Noformus leseprobe

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Noformus - Mystery-Thriller Im Bann des Bösen Autor: Horst Fesseler Verlag: AAVAA, Berlin Seiten: 302 Ausführung: Printbuch / eBook

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NOFORMUSHORST FESSELER

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Horst Fesseler

NoformusMystery Thriller

freie edition

© 2011AAVAA Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Quickborner Str. 78 – 80, 13439 BerlinAlle Rechte vorbehalten

www.aavaa-verlag.de

1. Auflage 2011

Umschlaggestaltung:Horst Fesseler

Printed in GermanyISBN 978-3-86254-257-4

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Dieser Roman wurde bewusst so belassen, wie ihn der Autor geschaffen hat,

und spiegelt dessen originale Ausdruckskraft und Fantasie wider.

Alle Personen und Namen sind frei erfunden.Ähnlichkeiten mit lebenden Personen

sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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INHALTSVERZEICHNIS

KAPITEL I - Kontakt oder Sinnestäuschung

KAPITEL II - Im Äther des Jenseits

KAPITEL III - Realitätsbewusstsein

KAPITEL IV - Zweifel

KAPITEL V - Vergessene Träume

KAPITEL VI - Phänomene des Grauens

KAPITEL VII - Dimensionswandel

KAPITEL VIII - Verwirrte Realität

KAPITEL IX - Frei oder Gefangen?

KAPITEL X - Erlösung oder ewige Verdammung?

KAPITEL XI - Heimkehr und Hoffnung

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KAPITEL I- Kontakt oder Sinnestäuschung

Siddercriel, Nordseeküste, Mittwoch, 19. Juni, vor ein paar Jahren.Ein drückender Sommertag neigte sich dem Ende zu. Die Sonneversank wie ein riesiger Feuerball am fernen Horizont. Glutrotspiegelte sich ihr schwacher Schein auf den seichten Wellen desMeeres wider. Ein milder Wind wehte von der See herüber undbrachte eine angenehme Erfrischung nach der unerträglichen Hitzedes vergehenden Tages. Es roch nach Salz und nach Fisch.

Heiße Luft aus Südwesten machte seit Wochen den Menschen zuschaffen. Man sehnte sich nach einem frischen Regenschauer undnach Abkühlung. Seit mehr als einem Monat fiel kein einzigerTropfen.

Sacht schlugen die Wellen ans Ufer, wanderten über den Strand,um gleich wieder von der schäumenden Brandung geschluckt zuwerden. Das rhythmische Rauschen der Wellen klang angenehm.

Die Dämmerung umhüllte langsam den vergangenenschwülheißen Tag. Am Firmament funkelten vereinzelt die erstenSterne, schwach noch, als wollten sie jeden Augenblick wiederverlöschen. Ihr Schein wirkte bläulich gelb vor dem orangeschimmernden Hintergrund. Dünne Schleierwolken zogengespenstisch über den abendroten Himmel, der sich mit Zunahmeder Dämmerung langsam in ein dunkles Grau verfärbte. Es war einherrlich schönes Panorama an diesem wundervollen Sommerabend.

Die Laternen der nahen Uferstraße begannen in mattem Schein zustrahlen, ein schwaches Gelb, kaum sichtbar, aber zunehmendkräftiger werdend. Allmählich erhellten sie die anbrechendeDunkelheit. Bald zeigte sich ein breites Sternenband am Himmel,überspannte ihn wie ein riesiges Netz, unzählige funkelnde Punkte,starr und regungslos, geheimnisvoll und ihre Entstehungbewahrend.

Verlassen wirkten die Straßen. Die Fahrzeuge parkten unterLaternen oder abseits in dunklen und schmalen Gassen. Vonirgendwo her klang das Miauen einer Katze, ab und zu das

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kläffende Gebell eines Hundes. Die Menschen hielten sich in ihrenWohnungen auf. Dort ließ es sich in kühler Luft aushalten. Oder siehockten in Bars und Kneipen, erholten sich von der drückendenHitze des hinter ihnen liegenden Tages. Sie ruhten aus von derArbeit, saßen zusammen und berieselten ihre Kehlen miterfrischenden Getränken. Es wurde viel getrunken an diesemAbend. Andere genossen die letzten Urlaubstage in klimatisiertenHotelzimmern oder in überfüllten Restaurants, wo die Luft kaumzum Aushalten war.

Ein Mann wanderte gemächlich am Strand entlang. Es war HolgerJansen. Der Wind hatte seine kurzen dunkelblonden Haare zerzaust,durchschwitzt von der Schwüle hingen sie in Strähnen auf seinerStirn. Holger trug ein dünnes Seidenhemd, das er über der Brustaufgeknöpft hatte und seinen leicht behaarten schlankenOberkörper hervorstechen ließ. Die Haut war von der Sonnegebräunt. Barfuß lief er durch den von der schäumenden Brandunggekühlten Sand. Jeder Schritt hinterließ in dem teigigen Sand dievertieften Abdrücke seiner nackten Füße. Die seichten Wellenschwemmten ihm das Wasser bis zu den Knöcheln, so war esangenehm zu wandern. Die Schuhe hingen mit den Schnürsenkelnverknotet am dünnen Hosengürtel, die Strümpfe steckten in derGesäßtasche.

Holger war dreiundvierzig Jahre, ein Alter, in dem sich deutlichhauchdünne Fältchen unter seinen Augen zeigten. Seit der Kindheitlebte er in diesem kleinen Ort, wo er jeden Baum, jeden Strauch,jedes Haus und die meisten Einwohner kannte. Bis vor knapp zehnJahren praktizierte hier sein Vater als Landarzt, gab dann ausAltersgründen die Ordination an einen jüngeren Kollegen ab. Jederim Dorf kannte nicht nur den alten Jansen, sondern auch seinenSohn. Er wollte nie Arzt werden, fühlte sich dazu nicht berufen. Eswar nicht seine Art Kranke zu heilen. Ihm schwebte eineBeschäftigung im Büro vor, mit geregelten Arbeitsstunden, einemfreien Wochenende und sozialer Unabhängigkeit. So absolvierte ernach der Schule eine Ausbildung als Bilanzbuchhalter. In ähnlicherPosition war er schon einige Jahre tätig.

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Gedankenverloren blickte er aufs Meer hinaus, obwohl es in derherrschenden Dunkelheit kaum etwas zu sehen gab. Der ferneHorizont deutete schwach die Konturen des vergangenen Tages an,als wolle er ihn jeden Moment zurückholen. Von irgendwo klang einschwaches Summen an sein Ohr. Von einem fernen Ozeandampfervielleicht, dachte er und hing seinen Erinnerungen nach, ließ sichden arbeitsreichen Tagesablauf noch einmal durch den Kopf gehen.

In Gedanken weilte er bei seiner Frau Marion, die jetzt alleine zuHause saß und wohl erzürnt über ihn war. Wegen eines dummenStreits war er aufgestanden und gegangen, wollte alleine sein.Wutentbrannt hatte er die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen,war die Treppe hinunter geeilt und losgelaufen, ohne ein festes Zielzu haben. Niemand durfte ihn jetzt in seinen Gedanken stören, denner brauchte Zeit und Ruhe, um seinen Ärger über Marion zuvergessen.

Seit zwei Stunden schlenderte er am Strand entlang, dachte überdie Auseinandersetzung mit Marion nach. Warum hatten siemiteinander gestritten? Warum waren sie plötzlich in eine derartheftige Auseinandersetzung geraten? Es war sonst nicht seine Art.Auch Marion konnte so leicht nichts aus der Ruhe bringen. Aberheute hatten sie wohl beide die Fassung verloren. Vielleicht lag es ander irrsinnigen Hitze, die leicht zu Überreaktionen führen konnte.

Es ging um Marions Vater. Holger hatte eine dumme Bemerkungüber dessen Bierbauch gemacht. So gab ein Wort das andere, bisman sich in die Haare geraten war. Keiner der beiden wollte vonseinem sturen Standpunkt abweichen. Erst sehr viel später, alsHolger das Haus verlassen hatte, sah er ein, dass sein aufbrausendesVerhalten falsch gewesen war. Es tat ihm jetzt sogar leid, Marionverärgert zu haben. Er dachte an sie, sah deutlich ihre dunklen, fastschwarzen Haare, die ihr leicht gewellt bis zu den Schulternreichten, vor sich. Zwanzig Jahre waren sie nun verheiratet, zwanzigJahre, in denen es Höhen und Tiefen in ihrem Leben gab, wie auchdiesen kleinen unbedeutenden Streit von heute.

Mittlerweile hatte er den kleinen Ort hinter sich gelassen. Aufeiner Düne verharrte er und setzte sich in den von der Sonne noch

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warmen Sand. Seine Augen streiften über die Wogen des Meeres.Die gespreizten Hände ließ er nachdenklich durch den feinen Sandgleiten, um neue Lebenskraft zu schöpfen. Abschalten, entspannen,einfach gehen lassen, das wollte er. In dem monotonen Gleichklangder Brandung genoss er das aufkommende Gefühl vonZufriedenheit.

Plötzlich bemerkte er einen Schatten aus dem Wasser auftauchen.Achtlos und eher unbewusst registrierte er diesen für ihnunbedeutenden Vorgang. Als die Erscheinung immer größer wurde,erhob sich Holger und starrte gebannt Richtung Meer. Er spürte, wiesein Herz kräftiger schlug. Es war die Neugierde, die ihn erregte.Angst oder Furcht verspürte er nicht, sah im ersten Moment keineGefahr von dem schemenhaften Etwas ausgehen, das er noch nichtzuzuordnen vermochte. Zunächst glaubte er an ein U-Boot, erkanntejedoch nach einigen Augenblicken, dass der Schatten dafür zuschmal war. Was mochte es wohl sein?

Unklar zeichneten sich die Konturen gegen den Nachthimmel ab.Dieses Unbekannte sah aus wie ein riesiger Ball, dessen untereHälfte im Wasser schwamm. Lautlos kam die schemenhafteErscheinung näher. Holger wich unwillkürlich einige Schrittezurück, ohne das Ding aus den Augen zu lassen. Er grübelte überdie Erscheinung nach. Das mangelnde Unvermögen derEinschätzung rief in ihm eine stärker werdende beklemmendeRegung hervor. Er eilte über die Dünen, der befestigten Uferstraßezu. Dort fühlte er sich wohler, da waren Menschen in der Nähe.Allein das Wissen von ihrer Anwesenheit gab ihm ein Gefühl vonSicherheit. Abseits des Strandes, jenseits der Uferstraße, standenHäuser, in denen er sich verbergen konnte.

Seine Schritte wurden schneller, sein Atem hastender, Schweißtriefte ihm von der Stirn, die Schwüle machte ihm zu schaffen.Immer wieder blickte er sich um, sah, wie der Schatten näher kam.Nun hatte die Erscheinung den Strand erreicht und hielt inne,unheimliche Stille herrschte. Hydraulische Gelenke schoben sichunter schwachem Summen aus der Kugelgestalt, um sie

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abzustützen. In der gespenstischen Dunkelheit wirkte das wie eingewaltiges Aufbäumen einer Riesenspinne.

Für einen Moment blieb Holger stehen und schaute gebannt demeigenartigen Schauspiel zu. Ihm stockte der Atem. Er wollte wegvon hier. Ihm wurde unbehaglich zumute. Er eilte weiter undgelangte zu den ersten Häusern, wo er sich Schutz erhoffte. Hintereinem Bretterzaun verbarg er sich. Hier glaubte er sich geborgenund beobachtete angespannt, was weiter geschah. Das seltsameDing am Strand rührte sich nicht von der Stelle, lautlos verharrte esan der Stelle, wo es seine Spinnenbeine ausgefahren hatte. Wellenschlugen gegen die Kugelgestalt und schaukelten sie leicht hin undher.

Flüchtig schaute Holger die Straße entlang und an denHäuserfronten hoch. Hinter den beleuchteten und geöffnetenFenstern hörte er das Lachen von Menschen, aus den Radiosklangen Musik und die Stimme des Moderators. Auf der Straße aberwar niemand zu sehen, keine Menschenseele weit und breit. Erblickte zu den Lichtern einer nahen Kneipe. Die Tür stand weitoffen, fröhliches Stimmengewirr und das Dröhnen der Musikboxdrangen zu ihm herüber. Ahnte niemand die Situation, in der er sichin diesem Moment befand? Fühlte keiner die Gefahr, in der erschwebte? Bestand überhaupt eine Gefahr für ihn oder bildete ersich das ein? Wer oder was konnte ihn bedrohen? Er war ein Mannim besten Alter und hatte viele gefährliche Situationen in seinemLeben gemeistert. Angst kannte er nicht, aber seine jetzige Lage kamihm nicht geheuer vor. Es war die Furcht vor dem Unbekannten, vorEreignissen, die sich nicht definieren ließen.

Immer wieder starrte er für Momente zum Strand. Auf einmalglaubte er ein kurzes Aufleuchten auf dem merkwürdigen Dinggesehen zu haben, für den Bruchteil einer Sekunde gleißend hell.War es ein Blitz? Unbewusst blickte er zum Himmel, wo nur dieSterne funkelten und keine Anzeichen eines aufziehenden Gewitterszu erkennen gewesen wären. Hatte er sich etwas Eigensinnigeseingebildet? Die Fantasie musste mit ihm durchgegangen sein.

