden.

1 L. Kottler, Lebens-Erinnerungen aus 6 politischen Staatsformen Deutsch-lands im 20. Jahrhundert, 2003, S. 1 (bisher unveröffentl. Typoskript).

2 Vgl. S. Schönewald, Aufrecht und paragrafensicher durch fünf Jahrzehnte,Südthüringer Zeitung v. 27.2.2003, S. 3. Auch die folgenden Zitate derVerstorbenen beruhen auf dieser Publikation von Schönewald.

3 L. Kottler, Hör-CD: Rechtschaffen(d) in sechs Staatsformen, Track 2: Weilder Vater es so will!

4 Näher dazu: Slapnicar, NJW 2000, 1692 ff.5 Näher dazu in: Deutscher Juristinnenbund (Hrsg.), Juristinnen in Deutsch-

land. Eine Dokumentation (1900-1984), 1984, S. 16 ff. (19), sowie Erlassdes Reichsministers der Justiz v. 1.2.1937, ebenda, Anh. Nr. 28, S. 163.

6 Palandt/Richter, Komm. zur JAO, 1. Aufl. 1934, Anm. 2 zu § 44.

Neue Justiz 11/2004498

Nach sechsjähriger Tätigkeit wurde die zwischenzeitlich zurReferentin Aufgestiegene im März 1942 durch die kriegsbedingteEinstellung sämtlicher Zwangsversteigerungsverfahren und Kredit-vergaben arbeitslos. Wohl wollte sie auch dem bombengeschä-digten Kassel in das bislang geschontere Schmalkalden entfliehen.Wiederholte Aufforderungen, der NSDAP beizutreten, lehnteDr. Schirmer mit dem Hinweis auf ihre demokratische Einstellungund das ihrer Familie angetane Unrecht ab. »Erst auf ununter-brochene Einwirkung eines Parteirichters habe ich mich im Früh-jahr 1938 bei der NSDAP, ohne irgendwelche Bürgen angegebenzu haben, angemeldet, dabei aber immer wieder zum Ausdruckgebracht, daß mir die nazistischen Methoden aufs Äußersteverhaßt waren,«7 schreibt sie in ihrem Lebenslauf vom 26.10.1946zu ihrer politischen Entwicklung.

Eine neue Anstellung bei der Gauwirtschaftskammer, Zweig-stelle Meiningen, Sonneberg und Schmalkalden führte sie für dierestliche Kriegszeit zurück in ihre Heimatstadt, wo sie auch ihrenspäteren Ehemann Dr. iur. Willhelm Kottler, Geschäftsführer derdortigen Eisen-, Stahl- und Blechwaren-Industrie sowie Zweig-stellenleiter der Kammer, kennen lernte. Am 18.7.1942 fand dieHochzeit statt. Ihr Mann brachte einen Sohn und eine Tochtermit in die Ehe. Am 23.4.1943 wurde die gemeinsame TochterRegine geboren. Das Familienglück war allerdings nicht von langerDauer. Am 23.2.1945 starb ihr Ehemann bei einem der wenigenLuftangriffe auf Meiningen. Weil Luftkriegsbetroffene keine Kriegs-hinterbliebenen waren, gab es keine Unterstützung für die Witwe.Als 33-jährige stand die Mutter von zwei Töchtern allein da; derStiefsohn war 19-jährig bei Minsk gefallen.

Anwaltsnotarin in der SBZ und in der DDR

Noch unter der sowjetischen Militäradministration nach demZweiten Weltkrieg konnte Dr. Liselotte Kottler ihren Traumberuf alsRechtsanwältin ab September 1946 mit Zulassung beim Amts-gericht in Schmalkalden und gleichzeitig beim Landgericht inMeiningen realisieren. Der Antifaschistische Block hatte »poli-tisch keine Bedenken« attestiert. Ebenso folgte zwei Jahre späterdie Bestallung zum Notar im Land Thüringen mit Amtssitz inSchmalkalden durch das damalige Justizministerium in Weimar.

Anfang 1949 ereilte die Schmalkalder Rechtsanwältin dasverlockende lukrative Angebot, mit sofortiger Wirkung wiederihre alte Tätigkeit bei der Landeskreditkasse in Kassel aufzuneh-men. Sie blieb. Für die Entscheidung, aus ihrer Heimatstadt nichtfortzugehen, sprach insbesondere auch ihre hohe moralischeAuffassung, aus der SBZ nicht davon zu laufen und sich nicht denVerpflichtungen als Freiberufler gegenüber den Mitmenschen zuentziehen, solange keine unmittelbare Gefahr bestand.

Als 1949 die DDR gegründet wurde, behielt Dr. Kottler sowohlihre Zulassung als Einzelanwältin als auch das Amt als Notar,ebenso wie nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 im wieder-vereinigten Deutschland. Sie war damit eine Ausnahmeerscheinungin der forensischen Rechtslandschaft der DDR. Für den alten BezirkSuhl ist sie die einzige Anwältin und Notarin gewesen, die sich fürdie gesamte DDR-Zeit der Zwangsvereinnahmung ins Anwalts-kollegium und der Umwandlung der Notariate in staatliche ent-ziehen konnte. Als diese Kollektivierungen 1952/53 begannen,war Dr. Kottler ohne ihr Zutun bereits als Vorsitzende des Anwalts-kollegiums in Schmalkalden verplant – Ironie der Geschichte.

Die bewahrte Selbständigkeit und Unabhängigkeit hatte ihrenPreis. Während der Kollegiumsanwalt nach 40% Abführungseines Honorars an das Kollegium auf die verbleibenden 60%nur 20% Lohnsteuer zahlte, musste Dr. Kottler als Anwaltsnotarineine deutlich höhere, progressive Einkommensteuer entrichten.

Als ihr zum 40. Jahrestag der DDR 1989 trotz Nicht-Parteimit-gliedschaft für ihr Wirken die Verdienstmedaille der DDR verlie-hen werden sollte, lehnte sie diese Auszeichnung ab.

Noch vor der Wirtschaftsunion zwischen der DDR und derBundesrepublik Deutschland dokumentierte 1990 das Anwalts-verzeichnis der DDR von insgesamt 19 zugelassenen Einzelanwäl-ten vier Frauen. Neben Dr. Liselotte Kottler waren dies eineAnwaltsnotarin in Dresden, Dr. Maria Cordes,8 und zwei Anwäl-tinnen: Marianne Brendel in Leipzig und die erst 1990 neu gelisteteUte Gentz in Berlin.9 Dr. Kottler war von den genannten Frauen dieam längsten singular zugelassene Anwaltsnotarin; über 50 Jahrenahm sie ihre Aufgaben als Anwältin wahr.

Anwaltsnotarin im vereinigten Deutschland

Infolge der sich mit dem Beitritt der DDR zur BRD am 3.10.1990staatsrechtlich konstituierten Einheit ergaben sich vielfältigeneue Herausforderungen für die zwischenzeitlich zur Schmal-kalder Institution gewordenen Juristin. Sie zu bestehen halfenDr. Kottler die während ihrer rechtswissenschaftlichen Ausbildungvermittelten Kenntnisse des BGB und der Vor-DDR-Rechtsord-nung erheblich. Sie punktete dadurch, dass sie die Maßgeblichkeitder alten Bestimmungen paragraphensicher für die Interessenund Ansprüche ihrer Mandanten und in ihrer amtlichen Tätigkeitals Notar realisieren konnte.

Auch im Freistaat Thüringen nahm Dr. Liselotte Kottler eineSolitärstellung ein. Sie blieb die einzige Thüringer Anwaltsnotarin,nachdem sich der Freistaat für das ursprünglich französisch-rhei-nische Nur-Notariats-System entschieden hatte. Ihre Streitkultur,ihr Dasein für andere, Gerechtigkeit vorzuleben, wurde mit derhohen Ehrung, die Dr. Kottler noch zu Lebzeiten durch Verleihungdes Verdienstordens des Freistaates Thüringen erhielt, durch denMinisterpräsidenten Dr. Bernhard Vogel anerkannt und gewürdigt.

*Die grande dame der Thüringer Anwaltschaft ist ein Vorbild fürihren Berufsstand gewesen. Ihr Leben ist zum Paradebeispiel dafürgeworden, dass es in unterschiedlichsten ideologischen Lebens-formen gelingen kann, sich in Konzentration auf eigenes Ethosvon der Verführbarkeit, der viele andere Juristen erlagen, fern zuhalten. Mit Leib und Seele hat die Anwältin über 50 Jahre prak-tische Rechtswissenschaft betrieben. Es war ihr stets ein Anliegen,sich auch nach ihrem Rückzug aus dem beruflichen Leben alsNotarin (1996) und als Anwältin (1998) für die Gerechtigkeiteinzusetzen.

Bei mehreren Besuchen im Fachbereich Wirtschaftsrecht derFachhochschule in Schmalkalden konnte sie in Diskussionen mitjungen Studierenden als Person und wertorientierendes Beispielder Unbeugsamkeit, der Nichtanpassungsbereitschaft und dereigenen Authentizität zu Pflicht und Gerechtigkeit überzeugen.Dies ist Ansporn und Verpflichtung für ein der Menschenwürdeverpflichtetes Wertesystem, das auch gerade Jüngeren als Vorbildfür die Zukunft dienen kann. Die Geehrte hinterlässt uns mitihrem Leben ein bleibendes Vermächtnis.

Kurzbe i t räge Slapnicar, L i se lot te Kott le r (1909-2003) …

7 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde DP 1 SE 3915 Dr. Liselotte Kottler, S. 48 R;gleichlautend im Lebenslauf v. 17.2.1947, v. 8.1.1951 u. v. 29.5.1953.

8 Durch Recherchen meines Dresdner Dozentenkollegen RA Dr. iur. habil.Willi Vock ist bekannt geworden, dass die am 3.9.1905 Geborene ihreAnwaltstätigkeit seit Mai 1934 bis zu ihrem Tode am 3.1.1993 ausübte; imMai 1947 wurde Dr. Cordes auch als Notarin in Dresden zugelassen.

9 Anwaltsverzeichnis 1990. Verzeichnis der in der DDR zugelassenen Rechts-anwälte sowie Justizorgane und Vertragsgerichte. Stand März 1990, S. 13,27, 71 u. 103.

499Neue Justiz 11/2004

BUNDESGESETZGEBUNG

Auswertung der BGBl. 2004 I Nr. 49 bis 53Das Ges. zur effektiveren Nutzung von Dateien im Bereich derStaatsanwaltschaften v. 10.9.2004 dient der Beseitigung rechtlicherHindernisse, die einem Online-Zugriff der Staatsanwaltschaft auffür sie relevante Daten im INPOL- und Schengener Informations-system entgegenstehen. Andererseits werden die Voraussetzun-gen für einen grundsätzlich automatisierten Zugriff der Polizeiund der sonstigen auskunftsberechtigten Stellen auf das ZentraleStaatsanwaltschaftliche Verfahrensregister geschaffen. Zum Schutzvor Ausforschungsversuchen wurde der Auskunftsanspruch desdatenschutzrechtlich Betroffenen modifiziert. Die Änderungenbetreffen das BKA-G, die StPO und das WaffenG; sie treten am1.3.2005 in Kraft. (BGBl. I Nr. 49 S. 2318)

Das 2. ZivildienstgesetzÄndG (2. ZDGÄndG) v. 27.9.2004 ist mitAusnahme der erst am 31.10.2004 wirksam werdenden Über-gangsvorschriften in § 81 ZDG am 1.10.2004 in Kraft getreten.Der Zivildienst ist von zehn auf neun Monate verkürzt und dieRegelaltersgrenze, bis zu der Wehrpflichtige zum Dienst heran-gezogen werden können, vom 25. auf das 23. Lebensjahr herab-gesetzt worden. Zudem wurden Befreiungs- und Zurückstellungs-tatbestände aktualisiert und ergänzt. (BGBl. I Nr. 51 S. 2358)

Die Neufassung des Baugesetzbuchs (BauGB) in der seit dem20.7.2004 geltenden Fassung ist am 23.9.2004 bekannt gemachtworden. Sie berücksichtigt die seit 1997 erfolgten Änderungen.

(BGBl. I Nr. 52 S. 2414)

Mit der am 7.10.2004 in Kraft getretenen VO zur Änderung derInsolvenzrechtlichen VergütungsVO v. 4.10.2004 reagiert das BMJ aufdie Beschlüsse des BGH v. 15.1.2004 (NJ 4/2004, V), in denen dieMindestvergütung in masselosen Regel- und Verbraucherinsol-venzverfahren als verfassungswidrig bezeichnet wurde. DurchÄnderung von § 2 Abs. 2 InsVV soll die Vergütung des Insolvenz-verwalters i.d.R. mind. 1.000 € betragen, wenn in dem Verfahrennicht mehr als 10 Gläubiger Forderungen angemeldet haben. Von11 bis 30 Gläubigern erhöht sich die Vergütung für je angefangene5 Gläubiger um 150 €, ab 31 Gläubigern um je 100 € je ange-fangene 5 Gläubiger. Zur Vergütung des Treuhänders im verein-fachten Insolvenzverfahren sieht § 13 Abs. 1 InsVV vor, dass dieVergütung bei nicht mehr als 5 Gläubigern i.d.R. mind. 600 €

betragen soll (bei 6 bis 15 Gläubigern Erhöhung um 150 € unddanach um 100 € je angefangene 5 Gläubiger). Die Neuregelungist auf Verfahren anzuwenden, die nach dem 31.12.2003 eröffnetworden sind. (BGBl. I Nr. 53 S. 2569)

GESETZESINITIATIVEN

Strukturelle Neuordnung der JustizDer Bundesrat hat beim Bundestag zwei Gesetzentwürfe einge-bracht, mit denen die Organisationsstrukturen der Verwaltungs-,Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit grundlegend geändert werdensollen (siehe Inform. in NJ 2004, 353 u. 405). Mit dem Gesetzent-wurf zur Änderung des GG (BR-Drucks. 543/04 [Beschluss]) soll inArt. 92 GG bestimmt werden, dass die Länder festlegen können,diese Gerichtsbarkeiten zu einheitlichen Fachgerichten zusam-menzulegen. In einem weiteren sog. ZusammenführungsG(BR-Drucks. 544/04 [Beschluss]) soll das Bundesrecht für landes-spezifische Regelungen geöffnet werden; den Schwerpunkt bildetdabei die Gerichtsordnung der einheitlichen Fachgerichte.

(aus: Pressemitteilung des Bundesrats Nr. 182/04 v. 24.9.2004)

Anpassung von VerjährungsvorschriftenEin von der Bundesregierung vorgelegter Gesetzentwurf zurAnpassung von Verjährungsvorschriften an das Ges. zur Moder-nisierung des Schuldrechts v. 26.11.2001 sieht vor, die zahlrei-chen einzelnen Verjährungsvorschriften außerhalb des BGB andie neue Systematik des Verjährungsrechts anzupassen. Dazu kanneine größere Zahl spezieller Verjährungsvorschriften aufgehobenwerden, sodass die §§ 194 ff. BGB unmittelbar gelten. Abwei-chungen vom neuen Verjährungsrecht des BGB sind weiterhin inspeziellen Verjährungsvorschriften vorgesehen. Der Entwurfenthält Änderungen in zahlreichen Rechtsvorschriften.

(aus: BT-Drucks. 15/3653)

Akustische WohnraumüberwachungDas Bundeskabinett hat den Entwurf eines Gesetzes zur Umset-zung des Urteils des BVerfG v. 3.3.2004 (akustische Wohnraum-überwachung) beschlossen. Der Entwurf sieht – anders als derscharf kritisierte Referentenentwurf des BMJ (siehe Inform. in NJ2004, 351) – nicht vor, dass der sog. Große Lauschangriff gegen-über Berufsgeheimnisträgern zulässig ist.

(aus: KammerInfo Berlin Nr. 5/04 v. 7.10.2004)

Juniorprofessur und ZeitvertragsrechtDie Wissenschaftsminister der sozialdemokratisch geführten Län-der und des Bundes haben Eckpunkte zur Sicherung der Junior-professur und zeitlich befristeter Verträge im Hochschulbereichmit dem Ziel der Vorlage eines Gesetzentwurfs erarbeitet. DasGesetz soll Rechtssicherheit schaffen, nachdem das BVerfG mitUrt. v. 27.7.2004 (NJ 2004, 457 [bearb. v. Wrase]) das 5. HRGÄndGv. 16.2.2002 für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatte.Zur Sicherung der Mobilität des wissenschaftlichen und künstle-rischen Personals soll festgelegt werden, dass dieses Personal inallen 16 Ländern aus Hochschullehrern (Professoren und Junior-professoren), wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiternsowie Lehrkräften für besondere Aufgaben besteht. Von Land zuLand unterschiedliche Personalstrukturen würden den Hochschul-wechsel über Landesgrenzen hinweg erschweren.Für auf der Grundlage des 5. HRGÄndG geschlossene befristeteBeschäftigungsverhältnisse sollen die Befristungsregeln (§§ 57abis f) rückwirkend und für künftig abgeschlossene Verträge wie-der in Kraft gesetzt werden.

(aus: Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Nr. 207/04 v. 23.9.2004)

Novellierung des UrheberrechtsDas BMJ hat den Referentenentwurf für ein 2. Gesetz zur Regelungdes Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vorgestellt,der von einer Informationskampagne unter dem Motto »Kopienbrauchen Originale« begleitet wird. Der Entwurf zielt darauf ab,das deutsche Urheberrecht an die modernen Entwicklungen imBereich der Informations- und Kommunikationstechnologieanzupassen. Herzstück der Informationskampagne des BMJ ist dasInternetportal www.kopien-brauchen-originale.de, das alle inter-essierten Bürger zur Diskussion einlädt.

(aus: Pressemitteilung des BMJ v. 1.10.2004)

Reform des VereinsrechtsDas BMJ beabsichtigt, das im BGB seit mehr als 100 Jahren imWesentlichen unverändert gebliebene Vereinsrecht zu reformierenund den heutigen Bedürfnissen anzupassen. So soll u.a. für dennicht rechtsfähigen Verein in § 54 BGB eine klare Rechtsgrund-lage geschaffen werden und dafür künftig nicht das Gesellschafts-,sondern das Vereinsrecht anzuwenden sein.

(aus: F.A.Z. v. 13.10.2004)

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Neue Justiz 11/2004500

NEUE BUNDESLÄNDER

BERLIN

Der Senat hat den Entwurf eines NeutralitätsG beschlossen, der dasTragen sichtbarer religiöser Symbole in vielen Bereichen desÖffentlichen Dienstes verbieten soll. Anlass der Gesetzesinitiativeist das Kopftuch-Urteil des BVerfG v. 24.9.2003 (Inform. in NJ11/03, III). Der Gesetzentwurf wird nun zunächst in den Aus-schüssen des Abgeordnetenhauses beraten.

(aus: Berliner Zeitung v. 6.10.2004)Zur Berliner Gesetzesinitiative siehe M. Mahlmann, NJ 2004, 394 ff.

Der Berliner Anwaltsverein hat am 7.10.2004 in seinen Büroräu-men in der Littenstraße Rechtsberatung für Arbeitslose zum Preisvon 1 € angeboten. 15 Rechtsanwälte erteilten ca. 200 erschiene-nen Arbeitslosen Rat zum neu geschaffenen Arbeitslosengeld IIund gaben Unterstützung bei der Beantwortung ihrer derzeitauszufüllenden Fragebögen. »Wir wollen mit der Aktion signali-sieren, dass wir uns des Themas Hartz IV annehmen«, erklärte derVorsitzende des Anwaltsvereins Ulrich Schellenberg.

(aus: Berliner Zeitung v. 7. u. 8.10.2004)

Das Ges. zu dem Staatsvertrag über die Errichtung gemeinsamer Fach-obergerichte der Länder Berlin und Brandenburg v. 10.9.2004 ändertdie Ausführungsgesetze zur VwGO, zum SGG und ArbGG sowiezur FGO. Als Standorte für die künftig gemeinsamen ObergerichteBerlin-Brandenburg hat der Staatsvertrag Berlin (OVG zum1.7.2005; LAG zum 1.1.2007), Potsdam (LSG zum 1.7.2005) undCottbus (FG zum 1.1.2007) festgelegt. (GVBl. Nr. 39 S. 380)

Das novellierte LandeswaldG (LWaldG) v. 16.9.2004 ist am 29.9.2004in Kraft getreten; gleichzeitig trat das LWaldG v. 30.1.1979 außerKraft. (GVBl. Nr. 40 S. 391)

Durch ÄndG v. 16.9.2004 wurden § 8 des Kreislaufwirtschafts- undAbfallG Bln. v. 21.7.1999 (GVBl. S. 413), geänd. durch Ges. v.16.7.2001 (GVBl. S. 260), und das Bln. BetriebeG v. 9.7.1999 (GVBl.S. 319), das zuletzt durch Ges. v. 24.3.2004 (GVBl. S. 149) geän-dert wurde, in § 1 Abs. 2 und § 2 Abs. 4 geändert. Die Änderungensind zum 29.9.2004 wirksam geworden. (GVBl. Nr. 40 S. 397)

Das Ges. über das Halten und Führen von Hunden in Berlin v.29.9.2004 ersetzt die bisherige VO v. 5.11.1998 (GVBl. S. 326) undist am 10.10.2004 in Kraft getreten. Künftig müssen nach § 1 alleHunde außerhalb eines eingefriedeten Besitztums ein Halsbandmit Namen und Anschrift des Halters tragen; sie sind mit einemChip gem. ISO-Norm fälschungssicher zu kennzeichnen. DieHalter haben für ihre Hunde eine Haftpflichtversicherung miteiner Mindestdeckungssumme von 1 Mio. € je Versicherungsfallabzuschließen. Nach § 3 besteht grundsätzlich Leinenpflicht.§ 4 benennt insges. 10 Rassen oder Gruppen von Hunden, die alsgefährliche Hunde gelten und ab dem 7. Lebensmonat außerhalbeines eingefriedeten Besitztums einen beißsicheren Maulkorbtragen müssen. (GVBl. Nr. 42 S.424)

BRANDENBURG

Nach der Landtagswahl im Sept. 2004 hat sich am 13.10.2004 dasneue Parlament konstituiert. Wiedergewählt wurde der bisherigeMinisterpräsident Matthias Platzeck (SPD), der die Koalition mitder CDU fortsetzt. Neue Justizministerin wurde die 1947 in Dres-den geborene Lehrerin Beate Blechinger, bisher Fraktionsvor-sitzende der CDU. Sie löst die in Justizkreisen seit der Trennungs-geld-Affäre umstrittene Barbara Richstein ab. Die bislang beim

Justizministerium angesiedelte Europapolitik fällt künftig in dieZuständigkeit der Staatskanzlei.

(aus: Berliner Zeitung v. 8. u. 13.10.2004)

Das anstehende Großverfahren um den Flughafen Schönefeld wirdbeim BVerwG von einer speziellen Geschäftsstelle »Schönefeld«betreut. Es wurden für die zu erwartenden rd. 2.000 Ordner neueRäume eingerichtet und acht befristetete Stellen geschaffen.Gegen den Planfeststellungsbeschluss für den Flughafen Berlin-Brandenburg International wird mit bis zu 10.000 Klagen gerech-net (siehe Inform. in NJ 2004, 452). Damit wird dieses Verfahrendas größte in der 50-jährigen Geschichte des BVerwG sein.

(aus: Berliner Zeitung v. 11. u. 18.10.2004)

Die neue Präsidentin des LVerfG, Monika Weisberg-Schwarz, ist inPotsdam in ihr Amt eingeführt worden. Die gleichzeitige Vizepräsi-dentin des LAG Potsdam tritt die Nachfolge von Dr. Peter Mackean, der im Januar von diesem Amt zurückgetreten war (siehe Inform.in NJ 2004, 115).

(aus: Berliner Zeitung v. 7.10.2004)

Nach der VO über den Verzicht auf die Oberfinanzdirektion Cottbus(Land) v. 7.9.2004 wurde die OFD mit Wirkung zum 1.9.2004aufgelöst. (GVBl. II Nr. 26 S. 694)

Die ErnennungsVO (ErnennV) v. 1.8.2004 regelt die Ernennung,Zurruhesetzung und Entlassung der Beamten des Landes. Sie istam 1.10.2004 in Kraft getreten; gleichzeitig trat die ErnennVv. 16.4.1997 außer Kraft. (GVBl. II Nr. 28 S. 742)

Die HochschulprüfungsVO (HSPV) v. 3.9.2004 gilt für alle Studien-gänge mit einer Hochschulprüfung, aufgrund derer ein Diplom-,Magister-, Bachelor- oder Mastergrad verliehen wird. Sie trat am5.10.2004 in Kraft; gleichzeitig ist die HSPV v. 8.4.2002 außerKraft getreten. (GVBl. II Nr. 28 S. 744)

MECKLENBURG-VORPOMMERN

Das Kabinett hat das weitere Vorgehen zur Umstrukturierung derLandesbehörden beschlossen und Eckpunkte zum Abbau derVerwaltung festgelegt. So soll u.a. das Prinzip des zweistufigenVerwaltungsaufbaus noch konsequenter umgesetzt und unter-halb der Ebene der Ministerien lediglich eine weitere Ebene mitAufgaben des Verwaltungsvollzugs befasst sein. Als grundsätz-liches Ziel wurde festgelegt, dass jedes Ressort nur eine Landes-oberbehörde in seinem nachgeordneten Bereich führen soll.Welche Behörden letztlich konzentriert oder neu organisiertwerden müssen, steht noch nicht fest.

(aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 17.9.2004)

Nach dem geänderten Erlass zur Bekämpfung des Rechtsextremismussoll die Landespolizei künftig verstärkt einen täterorientiertenAnsatz verfolgen. Insbes. mit Hilfe der Einsatzgruppen MAEX(Mobile Aufklärung Extremismus) soll der Kontroll- und Verfol-gungsdruck erhöht und verstärkt ermittelt werden. Die Ermitt-lungen sollen dabei deliktsübergreifend bei den Staatsschutzstel-len geführt werden. Zwar sei, so Innenminister Dr. Timm, die Zahlder Gewalttaten von 53 im Jahr 1999 auf 35 im Jahr 2003 konti-nuierlich zurückgegangen; andererseits sei jedoch festzustellen,dass die rechte Szene sich zunehmend jeder Kontrolle oder Beein-flussung zu entziehen versucht.

(aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 10.9.2004)

Mit VO v. 13.9.2004 ist die Oberfinanzdirektion Rostock mit Wir-kung zum 1.10.2004 aufgelöst worden. (GVOBl. M-V Nr. 18 S. 472)

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501Neue Justiz 11/2004

SACHSEN

In seiner Rede zur Eröffnung des 26. Deutschen Jugendgerichtstags,der vom 25. bis 28.9.2004 in Leipzig stattfand, hat JustizministerDr. Thomas de Maizière eine Reform des Jugendstrafrechts angemahnt.Zur besseren erzieherischen Einwirkung auf jugendliche Straf-täter seien neue Sanktionsmöglichkeiten wie der sog. Warnschuss-arrest, die Verhängung einer Jugendstrafe von bis zu 15 Jahren fürschwerste Verbrechen und die Schaffung eines einheitlichen underweiterten Katalogs »erzieherischer Maßnahmen« erforderlich.Der Justizminister verwies insoweit auf den unter sächsischerFederführung gemeinsam mit Bayern, Brandenburg, Hessen,Niedersachsen und Thüringen erarbeiteten und vom Bundesratgebilligten Gesetzentwurf (siehe Inform. in NJ 2004, 305).

(aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 25.9.2004)

Die Staatsregierung hat den Gesetzentwurf zur Änderung des MeldeGund zur Änderung des Ges. über die Errichtung einer Sächsischen Anstaltfür kommunale Datenverarbeitung zur Anhörung freigegeben. DerEntwurf zielt auf eine Vereinfachung und bürgerfreundlichereGestaltung des Melderechts. Im Mittelpunkt steht dabei dieSchaffung einer Rechtsgrundlage für die Kommunikation derMeldebehörden untereinander via elektronischer Datenübermitt-lung, der weitgehende Verzicht auf die Abmeldung bei der »alten«Meldestelle bei einem Wohnortwechsel und die Bereitstellungeines vorausgefüllten Meldescheins bei der Anmeldung.

(aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 7.10.2004)

Eine einheitliche Umsetzung der Definition für rechte Straftaten hatInnenminister Rasch gefordert. Im Zusammenhang mit den vomBMI für 2004 bekannt gegebenen Zahlen rechtsextremer Straf-taten, nach denen Sachsen bundesweit »führend« ist, verweist derMinister darauf, dass sich die Länder bisher nicht darauf einigenkonnten, was als sog. rechte Straftat gewertet wird. »Ich bin nichtsicher, ob in allen Ländern so wie in Sachsen zu jeder Hakenkreuz-schmiererei eine Anzeige gefertigt und diese als rechtsextremisti-sche Straftat registriert wird. Wir müssen endlich aufhören, uns beider Bewertung rechter Straftaten gegenseitig in die Tasche zu lügen.«

(aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 7.10.2004)

Justizminister Dr. Thomas de Maizière hat Mitte Sept. 2004 dassanierte Gebäude des LG Görlitz eingeweiht. Das in den Jahren 1863bis 1865 errichtete und später mehrfach erweiterte LG Görlitzwurde in den letzten Jahren mit einem Kostenaufwand von ca.10,5 Mio. € umfassend saniert und durch einen Neubau ergänzt.

(aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 14.9.2004)

SACHSEN-ANHALT

Das Graffitiunwesen hat in den letzten Jahren stark zugenommenund verursacht allein in Sachsen-Anhalt rd. 5 Mio. € pro Jahr. Seitdem In-Kraft-Treten der GraffitiVO LSA im Aug. 2002 sind imLand bis Anf. Sept. 2004 insges. 87 Ordnungswidrigkeitsverfah-ren eingeleitet und 45 Verwarn- und Bußgeldbescheide i.H.v.25 bis 1.000 € ausgesprochen worden.

(aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 10.10.2004)

Die 2. VO über die Zuordnung von Gemeinden zu Verwaltungsgemein-schaften v. 8.9.2004 regelt Zuordnungen und Zusammenschlüssefür insges. 16 Landkreise. Sie tritt am 1.1.2005 in Kraft.

(GVBl. LSA Nr. 50 S. 550)

Die Allgemeine GebührenO (AllGO LSA) v. 30.8.2004 ist am 22.9.2004in Kraft getreten. Gleichzeitig trat die AllGO v. 23.5.2000 außerKraft. (GVBl. LSA Nr. 51 S. 554)

Die VO zur Übertragung von Rechtspflegeraufgaben auf den Urkunds-beamten der Geschäftsstelle v. 22.9.2004 tritt am 1.10.2005 in Kraft.

(GVBl. LSA Nr. 53 S. 724)

THÜRINGEN

Das Innenministerium hat die Kommunalaufsichtsbehördendarüber informiert, dass die Zinsausfälle der Aufgabenträger derWasserver- und Abwasserentsorgung bis zum In-Kraft-Treten derNovellierung des KAG durch das Land ersetzt werden. Die Landes-regierung plant u.a. umfangreiche Änderungen der Zinsbeihilfe-richtlinie in diesem Bereich (siehe Inform. in NJ 2004, 210). DieVerlängerung der Frist zum Aussetzen der Beitragserhebung durchdie Wasser/Abwasser-Zweckverbände schließt sich nahtlos an denZeitpunkt des Auslaufens des bisherigen Moratoriums an. Derzeitliegen 24 Anträge von Zweckverbänden auf Kostenerstattung vor.

(aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 23.9.2004)

VERANSTALTUNGEN

50 Jahre Bundessozialgericht

Anlässlich eines Festakts am 28.9.2004 zum 50-jährigen Bestehendes BSG betonte sein Präsident Matthias von Wulffen die großenHerausforderungen für alle Sozialgerichte und das BSG im Zusam-menhang mit der Übertragung der Zuständigkeiten für Verfahrenzu Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II. Er sprach sich, unterstütztvon Bundesministerin Ulla Schmidt, gegen eine Zusammenlegungvon Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit aus (zur Bundesrats-initiative siehe Inform. auf S. 499). Der frühere Bundespräsidentund Präsident des BVerfG Prof. Dr. Roman Herzog ging in seinerFestansprache ebenfalls auf die Herausforderungen des Sozial-staats ein und rief zum »Umdenken und Umfühlen« auf. Bisherhätten die Sozialrichter immer auf der Seite des Fortschrittsgestanden. Nun müssten sie erkennen, dass sie vor völlig neuenAufgaben stünden, denn die bisher verteilten ökonomischenZuwachsraten stagnierten mittlerweile wegen der »Schlampereiund Fehler unserer Politiker und Wirtschaftsführer«. Auch Herzoglehnte in Zeiten des Umbruchs eine Zusammenlegung der Sozial-gerichte mit den Finanz- und Verwaltungsgerichten ab. Im Anschluss an den Festakt fand eine Podiumsdiskussion zumThema »Schlanker Staat, moderne Justiz, Gefahr für die richterlicheUnabhängigkeit?« statt. Gemeinsam mit dem BSG-Präsidentendiskutierten teils kontrovers Bundesverfassungsrichterin RenateJaeger, Präsidentin des LSG Celle, Monika Paulat, VorsRiOLG Frank-furt/M. Karl Friedrich Piorreck und Bernd Netzer aus dem BMJ.

80. Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

Die Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrerfand Anf. Okt. 2004 in Jena zum 80. Mal statt. Auch der 1. Kon-gress im Jahr 1924 war in Jena ausgetragen worden. Der Vereini-gung gehören fast alle deutschen Hochschullehrer des Staats-rechts und mindestens eines weiteren öffentlich-rechtlichenFachs an; Voraussetzung der Mitgliedschaft ist die Habilitationoder eine gleichwertige Qualifikation. Heute gehören der Ver-einigung mehr als 600 Mitglieder an, darunter knapp 100 ausÖsterreich und der Schweiz. Der Thür. Justizminister Harald Schliemann würdigte in seinerBegrüßungsrede die Vereinigung als eine bedeutende Einrich-tung, die schon viele wertvolle Impulse für Gesetzgebung undRechtsprechung gegeben hat. Die Tagung stand unter dem Ober-thema »Der Sozialstaat in Deutschland und Europa« undbehandelte u.a. die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, dieverwaltungsrechtlichen Instrumente des Sozialstaats und dieProblematik »Diskriminierungsschutz und Privatautonomie«.

Neue Justiz 11/2004502

Petitionsbericht 2003

Aus dem Bericht des Petitionsausschusses des Bundestags über seine Tätig-keit im Jahre 2003 (BT-Drucks. 15/3150; zum Petitionsbericht 2002 sieheNJ 2003, 467 ff.) werden im Folgenden vorrangig die Passagen abgedruckt,die Anliegen zu Rechtsproblemen in den neuen Bundesländern betreffen.

1. Allgemeine Bemerkungen über die Ausschussarbeit1.1 Anzahl und Schwerpunkte der Eingaben

15.534 Eingaben wurden im Jahr 2003 an den Petitionsausschuss her-angetragen. Das sind 12 v.H. mehr als im Jahr 2002, in dem 13.832Eingaben verzeichnet wurden. Im täglichen Durchschnitt wurdendemnach über 60 Neueingaben in den Geschäftsgang gegeben. DieAnzahl der Eingaben, die der Petitionsausschuss im Jahr 2003abschließend behandelt hat, beträgt 14.451.

Betrachtet man die Verteilung der Petitionen auf die einzelnen Bundes-ministerien, so ist das Bundesministerium für Gesundheit und SozialeSicherung mit über einem Drittel der Petitionen das Ressort, zu demdie bei weitem meisten Eingaben eingingen. Gemessen am Gesamt-volumen der eingegangenen Petitionen entfielen ca. 15 v.H. derEingaben auf das Bundesministerium der Finanzen und etwas mehrals 12 v.H. auf das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit.

Sowohl die Anzahl der Sammelpetitionen … als auch die der Massen-petitionen … (z.B. Postkartenaktionen), sind im Berichtszeitraumgegenüber dem Vorjahr deutlich angestiegen. Die in Sammel- undMassenpetitionen vorgebrachten Anliegen unterschieden sich aller-dings nicht wesentlich von den in den sonstigen Petitionen angespro-chenen Themen. Die Bitten zur Gesetzgebung machten über ein Drit-tel (5.411), die Beschwerden ca. zwei Drittel der Neueingaben aus. …

Wenn man die Anzahl der Petitionen ermittelt, die auf 1 Mio. Ein-wohnerinnen und Einwohner des jeweiligen Landes durchschnittlichentfällt, so erhält man einen aussagekräftigen Vergleich der Anzahlder Petitionen, die aus den einzelnen Bundesländern kommt. DasLand mit den relativ meisten Eingaben im Jahr 2003 war Brandenburgmit 659, gefolgt von Berlin mit 485. Geringe Eingabezahlen gab es ausdem Saarland mit 108, Bayern mit 106 und Baden-Württemberg mit101 Eingaben auf 1 Mio. Einwohner. (Siehe Tabelle am Ende)

Eine genaue Aussage darüber, in welcher Größenordnung Petitions-verfahren eine positive Erledigung fanden, lässt sich nicht generelltreffen. Viele Petitionen konnten bereits im Vorfeld des parlamenta-rischen Verfahrens gelöst werden … Bei anderen Fällen waren zwarkomplexe Moderationsverfahren mit Anhörung aller Beteiligten (z.B.bei Ortsbesichtigungen) notwendig, oftmals zeichneten sich aberauch in diesem Rahmen noch Lösungswege für die Beteiligten ab. Vordiesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass bei nahezu jederzweiten Petition etwas für die Petenten erreicht werden konnte. …

2. Einzelne Anliegen2.4 Bundesministerium der Justiz

Im Berichtszeitraum ging die Zahl der Eingaben zum Geschäftsbereichdes BMJ mit 1.517 erneut zurück. Deutlich verringerten sich die Einga-ben zu den offenen Vermögensfragen in den neuen Bundesländern. …

2.4.4 Verständlichere Abfassung von Gesetzesänderungen

Ein Rechtsanwalt beklagte, dass Änderungen von Gesetzen oftmalsnur schwer verständlich seien. Er beanstandete, dass nur der geän-derte Gesetzestext und nicht die gesamte Vorschrift veröffentlichtwerde. Ferner würden zu viele unterschiedliche Gesetze ohne Sinn-zusammenhang in einem sog. Artikelgesetz geändert. Gesetzesände-rungen seien deshalb in verständlicher Form aufzuführen, Artikel-gesetze in mehrere Gesetze aufzuteilen und treffend zu benennen.

Die Prüfung des Petitionsausschusess ergab, dass die bisherige Ver-fahrensweise den Vorteil hat, dass der Gesetzgeber ausschließlich überdie Veränderungen der geltenden Rechtslage beschließen kann. DasAusmaß der Änderungen wird dadurch transparent und es wird deut-lich, welche Rechtsverhältnisse von Veränderungen betroffen sind.Die Bundesregierung ist bereits aufgrund der Vorgaben der Gemein-samen GeschäftsO der Bundesministerien (GGO) sowie der Empfeh-lungen des BMJ verpflichtet, die Qualität der Rechtsvorschriften und

die Bezeichnung von Artikelgesetzen klar zu strukturieren und ingetrennten Entwürfen zu formulieren. Der Petitionsausschuss stelltejedoch fest, dass häufig im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens weitereVorschriften geändert werden, ohne dass die Bezeichnung der Artikel-gesetze entsprechend angepasst wird. Dies hängt häufig davon ab, obund welche Rechtsänderungen in einem Rechtsetzungsakt zusam-mengefasst werden.

Der Petitionsausschuss war der Auffassung, dass alle am Gesetz-gebungsprozess Beteiligten auf Transparenz und Nachvollziehbarkeitvon Rechtsänderungen achten sollten … Allerdings erschien demPetitionsausschuss die Festschreibung einer bestimmten Form keingeeignetes lnstrument für eine Verbesserung der Änderungsgesetz-gebung zu sein. Die Auswahl der gesetzgebungstechnischen Mög-lichkeiten und die formale Gestaltung der Rechtsvorschriften müsstenim Vorfeld der Gesetzesbeschlüsse durch organisatorische Vorkeh-rungen und von allen am Gesetzgebungsprozess Beteiligten sicherge-stellt werden. Insoweit empfahl der Petitionsausschuss, das Petitions-verfahren abzuschließen.

2.12 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung

Wie in den Vorjahren entfielen die meisten Eingaben zur Sozialver-sicherung auf den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung.Hierzu erreichten den Petitionsausschuss rd. 3.130 Eingaben.

Auch im Berichtsjahr war der Petitionsausschuss wiederum Adressatzahlreicher Eingaben aus den neuen Bundesländern, mit denen eineschnellere Anhebung des aktuellen Rentenwerts (Ost) auf das Niveau desaktuellen Rentenwerts (West) gefordert wurde. Der Petitionsausschussunterstützte das Anliegen nach Abwägung der einschlägigen Gesichts-punkte ebenso wenig wie in der 14. Wahlperiode. Dabei stand imVordergrund, eine Angleichung der Rentenwerte nicht losgelöst von derAngleichung der Einkommen der aktiv Beschäftigten vorzunehmen.

Zu unterschiedlichen Ergebnissen ist der Petitionsausschuss bei denverstärkt aufgetretenen Eingaben gekommen, in denen von ehem.Angehörigen der verschiedenen Zusatz- und Sonderversorgungs-systeme der früheren DDR Kritik an der Umsetzung der grundlegenden Urteile des BVerfG v. 28.4.1999 (NJ 1999, 356 ff.) geübt wurde.Insbes. wurde das Weiterbestehen rentenrechtlicher Begrenzungs-regelungen nach Verabschiedung des 2. AAÜG-ÄndG beanstandet.Während den ehem. Mitarbeitern des MfS/AfNS eine Regelung, dieüber die Mindestvorgabe des BVerfG – 1 Entgeltpunkt pro Jahr – hinaus-geht, nicht in Aussicht gestellt werden konnte, hat der Petitionsaus-schuss bei Angehörigen bestimmter Funktionsebenen, die ein beson-ders hohes Arbeitseinkommen erzielt haben (Gehaltsstufe E 3),empfohlen, die Petition der Bundesregierung als Material zu überwei-sen und den Fraktionen zur Kenntnis zu geben, soweit die Entgelt-begrenzungen nach § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG angesprochen werden.(Das dazu zwischenzeitlich ergangene Urteil des BVerfG v. 23.6.2004 istabgedr. auf S. 504 m. Anm. Brandt, in diesem Heft.)

Bei den Eingaben aus den neuen Bundesländern bildeten weiterhindiejenigen Eingaben einen wesentlichen Schwerpunkt, mit deneninsbes. für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen der ehem.DDR bzw. in Betrieben mit sog. spezieller Produktion die Anerken-nung des besonderen Steigerungssatzes von 1,5 v.H. für Fälle mitRentenbeginn nach dem 31.12.1996 gefordert wurde. Da diesesAnliegen den Antrag der Fraktion der FDP »Für eine gerechte Versor-gungsregelung für das ehemalige mittlere medizinische Personal inden neuen Ländern« (BT-Drucks. 15/842) betraf, der dem Ausschussfür Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen wurde, bat derPetitionsausschuss diesen Ausschuss um Stellungnahme.

Zahlreiche ehem. Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn und der Deut-schen Post der früheren DDR beschwerten sich auch im Berichtsjahrüber die Modalitäten der Überführung ihrer Ansprüche und Anwart-schaften in die gesetzliche Rentenversicherung und forderten eine rück-wirkende Anerkennung dieser Ansprüche, insbes. auch des besonderenSteigerungssatzes von 1,5 v.H. Zu einer abschließenden Beratungdieser Eingaben ist es im Berichtszeitraum nicht mehr gekommen.

Dagegen konnten die Eingaben abgeschlossen werden, mit denenVersicherte, die in Berlin (West) wohnten, die rentenrechtliche Bewer-tung ihrer bei der Deutschen Reichsbahn zurückgelegten Beschäfti-gungszeiten kritisierten. Der Petitionsausschuss kam hier nach einge-

Dokumentat ion

503Neue Justiz 11/2004

hender Überprüfung zu dem Ergebnis, dass es sich bei der von denPetenten kritisierten gesetzlichen Regelung um eine sozialpolitischausgewogene und angemessene Kompromisslösung handelt, diedaher auch keiner Änderung bedarf.

Mehrere Petenten aus den neuen Bundesländern kritisierten die Über-führung der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung in die gesetzlicheRentenversicherung, forderten eine zusätzliche Leistung aus diesenBeiträgen und wandten sich insoweit gegen eine Anwendung der Bei-tragsbemessungsgrenze. Auch hier sah der Petitionsausschuss – nichtzuletzt aufgrund der eindeutigen und gefestigten Rechtsprechungdes BSG zu diesem Themenkomplex – keine Möglichkeit, sich fürRechtsänderungen im Sinne der Petitionen einzusetzen. …

Zahlreiche Petenten aus den neuen Bundesländern forderten, weitereBerufe und Betriebe in das Zusatzversorgungssystem der sog. techni-schen Intelligenz einzubeziehen und die hierfür maßgeblichen gesetz-lichen Vorschriften zu präzisieren. Mit anderen Petitionen wurde eineUngleichbehandlung der Akademiker in den neuen Ländern hinsicht-lich ihrer Altersversorgung kritisiert. Die Anliegen dieser beiden Perso-nengruppen wurden vom Petitionsausschuss umfassend geprüft, konn-ten allerdings im Berichtsjahr nicht mehr abschließend beraten werden.

Aufgliederung der Petitionen nach Herkunftsländern

Herkunfts- Jahr auf 1 Mio. in v.H. Jahr auf 1 Mio. in v.H.länder 2003 d. Bevölk. 2002 d. Bevölk.Bayern 1.319 106 8,49 1.442 117 10,43Berlin 1.644 485 10,58 1.576 465 11,39Brandenburg 1.698 659 10,93 742 287 5,36Bremen 96 145 0,62 69 104 0,50Baden-Württemb. 1.077 101 6,93 1.010 95 7,30Hamburg 294 170 1,89 199 115 1,44Hessen 882 145 5,68 776 128 5,61Meckl.-Vorp. 446 257 2,87 426 243 3,08Niedersachsen 1.249 156 8,04 1.122 141 8,11Nordrhein-Westf. 2.352 130 15,14 2.301 127 16,64Rheinland-Pfalz 595 147 3,83 447 110 3,23Sachsen-Anhalt 666 263 4,29 615 240 4,45Sachsen 1.442 333 9,28 1.391 319 10,06Saarland 115 108 0,74 95 89 0,69Schleswig-Holstein 544 193 3,50 408 145 2,95Thüringen 623 261 4,01 576 240 4,16Ausland 492 3,17 637 4,61insgesamt 15.534 100,00 13.832 100,00

Pet i t ionsber icht 2003 Rezens ionen

Matthias WinklerVorsorgeverfügungenPatiententestament, Vorsorgevollmacht, Betreuungs- und OrganverfügungVerlag C.H. Beck, München 200396 Seiten, mit CD-ROM, kart. 13,80 €

Das vom Autor bearbeitete Thema hat zunehmende Bedeutung für dieBeratungspraxis der Notare und Rechtsanwälte, aber auch für dieAufsichts- und Entscheidungstätigkeit der Vormundschaftsgerichte inBetreuungssachen. Nicht zuletzt spielt es für die ärztliche Therapieeine erhebliche Rolle, wird damit doch die Frage der Rechtssicherheitvon Behandlungsentscheidungen in der medizinischen Praxisentscheidend berührt. Angesichts der rechtlichen Grauzonen undUnsicherheiten ist eine rechtzeitige eigenverantwortliche und selbst-bestimmte Regelung, deren Notwendigkeit der Autor in dem einlei-tenden Teil anhand der verschiedenen Lebenssituationen – Vorsorgefür die letzte Lebensphase; vorübergehende Entscheidungsunfähig-keit, Anordnungen für die Zeit nach dem Tod (postmortale Vollmach-ten, Organverfügungen) – überzeugend darlegt, nur dringend anzu-raten. Zum Adressatenkreis der Schrift dürften neben Juristen auchMediziner, Betreuer und interessierte Bürger gehören.

Mittlerweile hat auch der Gesetzgeber die Notwendigkeit erkannt,die rechtliche Absicherung dieser Lebensphasen durch Vorsorge-vollmachten stärker zu fördern, nicht zuletzt, um die ausuferndenBetreuungskosten für den Fiskus einzudämmen und die »Justizlastig-keit« der Betreuung zugunsten einer stärker eigenbestimmtenVerantwortung der Beteiligten, insbesondere des Betroffenen undseiner nahen Angehörigen, zu verschieben. Dem soll einerseits durcheine Erweiterung der gesetzlichen Vertretungsmacht der Ehegatten(und eingetragener Lebenspartner) im Rahmen der neu einzustel-lenden §§ 1358 u. 1358a BGB für den Fall einer Verhinderung einesEhegatten zur Wahrnehmung seiner Geschäfte nachgekommenwerden. Andererseits geht dieser geplanten erweiterten gesetzlichenVertretungsbefugnis der in einer Vorsorgevollmacht geäußerte Willedes Betroffenen vor. Zur Stärkung der Autorität der Vorsorgevollmachtsollen die Beurkundungspersonen in den Betreuungsbehörden dieUnterschriften bzw. Handzeichen unter den Vorsorgevollmachtenbeglaubigen können. Mithilfe dieser Vollmachten kann der Vertreterdann auch pass- und melderechtliche Angelegenheiten abwickeln.

Es wäre gut gewesen, wenn der Autor diese Regelung de lege ferenda(immerhin soll sie bereits am 1.1.2005 in Kraft treten) in seineneinleitenden Teil hätte einbeziehen können. Denn mit ihr wird dieRelevanz seiner Schrift noch erhöht. Im Übrigen hat der Autor aberin diesem Teil eine nachvollziehbare Strukturierung des Gegen-standes seiner Abhandlung vorgenommen, indem er die Vorsorge-verfügungen in drei Typen einteilt, nämlich: Vorsorgevollmachten,Betreuungsverfügungen und Patientenverfügungen.

Sorgfältig und mit Quellenhinweisen untersetzt arbeitet Winkler dieUnterschiede und Vor- und Nachteile der verschiedenen Verfügungs-arten heraus, so dass auch der juristische Laie die Relevanz der ein-

zelnen Regelungen begreift. Zusätzlich für den postmortalen Bereichwerden Grundsätze der Organverfügung und der Leichenschauerläutert. Im Weiteren gibt der Autor allgemeine Hinweise zu denWirksamkeitsvoraussetzungen der Verfügungen (Form, Zeitnähe,Beratung, Aufhebung), weist auf besondere Rechtsgeschäfte (Grund-stücks- und Handelsgeschäfte, Verbraucherkredite) hin, welche dienotarielle Form erforderlich machen, und zeigt Möglichkeiten zurHinterlegung der Vollmachten auf.

Der sich anschließende Textabdruck des Musters einer Vorsorge-vollmacht und Betreuungsverfügung sowie einer Patienten- undOrganverfügung hätte m.E. an den Schluss der Schrift gehört. Dennerst im Anschluss daran folgt die kommentierte Fassung dieser Ver-fügungen, deren »Vorabdruck« den Leser dazu verleiten kann, allzuvoreilig Textpassagen zu übernehmen. Eine Reihe von alternativenFormulierungen und Begriffen erschließt sich dem Nichtjuristenauch erst durch die Kommentierung (z.B. die Bedeutung von Dop-pelvollmachten, die Varianten der Befreiung von den Beschränkun-gen des § 181 BGB, Begriff der Anstands- oder Pflichtschenkungen).

Positiv hervorzuheben ist, dass der Autor auch auf Missbrauchs-möglichkeiten (z.B. durch Vermögensverfügungen) hinweist, die eineweitgehende Übertragung von Vertretungsbefugnissen – neben denVorteilen – mit sich bringt. Der Leser kann so abwägen, wie weit er denVertreter bevollmächtigen will und ob er »Sicherungen« in Form vonBeschränkungen oder Aufsichtspersonen (z.B. durch Doppelvollmacht)einrichten will. Im Bereich der Personenfürsorge verweist Winklerberechtigt auf die Notwendigkeit gesetzeskonformer und konkreterFormulierungen (§ 1906 BGB), zumal die Reichweite der Bevollmäch-tigung bei freiheitsentziehenden Maßnahmen nicht völlig geklärt istund die Rechtsprechung für die nach § 1906 Abs. 2 BGB erforderlicheGenehmigung keine abstrakten Hinweise anerkennt. Wegen derSensibilität dieser Eingriffe sollte die Vollmacht hier auch nicht (wieoft in Formulierungsmustern vorgeschlagen) in formularmäßigerForm erfolgen, weil daraus nicht erkennbar ist, ob sich der Vollmacht-geber der Konsequenz und Reichweite der Eingriffe bewusst war.

Dem besonders schwierigen Bereich der Patientenverfügungen hatder Autor Rechnung getragen, indem er die verschiedenen Krank-heitsstadien (infauste Prognose, Sterbevorgang, Wachkoma) erläutertund Formulierungsvorschläge auch für die Grundlagen (Motive)der darauf folgenden medizinischen Verfügungen unterbreitet. Oballerdings eine Formulierung wie »einem Behandlungsabbruch … steheich daher kritisch gegenüber, will ihn aber nicht für alle Fälle ausschlie-ßen« hilfreich ist, kann bezweifelt werden. Dies insbesondere dann,wenn die nachfolgende medizinische Verfügung dazu im Wider-spruch steht. Patientenverfügungen sollen ja gerade dazu dienen, denbehandelnden Ärzten, dem Bevollmächtigten und dem Gericht klareHinweise auf den Willen des Betroffenen zu geben, andernfalls tragensie nicht zur Erleichterung der Entscheidungsfindung bei.

Insgesamt ist die Schrift ein kompakter, gut lesbarer und verständ-licher Beitrag zur praktischen Bewältigung der sehr komplexenMaterie. Die beiliegende CD enthält die Mustertexte im Word- und imRTF-Format.

Prof. Dr. Ingo Fritsche, Fachhochschule für Rechtspflege NRW

Neue Justiz 11/2004504

01 VERFASSUNGSRECHT

� 01.1 – 11/04

Verfassungswidrige Begrenzung der Arbeitsentgelte von DDR-Zusatz- und Sonderversorgten in staats-/systemnahen Funktionen

BVerfG, Urteil vom 23. Juni 2004 – 1 BvL 3/98, 9/02 u. 2/03

GG Art. 3 Abs. 1; AAÜG § 6 Abs. 2 u. 3 Nr. 8

Zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des § 6 Abs. 2 und des§ 6 Abs. 3 Nr. 8 AAÜG idF des AAÜG-ÄndG von 1996 und des2. AAÜG-ÄndG von 2001 über die Berücksichtigung von Arbeits-entgelten oder Arbeitseinkommen zusatz- und sonderversorgterPersonen in der gesetzlichen Rentenversicherung (im Anschlussan BVerfGE 100, 59 = NJ 1999, 373).

Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahrenbetreffen die Überleitung von Renten aus Zusatz- und Sonderver-sorgungssystemen der DDR in die gesetzliche Rentenversiche-rung des wiedervereinigten Deutschlands.

Gegenstand der drei Vorlagen des SG Halle und des SG Berlinist die Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, bei Angehö-rigen bestimmter Versorgungssysteme und bei Inhabern bestimm-ter Funktionen ab einer bestimmten Gehaltsstufe den Pflicht-beitragszeiten der Rentenversicherung nicht das tatsächlicherzielte Arbeitsentgelt oder -einkommen bis zur Beitragsbemes-sungsgrenze, sondern das durchschnittl. Jahreseinkommen der inder DDR erwerbstätigen Bevölkerung zugrunde zu legen.

Bei den Kl. der Ausgangsverfahren handelt es sich uma) den Direktor des VEB Militärkartographischer Dienst (1969-1990),

der als Oberst der Sonderversorgung der Angehörigen der NVAangehörte (1 BvL 3/98),

b) den Präsidenten des Amtes für Erfindungs- und Patentwesen derDDR (1961-1990) (1 BvL 9/02),

Die Kl. zu a) u. b) waren seit 1971 Mitglied der FZR für hauptamtlicheMitarbeiter des Staatsapparats der DDR.c) den Leiter der Abt. Planung und Bilanzierung im Ministerium für

Bauwesen der DDR (1967-1990) (1 BvL 2/03).

Das Anspruchs- und AnwartschaftsüberführungsG (AAÜG) machtezahlreiche Ausnahmen nach der jeweiligen Zugehörigkeit zu einembestimmten Versorgungssystem (»bereichsspezifisch«) oder nachZugehörigkeit zu bestimmten Funktionsebenen (»funktionsspezi-fisch«) oder sowohl »bereichsspezifisch« als auch »funktionsspezi-fisch«. Die dafür maßgeblichen Vorschriften des § 6 Abs. 2 (iVmden Anl. 4, 5 u. 8) und des § 6 Abs. 3 Nr. 7 AAÜG idF des Rü-ErgGv. 24.6.1993 (BGBl. I S. 1038) erklärte das BVerfG mit Urt. v.28.4.1999 (BVerfGE 100, 59 = NJ 1999, 373) für die Zeit nach dem1.7.1993 für verfassungswidrig; der Gesetzgeber wurde verpflich-tet, bis zum 30.6.2001 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.

Noch vor dieser Entscheidung trat das AAÜG-ÄndG v.11.11.1996 (BGBl. I S. 1674) in Kraft, das die Vorschriften des§ 6 Abs. 2 u. 3 für Bezugszeiten ab dem 1.1.1997 zugunsten derBetroffenen änderte. Das AAÜG-ÄndG war nicht Gegenstanddes BVerfG-Urteils v. 28.4.1999, ist aber nach Auffassung dervorlegenden Gerichte ebenfalls verfassungswidrig.

Abgesehen von den hauptberuflichen Mitarbeitern des MfS/AfNS sind nach diesem Gesetz von Kürzungen betroffen nur nochAngehörige »staats- oder systemnaher« Zusatz- und Sonderver-sorgungssysteme in einkommensmäßig privilegierter Stellungund Personen in »staats- oder systemnahen« Funktionen miteiner ebenfalls einkommensmäßig besonders hervorgehobenenStellung. Das Ziel, überhöhte Leistungen abzubauen, soll dadurcherreicht werden, dass das Einkommen, ab dem eine Entgelt-begrenzung stattfindet, durch die Gehaltsstufe E 3 (ab 1985:Gehaltsstufe 12) einschl. Aufwandsentschädigung bestimmt wird.

Ist diese Gehaltsstufe erreicht oder überschritten, so wird alsArbeitsentgelt das durchschnittl. Jahresarbeitseinkommen derBeschäftigten in der DDR der Rentenberechnung zugrundegelegt.

Mit dem 2. AAÜG-ÄndG v. 27.7.2001 (BGBl. I S. 1939) solltedem o.g. Urteil und weiteren Entscheidungen des BVerfG Rech-nung getragen werden. Die Neuregelung sieht vor, dass die zum1.1.1997 durch das AAÜG-ÄndG von 1996 erfolgte Anhebung derEntgeltbegrenzungsstufe rückwirkend zum 1.7.1993 in Kraft tritt.Die entsprechende Vorschrift des Art. 13 Abs. 7 des 2. AAÜG-ÄndG lautet:

Mit Wirkung vom 1.7.1993 treten § 6 Abs. 2 und 3 sowie Anl. 4 und5 des AAÜG idF des AAÜG-ÄndG v. 11.11.1996 für Personen inKraft, für die am 28.4.1999 ein Überführungsbescheid eines Ver-sorgungsträgers noch nicht bindend war; Abs. 8 bleibt unberührt.Dies gilt nicht für Personen, die in den Geltungsbereich der Anl. 7zu § 6 Abs. 4 des AAÜG idF des Rentenüberleitungs-ErgänzungsGv. 24.6.1993 (BGBl. I S. 1038) fallen.

Das BVerfG hat die zur Prüfung vorgelegten Regelungen für mitArt. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt.

Aus den Entscheidungsgründen:

C. § 6 Abs. 2 (iVm den Anl. 4 u. 5) und § 6 Abs. 3 Nr. 8 AAÜG idFdes AAÜG-ÄndG von 1996 und des 2. AAÜG-ÄndG von 2001verstoßen gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

I. 1. a) Art. 3 Abs. 1 GG, der hier vor allem als Prüfungsmaßstabheranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 100, 59 [90]), gebietet, alleMenschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist demGesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Erverletzt aber das Grundrecht, wenn er eine Gruppe von Norm-adressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischenbeiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchemGewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfer-tigen könnten (vgl. BVerfG, aaO).

Bei der Ordnung von Massenerscheinungen wie im vorliegendenFall ist der Gesetzgeber berechtigt, generalisierende, typisierende undpauschalierende Regelungen zu verwenden, ohne allein wegen derdamit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zuverstoßen. Typisierung bedeutet, bestimmte in wesentlichen Elemen-ten gleich geartete Lebenssachverhalte normativ zusammenzufassen.Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt sind, könnengeneralisierend vernachlässigt werden. Begünstigungen oder Belas-tungen können in einer gewissen Bandbreite zum Zwecke der Verwal-tungsvereinfachung nach oben und unten pauschalierend bestimmtwerden. Allerdings liegt eine typisierende Gruppenbildung nur vor,wenn die tatsächlichen Anknüpfungspunkte im Normzweck angelegtsind. Sie ist außerdem nur zulässig, wenn die mit ihr verbundenenHärten nicht besonders schwer wiegen und nur unter Schwierigkeitenvermeidbar wären.

b) Diese allgemeinen Grundsätze hat das BVerfG (BVerfGE 100,59 [90 ff.]) in Bezug auf die Entgeltbegrenzungen in § 6 Abs. 2u. 3 AAÜG idF von 1993 bereits konkretisiert. Danach sind dieZugehörigkeit zu bestimmten Versorgungssystemen und – alszusätzliches Kriterium – die Höhe der Arbeitsentgelte nicht vonvornherein ungeeignet, den Tatbestand eines überhöhten Entgeltszu erfassen. Die Umsetzung einer solchen Regelung muss aber– um den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG zu genügen – aufTatsachen beruhen, die die Annahme rechtfertigen, dass über-höhte Arbeitsentgelte gerade an die vom Gesetz erfassten Gruppengezahlt worden sind oder dass Entgelte ab den vom Gesetz fest-gelegten Grenzen als überhöht angesehen werden müssen. Alleinschon mit der Überführung der Zusatz- und Sonderversorgungs-systeme in die gesetzliche Rentenversicherung sind neben hohenauch überhöhte Rentenansprüche auf das durch die Beitrags-bemessungsgrenze vorgegebene Maß vermindert worden. Einerdarüber hinausgehenden zusätzlichen Bestimmung von Über-

Rechtsprechung

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höhungstatbeständen müssen Kriterien zugrunde gelegt werden,die in den tatsächlichen Verhältnissen eine Entsprechung finden.

Das BVerfG hat insoweit beanstandet, dass der Gesetzgeber für dieAngehörigen der in § 6 Abs. 2 AAÜG genannten Versorgungssystemegenerell angenommen hat, sie hätten in der DDR ab einer bestimm-ten Schwelle überhöhte Arbeitsentgelte bezogen, ohne dass Zahlenüber Lohn- und Gehaltsstrukturen in der DDR, über das Einkommens-gefüge in den einschlägigen Beschäftigungsbereichen und über dasVerhältnis der dort erzielten Verdienste zum volkswirtschaftlichenMittelwert vorlagen, die darüber hätten Auskunft geben können. DerGesetzgeber habe auch nicht für Arbeitsleistungen, die der DDR politischnützten, den Rentenbezug ausschließen wollen. Vielmehr sei seingesetzgeberisches Ziel gewesen, lediglich Versorgungszusagen, denenkeine Arbeitsleistung entsprach, als allein politisch motivierten dierentenrechtliche Anerkennung zu versagen. Aus der bloßen »Staats-und Systemnähe« der Berufstätigkeit folge nicht, dass man diesen Perso-nengruppen durchgängig Entgelte gezahlt habe, die nicht durch Arbeitund Leistung gerechtfertigt gewesen seien (vgl. BVerfGE 100, 59 [95]).

Für die Entgeltbegrenzung müsse ein sachgerechter Kürzungs-mechanismus gewählt werden. Die festgesetzten Grenzwerte müsstensich auf Erkenntnisse zur wirklichen Verteilung überhöhter Arbeits-verdienste im Bereich zwischen dem Durchschnittsentgelt und Ent-gelten an der Beitragsbemessungsgrenze stützen können. In der DDRerzielte hohe Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen seien nichtnotwendig auch »überhöhte« Entgelte, deren rentenrechtliche Aner-kennung der Gesetzgeber ohne weitere Nachprüfung versagen darf.An diesen Grundsätzen ist festzuhalten.

2. Die hier zur Prüfung gestellten Vorschriften des § 6 Abs. 2u. 3 Nr. 8 AAÜG idF von 1996 u. 2001 führen zu einer Benachtei-ligung von Personengruppen, zu denen die Kl. der Ausgangs-verfahren gehören. Diese Benachteiligung trifft insbes. gegenüberVersicherten mit Anspruch auf eine Zusatzversorgung zu, derenVersorgungssystem nicht von § 6 Abs. 2 u. 3 Nr. 8 AAÜG erfasstwird, sowie gegenüber Versicherten, deren Versorgungssystemzwar erfasst wird, deren Entgelte jedoch die sog. E 3-Grenze nichterreichen. Die von diesen beiden Personengruppen tatsächlicherzielten Entgelte werden bei der Rentenberechnung nur durchdie Beitragsbemessungsgrenze gekappt (vgl. BVerfGE 100, 59[90 f.]). Bis zum Erreichen dieser Grenze führt ein höheres Arbeits-einkommen bei ihnen auch zu einer höheren Altersrente,während bei der Gruppe der Kl. der Ausgangsverfahren immereine Absenkung der berücksichtigungsfähigen Arbeitsverdiensteauf ein Durchschnittseinkommen erfolgt.