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Wieder schaute er Richtung Meer, wo es ruhig und dunkel blieb.Er glaubte an Halluzinationen und rieb sich die Augen. DerSchatten, rund wie eine Kugel und unbeweglich, ließ sich nichtwegwischen. Im Durchmesser mochte er fünfundzwanzig Metersein, schätzte Holger. Aber verdammt noch mal, was stellte daskomische Ding nur dar? Er konnte es sich nicht erklären, so sehr erdarüber grübelte.

Plötzlich erstrahlte die Kugel in mattem Licht und ließ Holgererschreckt zusammenfahren. Hinter dem Bretterzaun ging er in dieHocke und schaute zwischen den schmalen Spalten der einzelnenBretter hindurch. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, Schweiß triefteaus allen Poren und stand als kleine Perlen auf seiner Stirn. EineGänsehaut überzog seinen Körper.

Das Leuchten um das Gebilde wurde heller. Noch war keinGeräusch zu hören. Das Licht schien nun rötlich gelb, trotz derDunkelheit blendete es nicht. Im Gegenteil, es leuchtete angenehm,strahlte eine beruhigende Atmosphäre, Behaglichkeit und Wärmeaus. Es erfüllte ihn in seinem sicheren Versteck hinter dem Zaun miteiner unbeschreiblichen Gelassenheit, wobei er spürte, wie dieschwere Last des vergangenen Tages von ihm genommen wurde.Die Gedanken und Sorgen, seine Wut der letzten Stunden, Wochenund Monate waren mit einem Mal verflogen. Das Negative wichvon ihm, positive Gedanken machten sich breit und gaben ihm einGefühl der Zufriedenheit. Sein Atem beruhigte sich wieder, dieAngst und der Schrecken stellten sich als harmlos dar. EinGlücksgefühl befiel ihn und machte ihm Mut. WelcheEmpfindungen breiteten sich in seinem tiefsten Inneren aus? Erkonnte es nicht fassen. Es war ein Gefühl der Begeisterung für eineSache, die er überhaupt nicht begriff. Freude, an einem einzigartigenEreignis teilzuhaben, kam auf. Er konnte seine Regungen nichtausdrücken, war Gefangener von Empfindungen unbekannterHerkunft, die sich nicht mehr steuern ließen. Hauptsache, er spürtekeine Angst, was ihm Zuversicht gab.

Zaghaft erhob er sich und kam argwöhnisch aus seinem Versteck.Mit langsamen Schritten überquerte er die Straße, stampfte die

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Stufen der ausgewaschenen Sandsteintreppe zum Strand hinunterund bewegte sich vorsichtig und abwartend auf das leuchtendeEtwas zu. Das Unbekannte und die Neugierde trieben ihn voran. Erverspürte das Verlangen, die geheimnisvolle matt strahlende Kugelzu erreichen. Er trabte durch die Dunkelheit auf die fremdartigeund ihn magisch anziehende Erscheinung zu. Die Sehnsucht nachdiesem Ding befiel ihn plötzlich. Er wollte versuchen seinemGeheimnis auf den Grund zu gehen. Der Drang kam nicht vonseinem Bewusstsein, eine innere Stimme sagte ihm: Gehe weiter!Lass' dich nicht aufhalten!

Langsam näherte er sich der strahlenden Kugel. Das Leuchtenwurde stärker. Nur wenige Meter trennten ihn von der Erscheinung.Die Kugel war zum Greifen nahe, wirkte gewaltig. GespenstischeStille herrschte, das Rauschen der Wellen war verstummt. Auch vonden Häusern klangen keine Geräusche herüber. Deutlich vernahmer jeden seiner Atemzüge so intensiv, dass es ihn beinaheerschreckte. Er verharrte für einen Moment. Dann bewegte er sicheinige Schritte weiter an die strahlende Kugel heran. Ihr Leuchtenströmte abermals kräftiger. Gleichzeitig ertönte ein schwachesSummen. Verwirrt blieb Holger einen Moment stehen, starrtegebannt auf die Kugel, doch nichts geschah.

„Komm' näher“, glaubte er eine Stimme zu hören, ging deshalbvorsichtig weiter und bewegte sich mit zögernden Schritten direktauf das Licht zu. Es hüllte ihn ein und verschlang ihn. Ihm stockteder Atem, alles um ihn glänzte in einem hellen Gelb. Er sah nurnoch dieses Licht, das um ihn war, das seinen Körper einhüllte undseine Sinne zu rauben schien.

Was für ein Gefühl! Eine ungeahnte Wärme umgab ihn, die Furchtwich aus seinem Bewusstsein und er spürte ein nie gekanntesGlücksgefühl. Sein Verlangen, dieses wundervolle Licht zu genießenund zu besitzen, breitete sich in seinem Innern aus, erfasste seinengesamten Körper, seine Seele, seinen Geist. Er genoss diesenSinnesreiz mit ganzem Herzen, ließ es geschehen. Alles um ihnglänzte in gleißendem Licht. Er sah diesen wundervollen Schein,sonst nichts. Seine Umgebung war verschwunden, nur dieses

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endlose Licht hatte Bestand, es gab kein Unten und kein Oben. Erstand inmitten der unbeschreiblichen Helligkeit, in der die Welt umihn herum im Nichts untertauchte. Er spürte deutlich wie dasStrahlen ihm Kraft und Energie gab und ihn nicht mehr los ließ.

Unaufhaltsam schritt er tiefer in den Feuerball, der nicht endenwollte, hinein. Aber er empfand keine Hitze oder Glut, die ihnverbrennen könnte, nur eine angenehme und befriedigende Wärme.Es war ein Gefühl der Zufriedenheit und des Losgelöstseins vonallem Irdischen. Er charakterisierte es als wundervoll und sehntesich nach mehr davon.

„Lass' es mich genießen“, flüsterte er, „es ist schön, es istunbeschreiblich“.

Unendlichkeiten schienen zu vergehen, und er wanderte weiter,ohne sich umzudrehen. Er blickte nur in dieses seltsame Licht, dassich in rhythmischen Spiralbewegungen drehte und in denherrlichsten Farben erstrahlte.

Das Licht formte sich zu einem Tunnel und lenkte Holger in einevorgegebene Richtung. Langsam ging er diesen Weg weiter und tratwenig später auf der anderen Seite aus der leuchtenden Kugel.Starke Winde, Orkanböen gleich, umgaben ihn mit lautem Getöse.Diese gewaltigen Turbulenzen schnürten ihm die Kehle zu. Er hieltden Atem an und schloss für einen Moment die Augen. Als er siekurz darauf öffnete, blickte er sich erstaunt um. Seine Umgebunghatte sich verändert. Die Nacht war zum Tag geworden! Die Sonnestand hoch am Himmel. Er spürte ihre wärmenden Strahlen aufseiner Haut. Der Strand war trotz des wunderschönen Wettersmenschenleer. Auch die Uferpromenade zeigte sich verlassen. KeinStimmengewirr, kein fröhliches Lachen, keine Motorengeräuschewaren zu hören. Es herrschte absolute Stille, die bedrückend undschmerzend wirkte.

Warum um alles in der Welt war jetzt hellerlichter Tag? Noch vorwenigen Augenblicken lief er in der Dunkelheit am Strand entlang,um seinen Ärger zu vergessen. Was geschah in den letzten Minuten?Er erinnerte sich an dieses Licht, durch das er gegangen war und andie wunderbaren Empfindungen, die er dabei verspürt hatte. Er

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erinnerte sich auch an die Zufriedenheit, die ihn umgeben hatte, andie Ruhe und das Gefühl der Geborgenheit.

Die unbegreifliche Situation der Realitätswandlung versetzte ihnin Panik, beklemmende Angst machte sich breit. Er war zu keinerBewegung fähig, stand wie versteinert da. Ein eisiger Schauer rannüber seinen Rücken. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, eheLeben in ihn zurückkehrte. Tief atmete er durch.

Die merkwürdige Kugel war verschwunden. Hatte er denVerstand verloren? Seine Augen wanderten zu den Häusern. Dortwar es ruhig, genauso wie vorhin. Nur eben zu einer anderenTageszeit. Tödliche Stille herrschte, die ihn noch mehr in Furchtversetzte. Mit hastenden Schritten eilte er zur Kaimauer und ranntedie Treppe zur Straße hoch. Fassungslos stand er mit dem Rückenan das Geländer gelehnt und starrte die leere Straße hinunter.

„Hallo! Wo seid ihr?“, brüllte er los, bekam aber keine Antwort.Nur seine eigenen Worte hallten durch die Dunkelheit.

„He ist da wer? Verdammt!“, schrie er.Keine Menschenseele ließ sich blicken. Sein einziger Begleiter war

der Wind, der von der See aufkam und zerrissene Zeitungsblättervor sich her trieb. Ein geisterhaftes Bild bot sich Holger. Er spürtesein Herz bis zum Hals klopfen und verstand die Welt nicht mehr.Das konnte nicht wahr sein! Das war ein Traum, ein verdammtböser Traum, aus dem er jeden Moment erwachen würde. Nichtsdergleichen geschah. Es war die Realität, keine Fantasiegebilde, dieihm sein Geist vorspielten.

Abermals brüllte er los: „Verdammt noch mal! Wo steckt ihr denn?Warum antwortet mir niemand?“

Er schrie es laut von sich, dass sich seine Stimme hysterischüberschlug. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, als er keineReaktion bekam. Die Stille versetzte ihn in grenzenlose Furcht. Erstolperte voller Panik über die leere Straße, schaute durch dieGlasfronten in die Ladengeschäfte, betrat Kneipen und Restaurants.Nirgends war der Anschein eines Menschen. Immer wieder schrie erlos. Vergebens, denn niemand antwortete ihm. Es schien, als sei er ineiner Geisterstadt gelandet.

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Erschöpft sank er auf eine Parkbank und stützte den Kopf in dieHände, versuchte, die Gedanken zu ordnen, was ihm nicht gelang.

Nach ein paar Sekunden wollte er sich wieder aufrichten. Dastand plötzlich ein fremder Mann wenige Meter vor ihm. Erschrecktfuhr Holger zusammen, als er den Unbekannten bemerkte.

„Wer ... wer sind Sie?“, stammelte er und stierte den Fremdenirritiert an.

Dieser hatte schulterlange, leicht gewellte dunkle Haare. Einschwarzes Augenpaar stach aus einem gegerbten Gesicht hervorund fixierte Holger mit bohrendem Blick. Der Fremde wirkte nochnicht sehr alt, sechzig Jahre vielleicht, eher ein wenig jünger. Er trugein ausgebleichtes Gewand aus grauem Leinenstoff, das ihm bis zuden Knöcheln reichte. Der Mann mochte einsachtzig groß gewesensein, hatte kräftige behaarte Hände, in denen er einen dünnen,knapp 30 cm langen Stab hielt. Der Fremde sagte nichts, lächeltenur, was ihn für Holger ein wenig sympathischer machte.

„Verdammt, Sie haben mich mächtig erschreckt“, meinte er undblickte abwartend den Fremden an, der nichts erwiderte. Holgerfuhr deshalb fort: „Was ist denn hier los? Warum sind die Straßen somenschenleer? Der Strand ist wie ausgestorben, die Kneipen sindverlassen, die Geschäfte leer, nirgends ist jemand zu sehen. Was istpassiert? Träume ich oder bin ich verrückt? - Ich weiß es nicht ...“

Er brach ab und schaute nach unten, richtete sofort wieder denBlick auf den Fremden. Der winkte Holger mit seinem Stab zu undkam ein paar Schritte näher. Er sprach kein Wort, sondern lächeltenur nach wie vor. Jeder seiner Schritte schien eine Ewigkeit zudauern. Holger kam es wie eine Zeitlupenbewegung vor.

Indessen hatte sich Holger von der Bank erhoben. Ihm warplötzlich nicht wohl in seiner Haut. Abwartend musterte er denFremden. Wer war dieser Kerl und was wollte er? Um Gewissheit zuerhalten, forschte er weiter.

„Suchen sie was Bestimmtes? Kann ich ihnen helfen?“ Ungeduldigblickte er den Fremden an, in der Hoffnung, eine Antwort zubekommen.

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Mit dunkler Stimme entgegnete der Fremde plötzlich: „Ich binAlkador und komme aus der Vergangenheit“.

Seine Worte klangen zwar beruhigend und hatten einen sanftenKlang, doch fehlte ihnen die obligate Überzeugungskraft. Holgerkam es lächerlich vor, was der Mann schwatzte.

„Und ich bin der Kaiser von China“, erwiderte Holger und tipptemit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

Verschaukeln konnte er sich alleine. Offenbar hatte er es mit einemVerrückten zu tun. Ihm war nicht zum Scherzen zumute, jetzt, daseine Gedanken selbst nicht klar und geordnet zu sein schienen. Indieser Situation konnte er einen Verrückten am allerwenigstengebrauchen. Bestimmt war das einer von den Deppen aus derpsychiatrischen Klinik im nahen Tuddensen, ein von dortentflohener Patient. Den Eindruck machte der Fremde auf Holger.Viele hatten sich dort schon heimlich aus dem Staub gemacht undstreunten stundenlang durch die Gegend.

Der Fremde schien die Gedanken seines Gegenüber gelesen zuhaben und schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf.

Ohne eine Mine zu verziehen, fuhr er mit monotoner Stimme fort:„Nein, du bist nicht der Kaiser. Dein Name ist Holger Jansen. Dubist ein Bewohner im einundzwanzigsten Jahrhundert der Ära desWassermanns im System der Solaria auf dem Planeten, den ihr Terranennt. Habe keine Furcht vor mir, oder dem, was du erlebst, auchwenn du glaubst, deine Gedanken seien verwirrt. Es gibt für alleseine Erklärung, erst dann wirst du es besser verstehen. Ich will dirvon Geschehnissen berichten, die deinen Geist reinigen. Du wirstWunderbares erleben, was dir neue Kraft und ungeahnte Energiegibt.“

Erstaunt sah Holger den seltsamen Fremden an und überlegte, ober diesen Kerl schon einmal gesehen hatte. Es gelang ihm nicht, sichan diesen merkwürdigen Kauz zu erinnern, der seinen Namenwusste und ihn offenbar recht gut zu kennen schien.

„Von wo kommen sie und woher kennen sie mich? - Was sind dasüberhaupt für fromme Sprüche, die sie auf Lager haben? Können sie

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auch normal reden? Sind sie einer von denen aus Tuddensen?“,forschte Holger.

Alkador antwortete nicht, schüttelte abermals den Kopf undlächelte. Er wandte sich um und deutete Holger an, ihn zu begleiten.Mit einem Blick über die Schultern überzeugte er sich, dass er ihmfolgte. Schweigend gingen sie am Strand entlang.

Nach einer Weile sagte Alkador mit sanften Worten: „DeineFragen werden dir beantwortet, du wirst es selbst erfahren, habeGeduld mein Freund. Vertraue mir, so wirst du die Wahrheiterleben.“

Holger nickte gelangweilt und folgte aus Neugierde demFremden. Ohne ein Wort zu sagen, schritten sie durch die leerenund stillen Straßen bis zur Uferpromenade, wo der Fremde stehenblieb. Holger trat neben ihn, abwartend und neugierig, hoffend aufeine Erklärung, die ihm all seine durch den Kopf gehenden Fragenbeantworten sollte. Die Augen des Fremden waren zum Meergerichtet, wo sein Blick verharrte. Holger versuchte, dessen Blickenzu folgen und schaute ebenfalls zum Meer, konnte aber nichtsAuffälliges entdecken. Er war mittlerweile nervös und ungeduldig.Mit einem Ausdruck von Wut starrte er den Fremdenherausfordernd an.

„Was ist hier eigentlich los? Ich kapier' das nicht. Die ganze Stadtliegt wie ausgestorben da, so unheimlich still, keine Seele ist zusehen. Die Menschen - wo verdammt noch mal sind die Menschen?Vor nicht mehr als einer Stunde wimmelte es hier von Urlaubern ...“

Holger brach kurz ab, fuhr dann mit leiser Stimme, fast flüsternd,fort: „Oder war es gestern? - Ich weiß es nicht, ich weiß garnichts ...“

Er senkte seinen Kopf, strich sich mit den Händen durch dieHaare und starrte den Fremden auf eine Erklärung wartend an.

„Vielleicht träume ich. Ja, das ist es! Das kann nur ein böser Traumsein“, stellte Holger fest, ehe er eine Antwort bekam, und lehnte sichgegen die Kaimauer.

„Nur in einem Traum gibt es solch unmögliche Erscheinungen.Das passt doch nicht“, murmelte er vor sich hin, halb verzweifelnd.

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Der Fremde legte seine Hand auf Holgers Schulter und antworteteihm: „Nein Holger, du träumst nicht, das ist die Wirklichkeit! Duerlebst sie vollkommen real. Ich verstehe deine Zweifel und helfe diraus diesem Wirrwarr heraus. Du bist auf dem Weg in eine andereDimension und hast die ersten Schritte getan. Deine Seele und meinGeist haben zusammengefunden. Wir sind eins, untrennbar in eineranderen Welt, in einer anderen Zeit, in einem anderen Raum,jenseits der vertrauten Realität und dennoch in der Wirklichkeit, inder Welt des Übersinnlichen. Du bist zwischen den Zeiten undzwischen den Räumen, in deiner Welt und in meiner Welt undtrotzdem in keiner von beiden. Holger - du bist nicht in Gefahr, derWeg zurück in die Gegenwart wird dir später wieder gelingen, jetztaber musst du unaufhaltsam weiter gehen. Vertraue mir, fürchtedich nicht vor dem, was geschieht. Folge mir den wunderbarenWeg, wir werden eine Barriere durchbrechen. Du sollst es erleben,zögere nicht, bleibe nicht stehen, klammere dich nicht an dasVergangene.“

Eine Veränderung war in dem fremden Wesen vorgegangen, seinGesicht hatte sich zu einer abscheulichen Fratze gemausert.Angewidert und erschreckt wich Holger einige Schritte zurück. DieVerwandlung des Fremden schritt unaufhörlich fort. Inverschiedene Dimensionen gestaltete sich sein Antlitz, bis es zuseiner endgültigen Form gelangte. Nichts erinnerte an seinbisheriges Aussehen.

Holger erschrak zutiefst. Seine Knie kamen ihm weich wiePudding vor. Er glaubte, ins Bodenlose zu fallen, wie in einen tiefenendlosen Brunnenschacht. Die Worte des Fremden rissen ihnzurück.

„Hab' keine Furcht, denn ich bin dein Freund und füge dir keinLeid zu. Erschrecke nicht vor meiner Erscheinung, es gibt weitschrecklichere Dinge. Wenn auch mein Antlitz keine Nase aufweistund die Augen ohne Ausdruck sind, wie ein matter Schimmererscheinen, die Augenbrauen fehlen und mein Gesicht wie Fleischohne Haut wirkt, so bin ich doch voller Güte und in friedlicherAbsicht hier. Erschrecke nicht vor meinem Mund, der dir wie ein

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breiter Riss im Mauerwerk erscheint. Von mir geht keine Gefahr aus.Wo ich herkomme, gibt es nur Frieden und Eintracht. Zufriedenheit,Glückseligkeit und Güte sind unsere Habe und unser Trachten.

Mein Freund, ich bin wie du ein Wesen, geschaffen aus dem Stoffder Welten. In mir ist das ewige Leben, denn die Macht desUnsterblichen ist in mir. Ich bin das Übersinnliche. Nicht aus Fleischund Blut wie all die sterblichen Wesen. Ich lebe in einer Zeit, dieschon längst vergangen ist. Ich bin auch in der Gegenwart und inder Zukunft. Die Zeit ist für mich ohne Bedeutung, der Raum unddie endlose Weite zählen nicht für mich. Ich kann meine Gestaltverwandeln, wie es mir beliebt, ob als unsichtbares Wesen oder inmaterieller Erscheinung, denn nichts ist mir unmöglich.

Du hast die Zeitschranke fast überwunden, mein Freund, und duwirst mir auf der Reise durch die Zeit in die vielen unbekanntenWelten folgen. Ich führe dich in Räume, die dir unvorstellbar sind.Dimensionen wirst du erleben, in die noch keine Menschenseelegelangte, denn die Wiederkehr von dort ist den Lebenden verwehrt.Nur sehr wenige Auserwählte gehen diesen Weg. Wir sind jetzt aufder Reise in die Vergangenheit, aber wir werden auch die Zukunftdurchwandern. Milliarden Jahre gehen wir in der Zeit zurück undgelangen nach dort, wo dieser Planet und all sein Gefolge, Sonneund Mond, die anderen Sterne und Planeten, noch in einer anderenGalaxie ihre Bahnen zogen. Wir kommen nun in eine Zeit, als es alldie Welten, die du kennst, noch nicht in dieser Form gab, als derHimmel keinen Bestand hatte. Da nämlich herrschten wederDunkelheit noch Licht. - Wenn dir dieser Gedanke unvorstellbarerscheint, mein Freund, so sollst du wissen, dass es vor derErschaffung des gewaltigen Universums schon den Geist gab. Erwar vor allem Sein und er brachte das Leben. Die Seelen waren vorder Materie. Sie stellen die Ursache und die Wirkung dar, denn dieMacht der Gedanken ist der Ursprung jeder Schöpfung. Dein Geistund der Geist aller Wesen brachten die Welten hervor. Sie sind dieGedanken der Entstehung, sie sind die Schöpfung. Sie sind in unsallen.

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Holger Jansen, du wirst in wenigen Augenblicken denwunderbaren Sprung von der Gegenwart in die tiefsteVergangenheit erleben. Von nun an wird dir nichts mehr unmöglicherscheinen.“

Holger verspürte ein unangenehmes Würgen im Hals. Er wolltelaut schreien, doch die Worte erstickten ihm. Er versuchtewegzurennen, aber die Beine versagten ihm jede Kraft. SeineGedanken waren für kurze Momente bei seiner geliebten Frau. Aberdie Erinnerung an sie verschwand in Bruchteilen. Sein Leben rastean ihm mit unfassbarer Geschwindigkeit vorbei. Die Szenenwechselten so rasch, dass er viele Erlebnisse nur für einenAugenblick wahrnehmen konnte. Er wusste plötzlich, dass dieGegenwart keinen Bestand hatte, dass die Zukunft längst geschehenwar, dass die Vergangenheit wie Trugbilder erschien.

Ein Wechsel hatte sich vollzogen. Holger befand sich in eineranderen Welt. Unbekannte geheimnisvolle Kräfte hatten ihn durchdie Zeit in ein Nichts getragen. In die Leere. In die Unendlichkeitund fort aus dem Leben. Gab es ein Erwachen aus diesemschrecklichen Albtraum?

Nein! Holger Jansen strömte unaufhaltsam in die tiefsteVergangenheit. Wie in einem brodelnden Strom trieb es ihn,angezogen von einem wirbelnden Nebel. Er spürte dieVeränderung, die Reinigung seiner Seele und seines Geistes. Erfühlte die Befreiung und das Schwinden der Schwere. DasEntweichen aus seiner Welt, hinüber in ein fernes vergangenesunbekanntes Reich, wurde ihm bewusst. Er versuchte, sich dagegenzu wehren und mit all seinen Kräften gegen diese fremde Machtanzukämpfen, die ihn aus seiner vertrauten Gegenwart riss. Holgerschwanden die Sinne, er ließ es geschehen, trieb in dem unendlichenStrom der Zeit, durch Raum und Dimensionen, die jenseits allerVorstellungskraft lagen. Er genoss diesen wundervollen Augenblick,schwerelos und frei zu sein. Bald verspürte er keine Furcht mehr. ImGegenteil, er fand es schön. Es war ein Ereignis, das für ihn immerwähren könnte. Ja, diese Momente gaben ihm Ruhe und innerenFrieden. Alle Gedanken wichen von ihm. Vertrieben waren Sorgen

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und Alltagsängste. Der unbekannte Strom, das Dahinfließen insabsolute Nichts befreite ihn.

Die ihm vertraute Welt, seine Gegenwart, versank in einem gelbenSchleier. Verschwommen konnte er die Konturen wahrnehmen,farblos und ohne Glanz. Das Meer schien sich drohend zu einerriesigen Wasserwand aufzutürmen, als wolle sie den verwirrtenHolger jeden Moment verschlingen. Unheimliche Stille herrschte.Die Sonne hatte einen seltsamen Glanz, der über den gesamtenHimmel erstrahlte, ohne einen Schatten zu werfen, als sei einegewaltige Atombombe explodiert. Der Schein der Sonne wandeltesich in ein glühendes Rot. Wie eine gewaltige plumpe Masse rotiertedieses Strahlen, bis es als eine riesige spiralenartige Galaxie überdem Himmel stand. Millionen von Sternen blinkten über Holger.Ein prächtiges Schauspiel bot sich ihm: die Herrlichkeit derungezählten Sonnen und Planeten in ihren verschiedenen Größenund Entfernungen, eines schöner als das andere.

Staunend blickte er sich um. Langsam verschwand der nebelhafteSchleier um ihn, er konnte klar und deutlich seine Umgebungerkennen. Doch alles hatte sich verändert, er befand sich in einerfremden Welt. Verschwunden waren die Stadt und das Meer, nichtsvon einst existierte noch. Was war geschehen, überlegte Holger. Wobefand er sich? Ein Traum konnte das wahrhaftig nicht sein, zudeutlich empfand er seine Umgebung. Er fühlte mit all seinenSinnen, er hörte ein sanftes und angenehmes Rauschen, er roch einwohlschmeckendes Aroma.

Voller Staunen erkannte er eine ebene Sandwüste, die sich vorseinen Augen erstreckte. So weit sein Blick reichte, sah er gelbenSand, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Holger stand mittendarin. Milde Wärme umgab ihn, der Wind wehte ein angenehmesLüftchen zu ihm. Über ihm, am blauschwarzen Himmel, erstrahltenunzählige Sonnen in einer fremden Galaxie. Es war ein wunderbarerAnblick. Langsam wandte er sich um und schaute seinen fremdenBegleiter, der ihn auf diese Reise führte, erstaunt an. Holger konntedas nicht fassen.