3. Den unter C. I. 1. dargestellten Maßstäben wird die Neurege-lung in § 6 Abs. 2 u. 3 Nr. 8 AAÜG nicht gerecht. Mit ihr ist beigleich bleibendem Mechanismus ohne weitere tatsächlicheErkenntnisse lediglich die benachteiligte Gruppe verkleinert, derKürzungsmechanismus allerdings vergröbert worden. Das vomGesetzgeber nach wie vor mit der Begrenzungsregelung entspre-chend dem EinigungsV (…) verfolgte Ziel, Versorgungszusagen,denen keine entsprechende Leistung zugrunde lag und die poli-tisch motiviert waren, die Anerkennung zu versagen (…), ist zwareinsichtig und legitim (vgl. BVerfGE 100, 59 [92 f.]). Die zurPrüfung gestellten Regelungen verfehlen jedoch ebenfalls dasangestrebte Ziel, indem sie nach wie vor unzulässig typisieren.Es ist nicht erkennbar, dass die dargestellte unterschiedlicheBehandlung der Angehörigen von Zusatz- und Sonderversor-gungssystemen auf Tatsachen beruht, welche die Annahme recht-fertigen, dass überhöhte Arbeitsentgelte gerade an die von § 6Abs. 2 AAÜG erfassten Personengruppen gezahlt wurden. Dies giltauch für die in § 6 Abs. 3 Nr. 8 AAÜG vorgenommene Anknüp-fung der Differenzierung an Funktionsebenen, die Gegenstandder Vorlage 1 BvL 9/02 ist.

a) Auch den hier zu prüfenden Regelungen liegen weiterhinkeine konkreten Erkenntnisse darüber zugrunde, ob und ggf. inwelchen Bereichen in der DDR überhöhte Entgelte gezahlt wur-den. Den Gesetzgebungsmaterialien lassen sich jedenfalls solcheErkenntnisse nicht entnehmen. Zahlen über Lohn- und Gehalts-

strukturen in der DDR, insbes. über das Einkommensgefüge derhier betroffenen Beschäftigungsbereiche und dessen Verhältniszum Durchschnittseinkommen, sind nach wie vor nicht verfügbar.Es genügt nicht den aus Art. 3 Abs. 1 GG herzuleitenden Anfor-derungen an eine verfassungsgemäße Regelung der Entgeltbegren-zung, wenn der Gesetzgeber die in § 6 Abs. 2 AAÜG genanntePersonengruppe unverändert lässt und lediglich dadurch einengt,dass eine höhere Einkommensgrenze gewählt und auf dieseWeise innerhalb dieser Gruppe die Anzahl der von der Kürzungder berücksichtigungsfähigen Entgelte Betroffenen verringertwird. Hohe Arbeitsverdienste sind nicht notwendig überhöhteArbeitsverdienste (vgl. BVerfGE 100, 59 [97]).

Der Gesetzgeber hat in den zur Prüfung gestellten Regelungenzwei Kriterien, die nach der Entscheidung des BVerfG v. 28.4.1999unzulässig differenzieren (BVerfGE 100, 59 [93 ff.]), nicht in ver-fassungsgemäßer Weise abgewandelt, sondern lediglich eines derbeiden – die Höhe des Arbeitsentgelts – in der Wirkung abgemildert.Die Abgrenzung der Berechtigten nach ihrer Zugehörigkeit zubestimmten Zusatzversorgungssystemen ist unverändert geblieben.Bei den Zusatzversorgungssystemen, die weiterhin Kürzungen beiden Betroffenen auslösen, ist die maßgebliche Einkommensgrenzezwar großzügiger festgelegt, beruht aber nicht auf sachgemäßenErwägungen. Auch für die nach der Neuregelung maßgeblicheGehaltsstufe E 3 (ab 1985: Gehaltsstufe 12) bleibt offen, wie dieseAnknüpfung zu begründen ist. Der Gesetzgeber, der bei Erreichendieser Gehaltsstufe die Kürzung in § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG einsetzenlässt, kommt der Wirklichkeit nicht näher, weil auch diese Anknüp-fung nicht von Erkenntnissen über eine strukturelle Erhöhungvon Gehältern getragen wird. Die unzulässige Gleichstellung von»hohem Einkommen« und »überhöhtem Einkommen« bestimmtauch das Konzept der hier zu prüfenden Vorschriften (…). …

b) Die Unzulässigkeit der Typisierung ergibt sich nicht nur ausder Wahl der in die Rentenkürzung einbezogenen Berufsgruppenund der Wahl der maßgeblichen Entgelthöhe, sondern umge-kehrt auch daraus, welche Berufsgruppen nicht in die Kürzungvon Versorgungsrenten einbezogen worden sind. Dies zeigt einBlick in die Anl. 1 u. 2 zum AAÜG. Es erschließt sich keineswegs,weshalb – ohne Betrachtung der individuellen beruflichen Biogra-phien – die Kürzung der Rente eines hauptamtlichen Mitarbeitersder Gesellschaft für Sport und Technik oder eines hauptamtlichenMitarbeiters gesellschaftlicher Organisationen (Versorgungs-systeme nach Nr. 20 u. 21 der Anl. 1) sowie von Angehörigen derFeuerwehr (Versorgungssystem nach Nr. 2 der Anl. 2) politischprivilegierte Einkommen betreffen, eine Entgeltbegrenzung aberbspw. nicht bei Angehörigen der technischen Intelligenz greifensoll (Versorgungssystem nach Nr. 1 der Anl. 1).

c) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die hier zu prüfendenRegelungen ergeben sich zudem daraus, dass der Gesetzgeber dieim Laufe der Zeit erfolgten Veränderungen im Einkommens-gefüge der DDR nicht hinreichend berücksichtigt hat. So wurde1950 in der Gehaltsstufe E 3 das 9-fache des Durchschnitts, 1989aber nur noch ein den Durchschnitt des Einkommens wesentlichweniger übersteigendes Gehalt (das 1,6-fache des Durchschnitts-verdienstes; siehe BR-Drucks. 209/96, S. 11, u. Vorlage 1 BvL 2/03;hingegen Vorlage 1 BvL 3/98: noch das 2,5-fache) gezahlt. Trotzeiner so deutlichen Verschiebung der Einkommensverhältnissestellt der Gesetzgeber durchgängig auf eine einheitliche, festeGehaltsstufe ab.

Bereits durch die Überführung in die gesetzliche Rentenversi-cherung sind hohe und möglicherweise überhöhte Ansprüche ausZusatz- und Sonderversorgungssystemen unterschiedslos dadurchbegrenzt worden, dass eine Berücksichtigung nur noch bis zurallgemeinen Beitragsbemessungsgrenze möglich ist. Die Beitrags-

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bemessungsgrenze entspricht dabei etwa dem 1,8-fachen deserzielten Durchschnittsverdienstes. Auch die von § 6 Abs. 2 u. 3AAÜG in der hier zu prüfenden Fassung betroffenen Personenwürden hierdurch erfasst, gäbe es diese besonderen Begrenzungs-vorschriften nicht. Da die Gehaltsstufe E 3 in der DDR … im Ver-gleich zum Durchschnittseinkommen einen erheblichen Abstiegzu verzeichnen hatte, ist angesichts des Fehlens von fundiertenInformationen zum Einkommensgefüge jedenfalls die über Jahreunveränderte Anknüpfung an die Gehaltsstufe E 3, deren Gehalts-vorteil von 1950 bis 1989 erheblich an Bedeutung verlor, nichtsachlich nachvollziehbar. Denn hat der Gesetzgeber, weil ihmsolche Informationen nicht zur Verfügung stehen, an die relativeHöhe des Einkommens anknüpfen wollen, dann wäre es konse-quent gewesen, hierfür einen relativen Wert zu wählen, der derEntwicklung der Durchschnittseinkommen folgt.

d) Schließlich hat der Gesetzgeber die rentenrechtliche Berück-sichtigung altersabhängiger Einkommenselemente nicht im Ein-klang mit Art. 3 Abs. 1 GG geregelt. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 AAÜGwird auch der für das Dienstalter festgelegte Vergütungsteil in dasfür die Kürzung maßgebliche Entgelt einbezogen. Weshalb einealtersbedingte Steigerung des Arbeitsentgelts in politischer Begüns-tigung begründet sein soll, ist jedoch nicht erkennbar. Näher liegtdie Vermutung, dass erst bei Erreichen einer relevanten Einkom-mensgrenze ohne Berücksichtigung der Komponente »Vergütungfür das Dienstalter« eine Privilegierung beim Arbeitsentgelt vorge-legen hat, die durch eine besondere Systemnähe bewirkt wordenist. Steigt dagegen das Arbeitsentgelt allein deshalb, weil einehöhere Altersstufe erreicht ist, lässt sich daraus gerade nicht aufeine nunmehr überhöhte Entlohnung wegen besonderer System-nähe schließen, da sich an der Tätigkeit hierdurch nichts ändert. …

e) Verfassungsrechtlich unzulässig ist darüber hinaus auch dervom Gesetzgeber gewählte Kürzungsmechanismus. Er verfehltschon im Ansatz die Merkmale einer Typisierung oder Pauscha-lierung. Indem die Regelung der Begrenzung zwar erst ab einemin den 50er und 60er-Jahren vergleichsweise sehr hohen undspäter relativ hohen Einkommen greift, dann aber alle erfasstenArbeitsentgelte »fallbeilartig« auf das Durchschnittseinkommenkürzt, bleiben die Grundsätze unbeachtet, die für Regelungensolcher Art im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG maßgeblich sind(vgl. BVerfGE 100, 59 [97]). Überschreitet das Einkommen einesBetroffenen eine bestimmte Grenze, fällt er weit hinter denRentenbetrag zurück, der ihm zuvor für seine niedrigeren Entgeltezugeordnet war. Das gilt sogar dann, wenn mit der Einkommens-erhöhung keine Funktionsänderung eingetreten ist. Möglichkeiten,den Besonderheiten des Einzelfalls gerecht zu werden, sieht dasGesetz nicht vor. Der Gesetzgeber hat damit einen Weg gewählt,der auch unter Berücksichtigung seiner besonderen Gestaltungs-freiheit bei der Neuordnung der sozialrechtlichen Verhältnisse inder Folge der Wiedervereinigung nicht mehr vertretbar ist.

Vergleicht man die hier in Frage stehende Regelung mit derverfassungsrechtlich beanstandeten Vorgängerregelung, die eineprogressive Absenkung des berücksichtigungsfähigen Entgeltsvorsah (vgl. BVerfGE 100, 59 [71 f., 97]), hat der Gesetzgeber denTypisierungsfehler noch verstärkt. Dadurch setzt sich der Gesetz-geber erst recht in Widerspruch zu seiner eigenen Annahme,dass jedenfalls bis zum Erreichen der Beitragsbemessungsgrenze(vgl. § 6 Abs. 1 AAÜG) in keinem der von § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG»verschonten« Versorgungssysteme eine Entgeltbegrenzungveranlasst ist. Denn wenn in den nicht erfassten Versorgungs-systemen der Einkommensanteil zwischen dem Durchschnittsein-kommen und der Beitragsbemessungsgrenze nicht als überhöhtgilt, ist schwer einzusehen, weshalb dies in den ausgewähltenVersorgungssystemen der Fall sein soll.

f) Der Gesetzgeber kann sich zur verfassungsrechtlichen Rechtfer-tigung der von ihm getroffenen Regelungen nicht darauf berufen, dieOpfer des SED-Regimes erhielten auf der Grundlage des Ges. über dieberufliche Rehabilitierung oft nur eine sehr geringe Altersversorgung;deswegen seien die Kürzungen in § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG ein Gebot derGerechtigkeit und lägen im Interesse der politischen Akzeptanz.Damit wird ein Zusammenhang hergestellt, der verfassungsrechtlichzur Rechtfertigung der hier festgestellten Ungleichbehandlung nichtträgt. Es ist Sache des Gesetzgebers, Änderungen in der Altersversor-gung der Opfer des SED-Regimes herbeizuführen, wenn sich im Zugeder Rentenüberleitung eine Rechtslage ergibt, die im Verhältnis zuden Menschen, die in der DDR berufliches Unrecht erfahren haben,als nicht hinnehmbar angesehen wird. Unausgewogenheit in derAltersversorgung kann nicht dazu gereichen, die Beibehaltung einergleichheitswidrigen Rentenkürzung zu legitimieren.

Der Gesetzgeber kann sich zur Rechtfertigung seiner Regelung auchnicht darauf berufen, das BVerfG habe im Falle der rentenrechtlichenÜberleitung von Ansprüchen und Anwartschaften aus dem Sonder-versorgungssystem der Angehörigen des MfS/AfNS eine Pauschalie-rung für verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen, die er nunlediglich auch in anderen Versorgungssystemen auf die Einkommenab der Gehaltsstufe E 3 zur Anwendung bringe. Das BVerfG hat demGesetzgeber Pauschalierungsmöglichkeiten bei der Ausgestaltung derKürzungsregelung in § 7 AAÜG aus Gründen eingeräumt, die in denganz spezifischen Verhältnissen des von dieser Vorschrift erfasstenBereichs begründet sind (vgl. BVerfGE 100, 138 [178 bis 180] = NJ1999, 380).

4. Steht somit schon die in § 6 Abs. 2 Satz 1 AAÜG in der hierzu prüfenden Fassung getroffene Grundentscheidung mit Art. 3Abs. 1 GG nicht in Einklang, bedarf es keiner Prüfung mehr,ob es im Hinblick auf das Ziel des Gesetzgebers, privilegierteEntgeltbestandteile rentenrechtlich nicht wirksam werden zulassen, mit dem Gleichheitssatz vereinbar ist, wenn die Gewäh-rung einer Aufwandsentschädigung bei der Ermittlung des nachAnl. 4 jeweils maßgebenden Betrags Berücksichtigung findet, dieGewährung einer Zulage dagegen nicht (§ 6 Abs. 2 Satz 2 u. 3AAÜG). …

II. Da die überprüften Vorschriften schon wegen Verstoßesgegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig sind, erübrigt sich einePrüfung anhand des Maßstabs des Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. aberBVerfGE 100, 59 [97 f., 101]).

D. I. Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfü-gung stehen, die Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestelltenVorschriften zu beseitigen, sind diese nicht für nichtig, sondernlediglich für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar zu erklären. DerGesetzgeber ist verfassungsrechtlich verpflichtet, bis zum 30.6.2005eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Diese Verpflichtungerstreckt sich auf den gesamten von der Unvereinbarerklärungbetroffenen Zeitraum. Kommt es bis zu diesem Zeitpunkt zukeiner verfassungsgemäßen Neuregelung, tritt Nichtigkeit derbeanstandeten Vorschriften ein.

II. Die Unvereinbarerklärung führt dazu, dass § 6 Abs. 2 und § 6Abs. 3 Nr. 8 AAÜG von Gerichten und Verwaltungsbehördennicht mehr angewendet werden dürfen. Die Gerichte müssen dieVerfahren ausgesetzt lassen oder aussetzen, bis der Gesetzgeber dieverfassungswidrigen Vorschriften durch mit der Verfassungvereinbare Regelungen ersetzt hat oder Nichtigkeit entsprechendD. I. eintritt.

III. Bescheide, durch die die verfassungswidrigen Vorschriftenrechtsverbindlich angewandt wurden und die im Zeitpunkt derBekanntgabe dieser Entscheidung bereits bestandskräftig sind,bleiben für die Zeit vor der Bekanntgabe unberührt (vgl. BVerfGE104, 126 [150] = NJ 2002, 197). Es ist dem Gesetzgeber aberunbenommen, im Zusammenhang mit dem Gegenstand der vor-liegenden Entscheidung eine andere Regelung zu treffen. Er kanndie erforderliche Neuregelung auch auf bereits bestandskräftigeBescheide erstrecken; von Verfassungs wegen verpflichtet ist erhierzu nicht.

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Anmerkung:

Rechtsanwältin Adelhaid Brandt, Berlin

Das Urteil des BVerfG ist von den etwa 12.000 Betroffenen (so SZv. 8.7.2004; lt. Berliner Zeitung v. 9.7. sogar bis zu 25.000) seitlangem erwartet worden; immerhin hatte das SG Halle seinenVorlagebeschluss schon im Febr. 1998 gefasst. Aber der Erste Senat,der die Problematik bereits für 2003 auf die Agenda der zurEntscheidung anstehenden Verfahren gesetzt hatte, ließ sich Zeit.Mit Beschl. v. 17.9.2003 erklärte er dann zunächst die Selbstableh-nung des Präsidenten Papier für begründet. Dieser war schon inden Verfahren 1 BvL 22/95 u. 34/95 wegen seiner gutachterlichenÄußerungen – im Gegensatz zur späteren Entscheidung des ErstenSenats (NJ 1999, 373) hielt er die angegriffenen Regelungen fürverfassungskonform – von einer Mitwirkung entbunden worden.

Die jetzige Entscheidung des BVerfG kann nicht überraschen,denn der Erste Senat setzt damit seine bish.Rspr. zum Dauerstreit-punkt »Rentenüberleitung« fort. Erstaunlich ist aber die überausdeutliche Kritik, die er am Bundesgesetzgeber in Bezug auf diemit den AAÜG-ÄndG von 1996 u. 2001 (siehe dazu Heller, NJ2001, 350 ff.) geschaffenen und nun als verfassungswidrig einge-stuften Regelungen geübt hat. So wird dem Gesetzgeber zu Rechtvorgeworfen, dass er trotz der verfassungsrechtlich beanstandetenVorgängerregelung (BVerfGE 100, 59 = NJ 1999, 373; dazu Will,NJ 1999, 343 ff.) »den Typisierungsfehler noch verstärkt« und dieArbeitsentgelte der Betroffenen »fallbeilartig« auf das Durch-schnittseinkommen gekürzt hat. Sind diese damit doch im Ergeb-nis schlechter gestellt als diejenigen Beschäftigten, die in der DDRzwar ein überdurchschnittliches Einkommen erzielten, damit aberunter der magischen E 3-Grenze (seit 1985: 31.800 M jährl.) blieben.

Zugrunde lag dieser gesetzgeberischen »Konstruktion« ganzoffensichtlich die Auffassung, dass die geleistete Arbeit in derDDR nicht dem gezahlten Entgelt entsprach, zumindest dannnicht, wenn es das Durchschnittseinkommen nicht unerheblichüberstieg. Mit anderen Worten: Je höher ein Mitglied bestimmterVersorgungssysteme alimentiert wurde, desto systemnaher war esund desto geringer wurde der Wert der geleisteten Arbeit einge-schätzt. Ein »juristischer Rasenmäher« ging also ab einer gewissenHöhe pauschal über die erzielten Entgelte hinweg (so Mutz,DAngVers 1999, 512).

Im Falle des Kl. im Vorlageverfahren 1 BvL 9/02 führte das dazu,dass der promovierte und 29 Jahre lang als Präsident des Amtesfür Erfindungs- und Patentwesen der DDR tätige Jurist mit einemJahreseinkommen von ca. 42.000 M einschl. Aufwandsentschä-digung – gemessen an heutigen Verhältnissen wahrlich kein fürst-liches Salär! – bei der Rentenberechnung vergleichsweise einemMaurer oder einer Verkäuferin gleichgestellt wurde. Ein Abteilungs-leiter dieses Amtes, der mit seinem Einkommen knapp unterhalbder E 3-Grenze blieb, war von dem Kürzungsmechanismus des§ 6 Abs. 2 AAÜG hingegen nicht betroffen.

Dieser Ungleichbehandlung hat das BVerfG nun einen Riegelvorgeschoben und den Gesetzgeber beauflagt, bis zum 30.6.2005eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Zugleich verwies esdarauf, dass es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, die Neu-regelung auch auf bereits bestandskräftig gewordene Bescheidezu erstrecken. Damit dürfte angesichts leerer Haushaltskassenallerdings kaum zu rechnen sein. Denn die ostdeutschen Länderfordern – bisher allerdings erfolglos – immer wieder, dass derBund bei der Zahlung von DDR-Zusatzrenten einen höherenAnteil als nur ein Drittel der Kosten übernehmen soll. Ohne Not,sprich: ohne verbindliche Vorgabe des höchsten Gerichts, wirdman eine solche Empfehlung daher wohl schnell in Vergessenheitgeraten lassen.

� 01.2 – 11/04

Zulässige Begrenzung der Arbeitsentgelte von Angehörigen desSonderversorgungssystems des MfS/AfNS

BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2004 – 1 BvR 1070/02

GG Art. 3 Abs. 1, 14 Abs. 1; AAÜG § 7 Abs. 1 Satz 1

Die bei der Rentenüberleitung erfolgte Berücksichtigung derArbeitsentgelte von Angehörigen des Sonderversorgungssystemsdes MfS/AfNS lediglich bis zur Höhe der jeweiligen Durchschnitts-entgelte im Beitrittsgebiet ist verfassungsrechtlich zulässig. Zueiner weiter gehenden Berücksichtigung der Arbeitsentgelte istder Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verpflichtet (wieBVerfGE 100, 138 = NJ 1999, 380). (Leitsatz der Redaktion)

Anm. d. Redaktion: Der Beschwerdef., von 1976-1988 Angehöriger desMfS, hatte mit seiner gegen sozialgerichtliche Urteile erhobenen Verfas-sungsbeschwerde unter Verweis auf im Berufungsverfahren vorgelegteGutachten gerügt, dass das Urteil des BVerfG v. 28.4.1999 (NJ 1999,380) auf einer falschen Tatsachengrundlage ergangen und daher zukorrigieren sei. Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zurEntscheidung an, da die Gutachten keine sachlich und zeitlich umfas-sende, auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse erarbeitete Analyse desVersorgungssystems im Bereich des MfS/AfNS beinhalten.

� 01.3 – 11/04

Fraktionsmindeststärke in kommunalen Vertretungen und einst-weilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren

LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13. Juli 2004 – 11/04

LVerf. M-V Art. 5 Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 1; KommVerf. M-V §§ 23Abs. 5, 105 Abs. 4 idF des 5. u. 6. ÄndG; LVerfGG § 29 Abs. 1

1. Bei dem Erlass einer einstweiligen Anordnung haben dieGründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenenGesetzes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zubleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag istinsgesamt unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Es istvielmehr eine Folgenabwägung anzustellen.2. Die fraktionslosen Mitgliedern kommunaler Vertretungenvorenthaltenen Rechte und finanziellen Mittel überwiegen alsNachteile die den Städten und Landkreisen bis zur Entscheidungin der Hauptsache entstehenden finanziellen Mehrbelastungenund funktionellen Beeinträchtigungen. (Leitsätze des Bearbeiters)

Problemstellung:

Gegenstand des Verfahrens war ein Antrag auf Erlass einer einst-weiligen Anordnung im Rahmen eines Verfassungsbeschwerde-verfahrens, in dem sich ein Mitglied einer Bürgerschaft (Stadt-vertreter) und sechs Mitglieder von Kreistagen gegen dieAnhebung der Fraktionsmindeststärke in Stadtvertretungen (§ 23Abs. 5) und Kreistagen (§ 105 Abs. 4) durch das 5. u. 6. Ges. zurÄnderung der Kommunalverfassung (GVOBl. M-V 2004 S. 61 u.179) wenden. Danach muss eine Fraktion in Städten mit mehr als25 Stadtvertretern aus mind. drei und in Städten mit mehr als 37Stadtvertretern aus mind. vier Mitgliedern bestehen. In Kreistagenbeträgt die Fraktionsstärke mind. vier Mitglieder (zu Hintergrundund Entstehungsgeschichte der Regelungen vgl. Meyer, LKV2004, 241, 244).

Die Beschwerdef. machen geltend, die Anhebung der Fraktions-mindeststärke in ihrem Fall von zwei Mitgliedern auf nunmehrvier Mitglieder verwehre es ihnen, sich mit Beginn der neuenWahlperiode aus eigener Kraft zu einer Fraktion zusammenzu-schließen. Sie sehen darin einen Verstoß gegen den Gleichbehand-

Ver fassungsrecht

Neue Justiz 11/2004508

lungsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 3 Abs. 1 GG), da dieAnhebung der Fraktionsmindeststärke gegenüber Kommunalver-tretern anderer Parteien zu einer nicht gerechtfertigten Ungleich-behandlung führe, die nicht mit der Funktionsfähigkeit derKommunalvertretungen begründet werden könne. Darüber hin-aus bewirke die Anhebung eine Ungleichbehandlung zwischenden einzelnen Kommunalvertretungen, da die Bildung einer Frak-tion je nach Anzahl der Kommunalvertreter zwischen 7,5% und10,3% der Mitglieder einer Kommunalvertretung erfordere.

Der Antrag hatte Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Gegen die Zulässigkeit des Antrags auf einstweilige Anordnunghegt das LVerfG keine Bedenken. Die Beschwerdef. sind als gewählteStadt- bzw. Kreistagsmitglieder beschwerdebefugt, da sie selbst,unmittelbar und gegenwärtig durch die angegriffenen Regelun-gen betroffen sind. Danach sind sie gehindert, sich aus eigenerKraft zu Fraktionen zusammenzuschließen. Eine Verletzung desGleichbehandlungsgrundsatzes erscheint nicht ausgeschlossen.

Der Antrag ist auch begründet. Nach § 29 Abs. 1 LVerfGG kanndas LVerfG einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln,wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderungdrohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zumGemeinwohl dringend geboten ist. Das LVerfG folgt der Rspr. desBVerfG (BVerfGE 81, 53, 54; 83, 162, 171; vgl. auch LVerfG M-V,NordÖR 2002, 452), wonach bei dem Erlass einer einstweiligenAnordnung die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit desangegriffenen Gesetzes vorgetragen werden, grundsätzlich außerBetracht zu bleiben haben, es sei denn, der in der Hauptsachegestellte Antrag ist insgesamt unzulässig oder offensichtlich unbe-gründet. I.d.R. wird eine Folgenabwägung angestellt, bei der,wenn es um die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes geht, einbesonders strenger Maßstab anzulegen ist. Ein Gesetz darf danachvorläufig nur dann außer Kraft gesetzt werden, wenn die Nach-teile, die mit seinem In-Kraft-Treten bei späterer Feststellungseiner Verfassungswidrigkeit verbunden wären, in Ausmaß undSchwere die Nachteile deutlich überwiegen, die entstehen wür-den, wenn die angegriffene Regelung vorläufig außer Anwendunggesetzt würde, sie sich aber später als verfassungsgemäß erwiese.

Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offen-sichtlich unbegründet. Eine Verletzung des Gleichbehandlungs-grundsatzes hält das LVerfG unter Hinweis auf die Rechtslage inanderen Bundesländern, die geringere Anforderungen an dieFraktionsbildung in den Kommunalvertretungen stellen, fürmöglich. Da es sonach den Ausgang des Verfassungsbeschwerde-verfahrens als offen ansieht, tritt das LVerfG in eine Folgen-abwägung ein. Es stellt besonders die Rechte heraus, welche dieBeschwerdef. bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht mehrausüben könnten, wenn eine einstweilige Anordnung nichterginge. Dazu zählen das Recht zur unverzüglichen Einberufungeiner Gemeindevertretungs- bzw. Kreistagssitzung (§§ 29 Abs. 2,107 Abs. 2 KV M-V), der Anspruch auf Auskunft und Aktenein-sicht (§§ 34 Abs. 2 u. 4, 112 Abs. 2 u. 4 KV M-V), die Verpflichtungdes Bürgermeisters bzw. des Landrats zur Stellungnahme zu einemTagesordnungspunkt (§§ 29 Abs. 7, 107 Abs. 7 KV M-V), derAntrag auf Verpflichtung zur namentlichen Abstimmung (§§ 31Abs. 2, 109 Abs. 2 KV M-V) und das Vorschlagsrecht bei Verhält-niswahlen (§§ 32 Abs. 2, 110 Abs. 2 KV M-V). Außerdem könnenden Fraktionen nach §§ 23 Abs. 5 Satz 4 und 105 Abs. 4 Satz 4KV M-V weitere Rechte in den Geschäftsordnungen zuerkanntwerden. Hinzu kommt die finanzielle Unterstützung der Fraktions-arbeit aufgrund § 174 Abs. 1 Nr. 6 KV M-V. Das LVerfG sieht dieBeschwerdef. im Verhältnis zu den in Fraktionen organisierten

Kommunalvertretern deshalb als besonders nachteilig betroffen an,weil die Neuregelungen gerade zum Beginn einer Wahlperiode, inder wichtige Weichenstellungen erfolgten, greifen würden.

Die Möglichkeit der Beschwerdef., sich mit anderen fraktions-losen Mitgliedern oder Fraktionen nach §§ 32 Abs. 2 und 110Abs. 2 KV M-V zusammenzuschließen, hält das Gericht nicht fürerheblich, da es den Beschwerdef. gerade darum geht, aus eigenerKraft Fraktionen bilden zu können, ohne auf den guten WillenDritter angewiesen zu sein.

Das LVerfG erkennt auf der anderen Seite an, dass auch denStädten und Landkreisen infolge einer einstweiligen Anordnung,deren Ergebnis im Hauptsacheverfahren nicht bestätigt würde,Nachteile entstehen können, da insbes. ein zusätzlicher finan-zieller Aufwand nicht auszuschließen ist. Es gewichtet jedoch dieNachteile, die den Beschwerdef. im Falle einer im Ergebnisunberechtigten Ablehnung ihres Antrags entstünden, deutlichschwerer als »die finanziellen Mehrbelastungen und etwaigefunktionelle Beeinträchtigungen der Städte und Landkreise beiErlass der einstweiligen Anordnung«.

Kommentar:

Das Ergebnis der Entscheidung ist nicht zu kritisieren; es lässt auchauf einen Erfolg der Beschwerdef. im Hauptsacheverfahren hoffen.

Das LVerfG folgt nicht der Linie der Verwaltungsgerichte, die inVerfahren des einstweiligen Rechtsschutzes primär die Erfolgs-aussichten in der Hauptsache summarisch bewerten, sondern gibt– wie auch das BVerfG und Verfassungsgerichte anderer Länder –einer isolierten Interessen- und Folgenabwägung den Vorzug, essei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag erweist sich vonvornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet, wasselten angenommen wird. Auch vorliegend war dies nicht der Fall.

Obwohl man für die bei Eilentscheidungen unter Zeitdruckstehenden Verfassungsgerichte Verständnis aufbringen kann,wenn sie prinzipiell materiell-rechtliche Aussagen von z.T. weitreichender Bedeutung zu vermeiden suchen, stößt diese Rspr. ausverschiedenen Gründen zunehmend auf Kritik, insbes. weil dieAbwägung ohne Rechtsmaßstab stattfindet, letztlich auf politi-schen Erwägungen beruht und sich von daher rechtlicher Kritikentzieht (vgl. nur Benda/Klein, Lehrb. des Verfassungsprozessrechts,2. Aufl. 2001, Rn 1222 f.; Schlaich/Korioth, Das BVerfG, 6. Aufl.2004, Rn 465 mwN). Der Kritik ist zuzugeben, dass es vorzugswürdigist, sich bei der Entscheidung an dem im Streitfall anwendbarenSachrecht zu orientieren, also zumindest den Versuch zu unter-nehmen, die vorläufige Regelung so nahe wie möglich am mate-riellen Recht zu platzieren. Die dogmatischen Bedenken wirkensich allerdings in der Praxis – jedenfalls in der Rspr. des BVerfG –nicht erheblich aus, wie aus der enormen Ergebnis-Konkordanzvon einstweiligen Anordnungs- und Hauptsacheverfahren folgt(vgl. Berkemann, JZ 1993, 161, 167 ff.), was eine stillschweigendeEinbeziehung des materiellen Rechts mehr als nahe legt.

Die vorliegende Entscheidung kann als typischer Beleg dafürdienen, wie berechtigt die Kritik des Schrifttums ist. Gleichzeitigkönnen ihr Hinweise auf eine gleichwohl vorgenommene, ver-deckte materiell-rechtliche Prüfung entnommen werden. Für dieBeliebigkeit der Argumentation bei der Interessen- und Folgen-abwägung sei nur Folgendes angeführt:

Das LVerfG listet alle Rechte, die ein fraktionsloser Kommunal-vertreter im Verhältnis zu einem fraktionsangehörigen entbehrenmuss, akribisch auf bis hin zu Rechten, die nur potentiell entstehenkönnen, wenn die Kommunalvertretungen dies in ihren Geschäfts-ordnungen beschließen. Die Argumente von Landtag und Lan-desregierung, wonach die für die politische Beteiligung in den

Rechtsprechung Ver fassungsrecht

509Neue Justiz 11/2004

Kommunen wesentlichen Rechte dem einzelnen Gemeindevertre-ter ohne Bindung an eine Fraktionsmitgliedschaft zustünden, räumtdas Gericht dadurch aus, dass es sich in eine Gesamtschau »flüch-tet«. Die Auffassung, diese Nachteile seien nur für eine relativ kurzeZeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen, wird mitgerade zu Beginn einer neuen Wahlperiode typischerweise erfol-genden wichtigen Weichenstellungen begründet, obwohl allgemeinbekannt sein dürfte, dass vor allem neue Volksvertreter oftmals einegehörige Zeit brauchen, sich in ihr neues Mandat einzufinden.Entsprechendes kann für neu zusammengesetzte Fraktionen gelten.