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„Wo, wo sind wir hier? Was ist das für eine sonderbare Welt?“,stammelte er und erhoffte sich eine zufriedenstellende Erklärung.

Der Fremde kam näher und antwortete mit ruhigen Worten:„Mein Freund, du bist vier Milliarden Jahre in der Vergangenheit, ineiner Zeit, da der Raum noch ein anderer war. Du bist aber auchgleichzeitig eine Milliarde Jahre in der Zukunft. Du erlebst die Zeitund die Welt, wie sie einst waren und wie sie in fernen Zeiten seinwerden. Es ist so, als hätten wir beide einen Kreis geschlossen, einenKreis, der keinen Anfang und kein Ende hat. Wir sind nirgends unddennoch überall, in den Tiefen von Raum und Zeit, jenseits desLichtes. Ich bin gemeinsam mit dir über die Zeitschranke in eineandere Dimension gegangen. Dir mein Freund ist dieserwunderbare Weg gelungen. Von nun an wird dir nichts unmöglichsein. Es ist dir gegeben, Wunderdinge zu erleben und zuvollbringen, auch wenn es dir noch nicht bewusst ist.

Ich werde dich lehren und dir die großen Geheimnisse desVerborgenen anvertrauen. Dein Geist ist geschaffen dafür, deinWille gibt dir die Kraft und die Energie. Die Wahrheit ist in deinemGeist verborgen, du wirst sie erkennen. Ich will deinUnterbewusstes und das Verschlossene in dir wecken. Darum sollstdu mit mir den Weg in die Welt der Geister und Dämonen gehen.Vieles wirst du erleben, was dir unverständlich erscheint. Dochhöre, es gibt für alle Erscheinungen eine Erklärung.

Es ist nur dein Geist, der auf diese fantastische Reise geht. Duerlebst sie wie einen Traum, der dir unvergesslich sein wird.“

Der Fremde ging auf Holger zu, wobei seine Bewegungen trägeund langsam, fast schwerfällig wirkten. Er schien über dem Bodenzu schweben. Füße hatte das Wesen keine, die Arme hingen wie eineschwabbelige Masse herab, seine Gestalt hatte nichts mehrgemeinsam mit jener, wie sie Holger kannte. Der Fremde schien einanderes Wesen geworden zu sein.

Mit weit geöffneten Augen starrte Holger den Fremden an undwollte sich gegen einen vermeintlichen Angriff wehren, schlug umsich. Seine Gebärden wirkten kraftlos und ohne Schwung. Die

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Schläge gingen ins Leere, eine unsichtbare Wand stoppte seineFausthiebe. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren.

Holger suchte Deckung, aber seine Beine kamen ihm schwer wieBlei vor. Es kribbelte in den Füßen. Mühsam und mit großerAnstrengung hob er die Beine, zog an ihnen mit beiden Händen, alsgelte es, sich aus einem Sumpf zu befreien, in den er langsamversinken würde. Er machte Anstalten wegzurennen, doch trat aufder Stelle, rührte sich nicht vom Fleck und schien tiefer im Morastzu versinken. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. Er schnapptenach Luft, fiel zu Boden, stürzte in einen endlosen Abgrund. Erwartete auf den Aufprall und schloss die Augen. Er versuchte zuschreien, aber kein Laut kam über seine Lippen. Tiefer und tiefer fieler. Nur noch wenige Meter trennten ihn von dem harten Boden.Dann wurde sein Fall plötzlich gebremst und er schwebte über derErde. Der Fremde hatte nach ihm gegriffen, seine Arme gepackt undzu sich heran gezogen. Holger spürte jedoch nicht seinen festenGriff, nicht die Kraft seiner Hände. Er fühlte überhaupt nichts mehr,glaubte nur, ins Bodenlose gefallen zu sein.

Alkador sah ihn drohend an und sprach: „Mein Freund, wehredich nicht dagegen. Du bist in dem Strom drinnen und kannst ihmnicht entfliehen. Lasse dich treiben! Schwebe mit mir dahin durchdie Unendlichkeit. Wir werden unser Ziel finden, mit unserenGedanken. Konzentriere dich auf meinen Geist, so können wir dieWiderstände überwinden.“

Plötzlich glaubte Holger, in einer klobigen Masse zu landen. Siewar ohne Geschmack und fühlte sich dickflüssig an. Er schritt aufihr wie auf einem Luftkissen, schwerfällig und mit ungeübtenBewegungen. Die Farbe dieser eigenartigen Masse glich der desFirmaments. Alles strahlte in einem matten royalblau. Auch seinKörper und seine Kleidung nahmen diese Farbe an. Der Fremde hobsich in einem dunklen blau deutlich davon ab.

Holger glaubte zu träumen. Er starrte das Wesen an. Die Gestaltdes Fremden hatte sich erneut verändert, deutete auf keinerleimenschliche anatomische Merkmale hin. Der Körper wirkte wieAcryl! Dessen Form zeigte sich wie eine verkorkste Tonfigur, der

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man den letzten Schliff geben musste. Der Kopf des Fremden saßauf einem völlig deformierten Leib ohne Hals, als habe man ihnzwischen die Schultern gedrückt. Die Beine und Arme waren nochnicht einmal als Ansätze zu erkennen. Wie eine Kartoffel sah dieFigur aus, hatte Holger den Eindruck und wunderte sich über dieseunerklärliche Verwandlung.

Aus der Gestalt des fremden Wesens gingen blinkende Punktehervor. Gleichzeitig erklangen Töne wie aus einer verstimmtenKirchenorgel. Holger erschrak, kniff die Augen zusammen und sahden Fremden von oben bis unten erstaunt an.

Das konnte nicht das Wesen sein, welches ich am Strand traf,überlegte Holger. Nein, das musste ein Geschöpf aus einer anderenWelt darstellen. Wie diese Veränderung zustande gekommen war,konnte er sich nicht erklären. Eben noch, vor wenigenAugenblicken, war er in Begleitung eines völlig anderen Wesens. ObMensch oder Tier, was auch immer er sein mochte, Holger wusste esnicht.

Bisher nahm er alles wie in Trance wahr. Jetzt begann er bewusstüber diese neue Realität nachzudenken. Wo war er hier bloßgelandet? Und was war aus seinem netten Begleiter geworden?Hatte er sich wirklich in dieses Wesen verwandelt oder bedeutetediese komische Gestalt eine Erscheinung seiner verwirrtenGedanken? Hatte der merkwürdige Kauz ihn entführt? Ja, so musses sein, schoss es Holger durch den Kopf. Schlimmer noch, dieserFremde vom Strand konnte ihn womöglich unter Drogen gesetzthaben.

„Er gab mir irgend so ein Zeuge. Jetzt sehe ich Fantasiegebildeund weiß nicht, wer ich bin“, murmelte er.

Krampfhaft dachte Holger nach, wie das geschehen sein konnte.Es hatte keine Möglichkeit bestanden, ihm Drogen einzuflößen. Erschloss für einen Moment die Augen und hoffte, beim Öffnen wäreder Spuk ein für alle Mal vorbei. Nichts dergleichen geschah, dasgleiche Bild bot sich ihm, nichts hatte sich verändert. Noch immersah er sich dieser klobigen Masse gegenüber. Nach wie vor stand erin einer fremden Umgebung ohne Baum und ohne Strauch, weit

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und breit keine Hügel, weder Häuser noch Straßen, geschweigedenn Menschen.

Holger stierte zu der Gestalt. Die Furcht wurde größer, sein Herzbegann stärker zu hämmern. Das Wesen sah Holger an und lächelte.

Es kam mit langsamen Bewegungen näher und sprach mit sanfterStimme: „Ich kenne deine Gedanken, Holger Jansen, du bist nochnicht überzeugt, Angst und Ungläubigkeit umgeben dich weiterhin.Mache deine Gedanken frei. Glaube das, was du mit deinen Augensiehst, öffne dein Inneres für dieses Erlebnis, mein Freund, undwehre dich nicht dagegen. Du musst akzeptieren, was deine Augenwahrnehmen und an deinen Geist weitergeben, lehne dich nicht aufmit deinen Gedanken! Wie ich dir schon sagte: Du bist in eineranderen Zeit. Man könnte sie Vergangenheit nennen. - OderZukunft, nenne es, wie du willst. Lege ab, was dich an deine Zeit, andein Leben in der Gegenwart erinnert. Hier herrschen andereDimensionen und andere Gesetze des Seins, hier sollen deineGedanken neu geordnet und gereinigt werden.“

Er stand jetzt direkt vor Holger. Sie sahen sich beide schweigendund für einige Augenblicke in die Augen. Holger kam es wie eineEwigkeit vor, er hatte das Gefühl, durch einen dunklen Tunnel zublicken, an dessen Ende schwach ein Licht zu flackern schien. Ihnfröstelte, doch nur für einen Moment. Dann spürte er eineungeahnte Wärme durch seinen Körper fließen, ganz schwach undlangsam.

Das Wesen fuhr fort: „Ich werde dir helfen, deinen Geist zureinigen und ihn mit Licht und Energie zu füllen. Ich führe dich inmein Reich, das auch das deine ist. Es ist das Reich allen Lebens,aller Seelen und aller Kräfte. In ihm sind die vielen geheimnisvollenMächte, darin ist auch der Ursprung allen Seins, von Anbeginn.

Wir sind jetzt auf einem Planeten, der sich Metan nennt. Das hier,so weit dein Auge reicht, ist das Land des Volkes Maget. Es ist eineWelt, die niemals vergeht und ewig Bestand hat. Hier gibt es keinemateriellen Werte. Doch wir haben ein besonderes Gut, das nochwertvoller und unersetzlicher ist, als alle ungezählten Schätze aufErden: das ewige Leben in einer Form, wie du sie nicht kennst.“

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Er streckte die Arme aus, die plötzlich aus dem ungeformtenKörper hervorschossen, und deutete zum Horizont. Dort zogenflimmernde Nebelschwaden entlang, die in Holger ein drückendesUnbehagen auslösten. Bedächtig wanderten seine Blicke über dasendlose Wüstengebiet, das sich scheinbar leblos vor ihm ausbreitete.Es herrschte absolute Stille, kein Laut war zu vernehmen. Dennochspürte Holger, dass auch diese Ruhe erfüllt war mit Leben undberauschenden Tönen.

Holger versuchte, seine Gedanken zu ordnen, aber er fühlte sichso leer und auf besondere Art irgendwie erleichtert. Er versuchtekrampfhaft, eine Erklärung zu finden für all das Unbegreifliche. Esfiel ihm schwer. Seine Gedanken ließen sich nicht in logische Bahnendirigieren.

„Lass' dich treiben, mein Freund“, sprach der Fremde mit ruhigenWorten, „genieße nur den Augenblick, erfreue dich an den Strahlen,die dich umgeben, nimm die Energie auf. Sie macht dich stark undgibt dir ungeahnte Kräfte. Gehe deinen Weg gemeinsam mit mir inWelten, die dich verzaubern, und wende dich ab von der Welt derLebenden ...“

Holger schoss herum und starrte mit weit aufgerissenen Augendas Wesen an.

Erregt sagte er: „Verdammt noch mal! Was wird hier gespielt? Wasmache ich hier eigentlich? Zu Hause wartet meine Frau! Wie konnteich das vergessen? Sie macht sich Sorgen. Wie lange bin ich schonhier? Stunden? Oder gar Tage? Ich weiß überhaupt nichts mehr, aberich muss fort von hier ... zurück - zu meiner Frau, ich liebe sie.Verdammt, wie komme ich bloß weg von diesem Ort, raus ausdieser Scheiße?“

Fragend musterte Holger den Fremden. „Bring' mich zurück“, forderte er.Das Wesen wandte ihm den Rücken zu und entgegnete ruhig: „Sei

unbesorgt, mein Freund, nichts geschieht gegen deinen Willen. Duwirst bei deiner Frau sein, in deiner Zeit und in deiner Welt, docherschrecke nicht vor dem, was dort geschieht. Ich komme wieder,sehr bald sogar. Und nun mein Freund, gehe dahin.“

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Holger schwanden sie Sinne, alles um ihn begann sich immerschneller zu drehen. Er stürzte unaufhörlich in die Tiefe, versuchtemit aller Macht, sich irgendwo festzuhalten. Aber es gab nichts,woran er sich klammern konnte. Holger fiel weiter ins Endlose, eswurde schwarz um ihn, dunkle Nacht ...

*

Ein fürchterlicher Schrei gellte durch die Nacht. Kurz daraufkamen einige Menschen aus ihren Häusern, andere schautenneugierig aus den geöffneten Fenstern und fragten, ob etwaspassiert sei. Hastend und erschreckt rannten ein paar Leute über dieStraße, gingen zu der Stelle, von wo der Schrei kam. Hinter einemBretterzaun vernahmen sie ein schwaches Winseln. Sie sahen einenMann am Boden liegen, herumtobend und wild um sich schlagend.Er konnte sich gar nicht beruhigen. Abwartend stand die kleineMenschengruppe um ihn, unfähig, etwas zu seiner Beruhigung zuunternehmen. Niemand wagte sich näher. Eine ältere Frau drängtesich vor, sah den Mann erstaunt an.

Dann sagte sie: „Den kenne ich, das ist Herr Jansen. Der wohntgleich da vorne.“

„Was, wer soll das sein?“, fragte ein Mann und beugte sich zu demam Boden Liegenden nieder.

„Den kenne ich nicht“, fuhr er fort und schüttelte den Kopf.Wieder brüllte Holger los, dass die Menge erschrocken

zurückwich. Er fauchte und knurrte wie ein wildes Tier, riss seinenHemdkragen auf, hielt sich mit der rechten Hand krampfhaft amBretterzaun fest und schrie erneut.

Hysterisch stammelte er: „Hilfe! - Aahh, ich - der Sumpf. Ichersticke. Aaahh, Hilfe! - Alles, alles voller Brei. Bääah, blauerMus ...“

Neugierig zwängte sich eine junge Frau nach vorne, blickte denMann erstaunt an und sagte zu den anderen: „Ja gibt's das denn?Das ist wirklich Herr Jansen, so kenn' ich den gar nicht. Sonst ist derimmer so freundlich und höflich. Aber jetzt ...“

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Eine ältere Frau hatte sich vorgeschoben. Sie sah den Mann amBoden und lachte laut.

Cholerisch schrie sie: „Der Kerl hat wohl 'ne Macke, der spinntdoch. Das sieht ein Blinder, dass der nicht richtig im Kopf ist.“

Nun wurden auch die anderen mutiger. Die Spannung hatte sichgelegt. Sie umringten den Mann.

„Der hat wohl zu heiß gebadet oder einen Sonnenstich bei derHitze bekommen“, lästerte jemand.

Ein anderer bemerkte: „Ach was, der ist total besoffen, guckt euchbloß seine rote Nase an. Da sieht man es.“

„Der ist aus der Klapsmühle in Tuddensen abgehauen!“, konnteman eine Frau kreischen hören.

Es waren inzwischen weitere Passanten hinzugekommen. Sieschauten den anderen über die Schultern, neugierig, um zu sehen,was sich hier Interessantes abspielte.

Erschreckt wich die Masse zurück, als Holger erneut losbrüllte:„So helft mir doch, ich sterbe. Das – da ... das Kartoffelgesicht, derSumpf ...“

Einige der Herumstehenden schüttelten den Kopf, andere lachtenoder grinsten, manche machten auch besorgte Gesichter, aber keinerwagte sich näher heran. Furcht hielt sie zurück, sie hatten Angst vordem Mann, der ihnen unheimlich erschien. Auch lag Unsicherheitauf ihnen, weil sie nicht wussten, wie man helfen konnte.

Dann zwängte sich ein Arzt durch die Menschenmenge, dieinzwischen noch größer geworden war. Irgendjemand hatte ihngerufen. Viele Neugierige fanden sich ein und beobachteten, wasder Doktor feststellte. Er kniete vor dem am Boden liegenden Mann,zog aus seiner Jackentasche ein sauberes Tuch hervor und tupfteHolger die Schweißperlen von der Stirn. Er sah ihm tief in dieAugen und sprach beruhigend auf ihn ein. Holger schien nochimmer vollkommen verstört zu sein, denn er zitterte am ganzenKörper. Er wich erschreckt zurück, als der Arzt ihn berührte, undhielt seinen rechten Arm schützend vors Gesicht. Mit geweitetenAugen sah er sich um.

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„Keine Angst, mein Herr, es geschieht ihnen nichts, bleiben sieganz ruhig. Ich will ihnen helfen“, sagte der Arzt.

Holger atmete tief und schwer. Den Mund hatte er weit geöffnet.Er wollte etwas sagen, brachte jedoch keinen Ton hervor.

Der Arzt legte seine Hände vorsichtig auf Holgers Arme und fuhrfort: „Es ist gut, es ist alles gut, niemand tut ihnen was. Sie brauchenkeine Angst zu haben. Wollen sie mir ihren Namen sagen?“ -

Holger nickte ein paar Mal, antwortete stotternd: „Ich bin – ich ...ich weiß nicht genau - ich, ich glaube, ich ... mein Name - er mussJansen sein. Kann sein - vielleicht, oder? Wer weiß das schon? Wer ...wer bin ich? - Ja, Jansen. Holger Jansen - das ist mein Name ... ja!“ Erbrach ab. Hastig ging immer noch sein Atem. Nach kurzer Pausefuhr er entsetzt fort: „Was ist? Wer, verdammt noch mal, wer sindsie?“

Er wischte sich schnell den neu ausgebrochenen Schweiß aus demGesicht. Vor seinem geistigen Auge tauchten die Ereignisse dervergangenen Minuten und Stunden auf, ganz deutlich, als erlebe eralles ein weiteres Mal. Holger starrte den Arzt mit weitaufgerissenen Augen an.

Fast verwundert sagte er: „Ein Mensch! Ein ... ein richtiger ganznormaler Mensch. - Woher nur? Was, was ist ... wo bin ich?“

Verwirrt schaute Holger hoch, sein Blick ging zum Himmel, anden vielen Menschen vorbei, die vor ihm standen. Verstört wandteer sich an den Arzt.

„Die Wüste ... sie ist weg. Was ... wo ist das Metan? - Und ihr? -Kommt ihr von Maget? Ihr seid anders, nicht so hässlich ...“

Wieder brach Holger ab. Er riss seine Augen auf, stierte immerwieder um sich.

Kaum hörbar murmelte er: „Dunkel - Nacht. Die Sonne, wo ist sie?Und die Sterne? - Weg! Warum? Wo? – Sand ... nur Sand, Sand undnochmals Sand. Eine einzige Wüste - kein Halt – ich ... ich stürze - esverschlingt mich - ein tiefes Loch. – Jetzt ... jetzt ... Es ... es zieht mich... zieht mich tiefer und tiefer. - Die Wesen, wo verdammt, sind dieseWesen?“

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Holgers Augen starrten ins Leere. Er presste die Lippen festzusammen und atmete tief durch die Nase, sein Gesicht lief rot an.Es war ruhig geworden in der Ecke hinter dem Bretterzaun. Keinersagte einen Ton, niemand wagte, irgendetwas zu entgegnen. Nurdas Rauschen des Meeres konnte man für einen Moment hören.Gespannt blickte die Menge auf Holger.

Plötzlich verdrehte er seine Augen und schrie erneut los, schlugmit den Händen um sich, als wolle er einen Angreifer abwehren.Dabei stieß er markerschütternde Schreie aus. Die Menschen fuhrenerschreckt zusammen, manchen trieb es einen eisigen Schauer überden Rücken, andere hatten genug gesehen und gingen weiter. Eswurde ihnen unheimlich zumute oder sie hatten kein Interesse mehran dem Verrückten.

Nur mit Mühe konnte der Arzt den schreienden Mann beruhigen.Es bereitete einige Anstrengungen, Holgers Arme festzuhalten, erwehrte sich verzweifelt dagegen. Schließlich gelang es dem Arzt,Holger eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. Da endlich wich dieKraft aus seinem Körper. Holger blieb regungslos, aber mitgeöffneten Augen liegen. Sein heftiger Atem wurde ruhiger. DieMenschenmenge, oder das, was von ihr übrig geblieben war, kamwieder ein paar Schritte näher, nachdem sie keine Gefahr mehrerkannte und der Mann sich endlich still verhielt. Vereinzeltebeugten sich nieder zu Holger.

„Das ist tatsächlich Herr Jansen“, stellten manche von ihnen fest. „Was ist nur mit ihm passiert? So kennt man ihn nicht. Hatte er

einen Unfall? - Holt doch mal jemand seine Frau!“, rief einer derNeugierigen.

„Wirklich“, antwortete ein älterer Herr, „er ist es, das ist HolgerJansen. Ich werde sofort seine Frau verständigen. Die wird mächtigstaunen, wenn sie das hier sieht.“

Schon eilte er los, ging ins nächste Gebäude und hastete die Stufenzur dritten Etage empor. Vor der Wohnungstüre drückte er langeauf den Klingelknopf, bis ihm geöffnet wurde. Mit hastendem Atemberichtete er der Frau von dem Zwischenfall unten auf der Straße.

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Wenig später zwängte sich eine jüngere Frau aufgeregt durch dieMenschenansammlung. Die Frau hatte schulterlange gewellte unddunkle Haare, ihre braunen Augen blickten voller Sorgen zu denneugierig glotzenden Menschen. Angstvoll beugte sich die Frau zuihrem Mann runter.

„Holger, mein Liebling! Was ist geschehen? Hat dich jemandüberfallen? – Holger ... so antworte doch. Holger! Oh Gott. Hörst dumich, Holger? Bitte Liebling, sprich, sag' doch endlich was,irgendetwas!“, plapperte sie aufgeregt auf ihren Mann ein.

Tränen traten ihr in die Augen, liefen die Wangen herunter. Siestreifte sich die dichten Haare zurück, die ihr immer wieder insGesicht fielen. Besorgt und mit fragenden Augen stierte sie zu demMann hin, der neben ihr kniete.

„Ich bin Arzt. Doktor Steffen“, stellte er sich vor. „Machen sie sichkeine Sorgen. Das kriegen wir wieder hin“, sprach er beruhigendauf die Frau ein und fuhr fort: „Ihr Mann hat unverständliche Wortegesprochen, als habe er den Verstand verloren. Zum Glück scheinter unverletzt zu sein. Jedenfalls habe ich nichts festgestellt. Aberseine gesamten Reaktionen weisen offenbar auf einenNervenzusammenbruch hin, vermutlich durch einen Schock oderÜberarbeitung hervorgerufen. Jetzt hat er sich zum Glück wiederberuhigt.“

Sie erhoben sich beide. Aufgeregt sagte die Frau: „Entschuldigung, ich bin Marion Jansen.

Das ist mein Mann. Was sollen wir bloß tun? Wir können ihn dochhier nicht liegen lassen, wir müssen ihn nach Hause bringen ... wirwohnen gleich da drüben.“

Sie wandte sich um und deutete auf die andere Straßenseite.Der Arzt nickte und antwortete: „Natürlich, gehen sie schon vor,

wir kommen nach, gleich. Aber besser wäre, sie würden einenKrankenwagen rufen, damit er ...“

„Das kommt überhaupt nicht infrage“, unterbrach ihn die Frauwirsch, „wir bringen ihn nach Hause!“

Doktor Steffen nickte: „Natürlich, wie sie wünschen. Ich kommegleich mit ihrem Mann ...“

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Der Arzt wandte sich zu den Schaulustigen und rief: „Ich brauchezwei starke Männer! Wir müssen diesen Herrn nach Hause schaffen.Wer hilft mir?“

Plötzlich löste sich die Menschenmasse auf, rasch stoben die Leutein verschiedenen Richtungen davon. Zwei kräftige Burschenblieben, hoben Holger hoch und schlangen ihre Arme um seineSchultern. Mühsam schleppte sich der Mann auf wackligen Beinenvorwärts. Er murmelte unverständliche Worte, sinnlos, ohne jedenZusammenhang.

„Kartoffelgesicht, eine Million Jahre alt ... weit, weit weg ... in - inder Vergangenheit ... was für eine wunderschöne Welt ... Zukunftvorbei – Vergangenheit kommt noch.“

Schließlich hatten die beiden Männer Holger in seine Wohnunggebracht und ihn vorsichtig auf die Couch im Wohnzimmer gelegt.Marion holte eine Wolldecke aus dem Schlafzimmer und breitete sieliebevoll über ihrem Mann aus. Tränen standen ihr erneut in denAugen, auf ihrer Stirn zeigten sich tiefe sorgenvolle Fältchen.Marion beugte sich zu Holger nieder und drückte ihm behutsameinen Kuss auf die Wange, den Holger nicht spürte. Er schliefbereits, sein Atem ging ruhig und gleichmäßig.

Die beiden Männer waren wieder gegangen, nur Doktor Steffenblieb noch. Er schaute besorgt nach dem schlafenden Holger undfühlte seinen Puls. Beruhigt erhob er sich und wandte sich anMarion.

„Wecken sie ihn nicht, lassen sie ihren Mann für heute Nacht aufdem Sofa schlafen, er braucht Ruhe, viel Ruhe. Ich weiß nicht, waspassiert ist da unten, vielleicht die Hitze, es war heute auch zu vieldes Guten. Dieser Backofen haute viele um. - Ich habe ihrem Manneine Spritze gegeben, er wird erst mal die Nacht durchschlafen.Sollte er sich wieder aufregen, rufen sie mich an. - Hier!“

Er unterbrach sich, kramte eine Visitenkarte aus der Brieftaschehervor und reichte sie Marion.