Die den Kommunen durch den Erlass der einstweiligenAnordnung entstehenden Nachteile werden demgegenüber mitleichter Hand klein gerechnet. So wird der verhältnismäßiggeringe Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache, der denBeschwerdef. nicht zum Nachteil gereichte, in Bezug auf dieKommunen dafür angeführt, dass evtl. zu Unrecht zu erbringendefinanzielle Leistungen umso leichter hinnehmbar erscheinen.Nicht nachvollziehbar ist das Argument, das Hinzutreten weite-rer kleinerer Fraktionen wirke sich i.d.R. kostenneutral aus, da diemeisten Landkreise und Städte einen jährlichen Sockelbetragje Fraktionsmitglied gewährten. Fehlt kleineren Gruppierungender Fraktionsstatus, dann fällt zwangsläufig der Sockelbetrag weg.Der Hinweis des LVerfG, die Mandate seien auf entsprechendeVerluste größerer Gruppierungen zurückzuführen, ändert darannichts, da sich deren Sockelbetragssumme dadurch mindert.

Trotz nicht durchweg überzeugender Argumentation ist dasLVerfG allerdings – vermutlich infolge einer verdeckten materiell-rechtlichen Prüfung – zu dem richtigen Ergebnis gelangt. DieRegelungen über die Voraussetzungen einer Fraktionsbildungstehen nicht im Belieben des Gesetzgebers. Vor dem Hintergrunddes Gleichheitssatzes bedarf es triftiger sachlicher Gründe, dieeine Ungleichbehandlung der aufgrund allgemeiner und gleicherWahl (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG; zum parlamentsbezogenen Grund-satz der formellen Gleichstellung der Abgeordneten, der ausArt. 38 Abs. 1 Satz 2 und nicht aus Satz 1 GG folgt, vgl. BVerfGE84, 304, 324 f.) in ihr Amt Gekommenen zu rechtfertigen ver-mögen. Ein solcher Grund wird letztlich nur anzunehmen sein,wenn die Funktionsfähigkeit der Stadtvertretungen und Kreistagedurch die Möglichkeit, auch bereits mit zwei Mandaten denFraktionsstatus zu erhalten, wesentlich beeinträchtigt würde(Meyer, LKV 2004, 241, 244 mwN).

Diesen Gesichtspunkt spricht das Gericht an drei Stellen an:Bei der Prüfung der Zulässigkeit des Hauptsacheverfahrens heißtes, eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erscheineu.a. deshalb möglich, weil in anderen Bundesländern geringereAnforderungen an die Fraktionsbildung in den Kommunalver-tretungen gestellt würden. Die den Kommunalvertretungen dro-henden Nachteile durch die vorübergehende Zulassung kleinererFraktionen werden mit dem Hinweis entkräftet, dass es sich nichtum wesentliche Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeithandele. Schließlich werden am Ende der Entscheidung in einemResümee der Folgenabwägung die Nachteile, die den Beschwerdef.im Falle einer Ablehnung der einstweiligen Anordnung ent-stünden, deutlich schwerer gewichtet als die finanziellen Mehr-belastungen und etwaige funktionelle Beeinträchtigungen derStädte und Landkreise bei Erlass der einstweiligen Anordnung.

Das Gericht dürfte – wie die Formulierungen nahe legen – derAuffassung zuneigen, der Gesetzgeber habe sich mit der neuenFraktionsmindestzahl nach oben vergriffen. Dies erscheint – inÜbereinstimmung mit Meyer (aaO) – dem Rezensenten ebenso,weswegen das Ergebnis der Entscheidung (jedenfalls von ihm)nicht zu kritisieren ist.

MinDgt Dr. Siegfried Jutzi, Justizministerium Rheinland-Pfalz

02 BÜRGERLICHES RECHT

� 02.1 – 11/04

Kaufvertrag über GmbH-Geschäftsanteile und Gewinnverwen-dungsbeschluss zum Nachteil der Alt-Gesellschafter

BGH, Urteil vom 30. Juni 2004 – VIII ZR 349/03 (OLG Rostock)

GmbHG § 29 Abs. 2

a) Haben die Parteien in einem Kaufvertrag über GmbH-Geschäfts-anteile vereinbart, dass der für einen bestimmten Stichtagfestzustellende Gewinn der Gesellschaft dem Verkäufer zustehensoll, so ist es den Gesellschaftern im Regelfall verwehrt, gem.§ 29 Abs. 2 GmbHG eine anderweitige Gewinnverwendung zubeschließen.b) Vereiteln die Gesellschafter durch einen Beschluss über eineanderweitige Gewinnverwendung den Gewinnauszahlungs-anspruch des Anteilsverkäufers, so sind sie diesem gegenüberunter dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung zumSchadensersatz verpflichtet.

Problemstellung:

Die Kl. waren Gesellschafterinnen der G. GmbH, die sie 1993gründeten. Am 27.12.1996 boten sie mit notarieller Urkunde denBekl. den Abschluss eines Geschäftsanteilskaufvertrags über ihreGmbH-Geschäftsanteile an, der von den Bekl. mit notariellerUrkunde v. 30.12.1996 angenommen wurde. Bestandteil desVertrags war die Regelung in § 5 Abs. 2: »Jeder Erwerber ist ab1.1.1997 mit dem erworbenen Geschäftsanteil am Gewinn undVerlust beteiligt.« Einer der Bekl. war seit der Gründung derG. GmbH deren Geschäftsführer.

Nach dem Jahresabschluss 1996 betrug der Gewinn derGmbH 129.892,21 DM. In der Gesellschafterversammlung am14.11.1997 stellten die Bekl. den Gewinn in dieser Höhe fest undbeschlossen, ihn zur Bildung einer Rücklage i.H.v. 136.000 DMzu verwenden. Zur Begründung verwiesen sie auf einen Investi-tionsbedarf der Gesellschaft.

Die Kl. begehrten von den Bekl. die Zahlung eines Schadens-ersatzes wegen positiver Vertragsverletzung. Die Bekl. hättenentgegen dem Inhalt des Vertrags v. 27./30.12.1996 den fest-gestellten Gewinn nicht ausgeschüttet, sondern in eine Rücklagegebracht. Der Beschluss über die Verwendung des Gewinns alsRücklage verstoße gegen § 5 Abs. 2 des Vertrags. Die Bekl. berie-fen sich auf § 29 Abs. 2 GmbHG, der ihnen die Möglichkeit derBildung von Rücklagen gebe.

Der Klage wurde in den Vorinstanzen im Wesentlichen statt-gegeben (zugunsten der Bekl. erfolgten Abzüge vom Gewinn fürKörperschaftsteuer und Geschäftsführertantiemen).

Die Revision der Bekl. hatte keinen Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Der Anspruch eines Gesellschafters auf Auszahlung des Gewinns(§ 29 Abs. 1 GmbHG) entsteht erst mit der Feststellung desJahresabschlusses durch die Gesellschafterversammlung und mitder Beschlussfassung über die Verwendung des Gewinns. Alskünftiger Anspruch kann er jedoch im Voraus abgetreten werden.Behält sich der Veräußerer eines Geschäftsanteils in dem Anteils-kaufvertrag die Auszahlung des für ein bestimmtes Geschäftsjahrzu erwartenden Gewinns an ihn selbst vor, so liegt in der ent-sprechenden vertraglichen Vereinbarung die rechtlich möglicheRückabtretung des Anspruchs auf Auszahlung des Gewinns.

Die vom LG vorgenommene und vom OLG ausdrücklichgebilligte Auslegung der Klausel in § 5 Nr. 2 des Kaufvertrags,

Ver fassungsrecht

Neue Justiz 11/2004510

wonach sie nicht nur die Gewinn- und Verlustbeteiligung derBekl. ab 1.1.1997, sondern im Umkehrschluss zugleich auch dieBeteiligung der Kl. für den Zeitraum vor diesem Stichtag regelt, istaus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Der BGH setzt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen§ 29 Abs. 2 GmbHG idF des BilanzrichtlinienG v. 19.12.1985 undder vertraglichen Regelung des § 5 Abs. 2 des Kaufvertrags ausein-ander. Das BilanzrichtlinienG von 1985 schuf § 29 Abs. 2 GmbHGneu. Ziel war es, die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft zu stärken,indem den Gesellschaftern die Möglichkeit gegeben wird, Gewinnein der Gesellschaft zu belassen. Notwendig war dafür, denGewinnausschüttungsanspruch des Gesetzes, der sich ebenso imGesellschaftsvertrag widerspiegelt, durch die Möglichkeit zu rela-tivieren, abweichende Gewinnverwendungsbeschlüsse zu fassen.Den Gesellschaftern wird damit ein hoher Ermessensspielraumzugestanden. Auf diesen Spielraum beriefen sich die Bekl.

Der BGH stellt fest, dass diese Handlungsfreiheit der Gesell-schafter durch vertragliche Regelungen eingeschränkt wird.Kollidieren eine Vereinbarung und das in § 29 Abs. 2 GmbHG denGesellschaftern zugebilligte Ermessen, so hat grundsätzlich dievertragliche Regelung Vorrang gegenüber der Kann-Bestimmungdes Gesetzes. Mit § 5 Abs. 2 des Vertrags haben sich die Bekl.dergestalt gebunden, dass sie verpflichtet waren, den Gewinnuneingeschränkt auszuschütten. Indem sie die Ausschüttungverhindert haben, machten sie sich schadensersatzpflichtig überdie Regelungen der positiven Vertragsverletzung.

Die Bekl. dürfen sich nicht auf einen Investitionsbedarf stützen,da ihnen durch einen Bekl. in seiner Eigenschaft als Geschäfts-führer der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Vertragsunter-zeichnung am 30.12.1996 bekannt gewesen war, in welcherwirtschaftlichen Situation sich die Gesellschaft befunden hat.Offen lässt der BGH, ob ausnahmsweise bei Vorliegen beson-derer Umstände anders zu entscheiden wäre. Solche Umstände– z.B. dass die Bekl. die GmbH nicht so gut gekannt hätten – lagenhier nicht vor.

Kommentar:

Der Entscheidung des BGH und der Vorinstanzen ist zuzustim-men. Gewinnklauseln in Geschäftsanteilsübertragungsverträgenwären das Papier nicht wert, auf denen sie beurkundet werden,wenn die Neu-Gesellschafter nicht bestimmten Einschränkungenbei der Gewinngestaltung unterliegen würden. Es bleiben jedochFragen offen, die in der Zukunft beantwortet werden müssen.

Der BGH hat offen gelassen, wie zu entscheiden wäre, wenn dieBekl. keine genaue Kenntnis über die Gesellschaft gehabt hättenund wenn der geltend gemachte Investitionsbedarf zur Existenz-sicherung der Gesellschaft unbedingt notwendig gewesen wäre.In diesem Falle müsste im ersten Schritt ebenso entschiedenwerden, dass die vertragliche Regelung der Kann-Bestimmungdes § 29 Abs. 2 GmbHG vorgehen muss. Jedoch müsste dann derEinwand des Rechtsmissbrauchs durch die Alt-Gesellschaftergeprüft werden. Hier wären Fragen zum Umfang der Aufklärungüber die wirtschaftliche und technische Situation der Gesellschaftdurch die Alt-Gesellschafter zu klären.

Weiterhin bleibt offen, wie mit Fallgestaltungen umgegangenwird, bei denen die Neu-Gesellschafter die Möglichkeit haben, fürdas Geschäftsjahr mit dem Ausschüttungsanspruch zugunsten derAlt-Gesellschafter Verpflichtungen einzugehen, die gewinnsteuerndsind. Wenn man konsequent die vorliegende Rspr. weiterent-wickeln möchte, müsste hier den Alt-Gesellschaftern ebenfalls einAnspruch aus positiver Vertragsverletzung bzw. nunmehr aus§ 280 BGB zugesprochen werden, der sich zum Zwecke derBezifferung des Schadensersatzes in einen Auskunfts- und einen

Zahlungsanspruch gliedern würde. Fraglich bliebe dann dieGewichtung der Schadensersatzpflichten zwischen dem Geschäfts-führer, dem die tatsächlichen Möglichkeiten zur Gewinngestal-tung zur Verfügung stehen, und den Neu-Gesellschaftern.

Für die anwaltliche Praxis bleibt einiger Beratungsspielraumoffen, insbes. bei der Gestaltung der Verträge. Hier wird eskünftig nicht ausreichen, die Klausel der Gewinnbezugsberech-tigung aufzunehmen, sondern es wird nötig sein, mit demMandanten zu beraten, wie die Ansprüche durchgesetzt werdenkönnen. Eine besondere Herausforderung wird dies für Mandatesein, die die Beratung der Neu-Gesellschafter betreffen.

Rechtsanwalt Benjamin Ehlers, Calau

� 02.2 – 11/04

Abgrenzung von Kleingarten- und Erholungsgrundstücksanlagen

BGH, Urteil vom 17. Juni 2004 – III ZR 281/03 (LG Meiningen)

BKleingG § 1 Abs. 1 Nr. 1

a) Eine Kleingartenanlage setzt nicht voraus, dass wenigstens dieHälfte ihrer Fläche zur Gewinnung von Gartenbauerzeugnissenfür den Eigenbedarf (insbes. Obst und Gemüse) genutzt wird. b) Es genügt, wenn diese Nutzung den Charakter der Anlagemaßgeblich mitprägt. c) Dies ist i.d.R. anzunehmen, wenn wenigstens ein Drittel derFläche zum Anbau von Gartenerzeugnissen für den Eigenbedarfgenutzt wird. Besonderheiten, wie eine atypische Größe derParzellen, topographische Eigentümlichkeiten oder eine Boden-qualität, die den Anbau von Nutzpflanzen teilweise nicht zulässt,können eine vom Regelfall abweichende Beurteilung rechtfertigen.

Der Kl. ist Eigentümer eines Grundstücks. Der Bekl. ist ein Verein,der seinen Mitgliedern Grundstücksparzellen zur gärtnerischenNutzung weiterverpachtet. Ein 525 qm großes Teilstück der demKl. gehörenden Grundfläche liegt in der Anlage des Bekl. Dieseumfasst 20 Parzellen, von denen 17 gärtnerisch genutzt werden.Drei Gärten schneiden den dem Kl. gehörenden Grundstücksteil.Der Kl. meint, die Höhe des Pachtzinsanspruchs sei nicht durch§ 5 Abs. 1 BKleingG begrenzt, da die vom Bekl. an seine Mitglie-der verpachtete Anlage keinen Kleingartencharakter aufweise.Der Kl. hat insoweit behauptet, die Parzellen seien am 3.10.1990weit überwiegend als Ziergärten genutzt worden.

Die Klage war vor dem AG und vor dem LG erfolglos.

Die Revision des Kl. führte zur Aufhebung des Berufungsurteilsund zur Zurückverweisung der Sache an das LG.

Aus den Entscheidungsgründen:

I. Das BerufungsG hat auf das Pachtverhältnis der Parteien dasBKleingG angewandt. Zur Begründung hat es ausgeführt, diesesGesetz sei auch dann anwendbar, wenn die Verwendung derParzellen zum Anbau von Gartenerzeugnissen im Verhältnis zurErholungsnutzung nicht überwiege. Für die kleingärtnerischeNutzung iSv § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG genüge es, wenn auf dieGewinnung von Gartenbauerzeugnissen für den Eigenbedarf einnicht völlig unbedeutender und daher den Charakter der Gärtenmitprägender Teil der Flächennutzung entfalle. Die Feststellungendes AG hätten ergeben, dass diese Voraussetzung bei der Anlagedes Bekl. zum maßgeblichen Stichtag erfüllt gewesen sei.

Dies hält den Beanstandungen der Revision im entscheidendenPunkt nicht stand.

II. … 2. Die Entscheidung über den Anspruch des Kl. hängt davonab, ob der zwischen ihm und dem Bekl. bestehende Pachtvertrag derPreisbindung des § 5 Abs. 1 BKleingG unterliegt. Dies setzt voraus,dass sich das Rechtsverhältnis nach dem BKleingG richtet.

Rechtsprechung Bürger l i ches Recht

511Neue Justiz 11/2004

3. Die Anwendung dieses Gesetzes scheitert weder an der aufden Parzellen befindlichen Bebauung (vgl. zur Frage der Bebauungin Kleingartenanlagen z.B.: Senatsurt. v. 24.7.2003, VIZ 2003, 538,= NJ 2004, 31, für BGHZ 156, 71 vorgesehen) noch an § 1 Abs. 1Nr. 2 BKleingG. Das BerufungsG hat festgestellt, dass die vorhan-denen Baulichkeiten der Einordnung des Areals als Kleingarten-anlage nicht entgegenstehen, weil sie sich nicht zu Wohnzweckeneignen, und dass die Parzellen in einer Gesamtanlage zusammen-gefasst sind, wie es gem. § 1 Abs. 1 Nr. 2 BKleingG für das Besteheneiner Kleingartenanlage erforderlich ist. …

4. Die Anwendbarkeit des BKleingG richtet sich, wie der Senatin seinen Urt. v. 24.7.2003 (aaO), v. 6.3.2003 (BGHZ 154, 132, 135= NJ 2003, 367 [bearb. v. Matthiessen] ) und v. 16.12.1999 (WM2000, 779, 782 = NJ 2000, 320 [bearb. v. Mollnau] ) bereits im Einzel-nen dargelegt hat, darüber hinaus nach der tatsächlich ausgeübtenNutzung zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts derDDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3.10.1990, unabhängigdavon, welchen vertraglichen Bestimmungen das Pachtverhältnisunter Geltung des DDR-Rechts unterworfen war. Ob das Pacht-verhältnis dem BKleingG unterliegt, ist dementsprechend danachzu beurteilen, ob die am 3.10.1990 tatsächlich ausgeübte Nutzungeine kleingärtnerische iSv § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG war.

Ein zentrales Merkmal eines Kleingartens ist die nicht erwerbs-mäßige gärtnerische Nutzung, also die Erzeugung von Obst,Gemüse und anderen Früchten durch Selbstarbeit des Kleingärt-ners oder seiner Familienangehörigen. Kennzeichnend für dieseNutzungsart ist die Vielfalt der Gartenbauerzeugnisse (z.B.:Senatsurt. v. 16.12.1999, aaO). Das zweite vom Gesetz hervor-gehobene Element ist die Nutzung zu Erholungszwecken. Damitstellt sich die Frage der Abgrenzung zwischen Kleingartenparzel-len, die auch der Erholung dienen, und Erholungsgrundstücken,da letztgenannte anderen rechtlichen Bestimmungen (vgl. insbes.für das Beitrittsgebiet Art. 232 § 4 Abs. 1 u. 2 EGBGB) unterliegen.

Bei der Beurteilung, ob es sich bei dem jeweils fraglichenGartenkomplex um eine Kleingartenanlage oder um eine sonstigeErholungs- oder Wochenendsiedlergartenanlage, eine Ferien-oder Wochenendhaussiedlung handelt, ist auf den Charakter dergesamten Anlage, nicht einzelner Parzellen abzustellen (Senat,aaO, S. 783 mwN). Dies ist schon deshalb notwendig, weil inFällen, in denen die gesamte Anlage Vertragsgegenstand einesHauptnutzungs- oder Zwischenpachtverhältnisses ist, dieser Ver-trag nur einheitlich entweder den Regelungen des BKleingG oderdenen des BGB bzw. des SchuldRAnpG unterworfen sein kann (…).

a) Kleingarten- und Erholungsgrundstücksanlagen sind danachvoneinander abzugrenzen, welchen Anteil nach dem äußerenErscheinungsbild des Komplexes die Gartenbau- und die reineErholungsnutzung haben. Die Einzelheiten sind umstritten, da§ 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG keine Regelung über das zulässige Ver-hältnis von Anbau- und Erholungsflächen in Kleingärten enthält.

Die überwiegende Meinung (OLG Naumburg, OLGR 2001, 435,437 f.; Mainczyk, BKleingG, 8. Aufl., § 1 Rn 9; MünchKomm-BGB/Kühnholz, 4. Aufl., § 29 SchRAnpG Rn 6; Otte, in: Ernst/ Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand Nov. 1997, § 1 BKleingG Rn 8; Schnabel,ZOV 2001, 227, 228 f.; vgl. auch Friedrich, NJ 2003, 12, 14) hält esfür das Vorliegen einer Kleingartenanlage für erforderlich, dass dieNutzung zum Zwecke der Gewinnung von Gartenerzeugnissenüberwiegt. Hieraus wird der Schluss gezogen, der Ziergartenanteil(Zierpflanzen und Rasen) dürfe nicht größer sein als der des Nutz-gartens (Schnabel, aaO) oder zumindest dürfe die der Erholungs-funktion dienende Fläche die nutzgärtnerisch verwendete nichtübersteigen (OLG Naumburg, Mainczyk, Kühnholz, Otte, jew. aaO).

Die Gegenauffassung (LG Potsdam, Urt. v. 3.11.1998 – 6 S 83/97,Urteilsdr. S. 2; VG Frankfurt [Oder], juris Nr. MWRE106139800;Stang, BKleingG, 2. Aufl., § 1 Rn 9; vgl. auch BVerwGE 68, 6) meintdemgegenüber, auch das Überwiegen der reinen Erholungsfunk-tion sei mit einer kleingärtnerischen Nutzung vereinbar. Erforder-lich sei lediglich, dass der Anbau von Gartenfrüchten nicht nureine völlig untergeordnete Bedeutung habe.

b) Der Senat hat sich zu dem für das Vorliegen einer Klein-gartenanlage zulässigen Anteil der reinen Erholungsnutzungnoch nicht geäußert. Er beantwortet die dahingehende Frage-stellung nunmehr wie folgt:

aa) Die Nutzung der Parzellen zur Gewinnung von Garten-bauerzeugnissen muss den Charakter der Anlage maßgeblichmitprägen. Eine Kleingartenanlage liegt nicht vor, wenn die Ver-wendung der Grundflächen als Nutzgärten nur eine untergeord-nete Funktion hat.

Ein Kernmerkmal des Kleingartens ist, wie oben ausgeführt, dienicht erwerbsmäßige gärtnerische Nutzung, und zwar die Erzeu-gung von Obst, Gemüse und anderen Früchten durch Selbstarbeitdes Kleingärtners oder seiner Familienangehörigen. Daneben trittnach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG die Erholungsfunktion, die aberdie Verwendung des Gartens zum Anbau nicht ersetzen darf.Dies ergibt die an der Gesetzeshistorie und dem verfassungs-rechtlichen Kontext ausgerichtete Auslegung der Norm.

(1) Im Vordergrund der kleingärtnerischen Nutzung von Grund-stücken stand zu Beginn des Kleingartenwesens die Sicherung undVerbesserung der Ernährungslage, vor allem der ärmeren Bevölke-rungsschichten (BVerfGE 52, 1, 33; Begr. der BReg. zum BKleingG,BT-Drucks. 9/1900, S. 9). Nach der Ausweitung des Nahrungsmit-telangebots und der allgemeinen Verbesserung der wirtschaft-lichen Verhältnisse gewann der Erholungswert der Kleingärtenzunehmend an Bedeutung (BVerfGE aaO, S. 35 f.; Begr. der BReg.zum BKleingG, aaO). Dem hat der Gesetzgeber dadurch Rechnunggetragen, dass er die Verwendung von Kleingartenparzellen auchzur Erholung als zulässige Nutzung in den Tatbestand des § 1Abs. 1 Nr. 1 BKleingG aufgenommen hat (Begr. der BReg. zumBKleingG, aaO, S. 12). Allerdings sollte die Erholungsnutzung desGartens zur Gewinnung von Gartenbauprodukten nur hinzu-treten, nicht aber den Anbau von Nutzpflanzen zulässigerweiseverdrängen können. So hat die Bundesregierung in ihrer Begrün-dung des BKleingG betont, dass der wirtschaftlichen Bedeutungdes Kleingartenwesens angesichts möglicher Preissteigerungenund einer denkbaren allgemeinen negativen Einkommens-entwicklung weiterhin erhebliches Gewicht zukomme (aaO, S. 9).Die Gartenfläche sollte dementsprechend nicht allein aus Rasen-bewuchs und Zierbepflanzung bestehen dürfen (aaO, S. 12).Umgekehrt widerspricht es der kleingärtnerischen Nutzung nicht,wenn die Parzelle ausschließlich zum Anbau von Obst undGemüse verwendet wird (Mainczyk u. Stang, jew. aaO).

Aus all dem folgt, dass die Gewinnung von Gartenbauerzeug-nissen weiterhin ein notwendiges, prägendes Merkmal für dasVorliegen einer Kleingartenanlage ist (Mainczyk, aaO).

(2) Dass diese Nutzung nicht nur in untergeordnetem Umfangstattfinden, sondern den Charakter der Anlage maßgeblich mit-bestimmen muss, ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Der Grundstückseigentümer wird durch die Bestimmungen desBKleingG in der wirtschaftlichen Verwertbarkeit seiner Immobilieerheblich behindert. Dies gilt namentlich für die Beschrän-kungen, denen die Pachtzinshöhe (§ 5 BKleingG) und dieKündigungsmöglichkeiten (§§ 7 ff. BKleingG) unterworfen sind.Die damit verbundenen Belastungen des Eigentumsgrundrechtsaus Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 52, 1, 30 ff.) bedürfen einerRechtfertigung, die sich aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums(Art. 14 Abs. 2 GG) ergeben kann (BVerfGE 87, 114, 141, 146 f. zuden Beschränkungen durch das BKleingG). Das verfassungsrecht-liche Postulat einer am Gemeinwohl orientierten Nutzung desPrivateigentums umfasst das Gebot der Rücksichtnahme auf dieBelange derjenigen Mitbürger, die auf die Nutzung des Eigen-tumsgegenstandes angewiesen sind. Das Maß und der Umfangder dem Eigentümer zugemuteten und vom Gesetzgeber zukonkretisierenden Bindung hängt davon ab, ob in und welchemAusmaß das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einersozialen Funktion steht (BVerfGE 52, 1, 32 mwN). Je stärker derEinzelne auf die Nutzung fremden Eigentums angewiesen ist, umso weiter ist der Gestaltungsbereich des Gesetzgebers; dieser

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Neue Justiz 11/2004512

verengt sich, wenn dies nicht oder nur in begrenztem Umfang derFall ist (BVerfGE aaO, mwN).

Bei der Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen ist der Gärtnernotwendig auf die ausschließliche Nutzung eines Grundstücksangewiesen. Demgegenüber fordert der Erholungszweck diesnicht in gleichem Maße. Die Erholung, d.h. in diesem Zusammen-hang die Förderung oder Wiederherstellung der normalen kör-perlichen Kräfte und des geistig-seelischen Gleichgewichts anfrischer Luft und in der Natur, ist nicht in vergleichbar intensiverWeise an ein zur alleinigen Nutzung überlassenes Grundstückgebunden (vgl. BVerfGE 52, 1, 36). Vielmehr stehen dem Erho-lungssuchenden insoweit auch öffentlich zugängliche Parks,Gärten und Wälder zur Verfügung, die vielfältige Möglichkeitender Entspannung und körperlichen Ertüchtigung bieten, mögendiese aus Sicht des Parzellenbesitzers auch keine in vollem Umfanggleichwertigen Alternativen darstellen.

Die Beschränkungen, denen der Eigentümer durch das Bundes-kleingartenrecht unterliegt, beziehen ihre Rechtfertigung imLichte des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG damit zu einemwesentlichen Teil aus dem Nutzungszweck des Gartenanbaus.Die Erholungsnutzung ist zwar unter verfassungsrechtlichenGesichtspunkten ebenfalls ein die Sozialbindung des Eigentumsmittragender Umstand (vgl. BVerfGE 52, 1, 35; 87, 114, 141). Erallein würde die Beschränkungen, denen der Eigentümer vonKleingartengrundstücken unterliegt, jedoch nicht rechtfertigen.Anderenfalls wären Kleingarten- und reine Erholungsgrundstückenicht unterschiedlich zu behandeln.

Die vorstehenden Erwägungen werden dadurch gestützt, dasssich die höchstzulässige Kleingartenpacht gem. § 5 Abs. 1BKleingG zwingend an dem Pachtzins im erwerbsmäßigen Obst-und Gemüseanbau orientiert (für das Beitrittsgebiet siehe auch§ 20a Nr. 6 BKleingG). Der bindende Charakter dieser Anknüp-fung für die Pacht wäre sachfern, wenn die Nutzung zum Anbauvon Gartenerzeugnissen nur eine untergeordnete Funktion ineiner Kleingartenanlage haben dürfte.

(3) Hieraus folgt entgegen der vorzitierten Auffassung jedochnicht, dass der zum Anbau von Gartenerzeugnissen genutzteGrundstücksteil mindestens 50 v.H. der Parzellen ausmachenmuss. § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG enthält keine derartige Vorgabe.Auch aus der Regierungsbegründung (BT-Drucks. 9/1900, aaO)lässt sich eine solche nicht entnehmen. Sie enthält lediglichdie Aussage, dass die Gartenfläche nicht nur aus Rasen undZierpflanzen bestehen darf (aaO, S. 12). Von Verfassungs wegenist gleichfalls nicht geboten, dass der Nutzgartenanteil wenigstensdie Hälfte der Kleingartenanlage in Anspruch nimmt. Das BVerfGhat die Bedeutung der Erholungsfunktion der Kleingärten her-ausgestellt (insbes. BVerfGE 52, 1, 35 f.) und als einen Gemein-wohlbelang iSd Art. 14 Abs. 2 GG anerkannt (BVerfGE 87, 114,141), mag auch dieser nicht dasselbe Gewicht haben wie derSelbstanbau von Obst, Gemüse und anderen Gartenerzeugnissen(vgl. insoweit BVerfGE 52, 1, 39). Hängt die verfassungsmäßigeLegitimation der Beschränkungen der Eigentümerrechte durchdas BKleingG nicht allein von dieser Nutzung ab, sondern trittdie Erholungsfunktion als ebenfalls legitimierender Gemein-wohlbelang hinzu, ist es nicht zu beanstanden, wenn der rech-nerisch überwiegende Teil der Flächen zu dem letztgenanntenZweck genutzt wird und entsprechend bepflanzt ist, solange beiwertender Betrachtung der Anbau von Gartenerzeugnissen zurSelbstversorgung den Charakter der Anlage maßgeblich mit-bestimmt.

Entgegen einem in der Lit. aufgetretenen Missverständnis (z.B.Friedrich, NJ 2003, 14) hat der Senat mit seinem Nichtannah-mebeschl. v. 31.1.2001 (III ZR 42/01) nicht die gegenteilige

Ansicht des OLG Naumburg (aaO) gebilligt. Der Senat brauchtesich mit der Auffassung des OLG Naumburg bei der Entschei-dung über die Annahme der Revision gegen dessen Urteil nichtauseinander zu setzen, da die danach anzulegenden strengerenMaßstäbe für das Vorliegen einer Kleingartenanlage dort erfülltwaren.

bb) Die unter den vorstehenden Gesichtspunkten erforderlicheWürdigung des Gesamtcharakters der Anlage ist ein Vorgangwertender Erkenntnis, der in erster Linie dem Tatrichter obliegt.Dessen Beurteilung unterliegt nur eingeschränkt der revisions-gerichtlichen Nachprüfung. Insbes. ist es dem RevisionsG ver-wehrt, feste Bewertungsmaßstäbe zur Berücksichtigung einzelnerNutzungselemente vorzugeben, anhand deren sich eine gewisser-maßen rechnerisch exakte Qualifizierung der Anlage vornehmenlässt. Unbeschadet dessen wird es i.d.R. der Fall sein, dass dieErzeugung von Gartenbauprodukten den Charakter einer Anlagenicht mehr maßgeblich mitprägt, wenn mehr als zwei Drittel derFlächen als Ziergarten bepflanzt sind. Dies wird insbes. anzuneh-men sein, wenn es sich um Gärten handelt, die die Normgrößedes § 3 Abs. 1 BKleingG nicht überschreiten. Es ist allerdingsnicht ausgeschlossen, dass der Kleingartencharakter einer Anlagein Einzelfällen auch dann besteht, wenn die Nutzbepflanzungweniger als ein Drittel der Flächen in Anspruch nimmt. Dies istbspw. denkbar, wenn die Gartenparzellen atypisch groß sind unddie Bewirtschaftung eines Drittels ihrer Flächen als Nutzgärten inder Freizeit ausgeschlossen erscheint. Auch topographischeBesonderheiten oder eine Bodenqualität, die in Teilen den Anbauvon Nutzpflanzen nicht zulässt, können eine vom Regelfallabweichende Beurteilung tragen.