„Da ist meine Adresse, sie können mich die ganze Nachterreichen. Wenn ihr Mann keinen Hausarzt hat, stehe ich ihm gerneweiterhin zur Verfügung. Dann sollte er morgen acht Uhr zu mir in

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die Praxis kommen. Oder er spricht seinen Arzt gleich morgendirekt an.“

Marion nickte heftig. Man sah ihr die Aufregung an. Sie rieb sichnervös die Handflächen und starrte zu ihrem Mann. Eine gewisseBeängstigung lag in ihrem Blick. Doktor Steffen war das nichtentgangen.

„Nicht vergessen, morgen acht Uhr! Und sie kommen am bestenauch mit“, wiederholte der Arzt.

Er lächelte und verlieh seiner Stimme einen beruhigenden Klang.Für den Moment konnte er nichts mehr tun.

Doktor Steffen erhob sich aus dem Sessel und trat neben Marion. Er drückte sanft ihre Hände und fuhr fort: „Machen sie sich keine

Sorgen, es wird alles wieder gut, dessen bin ich ganz sicher.“ Er machte eine kleine Pause, wandte sich kurz zu dem schlafenden

Holger hin und fuhr dann fort, wobei er gequält lächelte: „DerSchlaf ist Erholung für ihren Mann, sie werden sehen, morgen gehtes ihm bedeutend besser. Aber wie gesagt, er sollte sich trotzdemgründlich untersuchen lassen. Nur zur Vorsorge. - Sie sollten sichjetzt auch hinlegen, es ist spät geworden.“

Marion begleitete Doktor Steffen zur Tür. Sie schaute ihm kurzhinterher, als er die Treppe hinunter ging, und schloss dann dieWohnungstür. Mit einem kräftigen Seufzer lehnte sich Marion gegendie Wand und heulte hemmungslos aus sich heraus. Dieser Schockwar zu viel für sie. Nach ein paar Sekunden holte sie tief Luft,wischte sich mit den Handflächen die Tränen und den Schweiß ausdem Gesicht und eilte ins Wohnzimmer zu Holger. Sie kniete nebenihm vor der Couch. Sanft streichelten ihre Finger über seineWangen. Sie küsste zart seine Stirn, ganz vorsichtig, damit sie ihnnicht weckte.

Mit tränenunterdrückter Stimme murmelte sie: „Oh mein Liebling.Was ist nur passiert? Warum? - Weswegen du? Aber alles, alles, eswird wieder gut, ich helfe dir, wir schaffen das. Gemeinsam! DieLiebe macht uns stark, nichts wird unser Glück, unser Lebenzerstören. Wir gehören zusammen, und wir überstehen alleGefahren.“

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Angst und Sorgen standen in ihrem Gesicht. Sie dachte an diewundervolle Zeit mit ihm und legte liebevoll ihren rechten Arm umseinen Kopf. Wieder standen Marion Tränen in den Augen, als siezu Holger schaute. Doch nichts konnte die Erinnerung an diewunderschöne Zeit trüben, auch nicht dieser Schlag, egal, wasimmer ihn umgehauen haben mochte. Nein, sie würde ihren Holgernicht aufgeben, würde um ihn kämpfen. Gemeinsam konnten siediese Krankheit besiegen. Bestimmt handelte es sich nur um einenkleinen Schwächeanfall. Vermutlich der Kreislauf, versuchte sie sichzu beruhigen.

„Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Ja morgen, dasist ein neuer Tag“, murmelte Marion und richtete sich nach einerWeile mühsam auf. Die Beine waren ihr vom Knien eingeschlafen,der Rücken schmerzte.

Marion schlürfte über den Flur, hinüber ins Schlafzimmer. DieTüren ließ sie in Sorge um ihren geliebten Schatz weit geöffnet. Siekonnte in dieser Nacht nicht so recht schlafen. Lange lag sie wachund dachte an Holger. Wirre Gedanken schwirrten durch ihrenKopf. Sie wälzte sich unruhig im Bett von einer Seite auf die andere.Schweißgebadet schob sie die Bettdecke weit von sich. Irgendwannschlief sie schließlich ein. Sie merkte es an ihren unsinnigenrealitätsfremden Träumen, es muss wohl schon gegen Morgengewesen sein, jedenfalls kam es ihr so vor.

Spät in der Nacht erwachte Holger, ein Geräusch hatte ihngeweckt. Es konnte vielleicht ein lauter Knall gewesen sein, genauvermochte er es nicht zu bestimmen. Im ersten Moment wusste ernicht, wo er sich befand. Allmählich nahm er die vertrauteUmgebung wahr und erinnerte sich an den vergangenen Abend, andas fremde Wesen, die Wüste, den Sumpf, das Objekt am Strand. Erversuchte, das Erlebte ins Gedächtnis zu rufen.

Mühsam richtete er sich auf. Müde schlürfte er zur Küche hinüber,um ein Glas Mineralwasser zu holen, seine Kehle war wieausgetrocknet. Er stand vor dem Kühlschrank, wollte die Türöffnen, als er aus dem Nebenzimmer ein kurzes und lautes Knarrenhörte.

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„Marion?“, rief er unwillkürlich. Als er keine Antwort bekam, ging er nach nebenan, öffnete die

Zimmertür und schaltete das Licht an. Im grellen Schein der Lampestand eine junge Frau. Sie mochte 25 Jahre gewesen sein, älter nicht,eher jünger. Ihr blondes gelocktes Haar reichte bis auf die Schultern,ihr Teint zeugte von absoluter Reinheit, makellos und leichtgebräunt. Die grünblauen Augen wirkten wie zwei Smaragde imklaren Quellwasser. Sie trug eine knöchellange Palla mit einerseidenen Stola, die beide die Schönheit ihres Körpers bedeckten undseine Formen nur vermuten ließ. Holger hatte sich erschrocken. Erstarrte die Frau verwundert von oben bis unten an.

„Wer, wer sind sie?“, stotterte er verlegen.Das weibliche Wesen sagte kein Wort, lächelte und winkte Holger

zu, doch er wich unwillkürlich zurück. So sehr diese Frau ihn auchfaszinierte, blieb doch eine verhaltene Distanz vor der Unbekannten,die ohne sein Wissen im Zimmer stand. Jedenfalls hatte Marionnichts von einem Gast erwähnt.

„Sind sie eine Freundin von Marion?“, forschte Holger, „ich binihr Mann, wissen sie - wo ist Marion?“

Die Frau war näher gekommen, sie stand Holger direkt gegenüberund schaute ihm tief in die Augen. Ihm fröstelte. Er spürte eineneisigen Schauer über seinen Rücken ziehen, fühlte ein Unbehagen inseinem Magen. Ihre Augen brachten sein Blut zum Kochen, siefesselten ihn, nahmen ihm jede Reaktionsfähigkeit. Wie versteinertstand Holger da. Er wollte etwas sagen, doch brachte keinen Tonhervor. Es müssen Ewigkeiten vergangen sein, die er regungslosund schweigend dieser faszinierenden Frau gegenüberstand.

Endlich sagte sie: „Noformus will dich töten, er sucht nach dir undhat deine Spur bereits gefunden. Ich bin gekommen, um dich zuwarnen. Er ist gefährlich, sieh' dich vor, Begdon!“

Holger schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht, wie war das gleich? Be ... Be ... Dingsda“, sagte er

verwundert und schaute die Frau fragend an.Eine Antwort bekam er nicht. Die Unbekannte begann plötzlich zu

glühen wie eine überhitzte Herdplatte. Eine ebensolche Hitze

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strahlte sie aus. Holger hielt schützend seine rechte Hand vor denKopf und kniff die Augen zusammen. Ein Summen ertönte, das fastunerträglich in den Ohren schmerzte. Holger wollte das Zimmerverlassen, doch es gelang ihm nicht, er fühlte sich von einerunbekannten Macht gefesselt und stand regungslos da. Die Frauschmolz wie Eis dahin. Vor Schreck keiner Bewegung fähig, starrteHolger auf das seltsame Schauspiel. Dann befiel ihn Furcht,grenzenlose unbeschreibliche Angst vor dem unbekannten Wesen,das an seinen ohnehin angespannten Nerven zerrte und ihm dieKehle zuschnüren wollte. Die Situation erinnerte ihn an seinvergangenes Erlebnis. Er spürte den Schweiß auf seiner Stirn, derihm in kleinen Rinnsalen bis in den Nacken tropfte. Holger tastetenach dem Lichtschalter, konnte ihn jedoch nicht finden. Diesesschreckliche nervtötende Summen raubte ihm fast den Verstand.Holger hielt sich mit den Händen beide Ohren zu. Plötzlichverstummte das unangenehme Geräusch.

Holger erschrak, als er die Stimme von Marion, seiner Frau, hörte.Wie aus heiterem Himmel klang sie an sein Ohr. Er hatte Marion garnicht kommen hören.

„Was ist mit dir, Holger? Warum schläfst du nicht? Was machst dumitten in der Nacht da?“, wollte Marion wissen.

Verunsichert drehte er sich um, wirkte nervös und verstört. „Ich ... ich war durstig ... wollte mir ein Glas Wasser holen ... aus

der Küche ...“ antwortete er.„Aber du bist im Gästezimmer!“, stellte Marion besorgt fest. Sie verschränkte ihre Arme über der Brust. Holger erkannte ihren

sorgenvollen Blick. Er starrte sie an und nickte. „Ja ich weiß“, sagte er abwesend. „Ich habe hier ein Geräusch

gehört ...“, versuchte er, Marion zu beruhigen, bewirkte allerdingsdas Gegenteil.

„Was für ein Geräusch?“, fragte Marion rasch und starrteverängstigt zu der Stelle hin.

Holger winkte ab und hielt mit seinen Händen liebevoll ihrenKopf.

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„Ach nichts, es muss wohl von draußen gekommen sein, vielleichtwar es auch ein Knacken im Gebälk“, beruhigte er.

Holger schob sich an Marion vorbei, die noch immer an der Türstand, und ging zurück ins Wohnzimmer. Er hockte sich auf dieCouch und stützte den Kopf müde in beide Hände. Marion schritt indie Küche und holte ihrem Mann ein Glas Mineralwasser.„Hier“, sagte sie dann, „das wolltest du doch“. Sie stellte das Glas neben der Couch auf den Tisch. Holger sah sie

an, lächelte und nickte kurz. Marion gab ihm noch einen Kuss und sprach liebevoll: „Komm'

mit ins Schlafzimmer. Morgen sieht die Welt schon anders aus, jetztwollen wir uns hinlegen und schlafen. Ja?“

Sie streichelte zart über sein Gesicht und schlenderte gemächlichins Schlafzimmer. Holger trank sein Glas aus und folgte ihr. Es wareine Wohltat, im weichen Bett zu liegen. Er hörte noch eine Weiledas rhythmische Atmen von Marion. Irgendwann schlief er ein. Inseinen Träumen hatte er die Erlebnisse der letzten Stundenvergessen.

Marion hatte den Wecker auf sieben Uhr gestellt. Sie fühlte sichwie erschlagen, als er klingelte und sie aus dem schönsten Schlafriss. Sie weckte Holger, der sofort hellwach war und insBadezimmer eilte. Am Frühstückstisch sprachen sie über dieEreignisse des vergangenen Abends. Ausführlich erzählte Marionihrem Mann, was vorgefallen war, von dem was sie wusste.„Weißt du, was gestern passiert ist?“, murmelte sie und sah

Holger fragend an.Er schüttelte den Kopf und strich sich durchs Haar. „Wenn ich das nur wüsste, wäre mir wohler“, antwortete er.„Gestern Abend, ein Arzt hat sich um dich gekümmert“, sagte

Marion und deutete zum Küchenschrank, „er hat seine Visitenkartedagelassen. Es wäre besser, wenn du heute früh gleich mal bei ihmvorbeigehst. Ich versprach ihm, dass du kommst. Vielleicht, wenndu mit ihm redest, ich meine - er weiß bestimmt, wie das passierteund warum ...“

Holger wehrte heftig ab.

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„Nein, nein, es ist schon gut, ich brauche keinen Arzt. - Und wenn,dann sowieso nur meinen Hausarzt, Doktor Begemann. Überhaupt,was war los? Die Hitze gestern machte mir zu schaffen, anderenaber auch.“

Er stand vom Frühstückstisch auf und holte sich von derKommode im Flur seine Zigaretten.

Schade, dass er dabei nicht in den Spiegel blickte, dann hätte erden Schatten dort bemerkt, eine Gestalt, die ihn kritisch musterte.

Marion schaute ihren Mann besorgt an. Sie lächelte und meinte: „Das musst du wissen, ich meine nur.

Und der Arzt, ich glaube Steffen heißt er, sagte auch, es wäre nichtverkehrt, wenn du mal mit ihm über den gestrigen Tag redest. Ermöchte gerne wissen ...“„Ich kenne diesen Mann nicht“, unterbrach Holger sie, „und ich

bin auch nicht krank. Was soll das? Ist dir noch nie schlechtgeworden? Hattest du nicht auch schon Alpträume?“„Ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich“, wandte Marion ein. Man konnte den bekümmerten Klang aus ihrer Stimme

heraushören. Aber Holger winkte ab. Er lief nervös im Wohnzimmerauf und ab, spürte die Unruhe in sich aufkommen und rieb diefeuchten Handflächen an seinen Hosenbeinen ab.„Was soll das? Verstehe doch, ich bin kerngesund, mir fehlt nichts.

Das gestern, es war einfach zu viel bei dieser Hitze. Ich hatte schwergearbeitet, den ganzen Tag vor dem Computer gehockt in diesemAffenstall. Mir glühte der Kopf ...“

Er strich mit den Händen über die Stirn. Was war nur los mit ihm,warum fühlte er sich plötzlich so heiß? Es herrschte doch heute eineangenehme Temperatur, nicht diese schwüle Luft wie gestern. Undwarum wurde ihm auf einmal so schwindlig? Nur nichts anmerkenlassen, dachte er. So tun, als sei überhaupt nichts, ganz ruhigbleiben, redete er sich ein. Er kam langsam vom Fenster weg undsetzte sich in einen Sessel. Die Zigarette schmeckte ihm plötzlichnicht mehr, er drückte sie im Aschenbecher aus. Marion fiel gleichdie Veränderung an Holger auf.

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Beunruhigt fixierte sie ihren Mann und fragte mit erregter Stimme:„Holger, was ist? Fühlst du dich nicht gut? Sag' doch was!“

Sie kam näher, ging vor Holger in die Hocke und strich durch seinHaar. Marion sah ihn besorgt an. Aber er lächelte nur. Es ging ihmschon wieder gut, der Moment des Unwohlseins war vorbei, alswäre nichts gewesen. Er streichelte über ihr Gesicht und lächelte siean. Dann erhob er sich und wollte in die Küche gehen. Als er im Fluran der Garderobe vorbeiging, glaubte er im Spiegel ein fremdesGesicht gesehen zu haben und zuckte zusammen. Er blieb stehenund schaute noch mal in den Spiegel. Der Atem stockte ihm, daswar nicht er, nicht sein Spiegelbild, was er sah. Da stand ihm einvollkommen fremder Mensch gegenüber. Holger wischte sich überdie Augen, schaute wieder in den Spiegel. Es gruselte ihn, als er nunin sein eigenes Spiegelbild sah. Erleichtert atmete er auf.„Na, das will ich aber meinen“, murmelte er zufrieden, „ist doch

alles in Ordnung, ich sehe wirklich schon Gespenster.“Holger ging weiter, um aus der Küche ein Glas Orangensaft zu

holen. Beim Eingießen dachte er an das Ereignis von eben. Waswürde geschehen, wenn er jetzt gleich erneut an derSpiegelkommode vorbeilief, er ein weiteres Mal diesen Fremdensieht? Ach was, alles Einbildung, dachte Holger. Er nahm sein Glasund schritt zum Wohnzimmer. Unwillkürlich legte er einen Schrittzu, als er über den Flur kam. Er vermied einen Blick in den Spiegel,was vielleicht gut war. Als er das Wohnzimmer betrat, kam beiHolger unerklärliche Unruhe auf, sein Herz pochte bis zum Halsund seine Finger zitterten. Marion fiel das nicht auf, sie blätterte ineiner Illustrierten, die vor ihr auf dem Tisch lag.„Was machen wir heute an diesem schönen Tag?“, forschte Holger.Marion blickte auf, sie überlegte einen Moment und antwortete

dann: „Wie wär es mit einem Ausflug in die Heide?“Da brauchte er nicht lange nachzudenken, die Idee fand er

ausgezeichnet. Ein zufriedenes Lächeln signalisierte HolgersZustimmung. Es bedeutete gleichzeitig die Erlösung aus dieserbedrückenden Starre, die um ihn lag. Ja, ein Ausflug, da konnte er

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neue Energien sammeln, die er dringend nötig hatte, undabschalten, vergessen, was vorgefallen war und ihn belastete.

*

Sie erreichten gegen Mittag die Autobahnabfahrt Evendorf undfuhren von dort weiter auf der leicht holprigen Landstraße bisWilsede. An der Hauptstraße lag das weithin bekannte Restaurant„Heidschnucke“. Es forderte regelrecht zu einer ausgiebigenZwischenmahlzeit auf. Marion und Holger kamen nicht daranvorbei. Nach dem Essen machten sich die beiden zu Fuß weiter,wanderten zum Wilseder Berg, einer kahlen und in alleHimmelsrichtungen auslaufenden Erhebung von knapp 170 Metern.Von der Höhe bot sich ihnen ein wunderschöner Rundblick über dieausgedehnte Heidelandschaft. Holger genoss diesen Anblick, eineWohltat für seine Seele. Er ließ sich ins warme Gras fallen, strecktealle viere von sich und blickte gedankenverloren zum Himmel. Tiefatmete er die frische Luft mit einem Aroma von getrocknetem Heuein.

Die Sonne brannte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel. Eswar noch heißer als an den beiden vergangenen Tagen. Die Schwüleempfand Holger nicht so drückend wie gestern, was an demseichten Wind, der hier oben wehte, lag.

Holger wusste nicht, wie lange er im Gras lag. Als er sich erhob,stand die Sonne nicht mehr so hoch am Himmel. Sie hatte seineHaut gerötet. Er spürte ein unangenehmes Brennen auf seinenSchultern und an den Armen, was ihn nicht sonderlich störte. Einzigdie Entspannung erschien ihm wichtiger als alles andere. Er hieltAusschau nach Marion. Sie stand abseits an einem kleinenFischweiher und spielte versonnen mit ausgedörrten Grashalmen.Holger lächelte und erhob sich, schritt langsam über einen schmalenKiesweg zu einer Baumgruppe, wo er sich in deren Schatten auf einespröde Bank setzte. Er senkte den Kopf und blickte nach unten. EinKäfer krabbelte zwischen den Grashalmen entlang. Holger schauteihm eine Weile zu. Dieses kleine unscheinbare Tierchen ließ eine

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angenehme Zufriedenheit in Holger aufkommen, Freude über dievielfältigen Formen des Lebens. Viel Geheimnisvolles hielt es bereitund verzauberte mit seinen ungezählten Varianten, da spielte dieserkleine Käfer seine bestimmte Rolle.

Interessiert beobachtete Holger das Tier, wie es fast angestrengtund wild mit den Beinen zappelnd versuchte, den nächstenGraszipfel zu erreichen. Der neigte sich zur Seite, wodurch derKäfer das Gleichgewicht verlor und kopfüber im Gras landete.Verzweifelt versuchte er, auf die Beine zu kommen. Es gelang ihmund er krabbelte weiter, als sei nichts geschehen. Irgendwannverschwand er zwischen den Grashalmen.

Holger richtete sich auf, lief über den Kiesweg weiter am Seeentlang. Das rhythmische Plätschern der seichten Wellen klang ansein Ohr. Marion war ihm gefolgt, ohne dass er es bemerkte. So sehrsie sich auch beeilte, sie konnte ihn nicht einholen. Sie rief ihm einpaar Worte zu, die ungehört verhallten. Holger drehte sich nichtnach ihr um. Marion änderte ihre Richtung und stampfte quer übereine Wiese, auf ein kleines Wäldchen zu. Jetzt bemerkte Holger sie,sah, wie Marion hinter einer Anhöhe verschwand. Er versuchte, ihrzu folgen. Der Kies unter seinen Schuhen knirschte, die Geräuschewurden immer bohrender und lauter, schmerzten in seinen Ohren.Holger verharrte in seinen Schritten, trat sanfter auf, doch jederSchritt drang hart an sein Trommelfell. Kurz darauf begann es sogar,unerträglich zu summen. Er hielt sich die Handflächen davor undrieb an beiden Ohren.

Dann fiel der Kiesweg plötzlich steil vor ihm ab. Erschreckt bliebHolger stehen, doch ein Abgrund riss ihn im nächsten Momentunaufhaltsam in die Tiefe. Holger wollte schreien, brachte aberkeinen Laut über seine Kehle, sie schien wie zugeschnürt undausgetrocknet. Er ruderte mit den Armen, fand aber keinen Halt.

Das ist das Ende, dachte er. Was geschieht mit mir? Wohin stürzeich? Verdammt, nicht schon wieder solches Trauma! Aber es ließsich nicht aufhalten, der Sturz ging immer tiefer, Welten schienen anihm vorbei zu rasen. Holger fiel in sein Unterbewusstsein, nähertesich unaufhörlich seinem Ich, tief in seiner Seele. Dieser Sturz war

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es, der so plastisch und realitätsbezogen wie der Fall in die Tiefeeines Abgrundes wirkte. Geistergestalten tauchten vor Holger auf,Schattenbilder, für kurze Augenblicke nur. Unbekannte Wesenstreckten ihre Hände nach ihm aus, konnten ihn nicht packen, er fieldurch sie hindurch, weiter in die Tiefe. Niemand konnte seinen Fallstoppen.

Er glaubte Stimmen zu hören, die nach ihm riefen. „Holger, hier!“,vernahm er deutlich und schaute sich suchend um. Es war nichtsund niemand zu sehen. Nach endlosen Sekunden endete sein Sturzin die Tiefe und er landete auf einer weichen nebelartigen Masse.Rings um ihn blaues Licht und weiße Wolkenfetzen. Grüne Farbeschimmerte zwischen allem hindurch.

Wieder vernahm er die Stimmen: „Holger, hier herüber. Springeüber diesen Abgrund.“

Holger blickte nach unten, sah keinen Abgrund, keine Spalte,nichts, nur diese Nebelschwaden, die ihm bis zu den Knien reichten.

Wieder drangen die Worte an sein Ohr: „Holger, schaue dich nichtum. Spring'. Komm' her!“

So sehr er sich auch anstrengte und umschaute, er konnteniemanden entdecken. Was sollte er tun? Springen? Aber wohin? Erkonnte nichts erkennen, und in diesem Nebelgeschwader fühlte ersich zu unsicher.„Spring' endlich, Holger!“, drang erneut die unbekannte Stimme

an sein Ohr, diesmal im Befehlston und so überzeugend, dass erwahrhaftig lossprang. Irgendwohin. Er schwebte durch die Luft,Ewigkeiten schien es zu dauern, nicht enden wollend. Er hatte einbefreiendes Gefühl, so angenehm leicht kam er sich vor. Baldgelangte er an einem unbekannten Ziel an, in einem hellleuchtenden Etwas, was er nicht genauer identifizieren konnte, eswirkte zu sehr verschwommen.„Wo ... wo bin ich?“, stotterte er.„Hab' keine Furcht Holger, dir geschieht hier kein Leid. Es ist

nichts, was dich beunruhigen könnte“, bekam er zur Antwort.„Wer spricht da?“, forschte er, wobei seine Augen nervös durch

die Helligkeit wanderten und versuchten ein Ziel zu finden.

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„Ich bin Noformus“, antwortete die Stimme und fuhr fort: „Ichhabe dich zu mir in mein Reich geholt, jenseits des Realen. Du hastunendliche Zeiträume überwunden und bist zu mir gekommen indie tiefste Vergangenheit des Universums, in das Reich derEwigkeit. Welten zogen an dir vorüber ...“

Noformus, überlegte Holger krampfhaft. Dieser Name kam ihmbekannt vor. Er wusste, ihn vor Kurzem gehört zu haben. Eineunangenehme Erinnerung verband er damit. Er wurde in seinenGedanken unterbrochen, als eine vertraute Stimme ihn ablenkte. Darief jemand seinen Namen. Von sehr weit klang die Stimme an seinOhr.„Holger! Hallo Holger!“, hörte er die Rufe einer Frau. Ihre Stimme

klang sehr besorgt und verängstigt. „Was ist passiert mit dir? Bist dugestürzt? Warum liegst du am Boden? So sag' doch endlich was!“

Erst jetzt erkannte Holger die wirkliche Situation.Halb verstört und wirr sprach er: „Ich weiß es nicht. Mir muss

wohl schwindlig geworden sein.“ Er richtete sich mühsam auf undbrummte: „Es geht schon wieder, nur ein kleiner Ausrutscher ...“

Beunruhigt sah Marion ihren Mann an und meinte: „Es ist wohlbesser, wenn du so schnell wie möglich zum Arzt gehst. Vielleichtist es der Blutdruck. Untersuchen lassen solltest du dich auf jedenFall.“„Ja, ja“, brummte Holger leicht verärgert und lief langsam auf dem

Kiesweg weiter, „gleich morgen früh rufe ich Doktor Begemannoder Richard an und lasse mir einen Termin geben.“

Es hörte sich nicht sehr überzeugend an. Sie gingen beidegemächlich zurück zu ihrem in Miami-Blau farbenen SkodaRoomster und fuhren nach Hause. Es war schon spät geworden undsie wollten bis zum Abendbrot daheim sein. Marion machte sichSorgen wegen Holgers Zustand und redete während der Fahrt nochlange auf ihn ein.

*

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„Hallo, Richard, wie geht's denn?“, begrüßte Holger den Doktor,„lange nicht gesehen. Alles noch gesund und munter?“

Sie kannten sich schon seit vielen Jahren. Doktor Bartels kamdamals nach Tuddensen, um die Praxis des verstorbenen DoktorJansen, Holgers Vater, zu übernehmen. Zu jener Zeit lernten sie sichkennen und trafen sich öfter. Zwei Jahre später verunglückte derSohn von Marion und Holger tödlich. Marion war seinerzeit einemNervenzusammenbruch nahe, Doktor Bartels half ihr in denkritischen Tagen über die schwersten Stunden hinweg. Ihm ist es zuverdanken gewesen, dass keine seelischen Narben bei Marionzurückblieben. Vier Jahre ist das jetzt her.