5. Das BerufungsG hat sich – von seinem Rechtsstandpunkt ausfolgerichtig – im Wesentlichen darauf beschränkt, festzustellen,dass in der Anlage des Bekl. am 3.10.1990 Gartenerzeugnisse innicht vernachlässigbarem Umfang angebaut wurden. Ob dem eineden vorstehenden Kriterien genügende Gesamtbewertung desCharakters der umstrittenen Anlage zugrunde liegt, lässt sich dengetroffenen Feststellungen nicht mit der erforderlichen Ein-deutigkeit entnehmen. Deshalb ist dem Senat eine abschließendeEntscheidung nicht möglich … .

Anm. d. Redaktion: Siehe auch D. Maskow, »Ausgewählte Entwicklun-gen des Kleingartenrechts in den neuen Bundesländern«, NJ 2004, 5 ff.

� 02.3 – 11/04

Zivilrechtliche Wirkungen der Anordnung des Sofortvollzugseines Restitutionsbescheids

BGH, Urteil vom 14. Mai 2004 – V ZR 304/03 (Kammergericht)

VermG §§ 33 Abs. 6, 34 Abs. 1 Satz 8

a) Die Anordnung des Sofortvollzugs der Rückübertragung einesGrundstücks nach dem VermG führt nicht nur zum vorläufigenÜbergang des Volleigentums auf den Berechtigten, sondern auchzum vorläufigen Übergang der Mietverhältnisse der Mieter desGrundstücks auf den Berechtigten (Fortführung von BGHZ 132,306 = NJ 1996, 641).b) Hausverwaltungsverträge gehen auch bei Anordnung desSofortvollzugs nicht auf den Berechtigten über (Anschluss anBGH, Urt. v. 1.3.2001 (III ZR 329/98, ZOV 2001, 317).c) Die zivilrechtlichen Wirkungen des Sofortvollzugs tretenmit der Bekanntgabe der Anordnung an alle Betroffenen ein(Fortführung des Senatsurt. v. 14.3.1997 (V ZR 129/95, VIZ1997, 346).d) Die Bekanntgabe der Anordnung des Sofortvollzugs an eineErbengemeinschaft kann auch gegenüber dem Testamentsvoll-strecker erfolgen (Anschluss an BFH, NJW 1989, 936).

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513Neue Justiz 11/2004

Problemstellung:

Die Kl. sind Erben des E. K., der in die USA emigriert war. 1941verkaufte der für ihn bestellte Abwesenheitspfleger das Anwesenan die Erwerberinnen jeweils zur Hälfte. Das Grundstück wurdespäter unter staatliche Verwaltung gestellt und 1995 durch denstaatlichen Verwalter, die Wohnungsgesellschaft B.-M. mbH, andie Rechtsnachfolgerinnen der Erwerberinnen herausgegeben.Diese haben die Bekl. mit Vertrag v. 24./29.5.1996 mit der Ver-waltung, einschließlich des Einzugs der Mieten beauftragt.Obwohl der Vertrag am 31.7.1999 endete, hat die Bekl. die Ver-waltung noch bis zum 30.9.1999 weitergeführt.

Das ARoV hat mit Bescheid v. 21.1.1994 das Grundstück an dieKl. zurückübertragen und diesen aufgegeben, jeweils 2.643,45 DMan die Rechtsnachfolger der Erwerberinnen für getilgte Hypothe-ken zu zahlen. Der gegen diesen Bescheid von den Rechtsnach-folgern der Erwerberinnen eingelegte Widerspruch wurde vomLARoV abgewiesen. Die von einem der Rechtsnachfolger einge-legte Klage beim VG wurde gleichfalls abgewiesen.

Mit Bescheid v. 26.11.1998 ordnete das ARoV den sofortigenVollzug des Rückübertragungsbescheids an. Da W. E. (einer derRechtsnachfolger) zwischenzeitlich verstorben war, konnte ihmdieser Bescheid nicht mehr zugestellt werden. Das LARoV hatdiesen Bescheid dann am 13.1.1999 dem Testamentsvollstreckerdes Nachlasses von W. E. zugeleitet. Dieser meldete am 30.9.1999Entschädigungsansprüche nach § 7a Abs. 3b VermG an.

Die Kl. verlangten von der Bekl. die Auszahlung der Über-schüsse aus den von Mai bis Sept. 1999 eingezogenen Mieten.Das LG gab der Klage statt. Das BerufungsG hat die Zahlung bisauf die hälftigen Mietüberschüsse für Aug. und Sept. abgewiesen.

Die hiergegen gerichtete Revision der Kl. hatte in dem Umfang,in dem die Revision zugelassen war, Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Den Kl. steht aus § 816 Abs. 2 BGB ein Anspruch auf Auskehrungder vollen Mietüberschüsse für Aug. und Sept. 1999 zu. DasEigentum an dem Grundstück ist schon im Jan. 1999 auf die Kl.übergegangen. Entgegen der Ansicht des BerufungsG kommt esnicht darauf an, ob und wann der Rückübertragungsbescheidv. 21.1.1994 gegenüber allen Beteiligten bestandskräftig gewor-den ist.

Das BerufungsG hat übersehen, dass das VermG die zivilrecht-lichen Wirkungen eines Rückübertragungsbescheids nicht nurgem. § 34 VermG mit seiner Unanfechtbarkeit eintreten lässt.Nach § 33 Abs. 6 VermG kann ein Rückübertragungsbescheidauch für sofort vollziehbar erklärt werden. Die zivilrechtlichenWirkungen des Sofortvollzugs waren zwar umstritten. Der Senathat aber mit seinem Urt. v. 12.4.1996 (BGHZ 132, 306, 310 f. = NJ1996, 641) klargestellt, dass auch der sofort vollziehbare Rück-übertragungsbescheid zur, wenn auch vorläufigen, Übertragungvon Volleigentum am Restitutionsgegenstand führt. Das Voll-eigentum an dem Grundstück ging deshalb nicht erst mit demEintritt der Unanfechtbarkeit des Rückübertragungsbescheidsv. 21.1.1994 auf die Kl. über, sondern schon mit dem Eintritt vondessen sofortiger Vollziehbarkeit.

Die sofortige Vollziehbarkeit ist vorliegend auch gegenüberallen materiell Betroffenen angeordnet und damit auch ihnengegenüber wirksam geworden (vgl. Senatsurt. v. 14.3.1997, VIZ1997, 346, 347). Der Mangel der ursprünglich gegenüber W. E.gescheiterten Bekanntgabe ist dadurch behoben worden, dass derBescheid v. 26.11.1998 am 13.1.1999 dem Testamentsvollstreckerdes Nachlasses von W. E. zugeleitet wurde. Dadurch wurde er auchden Erben des W. E. gegenüber bekannt gemacht und somit

auch ihnen gegenüber zivilrechtlich wirksam. Dies ergibt sich aus§ 2213 Abs. 1 Satz 1 BGB. Ein Bescheid in Bezug auf einen Nachlass-gegenstand kann sowohl gegenüber dem Testamentsvollstreckerals auch gegenüber den Erben erlassen werden (BFH, NJW 1989,936; vgl. auch OVG Münster, NVwZ-RR 1997, 62, 63). Die Versen-dung durch das LARoV ist unschädlich, da das betreffende ARoVmit Wirkung v. 1.1.1999 aufgelöst und die Erledigung der bei ihmnoch anhängigen offenen Anträge dem LARoV übertragen wurde.

Auch das Versenden von »nur« einer Kopie steht der wirksamenBekanntgabe nicht entgegen. Der Zweck der Bekanntgabe nach§ 41 VwVfG ist dann erreicht, wenn dem Adressaten eine zuver-lässige Kenntnis des Inhalts des Bescheids verschafft wird. DieseKenntnis vermittelt auch eine Fotokopie, wenn sie das Originalnach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt (BVerwGE 104,310, 314; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 41 Rn 16).

Der sofortige Vollzug des Restitutionsbescheids hat den Kl.unmittelbar Volleigentum verschafft. Dabei kam es auch nichtdarauf an, ob die Kl. die Zahlungspflichten aus dem Bescheiderfüllten oder ob die Verfügungsberechtigten auf ihre Ansprücheverzichteten. Die Erfüllung dieser Bedingungen ist zwar Voraus-setzung für den endgültigen Erhalt des Eigentums, da der Gesetz-geber mit dem VermRBerG v. 20.10.1998 (BGBl. I S. 3180) denEintritt der Unanfechtbarkeit von der Erfüllung solcher Zahlungs-verpflichtungen abhängig gemacht hat (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2VermG in der seitdem geltenden Fass.). Für den Erwerb vorläu-figen Eigentums ist dies hingegen nicht erheblich.

Die Bekl. war auch Nichtberechtigte. Der gesetzliche Ver-tragsübergang bezogen auf die Mietverhältnisse gem. § 17 Abs. 1VermG stellt nur auf die »Rückübertragung« und nicht auf derenUnanfechtbarkeit ab. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweckder Vorschrift, da das Schicksal der Mietverträge ansonsten unge-wiss wäre. Demgegenüber sind die Kl. nicht in den Hausverwal-tungsvertrag der Bekl. mit den Erben der vormaligen Verfügungs-berechtigten eingetreten. Ein Hausverwaltungsvertrag kann beiwirtschaftlicher Betrachtungsweise zwar wie ein Bausparvertrag(BGHZ 141, 203, 205 f. = NJ 1999, 545 [Leits.]) als grundstücks-bezogenes Rechtsverhältnis angesehen werden, das grundsätzlichnach § 16 Abs. 2 Satz 1 VermG auf den Restitutionsberechtigtenübergehen würde. § 16 Abs. 2 Satz 1 VermG ist aber in Ansehungder Hausverwaltungsverträge einschränkend auszulegen (BGH,ZOV 2001, 317, 318). Der Übergang eines solchen Hausverwal-tungsvertrags würde die Inbesitznahme durch den Berechtigtenvereiteln. Da der Hausverwaltungsvertrag nicht auf den Berech-tigten übergeht, kann er dem Verwalter auch kein Recht zumBesitz und auch nicht das Recht vermitteln, Mieten einzuziehen.

Kommentar:

Der BGH hat sich in der vorliegenden Entscheidung erneut mitden zivilrechtlichen Wirkungen der Anordnung des Sofort-vollzugs bei einem Restitutionsbescheid auseinandergesetzt. InFortführung seiner bish.Rspr. (BGHZ 132, 306, 310 f., aaO) wirdzunächst festgestellt, dass die Anordnung der sofortigen Voll-ziehung durch das ARoV oder LARoV zu einer vorläufigen Über-tragung von Volleigentum an dem Restitutionsgegenstand führt.Das bedeutet, dass der Eigentumsübergang mit allen damit inVerbindung stehenden Folgeansprüchen bereits vor dem Eintrittder Unanfechtbarkeit des Restitutionsbescheids erfolgt. DieRestitutionsberechtigten werden in einem solchen Fall demnachmit dem Eintritt der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungs-akts (vorläufige) Eigentümer und können ab diesem Zeitpunktden Anspruch auf Herausgabe der Mieten geltend machen.

Die sofortige Vollziehbarkeit tritt i.d.R. zwei Wochen nachBekanntgabe des Bescheids, mit dem sie angeordnet worden ist,

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Neue Justiz 11/2004514

ein, da den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden soll,nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beim VG einen Antrag auf Wieder-herstellung der aufschiebenden Wirkung zu stellen. Vorliegendwar die Bekanntgabe des Sofortvollzugs insoweit problematisch,als einer der Betroffenen zwischenzeitlich verstorben war. Hier hatder BGH seine Rspr. auf der Grundlage von § 2213 Abs. 1 Satz 1BGB dahingehend weiterentwickelt, dass auch eine Bekanntgabegegenüber dem Testamentsvollstrecker möglich ist.

Da der BGH das Rechtsinstitut des »vorläufigen Eigentums-übergangs« weiterentwickelt hat, musste er sich auch mit dendamit im Zusammenhang stehenden Rechtsfolgen auseinander-setzen. Während er beim Übergang der Mietverhältnisse zu demErgebnis kommt, dass dieser entsprechend dem Wortlaut des § 17Abs. 1 VermG nicht an die Unanfechtbarkeit des Restitutions-bescheids geknüpft ist, müssen die Berechtigten demgegenübernicht in bestehende Hausverwaltungsverträge eintreten. Insoweitist § 16 Abs. 2 Satz 1 VermG einschränkend auszulegen.

Prof. Dr. Angela Kolb, Hochschule Harz, Halberstadt

� 02.4 – 11/04

Umdeutung eines nichtigen Gebäudekaufvertrags in einen Kaufder Rechte nach dem SachenRBerG

BGH, Urteil vom 19. März 2004 – V ZR 224/03 (OLG Brandenburg)

BGB § 140

Die Umdeutung eines nichtigen Rechtsgeschäfts muss nichtdaran scheitern, dass die Leistung, die Gegenstand des anderenGeschäfts ist, im Ungleichgewicht zu dem ursprünglich vorge-sehenen Entgelt steht; je nach dem anzunehmenden Parteiwil-len kann das Äquivalenzverhältnis verschoben oder durch Verän-derung des Entgelts gewahrt sein (Umdeutung des Kaufs nichtexistierenden Gebäudeeigentums in den Kauf der Rechte aus derSachenrechtsbereinigung).

Problemstellung:

Gegenstand des Rechtsstreits waren Schadensersatzansprücheder Kl. aus einem am 28.1.1993 geschlossenen Kaufvertragüber ein Wohn- und Geschäftshaus in Höhe des Kaufpreises von131.000 DM sowie der mit der Abwicklung des Vertrags verbun-denen Kosten von insges. 73.152,72 €.

Das den Kaufgegenstand bildende Wohn- und Geschäftshauswar 1957/64 von der Konsumgenossenschaft (KG) des Kreises N.errichtet worden; das Grundstück befand sich 1990 in Volkseigen-tum, die KG war Rechtsträgerin. Ein Gebäudegrundbuch existiertenicht.

Aufgrund Zuordnungsbescheids ist Mitte der 90er-Jahre dieBRD als Eigentümerin des Grundstücks festgestellt worden; sieist seit 14.11.1996 im Grundbuch eingetragen. Die bekl. Grund-stückseigentümerin war entgegen dem Verlangen der Kl. nichtzum Verkauf des Grundstücks unter Zugrundelegung desSachenRBerG bereit, sondern wollte das Grundstück nur zumvollen Verkehrswert und unter den Voraussetzungen des Inves-titionsvorrangG an die Kl. veräußern. Mit Nachtragsurkundev. 20.1.1997 wurde der Kaufvertrag von 1993 dahingehendergänzt, dass die Bekl. als Rechtsnachfolgerin der KG »sämtlicheAnsprüche nach dem SachenRBerG an Erwerber« abtrat.

Das LG hat die Klage abgewiesen, das OLG hat ihr stattgegeben.

Die Revision der Bekl. wurde vom BGH mit der Maßgabezurückgewiesen, dass die Zahlung Zug um Zug gegen Rückab-tretung der am 20.1.1997 abgetretenen Ansprüche nach demSachenRBerG erfolgt.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Der zwischen den Parteien 1993 geschlossene Kaufvertrag istnichtig, weil er auf eine objektiv unmögliche Leistung gerichtetwar (§ 306 BGB aF). Selbständiges Gebäudeeigentum war grund-buchlich nicht dokumentiert, und es fehlte in den Vorinstanzenauch ein Vortrag der Bekl. zu den Umständen und zum Rechts-grund der Gebäudeerrichtung, insbes. zu der Frage, ob die KG denBau mit eigenen Mitteln errichtet oder finanziert hat. Sollte dasGrundstück zur Zeit der Errichtung des Gebäudes 1957/64 bereitsvolkseigen und die KG Rechtsträgerin gewesen sein, hätte diesnicht zur Bildung von Gebäudeeigentum geführt. Ein Nutzungs-recht am volkseigenen Grundstück war der KG jedenfalls nichtverliehen worden, so dass gem. Art. 233 § 5 EGBGB auch nach1990 Gebäudeeigentum nicht mehr entstehen konnte. Der Kaufhatte mithin eine objektiv unmögliche Leistung zum Gegenstand.

Daran ändert auch die Nachtragsvereinbarung v. 20.1.1997nichts, mit der die Bekl. vermeintliche Ansprüche nach demSachenRBerG an die Kl. abgetreten hatte. Abgesehen davon, dassdiese Nachtragsvereinbarung nicht auf eine Auswechslung derVerkäuferleistung gerichtet, sondern (allenfalls) als beiderseitigerVersuch einer Schadensbegrenzung zu werten ist, kommt ihrnicht die Wirkung zu, die Kl. zu verpflichten, den abgetretenenAnspruch gegen die eine Verbindlichkeit nach dem SachenRBerGleugnende jetzige Grundstückseigentümerin geltend zu machen,etwa durch die Feststellungsklage nach § 108 SachenRBerG.Eine Pflicht des Gläubigers, den abgetretenen Anspruch – hier denAnspruch auf Ankauf des Grundstücks oder Bestellung einesErbbaurechts zu den Modalitäten des SachenRBerG – gegen einenDritten einzuklagen, existiert nicht; dies hätte den Zweck derSchadensbegrenzung gesprengt. In Anbetracht des unzureichen-den Sachverhaltsvortrags der Bekl. ist offen geblieben, ob einsolcher Anspruch nach dem SachenRBerG überhaupt besteht.

Eine Umdeutung des nichtigen Gebäudekaufs in einen Kauf derAnsprüche der Bekl. nach dem SachenRBerG iSd § 140 BGBkommt nicht in Betracht, zum einen aus den vorstehenden Grün-den, zum anderen, weil bei der Würdigung nach § 140 BGB aufden Zeitpunkt des Abschlusses des nichtigen Geschäfts, hier alsoauf den 28.1.1993, abzustellen ist. Zu diesem Zeitpunkt war dasSachenRBerG jedoch noch nicht erlassen und auch der Gesetz-entwurf der Bundesregierung existierte noch nicht; lediglich einEckwertepapier der Bundesregierung vom Okt. 1992 war veröffent-licht. Dementsprechend war es ausgeschlossen, die Konturen deskünftigen Gesetzes dem hypothetischen Parteiwillen zuzuordnen.Die Voraussetzungen des § 140 BGB liegen somit nicht vor.

Allerdings scheitert eine Umdeutung entgegen der Annahmedes BerufungsG nicht daran, dass die Parteien an die vereinbarteGegenleistung des Kaufpreises v. 131.000 DM gebunden gewesenwären. »Entspricht ein nichtiges Rechtsgeschäft iSd § 140 BGBden Erfordernissen eines anderen Geschäfts, so ist der hypotheti-sche Parteiwille, der dem anderen Geschäft Geltung verschafft,nicht auf eine Seite des Leistungsaustauschs fixiert. Er kann eineVeränderung des Gleichgewichts von Leistung und Gegenleistungin sich schließen (BGH, NJW 1963, 339, 340), aber auch eineHerabsetzung der Gegenleistung der benachteiligten Partei zurAufrechterhaltung des Gleichgewichts erfassen (Soergel/Hafer-mehl, BGB, 13. Aufl., § 140 Rn 5; Westermann, JZ 1963, 369).«

Da die Bekl. die Nichtexistenz von Gebäudeeigentum selbstkannte oder jedenfalls kennen musste, ist sie der Kl. zum Ersatzdes Schadens verpflichtet, den diese im Vertrauen auf den Ver-tragsschluss erlitten hat (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB aF). Im Zuge derVorteilsausgleichung (§ 249 BGB) erfolgte die Verurteilung zurZahlung Zug um Zug gegen Rückabtretung der erfüllungshalbererlangten Ansprüche.

Rechtsprechung Bürger l i ches Recht

515Neue Justiz 11/2004

Kommentar:

Die Entscheidung erscheint im Ergebnis korrekt, obwohl zahl-reiche Fragen offen bleiben.

Das OLG Naumburg hat in einem Urt. v. 27.9.2002 – 11 U 20/02(VIZ 2003, 303) die Umdeutung einer »Abtrittserklärung«, mit derebenfalls nicht existierendes selbständiges Gebäudeeigentumübertragen werden sollte, in die Übertragung von Ansprüchennach dem SachenRBerG unter Anwendung des § 140 BGBbestätigt. In jenem Fall waren allerdings eine Doppelgroßgarageund ein Wirtschaftsgebäude nachweislich erst 1989/90 vom ver-traglichen Nutzer des volkseigenen Grundstücks zu gewerblichenZwecken errichtet worden, so dass der Umdeutung nichts ent-gegenstand. Ansprüche nach dem SachenRBerG des Bauherrnwaren durch die Bebauung in jedem Fall entstanden, so dass dieseauch übertragen werden konnten, »mag man es Ankauf oder, wiedas SachenRBerG, Ablösung des aus der baulichen Investitionbegründeten Rechte nennen (§ 81 Abs. 1 u. 2 Satz 1 SachenR-BerG)« – so wörtlich in den Urteilsgründen des OLG Naumburg.

In dem hier vom BGH entschiedenen Fall scheitert dieseUmdeutung erkennbar in erster Linie daran, dass die Umständeder Errichtung des Gebäudes im Verlaufe des Verfahrens nichtaufgeklärt worden sind und auch der Rechtsgrund der Gebäude-errichtung unklar geblieben ist.

In Anbetracht dessen können die Erwägungen des BGH überdie Möglichkeiten des Entstehens selbständigen Gebäudeeigen-tums bei Baumaßnahmen der KG auf einem volkseigenemGrundstück auch dahingestellt bleiben, obwohl diese Möglich-keiten im Urteil zumindest nicht vollständig und wohl auchinsoweit unrichtig dargestellt sind, als auf die AO für die Über-tragung volkseigener unbeweglicher Grundmittel an sozialis-tische Genossenschaften v. 11.10.1974 (GBl. I S. 489) Bezuggenommen wird. »Unbewegliche Grundmittel« iS dieser AOwaren nach der Legaldefinition der VO über den Verkauf undKauf volkseigener unbeweglicher Grundmittel durch Betriebeder volkseigenen Wirtschaft v. 28.8.1968 idF v. 13.7.1978 (GBl. IS. 257) Gebäude und bauliche Anlagen sowie an einen festenStandort gebundene Maschinen und Ausrüstungen. Ausdrück-lich war festgelegt: »Volkseigener Grund und Boden gilt nicht alsGrundmittel im Sinne dieser Verordnung.«

Auch der Hinweis auf die Notwendigkeit der Verleihung einesNutzungsrechts an die KG bezogen auf den volkseigenen Grundund Boden und der in diesem Zusammenhang im Urteil vor-genommene Verweis auf §§ 287, 295 ZGB dürfte unrichtig sein;§ 287 ZGB betraf ausdrücklich nicht juristische Personen. Wärein den Vorinstanzen festgestellt worden, dass die KG das Gebäude1957/64 tatsächlich auf einem von ihm damals bereits genutztenvolkseigenen Grundstück aus Eigenmitteln errichtet hat, dannwäre damit auch bewiesen, dass das Grundstück durch dieBebauung eine erhebliche Wertsteigerung erfahren hat. Diesesvom Nutzer errichtete Gebäude bzw. die durch die baulicheInvestition begründeten Rechte sind Gegenstand der Sachen-rechtsbereinigung, wie sich ohne weiteres aus § 81 Abs. 1SachenRBerG ergibt. Auf das Entstehen juristisch selbständigenGebäudeeigentums kommt es in diesen Fällen nicht an.

Die Entscheidung macht deutlich, dass in solchen Fällen auf diedetaillierte Aufklärung des Sachverhalts größter Wert zu legen ist.Die Umstände einer zu DDR-Zeiten vorgenommenen Bebauungeines Grundstücks und die Rechtsgrundlagen dieser baulichenMaßnahmen müssen minutiös aufgeklärt und unter Beweisgestellt werden. Nur unter dieser Voraussetzung ist es denGerichten oder der entscheidungsbefugten Verwaltungsbehördemöglich, rechtlich überzeugende und nachvollziehbare Ent-scheidungen zu treffen. Sicher wäre das Urteil des BGH auch im

vorliegenden Fall anders ausgefallen, wenn es auf der Beklagten-seite in dieser Frage nicht die vom Gericht beanstandeten Ver-säumnisse gegeben hätte.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Horst Zank, Potsdam

� 02.5 – 11/04

Unwirksame Gebührenvereinbarung eines Rechtsanwalts

BGH, Urteil vom 8. Juni 2004 – IX ZR 119/03 (OLG Brandenburg)

BRAGO § 3 Abs. 1 Satz 1 u. 2

a) Enthält ein Schriftstück, das sich nach seiner äußeren Auf-machung als Formular darstellt, außer der Vereinbarung einerhöheren als der gesetzlichen Vergütung eine Abrede über dievom Rechtsanwalt zu erbringende Leistung, ist die Gebühren-vereinbarung nicht wirksam begründet worden.b) Die Frage, ob der Rechtsanwalt aufgrund einer Honorar-vereinbarung eine höhere als die gesetzliche Vergütung fordert,ist anhand eines Vergleichs der für die geleistete Tätigkeitinsgesamt verdienten gesetzlichen Vergütung mit dem verein-barten Honorar zu beantworten. Ein solcher Vergleich ist erstdann möglich, wenn sich die Höhe der gesetzlichen Vergütungermitteln lässt, i.d.R. also erst nach dem Ende der Tätigkeit desRechtsanwalts.c) Der Rechtsanwalt trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür,dass der Mandant freiwillig und ohne Vorbehalt geleistet hat.

Anm. d. Redaktion: Die BGH-Entscheidung behält auch nach In-Kraft-Treten des RVG Bedeutung für die Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 3 RVG.Zur Vergütungsvereinbarung im RVG siehe H.-J. Mayer, NJ 2004, 337 ff.

� 02.6 – 11/04

Angaben zu Einkünften der Unterhaltsberechtigten im Zwangs-vollstreckungsverfahren

BGH, Urteil vom 19. Mai 2004 – IXa ZB 297/03 (LG Halle/Saale)

ZPO §§ 807, 850c Abs. 4, 899 ff.

a) Bei Aufstellung des Vermögensverzeichnisses und Abgabe dereidesstattlichen Versicherung hat der Schuldner Angaben zu denEinkünften der Unterhaltsberechtigten jedenfalls dann zumachen, wenn in Betracht kommt, dass diese Personen bei derBerechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommensganz oder teilweise unberücksichtigt bleiben.b) Sind die erforderlichen Angaben unterblieben, kann Nach-besserung verlangt werden.c) Der Gerichtsvollzieher ist i.d.R. nicht Partei der Rechtsbehelfs-verfahren in Zwangsvollstreckungssachen. Verfahrenskostenkönnen nur der unterliegenden Partei auferlegt werden.

� 02.7 – 11/04

Rechtliches Interesse an Eröffnung des Insolvenzverfahrens undUmfang der Insolvenzmasse

BGH, Urteil vom 18. Mai 2004 – IX ZB 189/03 (LG Neubrandenburg)

InsO §§ 14 Abs. 1, 35, 36, 89 Abs. 2

Vermag der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens selbständigtätige Schuldner die daraus herrührenden Verbindlichkeitennicht zu erfüllen, haben die Neugläubiger, solange das Insolvenz-verfahren nicht abgeschlossen ist, grundsätzlich kein rechtlichgeschütztes Interesse an der Eröffnung eines weiteren Insolvenz-verfahrens.

Bürger l i ches Recht

Neue Justiz 11/2004516

Anm. d. Redaktion: Im vorliegenden Fall wurde über das Vermögens desSchuldners, der ein Restaurant betrieb, ein Insolvenzverfahren eröffnet.Während dieses Verfahrens beantragte die Gläubigerin die Eröffnungeines zweiten Insolvenzverfahrens, weil der Schuldner den Restaurant-betrieb im Einverständnis mit dem Insolvenzverwalter fortsetzte, aber dieneu entstandenen Verbindlichkeiten (Lohnansprüche seiner Mitarbeiter,zu denen die Ast. gehört) nicht begleichen konnte. Ihr Antrag blieb inallen Instanzen erfolglos. Der BGH hat die Rechtsbeschwerde der Gläu-bigerin als unzulässig verworfen und ausgeführt: »Das … Problem, ob das gesamte vom Schuldner nach Eröffnung desInsO-Verfahrens erworbene Vermögen zur Insolvenzmasse iSd § 35 InsOgehört oder diese Vorschrift das Neuvermögen nicht erfasst, welches derSchuldner zur Erfüllung von Neuverbindlichkeiten benötigt, hat der Senat… bereits mit Beschl. v. 20.3.2003 (NZI 2003, 389, 392) beantwortet.Danach gehören die Einkünfte, die der Schuldner aus selbständiger Tätig-keit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erzielt, in vollem Umfangund nicht lediglich in Höhe des nach Abzug der Ausgaben verbleibendenGewinns zur Insolvenzmasse.« Die gegenteilige Mindermeinung (insbes.von Nerlich/Römermann/Andres, InsO, § 35 Rn 93) lehnte der BGH ab.

� 02.8 – 11/04

Betriebskostennachforderung und Aufklärungspflicht des Ver-mieters

BGH, Urteil vom 28. April 2004 – XII ZR 21/02 (OLG Naumburg)

BGB §§ 242, 276

Allein der Umstand, dass die vom gewerblichen Vermieter ver-langten Betriebskostenvorauszahlungen die später entstandenenKosten deutlich unterschreiten, führt noch nicht zur Annahmeeiner Verletzung der Aufklärungspflicht. Eine solche ist nur beiVorliegen besonderer Umstände, die einen Vertrauenstatbestandbeim Mieter begründen, zu bejahen (im Anschluss an BGH, Urt.v. 11.2.2004, NJW 2004, 1102)

Anm. d. Redaktion: Die Bekl. hatte eine Tiefgarage gemietet. Die Mietebetrug monatl. 95.000 DM netto. Sie leistete vereinbarungsgemäßBetriebskostenvorauszahlungen von monatl. 5.000 DM. Die Kl. hatBetriebskostennachforderungen geltend gemacht, die den Vorauszah-lungsbetrag um das fünf- bis sechsfache übersteigen. Das LG hatte derKlage stattgegeben, das OLG hatte sie abgewiesen. Der BGH hob dieEntscheidung des OLG auf und verwies die Sache an dieses Gericht zurerneuten Entscheidung zurück.

� 02.9 – 11/04

Abfindungsansprüche nach dem LwAnpG

BGH, Beschluss vom 16. April 2004 – BLw 7/04 (OLG Dresden)

BGB § 328 Abs. 1

a) Eine Vereinbarung, die den Übergang des LPG-Vermögensauf einen anderen Rechtsträger entgegen den gesetzlichenVorgaben als Einzelrechtsnachfolge im Wege einer teilweisenVermögensübernahme regelt und daher unwirksam ist, kannnicht Grundlage für die Annahme eines Vertrags zugunstenDritter sein, wonach ein ausscheidendes Mitglied berechtigtsein soll, Abfindungsansprüche gegen den neuen Rechtsträgerzu richten.b) In einem solchen Fall entspricht es i.d.R. auch nicht der Inte-ressenlage und kann daher nicht im Wege der Auslegungangenommen werden, dass unabhängig von der gescheitertenVermögensübernahme ein Vertrag über die Regelung der Abfin-dungsansprüche zugunsten Dritter geschlossen worden ist.

� 02.10 – 11/04

Räum- und Streupflicht zum Schutz des Fußgängerverkehrs

OLG Jena, Beschluss vom 22. September 2004 – 4 U 793/04 (LG Mühlhausen)

ThürStrG § 49

1. Innerhalb einer geschlossenen Ortschaft sind regelmäßig nurdie belebten und verkehrswichtigen Gehwege zum Schutz desFußgängerverkehrs zu räumen und zu streuen. 2. Diese Räum- und Streupflicht besteht aber nicht uneinge-schränkt für Straßen, die von Fußgängern (auch) als Gehwegbenutzt werden. Hier hängt die – gegenüber Fußgängern beste-hende – Streupflicht davon ab, ob es sich um – für den Fußgän-gerverkehr – unentbehrliche Fußgängerüberwege handelt. 3. Im Übrigen besteht in zeitlicher Hinsicht eine Räum- undStreupflicht i.d.R. nur für die Zeit des Hauptberufsverkehrs und– an Feiertagen – für die Dauer des normalen Tagesverkehrs. 4. Bei extremen Witterungsbedingungen besteht eine Streupflichterst ab dem Zeitpunkt, wo Streumaßnahmen überhaupt sinnvollsind, also i.d.R. erst, wenn sich das Wetter wieder beruhigt hat.

Aus den Entscheidungsgründen:

Im Ergebnis zu Recht hat das LG die Schadensersatzklage des Kl.abgewiesen. Es bestand schon zum Unfallzeitpunkt und an derkonkreten Unfallstelle keine Streupflicht der Bekl. gegenüber demKl. als Fußgänger.

Die sich aus der öffentlich-rechtlichen Reinigungspflicht aus§ 49 ThürStrG ableitende gemeindliche Räum- und Streupflichtauf öffentlichen Wegen und Straßen besteht nicht uneinge-schränkt für alle öffentlichen Verkehrswege und Straßen; ihrInhalt und Umfang richtet sich vielmehr unter dem Gesichts-punkt der Verkehrssicherung nach den Umständen des Einzel-falls. Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs sind dabei ebenso zuberücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zuerwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht steht zudemunter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auf die Leistungs-fähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (vgl. grds. schonBGH, NVwZ 1991, 1212).