Holger und Richard wurden zu jener Zeit auf Anhieb guteFreunde, hatten sich aber nach Marions Genesung fast aus denAugen verloren. Jeder ging seinen eigenen Weg. Nur hin undwieder traf sich Holger mit Doktor Bartels im Sommer zu einemGlas Bier in Siddercriel, wenn Richard zum Wochenende an dieKüste zum Baden fuhr. Sie sprachen oft über vergangene Zeiten undBartels erzählte Holger von seiner Studienzeit in Hamburg, wo er ander Universität das Hauptfach Innere Medizin einschlug. Nachseinem Studium und der Zulassung ließ sich Doktor Bartels inTuddensen als Internist nieder und führte eine gut gehende undangesehene Praxis.„Was führt dich zu mir. Ist etwas mit Marion?“, fragte der Arzt

seinen Freund und bat ihn, Platz zu nehmen. Der Doktor zeigte sich besorgt über Holgers plötzliches

Auftauchen. Der wollte nicht so recht mit der Sprache raus, beganndann aber sein Problem von den unliebsamen Zwischenfällen derletzten beiden Tage zu schildern. Alles berichtete er ausführlich,wusste er doch, dass Richard Bartels ihn gut verstehen würde.„Das ist hochinteressant“, meinte Doktor Bartels erstaunt, „solche

Geschichten liebe ich. Du weißt, ich befasse mich auch mitParapsychologie und habe großes Interesse an dem, was du sagst.Ich glaube dir sogar jedes Wort. Ja, ich möchte mehr wissen, jedesDetail, das dir einfällt. Ich möchte quasi dabei sein in deinenErlebnissen. Lass' uns alles ganz genau und in Ruhe durchgehen.“

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Sie sprachen lange und ausführlich über Holgers Erlebnisse,angefangen von seinem Spaziergang abends am Strand nach einemheißen Tag. Nichts ließ Holger aus, alles erzählte er dem Arzt undFreund. Aufmerksam hörte Doktor Bartels mit einer langsamaufkommenden Skepsis zu, ließ Holger aber ausreden und fragtenur hin und wieder nach. Am Ende der Behandlung vereinbartensie einen Termin für ein weiteres Gespräch, das Holger helfen sollte,wieder zu sich selbst zu finden. Der Arzt war sich im Klaren, dassdies ein langwieriger Prozess sein konnte. Es handelte sich um ersteAnzeichen von aufkommenden Halluzinationen, was er Holger abernicht offenbarte. Für eine nachhaltige Betreuung würde Holgereinen Facharzt brauchen. Bei seinem nächsten Behandlungsterminwollte er ihn darauf ansprechen.

Holger fühlte sich nach seinem Besuch bei Doktor Bartelserleichtert und innerlich ruhiger. Das lange Gespräch mit dem Arztund Freund brachte ihm die Entspannung, die er brauchte. DieAusgeglichenheit spürte auch Marion, als Holger am späten Abendnach Hause kam und sich offener und vergnügter zeigte. Erberichtete ihr ausführlich von seinem Gespräch mit Doktor Bartels.Sie saßen im Wohnzimmer bei einer Flasche Wein und sprachenlange über seine Probleme. Zum ersten Mal erfuhr Marion, was inHolger vorging und ihn bedrückte.„Ich weiß jetzt, dass ich nicht verrückt bin”, sagte er erleichtert

und lächelte.„Das habe ich nie vermutet“, entgegnete Marion. Sie hatte sich erhoben, war hinter Holger getreten und streichelte

über sein Haar.„Aber warum passierten mir diese unheimlichen Dinge“, bohrte

Holger. Tiefe Falten legten sich auf seine Stirn, als er fortfuhr: „Das geht

nicht mit rechten Dingen zu. Irgendein Erlebnis, irgendein Ereignis,etwas Unbewusstes in meiner Vergangenheit, vielleicht aus derKindheit, habe ich nicht verarbeitet, meinte Richard. Was kann dassein? Ich erinnere mich nicht. Meine Kindheit, sie war stinknormal,dass es gar nichts Besonderes gab. Ich war ein Kind wie jedes andere

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auch, keine traumatischen Erlebnisse, keinen Schock, nichts.Dennoch muss es irgendwann ein Ereignis gegeben haben, nach derKindheit oder davor, in einem anderen Leben ...“

Er unterbrach sich und sagte dann mit leiser Stimme: „Richardglaubt, dass der Tod von Jens etwas damit zu tun hat und versucht,mit mir Kontakt aufzunehmen, in symbolischer Gestalt. - Als einWesen aus dem Jenseits ...“

„Bitte, hör' auf“, unterbrach Marion wirsch und schüttelte sich,„lass' Jens aus dem Spiel. Er ist tot und soll in Frieden ruhen. Ichmöchte nicht an dieses tragische Schicksal erinnert werden ... nachall der Zeit ...“

Marion erhob sich von der Couch und ging in die Küche, ihreHände zitterten. Zur Ablenkung brauchte sie ein Glas frischenMineralwassers. Sie sprachen an diesem Abend nicht mehr überdieses Thema, sondern wandten sich anderen Fragen zu. Es warbesser so, denn Marion hatte ein unangenehmes Gefühl bei demGedanken an den verstorbenen Sohn.

In der Nacht wurde Marion von Alpträumen geplagt. Ständigtauchten Bilder des geliebten Sohnes auf: wie er auf den Baumkletterte, um die kleine Katze zu retten, die sich miauend in einerausweglosen Situation befand. Jens kletterte den Stamm hinauf, einAst brach unter ihm und er stürzte in die Tiefe, sein Kopf schlughart auf einen Stein. Der sofort herbeigerufene Notarzt konnte Jensnicht mehr helfen. Er verstarb noch an der Unfallstelle in den Armenseiner Mutter. Immer wieder traten in ihren Träumen die gleichenBilder dieses schicksalhaften Tages auf. Und Jens griff jedes Mal mitseiner Hand nach seiner Mutter, mit weit aufgerissenen Augen undlaut schreiend. Fortwährend tauchte im Traum wie aus dem Nichtsdiese ausgestreckte Kinderhand auf, die nach Marions Gesicht griffund sie unaufhörlich erschreckt zusammenzucken ließ.

Schweißperlen standen Marion auf der Stirn, als sie mitten in derNacht aus dem Schlaf hochschreckte und in die Dunkelheit starrte.Es herrschte Totenstille. Marion hatte Angst und tastete nach demLichtschalter der Nachttischlampe. Doch ihr Orientierungssinnverließ sie. Marion geriet in Panik, die Dunkelheit jagte ihr

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schreckliche Angst ein, angespannt lauschte sie. Nur ganz schwachnahm sie das rhythmische Atmen von Holger wahr. Es schien ihr, alskäme es aus weiter Ferne.

„Holger!“, schrie sie los und noch einmal, fast kreischend:„Holger!“

Schwer ging ihr Atem, Marion musste nach Luft schnappen, sosehr strengte es sie an. Zuerst murmelte Holger nur unverständlicheWorte, fuhr dann ruckartig hoch.

„Was ... was ist los?“, brummte er.Er knipste das Licht an und schaute verschlafen zu Marion rüber,

die vollkommen verstört im Bett hockte, die Bettdecke mit beidenHänden fest umklammert.

„Was ist los mit dir, mein Schatz?“, fragte er besorgt, als erMarions verstörtes Gesicht sah.

Seine angenehmen Worte beruhigten sie und sie zwang sich zueinem Lächeln.

„Ich ... ich kann es nicht sagen, ich muss geträumt haben, ich ... ichweiß aber nicht mehr, was es war“, sagte sie.

Kein Wunder, denn beim Erwachen hatte sie alle Details ihrerTräume vergessen, keine Erinnerung war geblieben.

Besänftigend sprach Holger: „Leg' dich wieder hin und schlafeschön. Morgen früh denkst du nicht mehr daran.“

Marion nickte, die Angst war aus ihr gewichen, beruhigend hattenHolgers Worte gewirkt. Dennoch versuchte sie krampfhaft, sich anihren Traum zu erinnern, was ihr nicht gelang. Wenig später war siewieder eingeschlafen, tief und fest.

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KAPITEL IIIm Äther des Jenseits

Wochen zogen dahin. Holger nutzte einen der sonnigen Tage zueiner Wanderung durch die Landschaft hinter Siddercriel. Schade,Marion musste, wie den Rest der Woche, arbeiten. Er hatte ein paarTage freigenommen. In dieser Zeit streifte er durch die Natur. Diefrische Luft tat ihm gut und lenkte von vielen Gedanken, die ihnquälten, ab. Zwei Stunden schlenderte er bereits die Felder undWiesen entlang. Viel ging ihm auf seinem Spaziergang durch denKopf. Vor ein paar Tagen war er hier schon einmal vorbeigekommen. Genau an dieser Stelle war ihm kürzlich einungewöhnliches Erlebnis passiert. Er zauderte für einen Augenblick,verharrte in seinen Schritten und überlegte, ob er weitergehen oderlieber umkehren sollte, einfach so tun, als sei nie etwas geschehen.Oder würde ihm das Gleiche zustoßen?

Langsam lief er weiter. Es war totenstill, verstummt waren diegewohnten Laute der Natur. Kein Vogel zwitscherte, keine Grillezirpte, nicht einmal die dumpfen Geräusche der vorbeifahrendenFahrzeuge von der nahen Landstraße waren zu hören. Jetzt befander sich an der gleichen Stelle wie damals. Holger zögerte einenMoment und eilte dann weiter. Nichts passierte. Erleichtert atmeteer auf. Als er ein paar Meter gegangen war, drehte er sich kurz um.Sein Herz klopfte bis zum Hals, ein unangenehmes Angstgefühlbeschlich ihn in diesem Augenblick. Angespannt schaute er in alleRichtungen, konnte jedoch keine Menschenseele erblicken.Trotzdem schien irgendetwas anders zu sein als noch vor einerMinute. Ihm war plötzlich kühl geworden, er spürte nicht mehr dieHitze, nicht die heißen Sonnenstrahlen. Holger schaute zumHimmel, die Sonne stand an derselben Stelle wie vorhin, sie warfdie gleichen Schatten wie zuvor.

„Holger!“, hallte es plötzlich. Ganz deutlich vernahm er die Worte, und noch einmal rief man

seinen Namen. Erschreckt wandte er sich um, konnte niemandenerblicken. Er spähte zum nahen Waldrand, alles blieb ruhig, nicht

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einmal das Rauschen der Blätter war zu hören. Eine unheimlichbedrückende Stille. Holger wagte sich keinen Schritt weiter, mitjeder Bewegung glaubte er, eine unbekannte Gestalt würde ihnanfallen und ihre scharfen Krallen in seinen Rücken bohren.Regungslos verharrte er, könnte er doch bloß im Bodenverschwinden. Er überlegte, was er tun sollte. Einfach weitergehen,als wäre nichts geschehen? Er musste seine Gedanken auf andereDinge lenken, auf Marion, auf seinen Beruf, den vergangenen Tag.Das würde helfen, nur so konnte er aus dem verdammtenTeufelskreis herausfinden. Die Einsamkeit machte ihm Angst, erspürte, wie sie ihm die Kehle zuschnürte. Er blickte unruhig überdie Felder, zählte die Zaunpflöcke an den Wiesenrändern, um sichvon dieser bedrückenden Stille und der drohenden Ungewissheit, eskönne jeden Moment was geschehen, abzulenken. Aber es halfnichts. Wieder war die Stimme zu hören. Deutlicher als zuvor,durchdringender und nervtötender, rief sie seinen Namen.„Ich muss ruhig bleiben, nur nicht aufregen, darf nicht in Panik

geraten. Das ist nur Einbildung, meine Gedanken spielen mir einenStreich. Da ist nichts, überhaupt nichts, es kann überhaupt nichtssein“, flüsterte Holger und versuchte sich Mut zuzusprechen.

Er wollte sich von der schweren Last befreien, all diebeklemmenden, unbekannten Gefühlsempfindungen von sichreißen, einfach so, wie man sich eine Maske vom Gesicht zerrt. Docher konnte der unheimlichen Einbildung nicht entgehen, sie bliebund umgab ihn wie einen unsichtbaren Schleier. Er versuchte esanders, stellte sich dem Spuk. Angriff ist die beste Verteidigung,sagte er sich. Er musste diese fremden Phänomene aus der Reservelocken, sich damit auseinandersetzen und in die Offensive gehen.Von wem und von wo auch immer diese Stimmen ausgingen, siedurften nicht Besitz von ihm oder seinem Verstand ergreifen.„Ich höre dich und habe schon auf dich gewartet“, sprach Holger

mit bebender Stimme und fuhr fort: „Warum zeigst du dich mirnicht? Wo hast du dich verkrochen? Fürchtest du dich vor mir? Hastdu Angst, ich könnte dich vernichten, zermalmen wie einen elendenlästigen Wurm?“

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