Grundsätzlich muss sich der Fußgängerverkehr wie der Straßen-verkehr den winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen anpas-sen. Zwar sind besonders an die Streupflicht zum Schutz desFußgängerverkehrs strenge Anforderungen zu stellen. Insoweitgilt der Grundsatz, dass innerhalb der geschlossenen Ortschaftdie belebten und verkehrswichtigen Gehwege zu betreuen sind:Das gilt aber nicht uneingeschränkt für Straßen, die (auch) alsGehweg benutzt werden. Hier hängt die – gegenüber Fußgängernbestehende – Räum- und Streupflicht davon ab, ob es sich um – fürden Fußgängerverkehr – unentbehrliche Fußgängerüberwegehandelt (vgl. BGH, VersR 1993, 1106; VersR 1995, 721; NVwZ-RR1998, 334; … st.Rspr. des 3. Zivilsen. des Thür. OLG, fortgesetztdurch die Rspr. des 4. Zivilsen. …). Hinzu kommt, dass die Räum-und Streupflichten i.d.R. zur Gewährleistung eines sicherenHauptberufsverkehrs und an Feiertagen nur für die Zeit desnormalen Tagesverkehrs bestehen. Bei extremen Witterungsver-hältnissen – etwa bei starkem Schneefall, Eisregen oder ständigüberfrierender Nässe – besteht eine Streupflicht erst ab demZeitpunkt, ab dem sich das Wetter wieder so beruhigt hat, dassStreumaßnahmen überhaupt sinnvoll sind (vgl. … ebensoWussow/Treitz, Unfallhaftpflichtrecht, 14. Aufl., Rn 720).

Unter Beachtung dieser Grundsätze scheidet im vorliegendenFall eine Haftung der Gemeinde für den … Unfall des Kl. aus.

Das LG hat … festgestellt, dass der Kl. am 24.10.2002 gegen23 Uhr auf der Fahrbahn der Straße »Eselsmarkt« am äußersten

Rechtsprechung Bürger l i ches Recht

517Neue Justiz 11/2004

Rand der Fahrstraße gegenüber dem angrenzenden Fußweg … zuFall gekommen war. An dieser Stelle wie überhaupt in dem gesam-ten Gemeindegebiet herrschte schon tagsüber Regen, der ständigüberfror … Unabhängig davon, dass angesichts der Schilderungder … Zeugen eine Streupflicht unmittelbar vor der Unfallzeitwenig sinnvoll und schon gar nicht Erfolg versprechend war,hätte auch eine zur Tageszeit vorgenommene Streuung den Unfallnicht verhindert … Es ist allgemein bekannt, dass durch den stän-digen Fahrverkehr mit Fahrzeugen eine viel befahrene, nasse Straßeweniger schnell überfrieren kann, als ein lediglich durch Fußgängerbei gleichen Witterungsbedingungen genutzter Fußweg oder eine– mehr zu Parkzwecken – gering frequentierte Straße.

Im Übrigen bestand keine Räum- und Streupflicht der Gemeindegegenüber dem Kl. als Fußgänger an der konkreten Unfallstelle.

Der Kl. hat zwar vorgetragen, dass der Eselsmarkt am 24.10.2002auch auf dem Fahrweg von Fußgängern benutzt wurde, vor allemwegen seiner direkten Anbindung an die Kirche. Daraus recht-fertigt sich aber noch nicht die Annahme einer sich hierausergebenden Streupflicht der Gemeinde auch gegenüber diesenFußgängern. Selbst wenn der angrenzende Fahrstraßenbereichals An- und Abweg von den Kirchenbesuchern genutzt wurde,bestand doch die Möglichkeit des Zugangs über den angrenzendenFußweg. Besteht aber ein solcher Fußweg, so war allenfalls dieserzum Schutz des Fußgängerverkehrs zu bestreuen; der Fahrstraßen-bereich war für den Fußgängerverkehr nicht unentbehrlich.Hinsichtlich des gesamten Fußgängerwegs war aber die gemeind-liche Streupflicht auf die Anlieger übertragen, so dass Schutz-maßnahmen der Gemeinde an dieser Stelle gegenüber dem Fuß-gängerverkehr gerade nicht bestanden.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass nach dem Vor-trag des Kl. … der Gehweg teilweise durch parkende Fahrzeuge»zugeparkt« war. (wird ausgeführt unter Hinw. auf OLG Dresden,OLG-NL 2003, 99, 100= NJ 2003, 269 [Leits.]).

� 02.11 – 11/04

Wertausgleich für Erben des Eigentümers eines restitutionsbelas-teten Vermögensgegenstands

OLG Naumburg, Urteil vom 7. April 2004 – 11 U 104/03 (LG Magdeburg)(Revision eingelegt; Az.: V ZR 96/04)

VermG § 7 Abs. 2 Satz 1

Die Erben des den Wert eines restitutionsbelasteten Vermögensge-genstands (hier durch Errichtung eines Gebäudes auf ursprünglichunbebautem Grundstück) erhöhenden Eigentümers sind gegen-wärtig Verfügungsberechtigte iSv § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG, sodasssie vom Berechtigten großen Wertausgleich verlangen können.

Problemstellung:

Die Kl., die H. W. beerbt haben, machten gegenüber der Bekl.Wertausgleichsansprüche gem. § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG geltend.

H. W. hatte das unbebaute Grundstück 1938 von den Rechts-vorgängern der Bekl. erworben und in der Folgezeit ein Gebäudeauf dem Grundstück errichtet. Die Bekl. ist Berechtigte gem. § 1Abs. 6 Satz 1 VermG; das LARoV übertrug das Grundstück an siezurück. Der zu diesem Zeitpunkt als gesetzlicher Vertreter für dieKl. handelnde Nachlasspfleger forderte im Gegenzug von derBekl. Wertausgleich für das auf dem Grundstück errichtete Haus.

Das LG gab der Klage statt.

Die Berufung der Bekl. hatte keinen Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Das OLG bejaht einen Wertausgleichsanspruch gem. § 7 Abs. 2Satz 1 VermG, wonach Werterhöhungen, die eine natürlichePerson als gegenwärtig Verfügungsberechtigter bis zum 2.10.1990

an dem Vermögenswert herbeigeführt hat, vom Berechtigten mitdem objektiven Wert zum Zeitpunkt der Entscheidung über dieRückübertragung des Eigentums auszugleichen sind.

Bei der Prüfung von § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG hatte sich das OLGmit folgenden Fragen zu befassen: – Kann der gegenwärtig Verfügungsberechtigte iSv § 7 Abs. 2 Satz 1

VermG gegenüber einem Berechtigten iSd § 1 Abs. 6 Satz 1 VermGauch Ausgleichsforderungen für Werterhöhungen beanspruchen,die zwischen dem 30.1.1933 und dem 8.5.1945 durchgeführtwurden? Oder beschränkt sich der Wertausgleichsanspruch »aufMaßnahmen während des Bestehens der DDR«? (hierzu unter 1.)

– Ist auch der aktuelle, derzeitige Verfügungsberechtigte des betrof-fenen Vermögenswerts, an dem dessen Erblasser die maßgeblichenWerterhöhungen verwirklicht hatte, »gegenwärtig Verfügungs-berechtigter« iSd § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG? (hierzu unter 2.)

1. Das OLG lehnt eine zeitliche Anspruchsbeschränkung auf Maß-nahmen während des Bestehens der DDR ab: Weder der Wortlautdes § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG noch der Zweck des Wertausgleichsrechtfertigen eine zeitliche Anspruchsbeschränkung. § 7 Abs. 2Satz 1 verfolgt vielmehr das Ziel, den Berechtigten durch dieRestitution nicht besser zu stellen, »als er ohne den Verlust seinesVermögens stünde«. Dies gilt auch in den Rückübertragungsfäl-len des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG, wonach das VermG entsprechendauf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereini-gungen anzuwenden ist, die in der Zeit vom 30.1.1933 bis8.5.1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltan-schaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögenin Folge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andererWeise verloren haben. Auf die »Schutzwürdigkeit des Verfügungs-berechtigten kommt es in diesem Zusammenhang nicht an«.

2. Auch der Erbe hat einen Ausgleichsanspruch für die vomErblasser durchgeführten Werterhöhungsmaßnahmen. Nach demWortlaut des § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG sind nur die Werterhöhun-gen des gegenwärtig Verfügungsberechtigten auszugleichen.Werterhöhungen, die auf einen Zwischenerwerber zurückgehen,genügen nicht. Hat der gegenwärtig Verfügungsberechtigte dasGrundstück demnach von einem früheren Verfügungsberechtig-ten erworben, so zahlt er hierfür »i.d.R. einen, der vom Rechtsvor-gänger herbeigeführten Werterhöhung adäquaten Kaufpreis, derihm im Falle der Restitution aus dem Entschädigungsfondszurückerstattet wird (§ 7a Abs. 1 Satz 1 VermG)«. Bei dem Erbentrifft dies indes nicht zu. Das OLG weist im Weiteren darauf hin,dass »auch der nicht redliche Erwerber seinen Kaufpreis nach § 7aAbs. 1 Satz 1 VermG erstattet erhält«.

Nach Ansicht des Gerichts wäre es eine »willkürliche Ungleich-behandlung«, wenn ausgerechnet der Erbe eines Verfügungsbe-rechtigten ohne jeden Ausgleich bliebe. Das VermG will im Rah-men des § 7 Abs. 2 VermG »ohne ersichtlichen Grund« nicht vomPrinzip der Universalsukzession abweichen (§§ 1922 Abs. 1, 1942Abs. 1, 2032 Abs. 1 BGB). Zum Nachlass zählen auch »zukünftigeAnsprüche« nach § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG, die sich daraus erge-ben, dass »das geerbte Grundstückseigentum aus Gründen, diemit dem Erwerb durch den Erblasser in Zusammenhang stehen,nach dem VermG auf den Berechtigten zurückübertragen wird(Erman/Schlüter, BGB, 10. Aufl., § 1922 Rn 7; Palandt/Edenhofer,BGB, 63. Aufl., § 1922 Rn 26).

Abschließend stellt das OLG klar, dass die Bestimmung des § 7Abs. 1 VermG, die einen sog. kleinen Wertausgleichsanspruchvorsieht, auf die öffentlichen Verfügungsberechtigten zugeschnit-ten und deshalb im vorliegenden Fall nicht anzuwenden ist.

Kommentar:

Das OLG geht m.E. zu Unrecht davon aus, dass es für die Frage desWertausgleichs zwischen dem 30.1.1933 und dem 8.5.1945 auf

Bürger l i ches Recht

Neue Justiz 11/2004518

die Schutzwürdigkeit des Verfügungsberechtigten im Falle derRückübertragung gem. § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG nicht ankommt.Der Hinweis des OLG, dass (sogar) »der nicht redliche Erwerberseinen Kaufpreis nach § 7a Abs. 1 Satz 1 VermG erstattet erhält«,gilt lediglich uneingeschränkt für den abgewerteten und umge-stellten (Reichsmark-)Kaufpreis. Für die Wahl einer Entschädigungnach dem EntschG v. 27.9.1994, die i.d.R. höher ausfallen wird alsdie Gegenleistung, hat der Gesetzgeber jedoch nachträglich einenAusschlusstatbestand geschaffen. Nach der mit dem VermRAnpGv. 4.7.1995 in das VermG eingefügten Bestimmung des § 7aAbs. 3b Satz 2 kann der Verfügungsberechtigte keine Entschädi-gung wählen, wenn »der Verfügungsberechtigte oder derjenige,von dem er seine Rechte ableitet, gegen die Grundsätze derMenschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen, in schwerwie-gendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nach-teil anderer missbraucht oder dem Nationalsozialismus oder demkommunistischen System … erheblich Vorschub geleistet hat«.

§ 7 Abs. 3 b Satz 2 VermG entspricht dem Wortlaut des § 1 Abs. 4AusglLeistG. Beide Bestimmungen stehen im Kontext mit § 15Abs. 2 ReparationsschädenG. Danach waren Vermögensschädennicht entschädigungsfähig, wenn das Wirtschaftsgut durch denRückerstattungspflichtigen vom Verfolgten ohne angemesseneGegenleistung oder mittels eines gegen die guten Sitten ver-stoßenen Rechtsgeschäfts erworben worden war. Der Gesetzgeberwollte offenbar zwischen einem Arisierungskäufer, der die Aus-schlusstatbestände des § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG erfüllt, undeinem »loyalen« Ariseur unterscheiden. Nur im letzteren Fall solleine Entschädigungsleistung nach dem EntschG gezahlt werden.Der Hinweis des OLG liefert somit eher ein Argument dafür, dassauch bei der Frage des Wertausgleichs ein solcher moralischerMaßstab an den Ariseur zu stellen ist.

Obwohl der Gesetzgeber für die Frage des Wertausgleichs nach§ 7 Abs. 2 Satz 1 VermG einen derartigen Ausschlusstatbestandnicht ausdrücklich normiert hat, muss ein solcher Wertungsge-danke auch für den Wertausgleichsanspruch Anwendung finden.Wenn ein Arisierungskauf sogar eine Entschädigungsleistungdurch die Bundesrepublik ausschließt, muss dies erst recht für dievon Repressalien des NS-Regimes betroffenen Berechtigten gelten.Ob H. W. mit dem Grundstückskauf im Jahre 1938 gegen dieGrundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit versto-ßen hatte, lässt sich nicht beantworten, da der Sachverhalt hierzunichts aussagt.

Das BVerwG hatte sich bereits im Zusammenhang mit demKriegsfolgen- und Wiedergutmachungsrecht der alten Bundes-republik mit diesen Begriffen auseinander zu setzen. So hatte esals einen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit undRechtsstaatlichkeit das Handeln eines Betroffenen angesehen, dersich »als Spitzel oder Denunziant betätigt, einen politischenGegner seiner andersartigen Gesinnung wegen in strafrechtlichzu ahndender Weise verfolgt oder an seiner Verfolgung mitwirktoder der einen anderen an der Ausübung seiner politischenRechte gewaltsam oder aus moralisch verwerfbarer Gesinnunghindert« (BVerwG, NJW 1958, 35).

Nach der BGH-Rspr. hat auch derjenige gegen die Grundsätze derMenschlichkeit verstoßen, »der zur Stützung eines repressivenSystems freiwillig und gezielt, insbes. auch durch das Eindringen indie Privatsphäre anderer und Missbrauch persönlichen VertrauensInformationen über Mitbürger gesammelt, an für ihre repressiveund menschenverachtende Tätigkeit bekannte Staatsorganisatio-nen (Stasi/Gestapo) weitergegeben und dabei jedenfalls in Kaufgenommen hat, dass diese Informationen zum Nachteil der denun-zierten Personen, namentlich zur Unterdrückung ihrer Menschen-und Freiheitsrechte, benutzt würden« (BGH, NJW 1994, 1730).

Das OLG hätte daher zu prüfen gehabt, ob H. W. im Zusam-menhang mit dem Kaufvertrag 1938 ein vergleichbares Verhaltenvorgeworfen werden kann. Wäre das Gericht zum Ergebnisgelangt, dass derartige Vorwürfe in der Person des H. W. begrün-det sind, hätte es einen Wertausgleichsanspruch der Kl. ablehnenmüssen. Denn die Kl. als Erben hätten sich das Verhalten vonH. W. entsprechend dem Wortlaut des § 7 Abs. 3b Satz 2 VermGzurechnen lassen müssen.

RD Udo Michael Schmidt, Sächs. Staatsministerium des Innern, Dresden

� 02.12 – 11/04

Insolvenzanfechtung bei inkongruenter Direktzahlung des Schuld-ners eines insolventen Schuldners an dessen Gläubiger

OLG Rostock, Urteil vom 29. März 2004 – 3 U 160/03 (LG Stralsund)(rechtskräftig)

InsO § 131

1. Eine inkongruente Deckung liegt vor, wenn der Schuldner desSchuldners den Kaufpreis auf ein Notaranderkonto überweistund der Notar weisungsgemäß einen Teilbetrag von demAnderkonto an den Anfechtungsgegner überweist.2. Eine Behörde, die die Zustimmung zu einem privatrechtlichenRechtsgeschäft des Schuldners mit einem Dritten von derBegleichung rückständiger Abgaben abhängig macht, erzeugteine Drucksituation, die die Anfechtung wegen inkongruenterDeckung rechtfertigen kann.

Problemstellung:

Am 25.11.1999 beantragte das Finanzamt L. die Eröffnung desInsolvenzverfahrens über das Vermögen der LKS L. Kies undSand GmbH (Schuldnerin). Diese stellte am 31.1.2000 einenEigenantrag. Aufgrund beider Anträge eröffnete das AG am22.6.2000 das Insolvenzverfahren. Der Kl. als Insolvenzverwalterhat nach Insolvenzanfechtung von dem bekl. Land Zahlung von107.401,26 DM (54.913,39 €) verlangt.

Die Schuldnerin, die an das Bergamt Förderabgaben gem.BergbauG zu zahlen hatte, beabsichtigte, Bergbaurechte an dieFirma H. Kies Sand Recycling GmbH & Co. KG zu übertragen.Dies bedurfte der Zustimmung des Bergamtes. Mit Schreiben v.14.12.1999 teilte es der Schuldnerin mit, dass die Zustimmungzur Übertragung der Förderungsrechte erst nach Ausgleich derRückstände v. 107.401,26 DM erfolgen könne. Am 17.1.2000veräußerte die Schuldnerin u.a. die Kies- und Ausbeutungsrechteauf dem B. Tagebau L. an die Firma H. Kies Sand Recycling GmbH& Co. KG.

Der notarielle Vertrag lautet auszugsweise: Ȥ 1 Vertragsgegenstand

Verkauft und abgetreten werden, wobei die Käuferin die Über-nahme und Abtretung annimmt, das Know-how, die Bergab-bauberechtigung bzgl. Abbaus von Kies und Kiessanden, Vertrags-unterlagen …, Teile des Anlagevermögens, Hauptbetriebsplänesowie Antragsunterlagen … . Verbindlichkeiten werden nicht übernommen.

§ 2 Kaufpreis, Zusammensetzung des Kaufpreises

1. Der Kaufpreis insgesamt 700.000 DM + 16% MwSt 112.000 DM,insgesamt 812.000 DM ...

4. Die Zahlung des gesamten Kaufpreises einschließlich Mehrwert-steuer hat auf das Notaranderkonto des beurkundenden Notars beider Volksbank ... zu erfolgen. Die Erfüllung des Kaufpreiszahlungs-anspruches des Käufers erfolgt durch Einzahlung des Kaufpreisesauf dem Notaranderkonto.

§ 3 Kaufpreisfälligkeit

1. Der gesamte Kaufpreis ist umgehend auf das vom beurkunden-den Notar eingerichtete Notaranderkonto zu Zahlung fällig.

Rechtsprechung Bürger l i ches Recht

519Neue Justiz 11/2004

Der Notar wird von den Vertragsparteien unwiderruflich angewie-sen, aus dem Kaufpreis unmittelbar bis zum 15.3.2000 folgendeZahlungen zu leisten:

a) DM 107.401,26 an Bergamt S. gem. § 10 Ziff. 2 …«

Diesen Betrag erhielt das Bergamt von dem Notar.

Mit Schreiben v. 21.3.2001 erklärte der Kl. die Anfechtungder Zahlung. Das bekl. Land wandte ein, ihm habe die Zahlungzugestanden. Der streitgegenständliche Betrag stamme nichtaus dem Vermögen der Schuldnerin, vielmehr sei er von demNotaranderkonto an das Bergamt geflossen. Das Land bestrittzudem die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin sowie Kenntnisder Umstände, die darauf schließen ließen.

Das LG wies die Klage ab. Die Berufung des Kl. hatte Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Das bekl. Land ist gem. § 143 Abs.1 Satz 1 InsO verpflichtet, denihm von dem Notaranderkonto zugeflossenen Betrag zur Insol-venzmasse zurückzugewähren, denn der Kl. hat diese Zahlungwirksam als inkongruente Deckungshandlung gem. § 131 Abs. 1Nr. 1 InsO angefochten.

1. Die angefochtene Handlung nahm die Schuldnerin nachdem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor. (Das OLGRostock legt diesen Punkt ausführlich dar.)

2. Durch die Entrichtung der Förderabgabe in der in demnotariellen Vertrag v. 17.1.2000 niedergelegten Weise wurden dieInsolvenzgläubiger benachteiligt, denn der an die Schuldnerinausgekehrte oder auf dem Notaranderkonto zu ihren Gunstenverbliebene Kaufpreis wäre in die Insolvenzmasse gefallen.

3. Die Auszahlung des Kaufpreisanteils unmittelbar an das Berg-amt war eine inkongruente Deckung iSd § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO.

a) Zwar hatte das Bergamt Anspruch auf diese Zahlung, derAnspruch war auch fällig, jedoch konnte es nicht Zahlung inder Weise und auf dem Wege beanspruchen, wie sie tatsächlicherfolgte, nämlich weder von dem Notar noch von der Firma H.Kies Sand Recycling GmbH & Co. KG. Der übliche Zahlungswegist die bargeldlose Zahlung unter Einschaltung einer Bank. Dassder Schuldner der Schuldnerin den Kaufpreis auf das Notar-anderkonto überwies, ist ebenfalls nicht ungewöhnlich; indessenzahlt der Notar üblicherweise nach Erfüllung der Auszahlungs-voraussetzungen den Kaufpreis an die Gläubigerin der Kaufpreis-forderung aus. Dass vorliegend der gewählte Zahlungsweg hier-von erheblich abweicht, bedarf keiner weiteren Begründung.Insbes. lässt sich nicht damit argumentieren, der Notar habe wieeine Bank lediglich als Zahlstelle fungiert, denn der Zahlungswegwurde bewusst so gestaltet, dass ein Teil des Kaufpreises demVermögen der Schuldnerin fern gehalten und unmittelbar demBergamt zur Tilgung der rückständigen Förderabgaben zufloss.

Das Bergamt, dem die Liquiditätsprobleme der Schuldnerinbekannt waren, veranlasste ein Verhalten der Schuldnerin, dasauf die eigene Befriedigung auf Kosten der übrigen Gläubigerhinauslief und dem Grundsatz der gleichmäßigen Befriedigungaller Gläubiger widersprach.

b) Die Inkongruenz der Zahlung ergibt sich zudem aus der Druck-situation. Der Kl. verweist in diesem Zusammenhang darauf, dassgem. § 22 BBergG die Zustimmung zur Übertragung der Abbau-rechte an einen Dritten nur unter bestimmten Voraussetzungen,die nicht vorgelegen hätten, versagt werden dürfe. Selbst wenn dasBergamt berechtigt gewesen sein sollte, seine Zustimmung von derBegleichung der rückständigen Förderungsabgaben abhängig zumachen, folgt die Inkongruenz der Deckungshandlung daraus, dasses die Entschließungsfreiheit der Schuldnerin durch Druck beein-trächtigt hat, um sie zur Zahlung zu veranlassen. Ebenso inkon-

gruent wie eine Leistung zur Abwendung der Zwangsvollstreckungist eine Leistung zur Abwendung eines Insolvenzantrags, auchwenn der Gläubiger Anspruch auf die Zahlung hat (BGH, ZIP 2004,319 = WM 2004, 299). Zwar kündigte vorliegend das Bergamt nichtEinzel- oder Gesamtzwangsvollstreckungsmaßnahmen an, um dieSchuldnerin zur Abtragung der Zahlungsrückstände zu bewegen.Indessen ist die Inkongruenz einer unter Druck erbrachten Leistungnicht auf die Androhung derartiger Maßnahmen beschränkt;auch anderer Druck, der dem in wirtschaftlicher Hinsicht gleichoder nahe kommt und die Leistungsmotivation des zur freiwilli-gen Leistung nicht bereiten Schuldners herstellt, lässt die Leistunginkongruent werden (Lindemann, EWiR 2003, 1153).

c) Auf Kenntnis der Benachteiligungsabsicht kommt es imRahmen des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO ebenso wenig an wie aufKenntnis des Eröffnungsantrags.

Kommentar:

Die Entscheidung verdient Beifall. Beachtung findet vor allem,dass das OLG in der Auszahlung des Kaufpreisanteils eine inkon-gruente Deckung iSd § 131 InsO sieht.

1. Eine wie in der Problemstellung beschriebene Direktzahlungdes Schuldners der Schuldnerin an deren Gläubiger ist in der Tatregelmäßig besonders verdächtig, weil sie an den Zahlungsverzugder Schuldnerin und deren Zahlungsschwierigkeiten anknüpftund deshalb inkongruent ist (so im Übrigen auch BGH, ZInsO2002, 766 [Nichtannahmebeschl. zu OLG Dresden, ZIP 1999,2161]; MünchKomm-Kirchhof, InsO, § 131 Rz 35; Kreft, in: HK-InsO, 3. Aufl., § 131 Rz 9).

Vorliegend waren die ständigen Zahlungsrückstände derSchuldnerin ein deutliches Anzeichen für Liquiditätsproblemeund das Bergamt hatte erkannt, dass diese nur unter Einsatz desVerkaufserlöses die Rückstände würde abtragen können. DurchVerknüpfung der Schuldentilgung mit der Zustimmung zurÜbertragung der Förderungsrechte wirkte das Bergamt auf dieEntschließungsfreiheit der Schuldnerin ein und erzeugte eineDrucksituation, die in ihrem Gewicht der Androhung einesInsolvenzantrags oder einer Zwangsvollstreckung gleichkommt.Unerheblich ist, dass der Insolvenzantrag schon zuvor gestellt war,denn der Antrag des Finanzamts war dem Bergamt nicht bekannt.

2. Zu Recht stützt das Gericht die Inkongruenz der Deckung iSd§ 131 InsO auf die hier entstandene Drucksituation: So ist in derRspr. anerkannt, dass eine Leistung des Schuldners zur Vermei-dung einer Zwangsvollstreckung inkongruent ist, auch wenn derGläubiger Anspruch auf die Zahlung hat (vgl. BGHZ 136, 309 =ZIP 1997, 1929, dazu EWiR 1998, 37 [Gerhardt]; BGH, ZIP 2002,1159 = NJW 2002, 2568 = NJ 2002, 537 [bearb. v. Biehl]; BGH, ZIP2002, 228, dazu EWiR 2002, 297 [Grothe]; BGH, ZIP 2003, 1304 =NJW-RR 2003, 1201, dazu EWiR 2003, 831 [Eckardt] ).

Rechtsanwalt Dr. Kristof Biehl, Potsdam

� 02.13 – 11/04

Erlassvertrag für Bürgschaftsansprüche und Insolvenzanfechtung

OLG Brandenburg, Urteil vom 9. März 2004 – 11 U 95/03 (LG Frank-furt [Oder]) (rechtskräftig)

BGB §§ 397 Abs. 1, 765 Abs. 1; InsO § 144 Abs. 1

1. Allein die Rückgabe der Bürgschaftsurkunde führt noch nichtzum Erlöschen der Verpflichtungen aus dem Bürgschaftsvertrag.2. Zu den Voraussetzungen für einen Erlassvertrag und zumWiederaufleben von Bürgschaftsforderungen bei Insolvenz-anfechtung. (Leitsätze der Redaktion)

Bürger l i ches Recht

Neue Justiz 11/2004520

Die Parteien streiten um Bürgschaftsansprüche der Kl. gegen denBekl. nach einer Insolvenzanfechtung des Insolvenzverwaltersder Hauptschuldnerin gegenüber der Kl.

Der Bekl. war gemeinsam mit dem gesondert in Anspruchgenommenen Herrn … Geschäftsführer der T.-GmbH. Die Kl. wardie Hausbank der Gesellschaft, die bei der Kl. zwei Kontenunterhielt. Die Kreditverbindlichkeiten bei der Kl. waren durchBürgschaften der geschäftsführenden Gesellschafter vom Febr.1997 gesichert.

1999 geriet die GmbH in wirtschaftliche Schwierigkeiten.Die Kl. kündigte am 30.7.1999 sowohl das Girokonto als auch denDarlehensvertrag. Später löste die Gesellschaft noch Schecksein und es erfolgten Bareinzahlungen durch den Bekl. sowieÜberweisungen. Am 18.8.1999 stellte der MitgeschäftsführerInsolvenzantrag. Das Insolvenzverfahren wurde am 19.10.1999eröffnet.

Bereits unter dem 30.8.1999 hatte die Kl. die Bürgschafts-urkunde an die Bürgen, also auch an den Bekl., zurückgesandt.In dem beigefügten Formblatt war die Formulierung angekreuzt:

»Die uns eingeräumten Rechte übertragen wir hiermit zurück.Die entsprechenden Unterlagen werden ausgehändigt«.

Im Sept. 2001 nahm der Insolvenzverwalter die Kl. im Wege derInsolvenzanfechtung in Anspruch. Nach einem Vergleich zahltedie Kl. 90.000 M. Diesen Betrag forderte sie aus der ursprünglichenBürgschaft vom Bekl. zurück. Zu einem Erlassvertrag sei es nichtgekommen. Hilfsweise hat sie einen möglichen Erlassvertragangefochten und schließlich die Klage auf abgetretene Ansprüchedes Insolvenzverwalters aus § 64 Abs. 2 GmbHG gestützt.

Der Bekl. vertrat die Auffassung, seine Bürgschaftsverpflich-tung sei durch Erlass beendet worden. Eine Anfechtung desErlasses käme nicht in Frage. Darüber hinaus fehle es an denVoraussetzungen einer wirksamen Insolvenzanfechtung.

Das LG hat die Klage mit Urt. v. 15.8.2003 abgewiesen (NJ 2003,661 [bearb. v. Biehl] ).

Die Berufung der Kl. hatte Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Kl. hat gegenüber dem Bekl. weiterhin einen Anspruch ausder … Bürgschaftsurkunde. Die Ansprüche sind nicht durchAbschluss eines Erlass- oder Verzichtsvertrags zwischen denParteien erloschen. Der Abschluss eines Erlassvertrags ergibt sichnicht aus der Rückgabe der Bürgschaftsurkunde. Auch die weite-ren Voraussetzungen für die Annahme eines derartigen Vertragsliegen nicht vor.

Allein die Rückgabe der Bürgschaftsurkunde führt, selbst wenndies in der Bürgschaftsurkunde ausdrücklich vorgesehen ist, nochnicht zum Erlöschen der Verpflichtungen aus dem Bürgschafts-vertrag. Erlöschen kann die Bürgschaft nur durch Abschluss einesgesonderten Erlassvertrags (… Habersack, in: MünchKomm,3. Aufl., § 765 Rn 59). Ein derartiger Erlassvertrag kann zwar auchkonkludent geschlossen werden. Regelmäßig erforderlich istaber ein eindeutiges Verhalten des Gläubigers, aus dem sich seinWille zum Erlass der Forderung klar und sicher ergibt (…). DieAnnahme eines Erlassvertrags liegt daher nahe, wenn der Bestandoder der Umfang der Bürgschaftsschuld zwischen den Parteienstreitig war, der Bürge den Gläubiger unter Angabe von Gründenaufgefordert hat, ihn aus der Bürgschaft zu entlassen und ihmhierauf die Bürgschaftsurkunde übersandt wird (OLG Dresden,BB 1999, 497).

Diese Voraussetzungen sind im Verhältnis der Parteien nichtgegeben. Auch aus der in dem Übersendungsschreiben ange-kreuzten Formulierung lässt sich der Abschluss eines Erlassver-

trags zwischen den Parteien nicht herleiten. Es handelt sich beider Übersendung offensichtlich um ein schlichtes Formschreiben,in dem von dem Sachbearbeiter einzelne vorgedruckte Passagennur angekreuzt werden. Die Formulierung »Die uns eingeräumtenRechte übertragen wir hiermit zurück« war aus Sicht des Bekl.nicht dahin zu verstehen, die Kl. habe ihm den Abschluss einesErlassvertrags anbieten und rechtsgestaltend tätig werden wollen.Auch nach den vorangegangenen Verhandlungen zwischen denParteien konnte der Bekl. das Verhalten der Kl. nur dahinverstehen, dass diese, nachdem die Konten, deren Sicherung dieabgegebenen Bürgschaftserklärungen dienten, nach den vor-genommenen Buchungen keinen Negativsaldo mehr aufwiesenund damit auf der Grundlage der vorliegenden Kontenauszügeeine gesicherte Hauptforderung nicht mehr bestand, die bis dahinbestehende Geschäftsbeziehung auch verwaltungstechnischabwickeln wollte. …

Für die Annahme, die Kl. habe insoweit mit dem Bekl. eineeigenständige, die Rechtslage gestaltende Regelung treffenwollen, spricht nichts. Insbes. bestand zwischen den Parteienkeinerlei Auseinandersetzung, Unsicherheit oder Streitigkeit … .Es bestand aus der für den Bekl. erkennbaren Sicht der Kl. auchkein Anlass für den Abschluss eines Erlassvertrags, da … dieKonten keinen Negativsaldo mehr aufwiesen, also eine Forde-rung, die etwa hätte erlassen werden können, weder aus Sicht derKl. noch aus Sicht des Bekl. bestand.

Für die weitergehende Annahme, die Parteien hätten imZeitpunkt der Übersendung der Bürgschaftsurkunden Anlass füreine Regelung gesehen, in der die Kl. … sich gegenüber demBekl. bereit finden wollte, auch auf möglicherweise zukünftigwieder entstehende Ansprüche zu verzichten, spricht nichts …Insbes. ist nichts dafür erkennbar, dass die Kl. … zum Ausdruckbringen wollte, den Bekl. auch im Falle einer erfolgreichenInsolvenzanfechtung nicht mehr aus der Urkunde in Anspruchnehmen zu wollen.

Der Umstand, dass sich dann nach der Rückgabe die Bürg-schaftsurkunde nicht mehr im Besitz der Bürgschaftsgläubigerinbefand, ist für den Fortbestand der Bürgschaftsverpflichtungunbeachtlich. …

Darüber hinaus wäre selbst bei einer anderen Auslegung dieBürgschaftsforderung gem. § 144 InsO bei einer erfolgreichenInsolvenzanfechtung durch den Insolvenzverwalter wieder auf-gelebt.

Nach dieser Bestimmung lebt die erloschene Forderung, soweitder Empfänger einer anfechtbaren Leistung das Erlangte zurück-gewährt, wieder auf. Infolge der Vorschrift entsteht die zunächstgetilgte Forderung mit der Rückgewähr ohne weiteres und mitRückwirkung auf die Zeit unmittelbar vor der Insolvenzeröffnungwieder (Kirchhoff, in: MünchKomm zur InsO, 2002, § 144 Rn 8).Zusammen mit der zunächst getilgten Forderung leben auch diefür die Forderung bestellt gewesenen Neben- und Sicherungs-rechte wieder auf. Dies gilt zunächst für die vom Insolvenz-schuldner gestellte Sicherung und zwar sowohl für akzessorischeals auch für nicht akzessorische Sicherheiten. Entsprechendes giltfür Sicherheiten, die von Dritten für die Verbindlichkeiten desInsolvenzschuldners bestellt waren, z.B. Bürgschaften (BGH, NJW1974, 57).

Soweit zur Begründung akzessorischer Sicherheiten ein Realaktnötig ist, hat der ursprüngliche Sicherungsgeber oder Insolvenz-verwalter mitzuwirken. Urkunden über die anfechtbar getilgtenForderungen … sind zurückzugeben und ggf., falls vernichtet,wieder herzustellen (…). Soweit die Parteien in der Annahme, diegesicherte Forderung sei erloschen, eine vertragliche Änderungder Sicherungsvereinbarung getroffen haben, entfällt für diese

Rechtsprechung Bürger l i ches Recht

521Neue Justiz 11/2004

mit wirksamer Anfechtung die Geschäftsgrundlage. Die ursprüng-liche Sicherheit ist wieder herzustellen (OLG Brandenburg, WM2001, 626).

Die Kl. kann somit gegenüber dem Bekl. ihre Rechte aus der vondiesem gestellten Bürgschaft wieder geltend machen, soweit sieim Hinblick auf eine erfolgreiche Insolvenzanfechtung durchden Insolvenzverwalter zur Tilgung der Forderung empfangeneBeträge rückgewähren musste. …

Die Voraussetzungen für eine Insolvenzanfechtung lagen vor.In Höhe eines Betrags von 77.719.07 DM lagen die Vorausset-

zungen … gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO bereits deshalb vor, weildie Kl. mit der Hereinnahme dieser Schecks eine inkongruenteDeckung erhielt. (wird ausgeführt)

Hinsichtlich der übrigen Zahlungen war die Anfechtung gem.§ 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründet. (wird ausgeführt)

(mitgeteilt von Rechtsanwalt Dr. Kristof Biehl, Potsdam)

� 02.14 – 11/04

Auskunfts- und Einsichtsrecht der GmbH-Gesellschafter

OLG Jena, Beschluss vom 14. September 2004 – 6 W 417/04 (LG Mühlhausen) (rechtskräftig)

GmbHG § 51a; BGB § 242

1. Bei der Ausübung des Auskunfts- und Einsichtsrechts gem.§ 51a GmbHG ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zubeachten. 2. Die Geschäftsführung ist nicht verpflichtet, die Gesellschafterregelmäßig ungefragt zu unterrichten. Eine Pflicht zur unauf-geforderten, automatischen und präventiven Information kennt§ 51a GmbHG nicht. Ein solcher Anspruch kann sich allenfallsdann ergeben, wenn die Gesellschaft ein regelmäßiges Berichts-system eingeführt hat. 3. Der Gesellschafter muss das schonendste Mittel zur Erfüllungseines Informationsbedürfnisses wählen. Er kann gehalten sein,an einer zeitnah stattfindenden Gesellschafterversammlungteilzunehmen, wenn diese Form der Auskunftserteilung für dieGmbH – organisatorisch betrachtet – ein milderes Mittel gegen-über der Einsichtnahme ist. 4. Das gesellschaftsrechtliche Informationsrecht ist ein einheit-liches Recht, das nicht in ein Auskunfts- und ein Einsichtsrecht auf-gespaltet werden darf. Auskunft und Einsichtnahme sind lediglichunterschiedliche Informationsmittel; das Auskunftsverlangenkann durch Einsichtgewährung und ein Einsichtverlangen durchAuskunftserteilung erfüllt werden. Der Gesellschafter hat nicht dasRecht zu bestimmen, ob Auskunft oder Einsichtnahme gewährtwerden soll. Das aus den Umständen des Einzelfalls objektiv zubestimmende Informationsinteresse bestimmt, welches der Unter-richtungsmittel einem Gesellschafter jeweils zur Verfügung steht. 5. Darf der Gesellschafter Grund zum Zweifel an der richtigenund vollständigen Erfüllung seines Informationsansprucheshaben, kann er über die erteilte Auskunft hinaus Einsicht in diebetreffenden Unterlagen fordern. 6. Ein Gesellschafter, welcher an der Gesellschafterversammlungnicht teilnimmt und nachträglich der Geschäftsführung ständigneue Fragen stellt, verhält sich rechtsmissbräuchlich. 7. Der Begriff der »Angelegenheit der Gesellschaft« ist weit undumfassend zu verstehen und umfasst auch die Frage nach derMöglichkeit der Rückführung von Gesellschaftsdarlehen und dieHöhe der Geschäftsführervergütung. Ein Informationsrecht isterst dann nicht gegeben, wenn rein private Umstände Gegen-stand der Auskunft sind. Darlehen, welche ein Gesellschafterseiner GmbH gewährt, fallen in den Bereich der Innenbeziehun-gen und stellen eine Angelegenheit der Gesellschaft dar.

04 VERWALTUNGSRECHT

� 04.1 – 11/04

Voraussetzungen eines Vorkaufsrechts nach dem VermG

BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 – 8 C 14/03 (VG Weimar)

VermG §§ 20 Abs. 4 u. 6, 20a; BGB § 472

1. Die Regelung über das Vorkaufsrecht nach § 20a Satz 1 VermGerfasst nicht nur den Ausschluss der Rückübereignung wegenredlichen Erwerbs nach § 4 Abs. 2 VermG, sondern auch andereFälle, in denen die Rückübertragung des Grundstücks wegen desErwerbs des Eigentums oder eines dinglichen Nutzungsrechtsdurch Dritte ausgeschlossen ist.2. Der Fall des ersten Verkaufs iSd § 20 Abs. 6 Satz 2 VermG kannerst eintreten, nachdem das Vorkaufsrecht durch Eintragung imGrundbuch entstanden ist.

Problemstellung:

Die Parteien stritten um die Einräumung eines Vorkaufsrechtsnach § 20a VermG. Der ursprüngliche Eigentümer des streit-gegenständlichen Grundstücks starb 1975. Da alle Erbberech-tigten die Erbschaft ausschlugen, wurde das Grundstück inVolkseigentum überführt. Drei der insges. sieben Erbberechtigtenstellten am 24.9.1990 gemeinsam einen Antrag auf Rücküber-tragung des Grundstücks, die Kl. – auch eine Erbberechtigte – am13.10.1990.

Durch zwei Bescheide v. 13.9.1991 lehnte das ARoV den Antragder Kl. ab und übertrug das Eigentum am Grundstück den ande-ren drei Anspruchstellern. Auf den Widerspruch der Kl. hob dasLARoV diese Bescheide auf und verwies die Angelegenheit zurerneuten Entscheidung an das ARoV zurück. Auf die gegen dieneuen Bescheide des ARoV jeweils erhobenen Klagen schlossendie Beteiligten vor dem VG am 13.11.2002 einen Vergleich, indem sich der Bekl. verpflichtete festzustellen, dass u.a. die Kl.Berechtigte iSd VermG sei.

Bereits am 11.3.1992 waren auf Ersuchen des ARoV die drei Erb-berechtigten, deren Berechtigung nach dem VermG mit Bescheidv. 13.9.1991 festgestellt worden war, als Eigentümer des Grund-stücks in das Grundbuch eingetragen worden. Durch notariellenKaufvertrag v. 14.4.1992 veräußerten sie das Grundstück an einenDritten, der – nachdem die Stadt E. im Juli 1992 die Grund-stücksverkehrsgenehmigung erteilt hatte – am 13.11.1992 alsEigentümer in das Grundbuch eingetragen wurde. Der neueEigentümer veräußerte das Grundstück mit notariellem Vertragv. 27.4.2001 weiter; der Käufer wurde am 10.9.2001 als Eigentü-mer im Grundbuch eingetragen.

Im Juli 2000 beantragte die Kl. beim ARoV die Einräumungeines Vorkaufsrechts nach § 20a VermG an dem Grundstück. MitBescheid v. 12.3.2001 lehnte das ARoV den Antrag ab, den Wider-spruch der Kl. wies das LARoV zurück, da die Kl. nicht BerechtigteiSd § 2 Abs. 1 VermG sei. In ihrer daraufhin erhobenen Klagebeantragt die Kl., ihr bzw. hilfsweise der Erbengemeinschaft einVorkaufsrecht an dem Grundstück einzuräumen.

Das VG wies die Klage ab: Die Kl. könne nicht für sich im eige-nen Namen die Einräumung eines Vorkaufsrechts beanspruchen,sondern allenfalls gesamthänderisch als eine von mehrerenMiterben. Auch der Hilfsantrag sei unbegründet, da § 20a Satz 1VermG nur den Ausschluss der Rückübertragung wegen redlichenErwerbs nach § 4 Abs. 2 VermG erfasse und nicht den Fall, dassdie Rückübertragung wegen einer wirksam erteilten Grundstücks-verkehrsgenehmigung ausgeschlossen sei.

Die Revision der Kl. war bzgl. des Hilfsantrags erfolgreich.

Bürger l i ches Recht

Neue Justiz 11/2004522

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Der Hauptantrag ist nicht begründet, da nach § 20 Abs. 4 Satz 1VermG, der gem. § 20a Satz 5 VermG sinngemäß anzuwenden ist,das Vorkaufsrecht bei mehreren Anspruchsberechtigten diesengemeinschaftlich zusteht. Diese Regelung schließt einen Anspruchder Kl. auf Einräumung des Vorkaufsrechts an sie allein aus.Das Vorkaufsrecht ist auch nicht gem. § 472 Satz 2 BGB auf ihrePerson reduziert, weil die anderen Miterben nicht fristgemäßeinen Antrag auf Einräumung des Rechts gestellt haben, denndiese Norm regelt nur die Ausübung eines bereits entstandenenVorkaufsrechts bei mehreren Berechtigten.

Die Revision ist aber hinsichtlich des Hilfsantrags begründet.Ein Vorkaufsrecht nach § 20a Satz 1 VermG kann nicht nur danneingeräumt werden, wenn ein Grundstück deshalb nicht zurück-übertragen werden kann, weil Dritte aufgrund redlichen Erwerbsgem. § 4 Abs. 2 VermG ein Eigentumsrecht oder dinglichesNutzungsrecht an ihm erworben haben, sondern auch in ande-ren Fällen des Ausschlusses der Rückübertragung, wie z.B. wegendes Eigentumserwerbs Dritter aufgrund einer Grundstücksver-kehrsgenehmigung. § 20a VermG trägt dem Affektionsinteressedes Berechtigten an dem Grundstück dadurch Rechnung, dass derBerechtigte die Möglichkeit erhält, das Grundstück zurück-zuerwerben, wenn der derzeitige Eigentümer es weiterverkauft.Ausgehend von dieser Zielsetzung besteht das Bedürfnis an einemInteressenausgleich in allen Fällen des Restitutionsausschlusses undnicht nur beim Restitutionsausschluss wegen redlichen Erwerbs.

Diese Auffassung wird durch die Erläuterungen der Bundes-regierung zu § 20 Abs. 2 VermG aF bestätigt, der vor Einfügungdes § 20a VermG durch das RegVBG v. 20.12.1993 (BGBl. IS. 2182) die entsprechende Regelung enthielt. Darin wird derredliche Erwerb gem. § 4 Abs. 2 u. 3 VermG nur als Beispiel fürden Ausschluss eines Rückübertragungsanspruchs bezeichnet.Weiteres dort angeführtes Beispiel ist die Veräußerung nachAblauf der Anmeldefrist gem. § 3 Abs. 4 Satz 3 VermG. Entschei-dend ist nur, »dass der Berechtigte sein früheres Grundstück nichtzurückerhält und an diesem zwischenzeitlich Eigentums- oderdingliche Nutzungsrechte begründet worden sind« (BT-Drucks.11/7831, S. 12).

Das Vorkaufsrecht ist auch nicht dadurch untergegangen, dassdie Käuferin des Grundstücks dieses zwischenzeitlich weiter-veräußert hat. Zwar gilt das Vorkaufsrecht gem. § 20a Satz 5 iVm§ 20 Abs. 6 Satz 2 VermG nur für den Fall des ersten Verkaufs.Durch diese Formulierung wird aber mit Blick auf § 1097 BGBlediglich zum Ausdruck gebracht, dass es nur einmal, nämlichanlässlich des ersten Verkaufs, ausgeübt werden kann (BT-Drucks.12/6228, S. 104). Damit diese Möglichkeit besteht, muss dasVorkaufsrecht bereits entstanden sein. Dies setzt gem. § 20a Satz 5iVm § 20 Abs. 6 Satz 1 VermG voraus, dass der Bescheid, mitwelchem dem Antrag auf Einräumung des Vorkaufsrechts statt-gegeben wurde, unanfechtbar geworden und die Eintragung imGrundbuch erfolgt ist. Vor diesem Zeitpunkt liegende Verkäufeberühren das Vorkaufsrecht nicht, weil es sonst in der Hand desEigentümers läge, durch einen Verkauf, auf den der Vorkaufs-berechtigte keinen Einfluss hat, das Recht zum Untergang zubringen. § 20 Abs. 6 Satz 3 VermG steht dieser Auslegung nichtentgegen, weil ihm nur klarstellende Funktion dahingehendzukommt, dass der Abschluss eines Kaufvertrags vor Eintragungdes Vorkaufsrechts im Grundbuch noch keinen Fall des § 20Abs. 6 Satz 2 VermG darstellt.

Kommentar:

Grund für den Rechtsstreit war ein Fehler des ARoV. Das ARoV hatnach § 34 Abs. 2 Satz 1 VermG die Pflicht, im Falle der Rücküber-

tragung ein entsprechendes Berichtigungsersuchen beim Grund-buchamt zu stellen. Allerdings darf dieses Ersuchen erst gestelltwerden, wenn die Entscheidung über die Rückübertragungunanfechtbar geworden ist. Dies ergibt sich mittelbar aus § 34Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VermG sowie aus § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GVO.Im vorliegenden Fall hat das ARoV das Ersuchen offensichtlichbereits gestellt, als die Rechtsmittelfrist noch lief, und zudem dasErsuchen dann nach Eingang des Widerspruchs gegen den Resti-tutionsbescheid nicht zurückgenommen. Durch die aufgrund desARoV-Antrags erfolgte Grundbucheintragung musste die Stadt E.davon ausgehen, dass beim ARoV keine ungeklärten Restitu-tionsansprüche mehr vorliegen, und erteilte – aus ihrer Perspek-tive zu Recht – die Grundstücksverkehrsgenehmigung.

Somit kam es zu einer atypischen Situation, die vom Gesetz-geber nicht – zumindest nicht ausdrücklich – geregelt wurde.Das BVerwG hat eine Lösung gefunden, die derjenigen Rechtslageentspricht, die bestanden hätte, wenn das ARoV ordnungsgemäßgehandelt hätte. Dieser Lösungsweg überzeugt, denn nur so kanndie vom Gesetzgeber gewollte Berücksichtigung des Affektions-interesses des Berechtigten umgesetzt werden. Die Alternativewäre gewesen, den Berechtigten auf einen Amtshaftungsanspruchgegen das ARoV zu verweisen – aber wie soll hier ein Schadenbeziffert werden?

Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass sich die Rspr. zumRestitutionsrecht meist am Sinn und Zweck des Gesetzes orien-tiert und nicht so sehr am Wortlaut einzelner Bestimmungen.

Prof. Dr. Joachim Gruber, D.E.A. (Paris I),Westsächsische Hochschule, Zwickau

� 04.2 – 11/04

Bindungswirkung des Rehabilitierungsbescheids im nachfolgen-den Restitutionsverfahren

BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2004 – 7 C 21/03 (VG Schwerin)

VermG §§ 1 Abs. 7, 2 Abs. 1 Satz 1; VwRehaG §§ 9 Abs. 1, 12 Abs. 1Satz 3

1. Die Bindungswirkung eines Rehabilitierungsbescheids nach§ 12 Abs. 1 Satz 3 VwRehaG hindert das Vermögensamt, in nach-folgenden Restitutionsverfahren die Rückübertragung des ent-zogenen Vermögenswerts mit der Begründung abzulehnen, eineRechtsnachfolge scheide schon dem Grunde nach aus.2. Die Bindungswirkung eines Rehabilitierungsbescheids ist zuGunsten solcher Verfügungsberechtigter eingeschränkt, denendie Möglichkeit genommen war, den Rehabilitierungsbescheidmit Einwendungen gegen die Berechtigung des Antragstellersanzufechten.

Problemstellung:

Der Kl. begehrte die vermögensrechtliche Rückübertragung meh-rerer Grundstücke. Sein Vater erhielt 1946 aus der Bodenreformeine Neubauernstelle zugeteilt; er wurde 1961 mit seiner Familiezwangsumgesiedelt und die verlassene Neubauernstelle wurde inVolkseigentum überführt. Rechtsträger einer Teilfläche mit denGebäuden der Hofstelle wurde der Rat der Gemeinde B. Eigentü-mer dieses Grundstücks ist heute die Beigel. zu 4. Sie hat es 1991an die Beigel. zu 1 u. 2 verkauft, zu deren Gunsten eine Vormer-kung im Grundbuch eingetragen ist. Im Übrigen wurde Rechts-träger eine LPG. Diese Grundstücke stehen heute im Eigentum derBeigel. zu 3.

Der Vater des Kl. verstarb 1984 und wurde von diesem beerbt.Auf Antrag des Kl. hob die Rehabilitierungsbehörde mit Bescheidvon 1996 die Zwangsumsiedlung auf und erklärte die Entziehung

Rechtsprechung Verwaltungsrecht

523Neue Justiz 11/2004

der Neubauernstelle für rechtsstaatswidrig. Durch die Enteignungliege beim Erben heute noch eine schwere und unzumutbareBeeinträchtigung vor; der Kl. wäre im Erbgang Eigentümer desGrundstücks geworden.

Die Klage der Beigel. zu 3. gegen den Rehabilitierungsbescheidhatte auch vor dem BVerwG (3. Senat) keinen Erfolg: Die Beigel.werde durch den Bescheid auch dann nicht in ihren Rechten ver-letzt, wenn dadurch der Kl. als Berechtigter iSv § 2 Abs. 1 Satz 1VermG feststehe (Urt. v. 14.6.2001, NJ 2001, 607 [bearb. v. Keßler] ).

Bereits 1998 hatte der Bekl. den Restitutionsantrag des Kl.abgelehnt, weil dieser hinsichtlich der Neubauernstelle nichtRechtsnachfolger seines Vaters sei. Auf seine Klage erhob das VGBeweis über die Verwaltungspraxis der DDR bei Überprüfungender Rechtsnachfolge bzgl. Neubauernstellen durch Vernehmungeines früheren Mitarbeiters des DDR-Landwirtschaftsministe-riums. Es wies die Klage mit der Begründung ab, mit der Reha-bilitierungsentscheidung stehe die Rückgabeberechtigung desfrüheren Rechtsinhabers, nicht aber die Rechtsnachfolge fest.Zudem müsse aus Gründen rechtlichen Gehörs dem Verfügungs-berechtigten die im Rehabilitierungsverfahren ausgeschlosseneRechtsverteidigung im Restitutionsverfahren möglich sein. DieBodenreformstelle wäre zwar mit dem Tode des Erblassers beimErben angefallen. Jedoch hätten staatliche Stellen nach deneinschlägigen Besitzwechselverordnungen entscheiden müssen,ob der Erbe das Bodenreformeigentum habe behalten dürfen.Rechtsnachfolger iSd § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG könne nur ein staat-lich bestätigter Erbe sein.

Mit seiner dagegen gerichteten Revision machte der Kl. geltend,das VG habe die Bindungswirkung des Rehabilitierungsbescheidsverkannt. Als Rechtsnachfolger komme nur er in Betracht; dieshabe auch die Beweisaufnahme ergeben. Die Beigel. zu 3. u. 4. alsTräger öffentlichen Rechts seien nicht grundrechtsfähig undhätten daher keinen Anspruch auf rechtliches Gehör.

Die Revision hatte keinen Erfolg.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

1. Das VG durfte entscheiden, ob der Kl. Rechtsnachfolger seinesVaters ist.

a) Nach § 12 Abs. 1 Satz 3 VwRehaG sind die Feststellungen derRehabilitierungsbehörde bindend für die Stellen, die über Folge-ansprüche entscheiden. Die Bindung umfasst die Feststellung deranspruchsbegründenden Voraussetzungen, nämlich ob (1.) eineVerwaltungsmaßnahme einer deutschen behördlichen Stelle imBeitrittsgebiet zwischen dem 8.5.1945 und dem 2.10.1990, die(2.) mit Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbarist und (3.) zu einem Eingriff in eines der Rechtsgüter Gesundheit,Vermögen oder Beruf geführt hat, vorliegt; schließlich müssen(4.) die Folgen des Eingriffs noch unmittelbar schwer und unzu-mutbar fortwirken.

Bei Eingriffen in die Gesundheit ist die Rehabilitierungs-behörde auf eine bloße Schlüssigkeitsprüfung beschränkt (Urt. v.9.10.2003, NJ 2004, 185 [bearb. v. Keßler] ), während sie beimRechtsgut Vermögen abschließend feststellt, ob eine rechtsstaats-widrige Maßnahme zu einem noch fortwirkenden Eingriff geführthat. § 1 Abs. 7 VermG ist eine bloße Rechtsfolgenverweisung.Werden Vermögensentziehungen nach dem VwRehaG aufgeho-ben, besteht grundsätzlich die Pflicht zur Rückgabe (Urt. v.25.2.1999, BVerwGE 108, 315; Parallelverfahren: NJ 1999, 275).Anspruchsberechtigt ist auch der Erbe (Urt. v. 29.8.1996, Buch-holz 428 § 2 VermG Nr. 23 = NJ 1997, 55 [Leits.]).

Mit der bindenden Feststellung der Rehabilitierungsbehörde,dass der Vermögenswert dem Grunde nach dem Rechtsnachfolger

des unmittelbar Geschädigten zurückzuübertragen ist, ist aberdie Person des Rechtsnachfolgers noch nicht festgelegt, da nach§ 9 Abs. 1 VwRehaG nach dem Tod des unmittelbar Geschädigtenjeder antragsberechtigt ist, der ein rechtliches Interesse an derRehabilitierung hat. Dafür reicht es, wenn der Antragsteller alsRechtsnachfolger iSd § 2 Abs. 1 VermG in Betracht kommt.Nimmt die Rehabilitierungsbehörde an, der Antragsteller habeein berechtigtes Interesse, weil er als Rechtsnachfolger die Rück-übertragung verlangen könne, ist damit nur eine vorläufigeBeurteilung ausgesprochen. Das Vermögensamt ist nicht gehin-dert zu prüfen, ob der Antragsteller wirklicher Erbe des Geschä-digten ist.

b) Die Bindung an die Feststellung des Rehabilitierungsbe-scheids, der einer Feststellung der Berechtigung nach § 2 Abs. 1Satz 1 VermG gleichkommt (Urt. v. 25.2.1999, aaO), wirkt nichtzu Lasten der Beigel. zu 3. u. 4. Für sie ist der Rehabilitierungsbe-scheid der Rechtsgrund, aus dem ihnen ihr Eigentum entzogenwerden kann. Sie müssen die Möglichkeit haben, die Fehlerhaf-tigkeit des Bescheids gerichtlich geltend zu machen. Wenn ihnendies im Rehabilitierungsverfahren nicht möglich war, muss ihnendiese Befugnis im Restitutionsverfahren eingeräumt werden. Aufdie fehlende Grundrechtsfähigkeit der beigel. Gemeinde kommtes nicht an, da ihr bürgerlich-rechtliches Eigentumsrecht jeden-falls einfachrechtlich geschützt ist; insoweit ist ihr wie jedemProzessbeteiligten wirkungsvoller Rechtsschutz garantiert.

Die Beigel. zu 3. u. 4. waren gehindert, gegen den Rehabili-tierungsbescheid vorzugehen, da das BVerwG der Beigel. zu 3.unabhängig von dessen Bindungswirkung die Klagebefugnisabgesprochen hat. Dass die Beigel. zu 4. nicht geklagt hat, ist uner-heblich, da sie nicht am Verfahren beteiligt war und sich ihrnamentlich im Lichte der späteren Entscheidung des BVerwG dieAnfechtbarkeit des Rehabilitierungsbescheids nicht aufdrängenmusste.

2. Der Kl. ist hinsichtlich des Bodenreformeigentums nichtRechtsnachfolger seines Vaters iSd § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG, daes schon zu dessen Lebzeiten in Eigentum des Volkes übergegan-gen ist (st.Rspr; zuletzt Beschl. v. 20.5.2003, Buchholz 428 § 2VermG Nr. 73 = NJ 2003, 497 [Leits.]). Das Eigentum konnte zwarauf den Erben des Bodenreformeigentümers übergehen, jedochnicht allein nach dem bürgerlichen Erbrecht, sondern nur durch(erneute) staatliche Übertragung nach den Vorschriften derBesitzwechselverordnungen (ebenso im Ergebnis BGHZ 140, 223= NJ 1999, 203).

Dem steht das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht entgegen,da das VG den sachverständigen Zeugen dahin verstanden hat,dass jede Eigentumsumschreibung im Grundbuch ein staatlichesTätigwerden erfordert habe. Aus der Aussage ergibt sich nur, dassnach Abschluss der Kollektivierung der Landwirtschaft kein staat-liches Interesse mehr bestand, Eigentumswechsel durch Erbschaftim Grundbuch nachzuvollziehen. Deshalb ist der Staat nur aufInitiative des Erben tätig geworden.

Kommentar:

Das Urteil schließt die Rechtsschutzlücke, die nach dem Urteil des3. Senats v. 14.6.2001 drohte (vgl. dazu meinen Komm. in NJ2001, 608), vollständig und – was den vorliegenden Fall betrifft –auf nicht unerwartete Weise.

Hinsichtlich der Ausführungen zu 1. a) ist der Inhalt des Reha-bilitierungsbescheids unklar: Während es im Urt. v. 14.6.2001(aaO) noch hieß, der Kl. ist nach dem Tode des Vaters Eigentümerder Grundstücke geworden, soll nach der jetzigen Entscheidungdes 7. Senats die Rehabilitierungsbehörde festgestellt haben, derKl. wäre es geworden. Unabhängig davon erscheint es jedenfalls

Verwaltungsrecht

Neue Justiz 11/2004524

als Kunstgriff, die offenbar ausdrückliche Feststellung der Resti-tutionsberechtigung im Rehabilitierungsbescheid im Lichte des§ 9 Abs. 1 VwRehaG in eine schlichte Antragsberechtigung umzu-deuten. Dass danach die Feststellung der Rechtsnachfolge los-gelöst von der Person eines Rechtsnachfolgers bindend sein soll(vgl. 1. Leits.) erweist sich als bedeutungslos, da nach der unter 2.bestätigten Rspr. niemand als Rechtsnachfolger in Frage kommt.

Tragfähiger und vor allem nicht nur im vorliegenden Sonder-fall des Bodenreformeigentums, sondern auch im Regelfall unbe-schränkt vererblichen »vollwertigen« Eigentums anwendbar istdie auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes gestützte zweiteBegründungssäule unter 1. b), mit der der 7. Senat die vom 3. Senataufgestellte Zwickmühle gelöst hat. Der Ansatz ist im Ergebnisüberzeugend und schließt sich konsequent an die Rspr. zu solchenFällen an, bei denen Verfügungsberechtigte in rein vermögens-rechtlichen Konstellationen im Falle behördlich festgestellterRestitutionsausschlussgründe trotz fehlender Beschwer auch dieBerechtigtenfeststellung angreifen und damit zum Gegenstandder gerichtlichen Überprüfung machen können (Urt. v.16.4.1998, NJ 1998, 493 [bearb. v. Kolb]; v. 15.7.1998, NJ 1998,663 [bearb. v. Keßler], und v. 28.3.2001, NJ 2001, 556 [bearb. v.Schmidt]).

Literaturhinweis:

Zur Rechtsnatur des Eigentum aus der Bodenreform und zur erb-rechtlichen Nachfolge siehe L. Schramm, NJ 2004, 448 ff. (450).

RiVG Ulrich Keßler, Berlin

� 04.3 – 11/04

Zuverlässigkeit von Flughafenbediensteten und frühere MfS-Tätigkeit

BVerwG, Beschluss vom 15. Juli 2004 – 3 C 33/03 (OVG Bautzen)

LuftVG §§ 19b Abs. 1 Nr. 3, 29d; Luftverkehr-Zuverlässigkeits-überprüfungsVO §§ 5, 6, 9

1. Eine frühere Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter beim Staats-sicherheitsdienst der ehem. DDR kann nur dann Zweifel an derluftverkehrsrechtlichen Zuverlässigkeit eines Flughafenmitarbei-ters begründen, wenn das damalige Verhalten Grund für dieAnnahme gibt, beim Überprüfen sei aktuell oder künftig einVerstoß gerade gegen die Anforderungen an die Sicherheit desLuftverkehrs zu befürchten. 2. Zuverlässig iSv § 29d LuftVG ist nur, wer die Gewähr dafürbietet, die ihm obliegenden Pflichten zum Schutz vor Angriffenauf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor Flugzeug-entführungen und Sabotageakten, jederzeit in vollem Umfang zuerfüllen. Wegen des gerade beim Luftverkehr hohen Gefähr-dungspotenzials und der Hochrangigkeit der zu schützendenRechtsgüter sind dabei strenge Anforderungen zu stellen. DieZuverlässigkeit ist bereits dann zu verneinen, wenn an ihr auchnur geringe Zweifel bestehen. 3. Bei der Beurteilung, ob der Überprüfte nach dem Gesamtbildseiner Persönlichkeit das erforderliche Maß an Verantwor-tungsbewusstsein und Selbstbeherrschung aufbringt, um selbstbei dem In-Aussicht-Stellen von Vorteilen oder der Androhungvon Nachteilen die Belange der Sicherheit des Luftverkehrs zuwahren, ist u.a. auf den Grund für die Bereitschaft zur Zusam-menarbeit mit dem MfS und für ihre Beendigung, ihre Dauerund Intensität sowie den Inhalt und Umfang der vom Inoffi-ziellen Mitarbeiter erstatteten Berichte abzustellen. Danebenist insbesondere auch das Verhalten nach 1989 zu berücksich-tigten.

4. Der Luftfahrtbehörde steht bei der Feststellung der Zuver-lässigkeit der überprüften Person kein Beurteilungsspielraum zu;die behördliche Entscheidung unterliegt in vollem Umfang dergerichtlichen Überprüfung.

Anm. d. Redaktion: Siehe dazu die Information in NJ 9/04, IV. Zu den Kriterien für die erforderliche Würdigung des Einzelfalls vgl. insbes.BVerwGE 106, 153, 158 f. = NJ 1998, 384 (Leits.); E 108, 64, 68 f. =NJ 1999, 329 (Leits.).

� 04.4 – 11/04

Planfeststellung und Entschädigung im nachfolgenden Enteig-nungsverfahren

BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2004 – 9 A 21/03

EnteignungsG LSA §§ 5 Abs. 3, 10 Abs. 1 Satz 1; FStrG § 19 Abs. 5;GG Art. 14 Abs. 1 u. 3; VwVfG LSA § 74 Abs. 2

Wird durch einen Planfeststellungsbeschluss der unmittelbareZugriff auf ein Teilgrundstück ermöglicht, so ist über eineEntschädigung für die Folgewirkungen dieses Zugriffs auf dasRestgrundstück – anders als über den Ausgleich für mittelbareplanungsbedingte Grundstücksbeeinträchtigungen – nicht imPlanfeststellungs-, sondern im nachfolgenden Enteignungsver-fahren zu entscheiden. Das gilt namentlich auch für die Frage,ob dem Enteignungsbetroffenen wegen derartiger Folgewir-kungen ein Anspruch auf Übernahme des Restgrundstückszusteht.

Anm. d. Redaktion: Die gegen den Planfeststellungsbeschluss des Regie-rungspräsidiums Magdeburg v. 28.2.2003 für die Verlegung der Bundes-straßen B 71 u. B 248 einschließl. der Anbindung der Kreisstr. K 1002und der Beseitigung plangleicher Bahnübergänge (FernbahnstreckeStendal-Uelzen) gerichtete Klage von Grundstückseigentümern hattekeinen Erfolg.

� 04.5 – 11/04

Gewährung von Altersteilzeit in der Justiz

OVG Greifswald, Beschluss vom 11. Mai 2004 – 2 M 62/04 (VG Greifswald) (rechtskräftig)

LBG M-V § 80a

Zu den der Gewährung von Altersteilzeit entgegenstehendenBelangen zählt auch die Gefährdung der angemessenen Bewäl-tigung der bisher von dem Beamten konkret wahrgenommenenAufgaben.

Die Ast. ist Justizbeamtin und begehrt vorläufigen Rechtsschutz,um ab 1.6.2004 Altersteilzeit (im Blockmodell) gewährt zubekommen.

Das VG hat die beantragte einstweilige Anordnung abgelehnt,weil es an einem Anordnungsanspruch fehle.

Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

Das VG hat den Anordnungsanspruch mit der Begründungverneint, dass der Bewilligung von Altersteilzeit im Falle der Kl.dringende dienstliche Belange iSv § 80a Abs. 1 Nr. 4 LBG M-Ventgegenstünden. Zu diesen Belangen zählt auch die Gefähr-dung der angemessenen Bewältigung der bisher von dem Beam-ten, der die Altersteilzeit begehrt, konkret wahrgenommenenAufgaben.

Rechtsprechung Verwaltungsrecht

525Neue Justiz 11/2004

Der Ag. hat sich (…) darauf berufen, dass angesichts derderzeitigen Belastungssituation bei dem AG N. das Ausscheidender Ast. zu einer dauernden Überbelastung der verbleibendenMitarbeiter führen würde. Der Präsident des OLG hatte imWiderspruchsbescheid bereits auf die entsprechende Belastungs-situation im betroffenen Beamtenbereich der ordentlichen Justizdes Landes hingewiesen.

Wenn die Ast. demgegenüber meint, es würde mit ihrem Aus-scheiden nicht zwingend zum Wegfall einer Stelle beim AG N.kommen, so mag dies zwar zutreffen. Es würde aber nichts daranändern, dass sie als Arbeitskraft ausfiele, und die voraussichtlich inunverminderter Menge anfallenden Aufgaben gleichwohl bewältigtwerden müssten, ohne dass personelle Reserven verfügbar wären.

Auf eine fehlerhafte Ermessensbetätigung bzw. eine Verletzungdes Gleichheitsgrundsatzes kann die Ast. sich bereits deshalbnicht berufen, weil ihrem Begehren ein auch vom Ag. zwingendzu beachtendes rechtliches Hindernis (§ 80a Abs. 1 Nr. 4 LBGM-V) entgegensteht.

� 04.6 – 11/04

Ausbildungsförderung und Aufteilung des Freibetrags bei getrenntlebenden Ehegatten

OVG Bautzen, Urteil vom 11. August 2004 – 5 B 497/03 (VG Chem-nitz) (Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt)

BAföG § 25 Abs. 3

Wird bei getrennt lebenden Ehegatten das Einkommen des einenbereits durch den Freibetrag aus § 25 Abs. 1 Nr. 2 BAföG anrech-nungsfrei, ist dem anderen Ehegatten ein nach § 25 Abs. 3 Satz 1Nr. 2 BAföG bestehender weiterer Freibetrag ohne hälftigeKürzung anzurechnen.

� 04.7 – 11/04

Gebühr für die Erteilung einer Abbruchgenehmigung

OVG Greifswald, Urteil vom 14. April 2004 – 1 L 344/02 (VG Greifswald)(rechtskräftig)

VwKostG M-V §§ 1, 2, 6, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 13 Abs. 1; AO § 39; KAG M-V §§ 1 Abs. 3, 6 Abs. 3, 12 Abs. 1

1. Gebührenschuldner nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 VwKostG M-V istderjenige, der die Amtshandlung veranlasst; das ist im Falle einerAbbruchgenehmigung derjenige, der diese beantragt (Bauherr).§ 39 AO ist – mangels Regelungslücke – nicht entsprechendanwendbar. Die BVVG ist nicht nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 VwKostG M-V von derZahlung solcher Verwaltungsgebühren befreit. Mangels einerRegelungslücke ist die Vorschrift nicht analog auf juristischePersonen des Privatrechts anwendbar. Dies gilt auch im Hinblickauf die 3. DVO zum TreuhG bzw. den Geschäftsbesorgungsver-trag zwischen der BVVG und der BvS. 2. Ein Gebührenrahmen von 100 DM bis 2.000 DM für eineAbbruchgenehmigung ist rechtlich unproblematisch. Es ist eineFrage der Rechtsanwendung, diesen Rahmen durch Ermessens-erwägungen im Einzelfall und/oder durch ermessensbindendeVerwaltungsvorschriften auszufüllen. Ein als Verwaltungsvorschrift erlassener Gebührentarif ist alsantizipierte Ermessenserwägung anzusehen, sodass die Behördenicht generell gehalten ist, in Gebührenbescheiden wegen § 9Abs. 1 VwKostG M-V weitere Ermessenserwägungen anzustellen. 3. Das Abbruchvolumen ist jedenfalls dann ein geeigneter undpraktikabler Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Bestimmung der

Abbruchgebühr, wenn zusätzlich die Komplexität der Bausub-stanz durch eine Staffelung nach Bauwerksklassen Berücksichti-gung findet. Diese Kriterien sind zur Ausfüllung des § 9 Abs. 1VwKostG M-V geeignet. Unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten ist die Annahme gutvertretbar, dass mit zunehmendem umbauten Raum, d.h. einemgrößeren Bauvolumen, und einer höheren Bauwerksklasse i.d.R.der Verwaltungsaufwand für die Erteilung der Abbruchgeneh-migung steigt. Die beiden gewählten Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe (umbauterRaum und Bauwerksklasse) sind hinreichend geeignete Kriterienzur Ausfüllung des in § 9 Abs. 1 VwKostG M-V vorgesehenenGesichtspunkts der Bedeutung, des wirtschaftlichen Wertes oderdes sonstigen Nutzens der Amtshandlung für den Gebühren-schuldner. Ebenso wie es nach Auffassung des Senats rechtlichzulässig ist, den Wert der Baugenehmigungsgebühren an eineRohbausumme zu koppeln (vgl. OVG Greifswald, Urt. v.20.5.2003, NVwZ-RR 2004, 165 = DÖV 2004, 264, mwN), ist eszulässig, den Wert einer Abbruchgenehmigung an die Abbruch-kosten zu binden. 4. Bei einem Rauminhalt von 7.392 m3 und der Bauwerksklasse 3ist für den Senat nicht ersichtlich, dass eine Abbruchgebühr von2.000 DM in einem Missverhältnis zum erbrachten Verwaltungs-aufwand steht; das Äquivalenzprinzip ist somit nicht verletzt. 5. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GGist nicht unter dem Gesichtspunkt der willkürlichen Gleich-behandlung zu bejahen, wenn die Gruppe der Gebäude mit mehrals 2.196 m3 Rauminhalt mit einer einheitlichen Gebühr (hier2.000 DM) belegt wird. Vielmehr hält sich dies im Rahmen einerzulässigen Typisierung.

Anm. d. Redaktion: Mit seiner Entscheidung hat das OVG die Berufungder Kl. (BVVG) gegen das erstinstanzliche Urteil, mit dem die Klage aufGebührenbefreiung bzgl. der erteilten Abbruchgenehmigung für eineScheune abgewiesen worden war, zurückgewiesen.

� 04.8 – 11/04

Erstattungsansprüche nach fehlgeschlagener Zwecksverbands-gründung

OVG Weimar, Grundurteil vom 25. Februar 2004 – 4 KO 703/01(VG Gera) (rechtskräftig)

AO 1977 §§ 37 Abs. 2, 226 Abs. 1, 228; VwGO § 111; ThürKAG §§ 12, 15; Thür. Ges. über die kommunale Gemeinschafts-arbeit (ThürKGG) § 19 Abs. 1; ThürBekVO § 2

1. Allein die Bezeichnung als »Amtsblatt« schließt auch nachIn-Kraft Treten der ThürBekVO nicht grundsätzlich aus, dass dieunter dieser Überschrift erfolgten Bekanntmachungen Teil einerZeitung sein können. 2. Ein mit einer Zeitung verbreitetes, aber als eigenes Druckwerkgestaltetes und herausgegebenes Amtsblatt, das nicht allenAnforderungen der ThürBekVO an ein Amtsblatt genügt, wirddadurch nicht gewissermaßen ersatzweise zu einer Zeitung oderzum Teil der Zeitung, mit der es vertrieben wird. 3. Ein fehlerhafter Zweckverband ist kein rechtliches »nullum«,sondern ein körperschaftlich strukturierter, öffentlich-rechtlicherVerband eigener Art, dem keine Hoheitsrechte zustehen, derjedoch für die Rückabwicklung von fehlgeschlagenen öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen im eigenen Namen teilrechts-fähig und im Verwaltungsprozess beteiligtenfähig ist. 4. Die von einem fehlerhaften Zweckverband eingegangenenVer- und Entsorgungsverhältnisse sind öffentlich-rechtlicher undnicht privatrechtlicher Natur.

Verwaltungsrecht

Neue Justiz 11/2004526

5. Zum Erstattungsanspruch eines fehlerhaften Zweckverbandsfür die tatsächlich geleisteten Wasserver- und Abwasserentsor-gungsleistungen und zur Aufrechnung im Prozess um die Rück-zahlung geleisteter Benutzungsgebühren.

Anm. d. Redaktion: Zur Problematik fehlgeschlagener Zweckverbands-gründung siehe auch OVG Bautzen, NJ 2003, 665 (bearb. v. Lühmann);OVG Weimar, NJ 2004, 138 (bearb. v. Lühmann); OVG Bautzen, NJ2004, 238 (bearb. v. Preschel). Zur Erhebung von Wasserversorgungs-/Abwasserentsorgungsbeiträgen siehe OVG Frankfurt (Oder), NJ 2004,280 u. 377 (jew. Leits.).

� 04.9 – 11/04

Sozialhilfeleistung für Brillengläser

VG Potsdam, Beschluss vom 27. Juli 2004 – 7 L 643/04 (rechtskräftig)

BSHG §§ 37 Abs. 1, 38; SGB V §§ 33, 264; Regelsatz-VO § 1 Abs. 1

Ein Sozialhilfeempfänger, der das 18. Lebensjahr vollendet hatund nicht eine schwere Sehschwäche von mindestens der Stufe 1entsprechend der von der WHO empfohlenen Klassifikation desSchweregrades der Sehbeeinträchtigung aufweist, muss dieanfallenden Kosten für die Beschaffung neuer Brillengläser ausder Hilfe zum Lebensunterhalt bestreiten. (Leitsatz des Bearbeiters)

Problemstellung:

Der 62-jährige Ast. erhält Sozialhilfe in Höhe des Regelsatzes von283 € im Monat. Er beantragte beim Sozialamt des Ag. die Über-nahme von Kosten für neue Brillengläser i.H.v. 219 € laut einesvon ihm vorgelegten Kostenvoranschlags. Diesen Antrag begrün-dete er damit, dass sich seine Sehstärke verändert habe (+4,5bzw. +2,0 Dioptrien) und seine Krankenkasse die Kosten für dieBrillengläser nicht übernimmt. Der Ag. lehnte den Antrag ab.

Durch die Neuregelung des Gesetzes zur Modernisierung dergesetzlichen Krankenversicherung v. 14.11.2003 (GMG, BGBl. I,2190) werden die Kosten für Brillengläser gem. § 33 Abs. 1SGB V nF nicht mehr von der Krankenkasse erstattet. Eine ein-malige Leistung gem. § 21 BSHG kann nicht in Betracht kommen,da durch Art. 29 GMG (Änderung der Regelsatz-VO) Kostenfür Krankheit als Bestandteil des Regelsatzes definiert werden,sofern sie nicht gem. §§ 36-38 BSHG nF übernommen werden.Gem. § 37 Abs. 1 Satz 1 BSHG kann das Sozialamt nur solcheKosten des (nicht krankenversicherten) Sozialhilfeempfängersübernehmen, die die Krankenversicherung für die gesetzlich Ver-sicherten tragen würde. Brillengläser fallen nicht mehr darunter.

Der Antrag des Ast., den Ag. im Wege der einstweiligen Anord-nung zu verpflichten, ihm Leistungen für die Neuanfertigungvon Brillengläsern zu gewähren, wurde vom VG abgelehnt.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Durch Art. 28 Nr. 4 c GMG ist die in § 38 Abs. 2 BSHG aF vorge-sehene Grundlage für die Gewährung einmaliger Hilfen für einenvon den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen nichtumfassten Bedarf entfallen. Eine Leistungsverpflichtung desSozialamtes besteht auch deshalb nicht, weil § 37 Abs. 1 Satz 1BSHG auf die Leistungsvorschriften der §§ 27 ff. SGB V verweist,die durch Art. 1 Nr. 13 ff. GMG entscheidend verändert wordensind. Art. 1 Nr. 20 GMG ändert den § 33 SGB V dahingehend ab,dass nur noch Versicherte, die das 18. Lebensjahr noch nichterreicht haben, einen Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfenhaben, wobei dieser Anspruch grundsätzlich auf den Ersatz derKosten der Gläser beschränkt ist. Versicherte, die das 18. Lebens-jahr vollendet haben, erhalten die Kosten nur ersetzt, wenn auf

beiden Augen eine Sehbeeinträchtigung von mindestens derStufe 1 entsprechend der von der WHO empfohlenen Klassifi-kation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung gegeben ist.Dies ist beim Ast. offensichtlich nicht der Fall.

Der Gesetzgeber hat mit den Neuregelungen eine weitgehendeGleichstellung von Sozialhilfeempfängern mit den Beziehernkleiner, knapp über dem Sozialhilfebedarf liegender Einkommenerzielen wollen. Der gesetzlichen Änderung liegt der Gedankezugrunde, dass der Betroffene über entsprechende Ansparmög-lichkeiten für eine neue Brille rechtzeitig Sorge tragen muss undsich ab dem 18. Lebensjahr auf eine Verschlechterung seinerSehfähigkeit entsprechend einzustellen hat.

Die Praxis wird zu erweisen haben, ob unzumutbare sozialeHärten eintreten, die gesetzliche Korrekturen erforderlich machen.

Kommentar:

Das GMG ist Bestandteil der Umstrukturierung im bundes-deutschen Sozialversicherungsrecht, zu der u.a. auch die vier»Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« (imVolksmund: »Hartz I, II, II, IV«) gehören. Die in der Öffentlich-keit am meisten diskutierte Neuregelung im GMG ist die durch§ 28 Abs. 4 SGB V eingeführte Praxisgebühr von 10 €/Quartal.Das GMG sieht darüber hinaus weitere Beschränkungen von Leis-tungen der Krankenkassen vor mit beträchtlichen Auswirkungen,z.B. für Sozialhilfeempfänger. Dass an eine Veränderung dieserBestimmungen gedacht wird, ist derzeit nicht absehbar.

Das VG wendet die durch das GMG geänderten Vorschriftendes BSHG und SGB V – nach meiner persönlichen Auffassung –rechtlich zutreffend an. Das Ergebnis ist allerdings in jeglicherHinsicht wenig befriedigend.

Die Neuregelung des GMG hat zur Folge, dass ein Sozialhilfe-empfänger Brillengläser aus seinem Regelsatz von 283 € bezah-len muss, es sei denn, er ist derartig schwer sehbehindert, dasser die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Satz 4 SGB V nF erfüllt.Letzteres wird auf die überwiegende Mehrheit der Sozialhilfe-empfänger nicht zutreffen.

Dem Hinweis des Ag. auf mögliche verfassungsrechtlicheProbleme dieser Neuregelung, zu denen er als Organ der Exeku-tive keine Aussagen treffen könne, wich das Gericht mit derBegründung aus, dass im einstweiligen Rechtsschutz die Verfas-sungsmäßigkeit der Neuregelung nicht geprüft werden könne.Das VG verwies den Ast. damit auf den Instanzenzug, der im Falleder Verwaltungsgerichtsbarkeit durchaus länger dauern dürfte,weshalb der Ast. mit einer endgültigen Entscheidung in diesemJahrzehnt wohl nicht mehr rechnen kann.

In der Sache ist Folgendes kritisch anzumerken: Es ist keines-wegs ungewöhnlich, dass die Neuanschaffung von Brillengläsernden Betrag von 283 € übersteigt. Dass ältere Menschen nicht ganzbillige Bifokalgläser für die Nah- und Fernsicht benötigen, ist eindurchaus geläufiger Fall. Wenn neben der Kurz- oder Weitsichtig-keit eine Hornhautverkrümmung hinzutritt, können in extremenFällen die Gläser – mit entsprechenden Prismen versehen – 600bis 700 € kosten, ohne dass die Voraussetzungen der Empfeh-lungen der WHO gegeben wären. Der Kommentator verfügtdurchaus über Phantasie. Wie aber ein Sozialhilfeempfänger miteinem Regelsatz von 283 € im Monat einen Betrag von 700 €

für notwendige Brillengläser – legal – bezahlen können soll, dasübersteigt dann doch das Vorstellungsvermögen.

Als Fazit bleibt festzustellen, dass der Gesetzgeber mit seinenReform- und Modernisierungsgesetzen den Weg beschreitet, den-jenigen Mitmenschen das Geld wegzunehmen, die es nicht haben.

Justitiar Reinhard Neubauer, Belzig

Rechtsprechung Verwaltungsrecht

527Neue Justiz 11/2004

05 ARBEITSRECHT

� 05.1 – 11/04

Betriebsbedingte Änderungskündigung als unternehmerischeErmessensentscheidung

BAG, Urteil vom 22. April 2004 – 2 AZR 385/03 (LAG Chemnitz)

KSchG § 2; BGB § 612a

1. Entschließt sich der Arbeitgeber zu einer betrieblichen Umor-ganisation, die zu einer anderen zeitlichen Lage und zur Herab-setzung der Dauer der Arbeitszeit führt, so handelt es sich dabeium eine im Ermessen des Arbeitgebers stehende unternehme-rische Entscheidung, die im Kündigungsschutzverfahren von denArbeitsgerichten nicht auf ihre Zweckmäßigkeit, sondern ledig-lich – zur Vermeidung von Missbrauch – auf offenbare Unvernunftoder Willkür zu überprüfen ist.2. Ein Missbrauch der unternehmerischen Organisationsfreiheitliegt bspw. vor, wenn die Umgestaltung der Arbeitsabläufe sichals rechtswidrige Maßregelung (§ 612a BGB) erweist oder dieVorgaben des BeschäftigungsschutzG umgeht.

Problemstellung:

Die Kl. war seit 1997 mit 40 Wochenstunden im Krankenhaus-betrieb der Bekl. beschäftigt. Ihr wurden Aufgaben sowohl vomtechnischen Leiter als auch vom Bauleiter zugewiesen. Ab 2000kam es zu Misshelligkeiten zwischen der Kl. und dem technischenLeiter, der die Leistungen der Kl. beanstandete, während sich dieKl. über sein Verhalten beschwerte.

Mit Änderungskündigung v. 13.11.2001 bot die Bekl. der Kl. dieWeiterbeschäftigung mit 20 Wochenstunden montags bis freitagsvormittags mit Tätigkeiten für den Bauleiter und entsprechendverringertem Gehalt an. Die Kl. nahm unter Vorbehalt an. DieBekl. stellte im Febr. 2002 eine weitere Teilzeitkraft mit dergleichen Arbeitszeit wie die Kl. ein. Ihr wurden die vorher von derKl. erledigten Aufgaben im Zuständigkeitsbereich des technischenLeiters übertragen.

Im Kündigungsschutzprozess berief sich die Bekl. auf ihre freieunternehmerische Entscheidung zur Aufteilung der Arbeitsauf-gaben unter Änderung der zeitlichen Verteilung. Die Neuaufteil-ung habe zu einer Verdoppelung der Arbeitskapazität währendder bis 13.00 Uhr reichenden Hauptfunktionszeit geführt, auchkönnten sich beide Arbeitnehmerinnen gegenseitig vertreten.Zwei Halbtagskräfte bewältigten eine größere Arbeitsmenge alseine Vollzeitkraft.

ArbG und LAG haben der Klage stattgegeben.

Das BAG hob das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zurerneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Das BAG hat unter Rückgriff auf seine gefestigte Rspr. ausgespro-chen, dass die Organisationsentscheidung der Bekl. nur einergerichtlichen Missbrauchskontrolle unterliegt. Da die Entschei-dung zur Umorganisation mit dem Kündigungsentschluss aberpraktisch deckungsgleich ist, hat die Bekl. konkret vortragenmüssen, wie sich die Organisationsentscheidung auf die Einsatz-möglichkeit der Kl. auswirkt und in welchem Umfang konkreterÄnderungsbedarf entsteht. Das hat sie mit der konkreten Darstel-lung des neuen Arbeitszeitkonzepts getan.

Die Darlegung von die Einführung des Konzepts rechtfertigen-den sachlichen Gründen kann nicht verlangt werden, da es nurum Missbrauchskontrolle und nicht um die Überprüfung derStichhaltigkeit des von der Bekl. gewählten Arbeitszeitkonzepts

geht. Willkür ist jedoch nicht festzustellen; die Bekl. hat gut nach-vollziehbare Gründe für die Aufteilung der früheren Tätigkeit derKl. auf zwei zeitlich parallel beschäftigte Teilzeitkräfte vorgebrachtund ihr Konzept auch so verwirklicht.

Da das LAG, das zwingende Gründe für die Maßnahme derBekl. nicht erkennen konnte und deshalb die Rechtsunwirksam-keit der Änderungskündigung festgestellt hatte, folgerichtig nichtdem Vortrag der Kl. über Angriffe des technischen Leiters nachge-gangen war, hat das BAG die Sache an das LAG zurückverwiesen.Dieser Vortrag, den die Kl. jedoch noch konkretisieren muss, kanndie Umgestaltung der Arbeitsabläufe als rechtswidrige Maßrege-lung (612a BGB) oder als Umgehung der Vorgaben des Beschäf-tigtenschutzG erscheinen lassen.

Kommentar:

Die Entscheidung des BAG bestätigt die mit seinem Urt. v.17.6.1999 (BAGE 92, 71 = NJ 1999, 665 [bearb. v. Lakies] ) begon-nene Rspr. zur sog. freien Unternehmerentscheidung, die von derArbeitsgerichtsbarkeit nicht auf Notwendigkeit oder Zweck-mäßigkeit überprüft werden kann. Wie der Arbeitgeber seinenBetrieb und die Arbeitsabläufe organisiert, entscheidet er selbst.Eine durchgeführte betriebliche Umorganisation hat die Vermu-tung für sich, sie sei aus sachlichen Gründen erfolgt. Wenn aller-dings die Entscheidung zur Umorganisation mit dem Entschlusszur Kündigung von Arbeitnehmern zusammenfällt, greift dieseVermutung nicht von vornherein. Der Arbeitgeber hat in diesemFall darzulegen, wie sich die Organisationsentscheidung konkretauf den Arbeitsplatz, den Arbeitsanfall und die künftige Vertei-lung der Arbeit auswirkt. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers,Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, die die Organisations-entscheidung als offenbar unsachlich, unvernünftig oder will-kürlich erscheinen lassen.

Das BAG hat diesen Grundsätzen strikt folgend keine Darlegungder Bekl. zu den Gründen der Umorganisation verlangt. Wennman zunächst von dem Vortrag der Kl. zum Verhalten des tech-nischen Leiters absieht, ist dem zu folgen. Der Vortrag der Bekl.zur Umsetzung der Organisationsentscheidung und zu dengünstigen Effekten reichte aus, ist nachvollziehbar und schließtdie Annahme einer willkürlichen Maßnahme aus.

Unbehagen bereitet die Entscheidung, weil die Vermutungeiner sachlich begründeten Organisationsmaßnahme angesichtsdes Vortrags der Kl. zu den Angriffen des technischen Leitersnicht einleuchtet. Es fällt auf, dass die Umorganisation in zeit-licher Nähe zu den Misshelligkeiten zwischen der Kl. und demtechnischen Leiter erfolgte und zu dem »Anlass« für die unter-nehmerische Maßnahme in zeitlicher Hinsicht kein Vortrag derBekl. vorliegt. Seriöse Unternehmen, die ihren Betrieb mit derFolge von Personalabbau umorganisieren, tragen von sich ausstets den Anlass für die getroffenen Maßnahmen vor, der oft aufeine aus unterschiedlichen Gründen notwendige oder auch nurgewünschte Kosteneinsparung zurückgeht. Auch wenn dieserAnlass nicht vom Gericht zu überprüfen ist, liegt solchen Unter-nehmen sehr daran, die Seriosität ihrer Unternehmerentschei-dung deutlich zu machen.

Diesen Erfahrungen der gerichtlichen Praxis folgend hätte esdaher nahe gelegen, die Bekl. zumindest zu fragen, was dennAnlass für ihre Entscheidung zum konkreten Zeitpunkt gewesenist. Schließlich treffen verantwortlich handelnde Unternehmerihre Entscheidungen nicht mal eben so ohne besonderen Anlass.Nur ein solches überlegtes, verantwortungsvolles unternehme-risches Verhalten rechtfertigt die Vermutung, dass eine beschlos-sene und tatsächlich durchgeführte Umorganisation aus sach-lichen Gründen erfolgt ist.

Neue Justiz 11/2004528

Vorliegend liegt ohne plausible Erklärung der Bekl. eher dieVermutung nahe, die Misshelligkeiten seien der eigentliche Anlassfür die Umorganisation gewesen, wobei zur Bereinigung eine nurdie Kl. treffende nachteilige Maßnahme als die leichtere Lösungder Probleme gewählt wurde. Nachzudenken wäre daher wegender zeitlichen Nähe der Organisationsentscheidung zu denMisshelligkeiten über eine abgestufte Darlegungslast, nach derdie Bekl. zunächst den konkreten Zeitpunkt ihrer Maßnahmeund damit den eigentlichen Anlass zu erklären hätte, ehe die Kl.weiteren, konkreten Sachvortrag zum Verhalten des technischenLeiters zu halten hätte.

VorsRinLAG Ingrid Weber, Berlin

� 05.2 – 11/04

Zusage einer Versorgungszusage und Unverfallbarkeitsfrist

BAG, Urteil vom 24. Februar 2004 – 3 AZR 5/03 (LAG Berlin)

BetrAVG §§ 1 aF, 2, 17 Abs. 3 Satz 3

Sagt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis zu,ihm nach einer festgelegten Zeitspanne eine Versorgungszusagezu erteilen, und verbleibt dem Arbeitgeber nach deren Ablaufkein Entscheidungsspielraum, ob er die Zusage erteilt oder nicht,so beginnt die Unverfallbarkeitsfrist schon mit dem Zeitpunkt der»Zusage der Zusage«.

Anm. d. Redaktion: Der Kl. hatte im Arbeitsvertrag eine Versorgungs-zusage erhalten. Sein Arbeitsverhältnis begann am 18.11.1991 undendete aufgrund arbeitgeberseitiger Kündigung am 31.12.2001. DasArbG hatte angenommen, die gesamte Beschäftigungszeit von etwasmehr als zehn Jahren sei zu berücksichtigen, soweit es um die Frage geht,ob der Kl. eine unverfallbare Versorgungsanwartschaft erworben hat.Es stellte deshalb das Bestehen einer Versorgungsanwartschaft entspre-chend dem Antrag des Kl. fest. Das LAG entschied mit Urt. v. 7.11.2002(NJ 2003, 223 [Leits.] ) entgegengesetzt, weil nur die Zeit seit dem Endeder Probezeit anzurechnen sei, also nur neun Jahre und sieben Monate.Die Revision des Kl. führte zur Wiederherstellung des ArbG-Urteils.

� 05.3 – 11/04

Gewährung eines höheren Ortszuschlags nach BAT-O für geschie-dene Angestellte

BAG, Urteil vom 22. Januar 2004 – 6 AZR 488/02 (LAG Halle/Saale)

BAT-O § 29 B Abs. 2 Nr. 4

Die geschiedene Angestellte hat keinen Anspruch auf den höhe-ren Ortszuschlag der Stufe 2 nach § 29 Abschn. B Abs. 2 Nr. 4BAT-O, wenn für den Unterhalt der aufgenommenen PersonMittel zur Verfügung stehen, die bei einem Kind einschließlichdes gewährten Kindergeldes und des kinderbezogenen Teils desOrtszuschlags, das 6-fache des Unterschiedsbetrags zwischender Stufe 1 und der Stufe 2 des Ortszuschlags der Tarifklasse 1cübersteigen (Satz 2). Das Unterschreiten dieser Eigenmittel-grenze ist anspruchsbegründend.

� 05.4 – 11/04

Schadensersatz wegen Mobbings am Arbeitsplatz

LAG Erfurt, Urteil vom 10. Juni 2004 – 1 Sa 148/01 (ArbG Erfurt)(Revision nicht zugelassen)

BGB §§ 253, 847 aF, 278, 823 Abs. 1, 831; ArbGG §§ 67 Abs. 4,72 Abs. 2 Nr. 2; GG Art. 1, 2 Abs. 1

1. Mobbing kann nur angenommen werden, wenn systematischeund zielgerichtete Anfeindungen gegen den Arbeitnehmervorliegen. Daran fehlt es, wenn es in der Entwicklung einer imWesentlichen psychisch bedingten Konfliktsituation zu einerEskalation kommt, auf die der Arbeitgeber mit einem nicht mehrsozialadäquaten Exzess reagiert (hier: Suspendierung von derArbeitsleistung und nachfolgende Versetzung).2. Verfahren mit Mobbingbezug entscheiden sich i.d.R. an demim Einzelfall gegebenen Sachverhalt und nicht an Rechtsfragen.Für die streitentscheidende Aufgabe der Gerichte ist es nichthilfreich, wenn der Eindruck erweckt wird, die Gerichte müssten»gegenüber Mobbing ein klares Stopp-Signal« setzen (so LAGErfurt, Urt. v. 15.12.2001, LAGE Nr. 3 zu Art. 2 GG Persönlichkeits-recht = NJ 2001, 669 [Leits.]).

Anm. d. Redaktion: Das Verfahren endete aufgrund der eingelegtenNichtzulassungsbeschwerde der Kl. vor dem BAG mit einem Vergleichder Parteien. Zu den im Zusammenhang mit Mobbing am Arbeitsplatzbestehenden Rechtsfragen siehe auch LAG Erfurt, Urt. v. 10.4.2001, NJ2001, 442.

� 05.5 – 11/04

Abschluss eines Aufhebungsvertrags und Störung der Geschäfts-grundlage

LAG Halle/Saale, Urteil vom 4. Mai 2004 – 11 Sa 690/03 (ArbG Dessau)(rechtskräftig)

BGB § 313

1. Die gemeinsame Fehlvorstellung der Parteien über Art undUmfang des dem Arbeitnehmer zustehenden Altersrenten-anspruchs bei Abschluss eines Aufhebungsvertrags kann zu einerStörung der Geschäftsgrundlage führen, wenn ein mit der Auf-hebungsvereinbarung verbundener Abfindungsanspruch andiese sozialversicherungsrechtlichen Regelungen anknüpft.2. Führt der tatsächlich bestehende Rentenanspruch nach denzur Anwendung kommenden Abfindungsrichtlinien zu einemvollständigen Verlust des von den Parteien zunächst angenom-menen Abfindungsanspruchs, so ist es dem Arbeitnehmer den-noch zumutbar, an dem Vertrag festgehalten zu werden, wennnach den Vorstellungen der Parteien die Abfindung dem Ausgleichder durch den Aufhebungsvertrag vermeintlich verursachtenRentenminderung dienen sollte. Das nach den Parteivorstellun-gen sich ergebende wirtschaftliche Gleichgewicht der Vereinba-rung wird nicht unzumutbar gestört, da die tatsächlich bestehen-den (höheren) Rentenansprüche den »Verlust« der Abfindung»kompensieren«.

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